Platon – Die unsterbliche Seele

Heute möchte ich mal ein ganz lockeres, unstrittiges Thema betrachten: Es geht nur um die Kleinigkeit des Lebens nach dem Tod.

Der Kerker der Seele

Im Zuge der Anamnesislehre hatten wir Platons These von der Unsterblichkeit der Seele bereits kennengelernt. Dort hatte Platon die Existenz von implizitem Wissen damit erklärt, dass die Seele vor der Geburt die Ideen geschaut hat.

Nach Platon ist der Mensch ein zweigeteiltes Wesen, das aus einem Körper und einer Seele besteht. Im Augenblick des Todes, so Platon, trennt sich die Seele vom Körper. Während der Körper sterbe, lebe die Seele ewig. Platon bezeichnet den Körper sogar als den Kerker der Seele.

Diese Vorstellung ist der sogenannte Leib-Seele-Dualismus. Ich weiß, langsam beginnt es zu nerven, aber der Leib-Seele-Dualismus ist das nächste philosophische Konzept Platons, das die Jahrtausende überdauert hat und bis heute diskutiert wird. Sicher hat Platon ihn nicht erfunden, sondern Ansätze ausgearbeitet, die sich schon in der griechischen Tradition fanden. Besonders die Orphiker und die Pythagoreer dürften hier große Einflüsse auf Platon ausgeübt haben.

Aber zum Beispiel findet sich der Leib-Seele-Dualismus nicht in der jüdisch-christilichen Tradition. Dort glaubte man ursprünglich tatsächlich an die Wiederauferstehung des Fleisches. Und erst durch Platons Einfluss auf die Philosophie des Mittelalters ist die Vorstellung von der Seele auch ins Christentum eingesickert.

So glaubt heutzutage bestimmt kaum jemand daran, dass irgendwann die Toten sich aus den Gräbern erheben – außer vielleicht bei einer Zombieapokalypse. Aber die Vorstellung, dass unsere Seele nach dem Tod weiterlebt, ist weit verbreitet. Der Platon-Experte Walter Bröcker vertritt sogar die These, dass erst die Verbindung von Platonismus und Christentum dem Christentum zu seinem Erfolg verholfen hat, sodass es zu einer Weltreligion werden konnte. Ins gleiche Horn stößt auch Nietzsche, der das Christentum einen Platonismus fürs Volk nannte.

Gibt es ein Leben nach dem Tod?

Soviel zur philosophiehistorischen Dimension des Ganzen. Aber wie können wir da auch philosophisch etwas herausholen. Der wichtige Punkt dafür – ich wiederhole es erneut – ist, dass uns Philosophen im Gegensatz zur Religion reiner Glaube nicht reicht. Wir stellen stattdessen Hypothesen auf und beweisen oder widerlegen sie. Was also sind Platons Beweise für die unsterbliche Seele?

Die Unsterblichkeitsbeweise des altgriechischen Hipsterbartträgers befinden sich im Dialog Phaidon. Im Phaidon wird die Geschichte von Sokrates’ Hinrichtung erzählt und dies zum Anlass genommen, darüber zu philosophieren, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Springen wir mal in den Text.

Das erste, was mir hier auffällt, ist, dass Platon in diesem Dialog unmittelbar vor dem Beginn der Beweisführung für eine unsterbliche Seele noch einmal die Sokratische Lehre von der Ungewissheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit wiederholt: Sokrates kommt auf sein Daimon zu sprechen, seine innere Stimme, die ihm ins Gewissen redet, und gibt zu, dass er sich nicht sicher ist, ob er sie richtig verstanden habe. Den Daimon hatte Platon in der Apologie des Sokrates erklärt. Sokrates sagt dort, dass sein Gewissen ihn in Form einer inneren Stimme immer wieder antreibe, das Richtige zu tun. Der Daimon leitet Sokrates.

Dass der Daimon diesmal unsicher ist, steht nicht aus Zufall an dieser Stelle, sondern weil Platon uns daran erinnern will, dass bei allen Beweisen stets die Möglichkeit besteht, dass wir uns irren.

