Die weihnachtliche Matriarchin

Fünf Weihnachtsfeste – Nummer 4 von 5 – Weihnachten in den 2010ern

Sie war eine Matriarchin. Ihr Mann war lange tot und sie lebte allein in dem 50er-Jahre-Haus, in dem seit 50 Jahren sich nichts mehr verändert hatte, in einer Stadt im Harz, die seit 50 Jahren im Niedergang begriffen war. Im düsteren Flur ihres düsteren Hauses hing an einem fransigen Schlüsselband ein längst verblichener Mitgliedsausweis irgendeines CDU-Parteitags.

Die Dame, also meine Dame, hatte Weihnachten wie in ihrer Kindheit feiern wollen. Daher waren wir mit unserer Tochter, ihr Bruder mit seinem Sohn und der Großvater zur Urgroßmutter in den Harz gefahren. Nur die geschiedene Mutter der Familie blieb fern und mit ihr auch jegliche Illusion, die Kindheitserinnerung der Dame wieder aufleben zu lassen.

Das Wochenende war eigentlich ganz gut angegangen. Okay, ehrlich gesagt hatte es eher so mittelgut begonnen: Wir wurden vom ungezogensten Hund, den ich je kennenlernen durfte, begrüßt, indem er gefühlte fünf Stunden an uns hochsprang und dabei so laut bellte, dass jede Unterhaltung unmöglich war. Abends musste die Matriarchin unbedingt ihre Rosamunde-Pilcher-Verfilmung gucken. Dies tat sie in einer solchen Lautstärke, dass eine Unterhaltung für uns andere wiederum unmöglich war. Aber sonst lief es ganz gut.

Doch am Morgen des Heiligen Abends kam meine Tochter weinend ins Gästezimmer. Die Uroma habe ihr wehgetan, sie sogar geschlagen! Nach unserem ersten Schock bekamen wir irgendwann heraus, dass die Matriarchin ihre Urenkelin wohl auf Alte-Menschen-Art hatte auf die Wange tätscheln wollen und dass die Gischt-durchtriebenen Finger sich dabei wohl in der Stärke vertan hatten.

Ich dachte mir, dass das kleine Missverständnis sich doch bestimmt aus der Welt räumen ließe, nahm meine Tochter bei der Hand und ging ins angestaubte Wohnzimmer. Ich sagte der Uroma, dass sie meiner Tochter wehgetan habe und dass ich mir sicher sei, dass sie das nicht beabsichtigt habe und dass sie dies doch meiner Tochter sagen solle und sich entschuldigen möge für die verursachten Schmerzen, damit kein Schatten auf der Beziehung über Generationen hinweg liege. Bewusst formulierte ich butterweich, damit sie nicht glaube, ich mache ihr den Vorwurf der Kindesmisshandlung.

Doch mit dem, was dann folgte, hatte ich wirklich nicht gerechnet. Die Matriarchin fuhr aus der Haut. Aber so etwas von! Sie lasse sich diese Anschuldigung nicht gefallen, was mir denn einfiel so mit ihr zu reden, sie in ihrem eigenen Haus zu kritisieren und überhaupt solle meine Tochter sich nicht so anstellen, sprach sie und rauschte aus dem Zimmer. Ich war einfach nur sprachlos.

Den Rest des Tages wichen die Matriarchin und ich uns aus und sprachen kaum miteinander. Nach unserer „Auseinandersetzung“ – ich traue mich fast nicht das so zu nennen, denn was da geschehen war, war so bizarr und ihr Ausbruch so aus dem Nichts gekommen – war sie erst einmal aus dem Haus gerauscht und hatte sich Zigaretten gekauft. Nun sahen wir sie meist griesgrämig guckend auf der Terrasse sitzen und rauchen.

Doch bevor mein Konflikt mit der Matriarchin die nächste Brennstufe erreichte, geschah noch etwas anderes, nicht weniger bizarres an diesem Weihnachtsfest. Die Dame, meine Tochter und ich gingen vor der Bescherung noch zum Kindergottesdienst. Wir bekamen einen Platz in der ersten Reihe mit einer hervorragenden Sicht auf das weniger hervorragende Spektakel. Kurz bevor das Krippenspiel und mit ihm die Christmesse beginnen sollten, rauschte ein Mann in mittleren Jahren mit langem Mantel durch den Mittelgang, kniete vor dem Altar nieder und begann inbrünstig zu beten. Wir dachten zunächst, das sei Teil der nun kommenden Inszenierung. Doch dann kam die Pfarrerin der protestantischen Gemeinde und begann mit dem Mann zu sprechen. Sie versuchte ihn vom Boden aufzuhelfen und an den Rand zu geleiten, damit die Kinder ihre Show abziehen konnten. Indes sah der Mann gar nicht ein, zu gehen. Stattdessen verstärkte er mit jedem Versuch der Pfarrerin, ihn hinwegzukomplementieren die Lautstärke seiner von Herzen kommenden Gebete. Rasch sprangen zwei Bauern mit breiten Kreuzen und roten Gesichtern der Pfarrerin bei und zerrten den nunmehr schreiend Betenden aus der Kirche. Ich habe wirklich noch nie eine so unchristliche Aktion an Weihnachten gesehen. Wobei ich ehrlich zugebe, dass ich nicht weiß, was ein angemessenes Verhalten gewesen wäre. Es war bizarr.

Als wir wieder im Haus der Matriarchin eintrafen, sollte eigentlich die Bescherung beginnen. Doch stattdessen zitierte mich die Matriarchin in die Küche. Sie schloss die Tür. Dann begann sie eine Rede herunterzurasseln, die sie sich offensichtlich vorher zurecht gelegt hatte – wahrscheinlich während sie zornig rauchend auf der Terrasse saß. In vielfacher Ausführung legte sie mir zornig dar, dass es mir an Respekt mangele, dass ich mich unter ihrem Dach befinde und dass sie so nicht mit sich reden lasse. Einmal wagte ich, nachzufragen, was ich eigentlich gesagt habe, dass sie dermaßen entsetzte. Doch sie schleuderte mir nur entgegen, dass sie darüber nicht diskutiere und wiederholte alle ihre Vorwürfe ein Dezibel lauter.

In dem Moment resignierte ich, schaltete ab, ließ die alte Frau reden und bemitleidete sie nur noch dafür, dass ihre starren Regeln von Ehre und Respekt, von denen der Stuck des 19. Jahrhunderts abbröckelte, gerade dafür sorgten, dass sie in den wenigen ihr noch bleibenden Jahren ihre Urenkelin nie wieder sehen würde. Denn ein Haus, in dem man mir den Mund verbot ohne mir überhaupt zu sagen, warum, würde ich und mit mir meine Tochter sicher nie wieder betreten.

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