Die Analogie von den Gegensätzen

Platon beginnt seine Beweisführung dann damit, dass alles in der Welt aus Gegensätzen besteht und dass diese Gegensätze immer ineinander übergehen. Tag und Nacht, Sommer und Winter, Schlafen und Wachsein. So gehen auch Leben und Tod ineinander über. Das ist übrigens eine Analogie, also die Schlussfolgerung aufgrund einer Ähnlichkeit. Und genau darin besteht auch das Problem: Diese Form der Schlussfolgerung lässt sich nicht vorbehaltlos auf alles anwenden. Das wird in dem Moment einleuchtend, wenn ihr an den Wal denkt aus dem aufgrund seiner äußerlichen Ähnlichkeit ein Walfisch wurde, obwohl er doch zu den Säugetieren gehört!

Auch auf Platons konkreten Fall bezogen, dass sich alles ineinander verwandelt, ist die Analogie problematisch, denn es finden sich ganz leicht Beispiele, bei denen es nicht so ist: Eine Raupe wird zum Schmetterling, nicht umgekehrt. Okay, dem Schmetterling könnten wir noch eine Reinkarnation unterstellen. Aber besonders, wenn wir den Tod als Analogie zum Kaputtgehen sehen, geht das ganze nicht mehr auf: Mir zerbrechen ständig Gläser, ohne wieder ganz zu werden. Meine Fahrradpedale ist nach einem Sturz verbogen. Ich warte also einfach mal darauf, dass sie sich wieder in ihr Gegenteil entbiegt, oder wie? Hier passt ja schon der Begriff des Gegenteils gar nicht mehr. Was ist denn das Gegenteil einer verbogenen Pedale?

Die Anamnesis-Lehre

Anyway: Aus diesem Argument der ineinander übergehenden Gegensätze leitet Platon sein nächstes ab: Wenn es nur Sterben und keine Wiedergeburt gäbe, dann wären bald alle Menschen tot. Das ist sogar auf einem sehr komplexen Level richtig: Lebewesen zerfallen nach ihrem Tod in ihre Bestandteile. Aus diesen Bestandteilen ziehen Bakterien, Pflanzen und Pilze ihre Nährstoffe und erzeugen so neues Leben. Aber uns geht es ja um das Fortbestehen unseres Ichs, unseres Bewusstseins oder unserer Seele und nicht darum, Kompost zu werden. Und auf diesem Level erschließt sich mir nicht, was Platon hier sagt.

Als nächstes Argument im Phaidon folgt Platons Lehre, dass Lernen Wiedererinnerung. Und da fällt mir ein: Wir haben noch immer nicht geklärt, woher wir denn implizites Wissen bekommen, wenn wir Platons Vorstellung ablehnen, dass unsere Seele vor der Geburt die Ideen geschaut hat. Nun, die Antwort darauf lautet ganz einfach: Auch implizites Wissen lernen wir, es ist nur eine andere Art von Lernen. Nehmen wir eine Fahrradfahrerin: Sie kann auf dem Fahrrad das Gleichgewicht halten, weil sie über implizites Wissen verfügt, wie das geht. Das hat sie mühsam und wahrscheinlich auch schmerzhaft lernen müssen. Aber sie kann nicht unbedingt sagen, welche physikalischen Kräfte an welcher Stelle wie wirken, denn das müsste sie ganz unabhängig vom Radfahren ganz anders lernen.

Die zusammengesetzte Seele

Platon trägt persönlich den Einwand vor, dass selbst wenn wir an seine Anamnesis-Lehre glauben, daraus noch lange nicht folgt, dass die Seele auch nach dem Tod fortlebt. Sie könnte auch im Moment des Todes wie von einem Windstoß davongeweht werden. Platon fragt daraufhin, welche Dinge denn zerstieben, also von Wind auseinandergerissen werden können. Seine Antwort: Nur was zusammengesetzt ist, kann auch zerteilt werden. Eine echte Einheit hingegen ist unteilbar und die Seele ist eine solche Einheit.

Dass Zusammengesetztes auch zerteilt werden kann, folgt in der Tat logisch aus der Wortbedeutung. Aber gilt auch der Umkehrschluss? Und folgt aus der Unteilbarkeit auch die Unsterblichkeit? Kant hat dagegen eingewendet, dass zum Beispiel Helligkeit unteilbar ist. Dass sie aber – wie in der Abenddämmerung – verblassen kann, ohne dass sie dabei in Teile zerfällt. Analoges könnte auch mit der Seele geschehen.

Platon fährt aber fort: Unteilbar sind, wie wir schon sahen, die Ideen. Entsprechend schließt Platon, sind die Erscheinungen teilbar. Ferner sind sie veränderlich während die Ideen unveränderlich sind. Schließlich sind Erscheinungen wahrnehmbar, Ideen müssen gedacht werden. Die Frage die sich direkt daran anschließt, ist: Was ist die Seele? Eher Idee oder eher Erscheinung?

Wir können die Seele nicht sinnlich wahrnehmen. Platon kann aber auch nicht sagen, dass die Seele zu den Ideen gehört, denn dann währe sie unveränderlich. In diesem Fall kann er sich aber seine Ethik in die Haare schmieren. Denn Menschen zu sagen, wie sie sich verhalten haben, macht ja nur Sinn, wenn sie ihr Verhalten auch ändern können. Deshalb cheatet Platon genauso als würde er mit Eigenblut gedopt die Tour de France gewinnen und sagt, dass die Seele mit den Ideen verwandt ist. Okayyyy, klingt überhaupt nicht zurechtgebogen … Nun gut, jedenfalls folgert er aus dieser Verwandtschaft wieder die Unsterblichkeit der Seele.

Der Gitarrenkörper und die Seelenstimme

Aber auch hier bringt Platon selbst ein sehr gutes Gegenbeispiel: Das Verhältnis von Körper und Seele könnte das Gleiche sein, wie dasjenige von einer Gitarre und ihrer Stimme. Die Gitarre und ihre Saiten sind etwas körperliches, die Stimme, also die Töne, die sie von sich gibt, hingegen ist körperlos. Aber dennoch ist die Stimme an den Gitarrenkörper gebunden und wenn dieser kaputtgeht, dann existiert die Stimme auch nicht länger. Ich finde das ein wunderschönes Bild für die Seele, obwohl es uns die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod nimmt.

Und genau das geschieht an dieser Stelle auch im Phaidon: Den am Gespräch Beteiligten wird die Hoffnung genommen, dass Sokrates, der nur noch Augenblicke zu leben hat, sich auf das Jenseits freuen kann. Nachdem sie zuvor noch so guter Dinge waren, hat auch ihnen das Bild vom Instrument so sehr eingeleuchtet, dass sie enttäuscht anmerken, ob man sich denn nie sicher sein kann. Ob es Weisheit nicht geben kann.

Und mit diesem existentiellen Zweifel lasse ich sowohl Sokrates und sein Freunde als auch euch heute zurück. Nächstes Mal werden wir nach all diesen gescheiterten Versuchen uns fragen, was Philosophie überhaupt kann und soll. Verzagt nicht, denn daraus werden wir neuen Mut schöpfen, um am Ende vielleicht doch noch zu beweisen, dass die Seele unsterblich ist.

Sokrates – Der Gamechanger – Teil 2: Der Nichtswisser

Es geht weiter mit Sokrates! Diesmal gehen wir den Fragen nach, warum die Athener von ihm genervt waren, woher wir eigentlich von ihm wissen und was seine philosophischen Einflüsse waren. Unten findet ihr wieder das Transkript für alle, die lieber lesen als sehen, außerdem die Bibliographie und die Bilderquellen.

Pain in the ass

Wenn ihr euch für das Leben von Sokrates interessiert und warum er im Jahre 399 v. Chr. hingerichtet wurde, dann schaut euch doch noch mal meinen ersten Post dazu an. Wenn ihr hingegen erfahren wollt, warum die Athener von Sokrates genervt waren, und woher wir überhaupt von ihm wissen, dann seid ihr hier richtig!

Wir waren stehengeblieben bei der Frage, warum die Athener Sokrates zum schweigen bringen wollten, denn diese Frage führt uns erstmals tief in seine Philosophie. Die Antwort auf die Frage lässt sich wohl am besten verstehen, wenn wir die Anekdote betrachten, die Sokrates selbst zur Verteidigung vorgetragen hatte. Sokrates‘ Freund Chairephon, der übrigens ein Demokrat war, soll das Orakel von Delphi gefragt haben, ob es einen weiseren Menschen als Sokrates gebe und das Orakel habe geantwortet, dass es keinen weiseren gebe. In Delphi saß eine Frau, die man die Pythia nannte über einer Erdspalte, aus der giftige Gase strömten und faselte so vollgedröhnt vor sich hin. Die Griechen glaubten, dass diese bekiffte Tante prophetische Gaben hätte und verkünde, was der Gott Apollon ihr einflüstere.

Jedenfalls war Sokrates verwirrt, dass er der weiseste Mensch auf der Welt sein sollte, denn seiner Meinung nach, wusste er eigentlich nichts besonderes. Daher zog er durch Athen und fing an, Männer zu befragen, die allgemein als weise galten, um den Orakelspruch von Apollon zu widerlegen.

Ihr müsst schon zugeben, dass Sokrates eine coole Sau ist: Da ist er unter anderem wegen Gottlosigkeit angeklagt und verteidigt sich vor Gericht mit einer Geschichte, in der er versucht, zu beweisen, dass der Gott der Weisheit sich geirrt hat. Jedenfalls quatschte er nach eigenen Angaben mit Politikern, Dichtern und angesehenen Handwerkern. Doch keiner der befragten, hielt der Prüfung durch Sokrates stand. Denn sie glaubten zwar immer, besonders weise zu sein. Letztlich stellte sich aber heraus, dass sie eigentlich nichts wussten. So kam Sokrates zu der Erkenntnis, dass er tatsächlich weiser war als alle, die er geprüft hatte. Denn zwar wusste er nichts, aber er bildete sich auch nicht ein, zu wissen. Diese Erkenntnis ist berühmt geworden unter dem Sinnspruch: „Der Klügste ist der, der weiß, dass er nichts weiß“.

Doch der Nebeneffekt war eben, dass alle diese Leute, die als besonders weise oder gebildet galten, entsprechend angepisst waren, nachdem sie von Sokrates entlarvt wurden. Denn die Untersuchungen von Sokrates fanden in aller Öffentlichkeit auf dem Marktplatz von Athen statt. Nach allem was wir wissen, stand immer eine Truppe von Sokrates-Schülern und Schaulustigen dabei, wenn Sokrates mal wieder einen wichtigen Mann entzauberte. Daher suchte das Athener Establishment nach einem Weg, ein für alle Mal Ruhe vor diesem Sokrates und seinen nervigen Fragen zu haben.

Zu diesen öffentlichen Bloßstellungen kam noch ein weiterer Aspekt: Ein Hauptthema von Sokrates‘ philosophischen Gesprächen war die Suche nach Gerechtigkeit. Dabei wies er konsequent auf Missstände in Athen hin. Und es war für den Athener Staat einfacher, Sokrates durch Gift zum Schweigen zu bringen, als die Probleme zu beheben, die er kritisierte. Das also steckte hinter diesem berühmten Gerichtsverfahren vor 2.400 Jahren. Zu klären bleibt als nächstes, ob Sokrates es denn wert war, dass wir uns noch heute an ihn erinnern oder ob er wirklich bloß irgendeine Nervensäge war.

Die Quellenlage

Doch halt! Vorher gilt es noch zu klären, wie es uns heute überhaupt noch möglich ist, uns mit Sokrates zu beschäftigen. Denn das letzte Mal habe ich ja erzählt, dass Sokrates nie etwas aufgeschrieben hat und die Frage gestellt, wie wir denn dann heute noch etwas von ihm wissen können. Mit der Antwort auf diese Frage möchte ich also fortfahren:

Wir haben im Grunde vier Quellen zu Sokrates und seinen Lehren. Die älteste Quelle ist die Komödie „Die Wolken“, in der Sokrates als Sophist dargestellt wird und in der schon alle Vorwürfe auftauchten, die später beim Prozess von der Anklage wieder vorgebracht wurden. Inklusive des Vorwurfes, Sokrates habe gesagt, dass nicht Zeus für den Regen verantwortlich sei, sondern dass dieser aus den Wolken falle. Was für ein Blödsinn! Man sollte diesen Sokrates zum Schweigen bringen! Ach so, hat man dann ja auch getan.

Jedenfalls sind „Die Wolken“ als historische Quelle problematisch, weil ihr Autor Aristophanes eine ganz klare Agenda hat: Zunächst einmal wollte er seine Zuschauer zum Lachen bringen, dann wollte er auch noch diesen neumodischen Kram, diese Wortverdreherei, die sich „Philosophie“ nennt, kritisieren. Dabei legt er sicher nicht allzu viel Wert darauf, Sokrates korrekt darzustellen. Wenigstens berichten die anderen Quellen, dass Sokrates sich nie für Fragen der Naturphilosophie interessiert habe, sondern immer nur am Menschen interessiert war.

Die zweite Quelle, die wir haben, ist der Sokratesschüler und Historiker Xenophon. Na der müsste doch perfekt sein, oder? Ein Historiker! Von dem können wir doch eine zuverlässige Darstellung erwarten! Nun, das Problem an Xenophon ist, dass er wahrscheinlich nicht die hellste Birne in der Leuchtreklame war, zumindest scheint er sich nicht sonderlich für Philosophie interessiert zu haben. Jedenfalls ist sein Sokrates ein so langweiliger und rechtschaffender Typ, dass es überhaupt keinen Sinn ergibt, dass so jemand vor Gericht gestellt wurde. Ernsthaft: Nach Xenophon hat Sokrates nichts anderes gemacht, als den Leuten zu sagen, dass sie zur Schule gehen sollen oder als Händler ihre Bücher anständig führen sollten. Klingt nicht unbedingt nach großer Philosophie, oder?

Kommen wir entsprechend zur dritten Quelle: dem Sokrates-Schüler Platon. Aber hier müsste doch alles klar sein! Diesen Platon hatte ich als den vielleicht größten Philosophen aller Zeiten beschrieben, der müsste uns doch sagen können, was Sokrates gelehrt hat, oder? Nun, ja und nein. Denn bei Platon gleitet das ganze leider ins andere Extrem ab. Das Problem ist, dass Platon keine Abhandlungen schrieb, sondern uns seine Philosophie in Form von Dialogen hinterließ, in philosophischen Dramen, wenn man so will. Und in diesen Dialogen lässt Platon nun immer Sokrates als einen der Gesprächspartner auftreten. Das Problem ist jetzt, zu unterscheiden, wo die Lehren des Sokrates aufhören und wo jene von Platon anfangen. Immerhin hat uns die Platonforschung dafür einen guten Ansatz an die Hand gegeben. Denn am sich wandelnden Stil und den sich verändernden philosophischen Positionen Platons, kann man sein Werk in drei Phasen unterteilen: den frühen, den mittleren und den späten Platon. Und die frühen Dialoge haben jetzt gewisse Eigenarten, die darauf hindeuten, dass sie noch ziemlich nah an der Lehre des Sokrates sein dürften.

Dafür muss ich mal wieder ein wenig ausholen und euch eine erste philosophische Grundlage verklickern: Die Philosophie spaltet sich in drei Unterdisziplinen: die Erkenntnistheorie, die Ästhetik und die Ethik. Die Erkenntnistheorie stellt die Frage: Was ist Wahrheit? Die Ästhetik fragt: Was ist Schönheit? Und die Ethik schließlich: Was ist gut und böse? Und den frühen platonischen Dialogen ist gemein, dass sie sich nur um diese letzte Frage und ihre Teilbereiche drehen. Das deckt sich mit unserer Erkenntnis, dass Sokrates sich nur für die Ethik interessiert hat. Ihr erinnert euch an Ciceros Worte: „Sokrates hat als erster die Philosophie vom Himmel heruntergerufen, sie in den Städten angesiedelt, sie sogar in die Häuser hineingeführt und sie gezwungen, nach dem Leben, den Sitten und dem Guten und Schlechten zu forschen.“ Denn genau in der Abwendung von der Frage: Was ist Wahrheit? Und ihrer Teilfrage: Was ist die Welt? Und der Hinwendung zur Frage: Was ist gut und böse? bestand die Sokratische Wende von der ich das letzte Mal sprach.

Es gibt noch ein gutes Indiz, dass die frühen platonischen Dialoge echte sokratische Dialoge sind: Ich hatte euch ebenfalls bereits erzählt, dass die wichtigste sokratische Erkenntnis war: Ich weiß, dass ich nichts weiß und dass er den Dialog als das wichtigste philosophische Instrument ansah, in welchem er mittels der Mäeutik, der Hebammenkunst, verborgenes Wissen bei seinen Gesprächspartnern ans Licht bringen kann. Zu diesen Aspekten der sokratischen Philosophie passt nun, dass die frühen platonischen Dialoge meist mit einem offenen Ende abgebrochen werden. Irgendwann meint Sokrates immer: „Oh man, ist das schon spät, ich muss weg!“ Das passt ziemlich gut zu seiner skeptischen Sicht auf die Fähigkeit der Menschen überhaupt Wissen erlangen zu können. So werden in diesen Dialogen immer wieder Thesen zum Beispiel zur Frage: Was ist Tapferkeit? aufgestellt, dann von Sokrates mittels geschickter Fragen geprüft und am Ende wieder verworfen. Im Dialog wird sich Erkenntnis so erarbeitet, aber zugleich im Blick behalten das man die Wahrheit ™ niemals wird erreichen können, weswegen irgendwann abgebrochen wird.

Schließlich haben wir noch Aristoteles als eine Quelle sokratischer Philosophie. Natürlich ist der auch problematisch, denn der alte Ari war ein Schüler Platons und seineszeichens hat er Sokrates nicht mehr kennengelernt, sondern berichtet über ihn schon aus einer philosophiehistorischen Perspektive. Allerdings hat das auch Vorteile: Es gibt ihm eine gewisse Distanz zu seinem Untersuchungsgegenstand, die zugleich nicht so groß ist, wie unsere Distanz heute. Wichtig ist Aristoteles besonders, weil er auf einige Unterschiede zwischen den Lehren von Sokrates und Platon hinweist.

Sokrates‘ Erkenntnistheorie

Aristoteles berichtet zum Beispiel, dass auf Sokrates zwei wichtige philosophische Instrumente zurückgehen: Zum einen die allgemeine Definition, zum anderen die Induktion. Viele Dialoge Platons beginnen nach dem gleichen Muster. Sokrates und sein Gesprächspartner kommen nach etwas Vorgeplänkel zum eigentlichen Thema des Dialogs. Dieses Thema fasst Sokrates dann immer in eine „Was ist …?“-Frage, etwa: Was ist Tapferkeit? Darauf antwortet der Dialogpartner dann meist mit einer Reihe von Beispielen: Tapfer sind Soldaten, Feuerwehrmänner, Polizisten, Holzfäller, Whatever … Aber Sokrates will nicht auf diese Sammlung von Einzelfällen hinaus. Stattdessen interessiert ihn stets das Wesen einer Sache, er will eine allgemeine Definition. Und zu der gelangt er eben mit der Induktion. Die Induktion ist neben der Deduktion, der Abduktion und der Analogie einer der vier Möglichkeiten eine Schlussfolgerung zu ziehen: Man schließt von einer Reihe von Einzelfällen auf etwas Allgemeines. Sokrates fragt also, was den Soldaten tapfer macht, was den Feuerwehrmann tapfer macht, was den Polizisten, den Holzfäller etc. Und durch die Entdeckung der Gemeinsamkeiten kommt er so mit Hilfe einer Induktion zu einer Definition von Tapferkeit. Natürlich problematisiert und verwirft er die dann wieder wie ich vorhin das erläuterte, aber das Prinzip steht …

Spannend ist weiterhin, dass Sokrates, wie Aristoteles berichtet, noch keine Semantik hatte. Semantik beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen Sprache und Welt und vor Sokrates hatte es durchaus schon Semantiker gegeben. Sokrates ist sogar bei einem in die Schule gegangen, ich komme gleich darauf zurück. Aber Sokrates scheint die Vorstellung abgelehnt zu haben, dass es in unserer Sprache irgendwie verhandelbare Bedeutungen gibt. Er glaubte, dass es die eine, die wahre Bedeutung eines Begriffs gibt: das Allgemeine und dass es nur darauf ankäme, diese mit Hilfe der Mäeutik zu finden. Da möchte ich jetzt noch eine kryptische Bemerkung anhängen, die klarer wird, wenn ich euch von Platon erzählt habe: Laut Aristoteles glaubte Sokrates nicht, dass das Allgemeine eine vom Begriff unabhängige Wesenheit ist. Wie gesagt, merkt euch das einfach mal, wir kommen darauf zurück.

Sokrates‘ philosophische Einflüsse

Bevor wir uns weiter damit beschäftigen, was die wesentlichen Aspekte der sokratischen Philosophie sind, möchte ich noch mal einen Blick zurück werfen und euch von Sokrates Semantik-Lehrer und den anderen Vorgängern erzählen, die Sokrates philosophisch geprägt haben.

Zu Sokrates‘ Lehrern gehörte anscheinend der Sophist Prodikos. Die Sophistik war eine heterogene skeptische Bewegung, die in der Ethik überwiegend relativistische Positionen vertrat, also dass es keine absoluten Werte gibt und in der Erkenntnistheorie wurden wiederum überwiegend skeptische Haltungen vertraten, also dass echte Erkenntnis nicht möglich sei. Die Sophisten verdienten ihren Lebensunterhalt, indem sie gegen Geld Rhetorik und Logik lehrten. Wie wir ja in der letzten Folge sahen, waren insbesondere vor Gericht rhetorische Fähigkeiten unerlässlich, um vor den Laiengerichten des alten Athens den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Berühmt geworden ist Sokrates‘ Kritik daran, dass die Sophisten Geld für ihren Unterricht nahmen. Wie wir aber auch in der letzten Folge sahen, war Sokrates wohl nicht der Ärmste, sodass diese Kritik von einer guten Portion Arroganz zeugt. Prodikos beschäftigte sich neben Rhetorik, also der Kunst des Argumentierens, wohl vor allem mit Semantik, also der Lehre von der Bedeutung der Worte und er war auf der Suche nach eindeutigen Bedeutungen. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht genau, worin dabei der Unterschied zur Sokrates’ Suche nach dem Allgemeinen steht. Denn diese Suche nach der eindeutigen Bedeutung ist meines Erachtens genau das was mit der „Was ist…?“-Frage in den Sokratisch-Platonischen Traditionsstrang der Philosophie einging. Wie ich ja schon sagte, lässt Platon Sokrates in seinen Dialogen immer auf die Suche nach der Antwort von „Was ist …?“-Fragen gehen: Was ist Schönheit, Was ist Erkenntnis, Was ist das Gute? Falls jemand von euch sich mit Prodikos’ Philosophie auskennt, dann wäre ich über mehr Details sehr froh.

Philosophisch geprägt wurde Sokrates auch noch durch zwei andere philosophischen Schulen: Den größten Einfluss dürfte auf ihn Anaxagoras gehabt haben, mit dessen Schüler Archelaos er einmal nach Samos reiste. Anaxagoras beschäftigte sich wie Thales mit der Suche nach dem Prinzip, das der Welt zugrunde liegt. Im Gegensatz zu Thales glaubte er aber nicht, dass es irgendetwas so banales wir Wasser oder ein anderes Element ist, das sich in der Welt zeigt. Stattdessen war er der Überzeugung, dass alle Dinge der Welt alle Elemente beinhalten, aber in verschiedenen Mischungen.

Aber seine einflussreichste Lehre, die über Sokrates und Platon in den Mainstream der Philosophie eintreten sollte, war der Dualismus von Geist und Materie und dass der Geist die Materie beeinflusst. Das klingt alles unglaublich kryptisch, daher will ich es kurz und weitgehend falsch noch einmal zusammenfassen: Ein Stück Holz beinhaltet nach Anaxagoras alle Elemente, aber zum Beispiel ist relativ viel Feuer (was die Griechen für ein Element hielten) in der Mischung, denn es kann brennen. Ein Stein enthält hingegen eher wenig Feuer in der Mischung. Was ist nun wiederum der Unterschied zwischen einem Stein und einer Pflanze? Letztere hat einen Geist, der sie dazu bringt, zu wachsen. Ehrlich gesagt klingt das ziemlich esoterisch, aber eigentlich steckt da noch immer die gleiche logisch-wissenschaftliche Begründung dahinter, die wir schon bei Thales ausmachten, denn die Theorie basiert auf der Beobachtung, dass Pflanzen im Gegensatz zu Steinen wachsen. Und wenn ihr mal den Begriff „Geist“ durch „DNA“ tauscht, dann sind wir plötzlich bei einer modernen Theorie …

Anyway … Hier geht es nicht um Anaxagoras sondern um Sokrates. Der zweite große Einfluss auf ihn hatte die Schule der Pythagoreer. Der pythagoreische Musiktheoretiker Damon gehörte zu Sokrates Lehrern. Pythagoras kennt ihr wieder aus der Schule. Er hat die moderne Mathematik erfunden, so sagt es zumindest Bertrand Russell. Außerdem hat er die Mathematik aber mit Mystizismus verbunden. Pythagoras glaubte, dass die Welt aus Zahlen besteht, aus irgendeinem Grund war er aber auch der Meinung, dass Bohnen teuflische Dinger sind und sie zu essen eine Sünde. Außerdem durften seine Schüler nichts aufheben, was zu Boden gefallen war, nicht auf Landstraßen gehen und er führte einen unerklärlichen Krieg gegen Schwalben. Allerdings glaubte Pythagoras auch an die unsterbliche Seele und dass der Mensch Philosophie und Wissenschaft betreiben solle, da das gut für die Seele sei. Besonders hoch angesehen war bei den Pythagoreern – wie könnte es anders sein – die Auseinandersetzung mit Mathematik, da dies reines Denken sei.

Es ist nicht bekannt, ob Sokrates Beef mit Bohnen oder Schwalben hatte, aber die Auseinandersetzung mit Logik, der unsterblichen Seele und der Philosophie als Lebensziel waren große Einflüsse für ihn. Natürlich war es eine kritische Auseinandersetzung, sonst hätte er heute wohl kaum den Status, den wir ihm zuschreiben.

Last not Least sollen auch zwei Frauen unter Sokrates’ Lehrerinnen gewesen sein: Aspasia soll ihn in Rhetorik unterrichtet haben, außerdem betrieb sie so eine Art philosophischen Salon, in dem Sokrates wohl mit vielen Theorien in Kontakt kam. Und eine gewisse Diotima soll ihn „über den Eros belehrt haben“, if you know what I mean! Nein? Na ich spreche natürlich von dem, was später mal zur platonischen Liebe werden sollte. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden …

Denn heute ist es schon spät und „es ist Zeit, dass wir gehen: ich, um zu sterben, und ihr, um zu leben. Wer aber von uns beiden zu dem besseren Geschäft hingehe, das ist allen verborgen außer nur Gott.“ Ups, Tschuldigung, da wurde ich gerade mitgerissen von der Apologie, der Verteidigungsrede Sokrates’ Dennoch ist es an der Ziet für heute einen Schlussstrich zu ziehen, bevor wir uns beim nächsten Mal noch einmal richtig in Sokrates’ Philosophie reinstürzen.

Literatur

Wie beim letzten Teil gilt:

Zusätzlich für diese Folge sind noch relevant:

Bilderquellen

Alle Bilder ohne Quellenangabe sind entweder gemeinfrei oder stammen von mir.

 

Das macht Sinn!

Zur Ehrenrettung dreier kleiner Wörter

„Das macht Sinn.“ ist eine kurze Phrase, drei kleine Wörter, Subjekt, Prädikat und Objekt. Keine große Nummer in der deutschen Sprache, nicht zu vergleichen mit:

„Ob die Bearbeitung der Erkenntnisse, die zum Vernunftgeschäfte gehören, den sicheren Gang einer Wissenschaft gehe oder nicht, das läßt sich bald aus dem Erfolg beurteilen.“

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft

Und dennoch spaltet „das macht Sinn“ die Gemüter, lässt Zeitgenossen haufenweise die Zornesröte ins Gesicht steigen. Ja, wird fast so heiß diskutiert, wie der richtige Artikel vor Nutella oder gar das gendergerechte Binnen-I.

Der jüngste Fall dieses Hasses auf drei kleine Wörter, die so unschuldig daherkommen, begegnete mir bei der letzten Episode von wir.müssen reden, als Max Winde erklärte, er habe sogar mal für Spreeblick ein Programm geschrieben, das „das macht Sinn“ grammatikgerecht umwandelt.

Aber warum? Was ist so schlimm an diesem kleinen Satz und woher kommt die Verachtung dieser kurzen, allzu kurzen Phrase gegenüber?

Es geht wohl alles zurück auf den Zwiebelfisch, der nicht mehr ganz so populären Kolumne von Bastian Sick, in der er sich auf dem Höhepunkt seines Erfolges, 2003, zu einem Rant (bevor dieser Anglizismus gebräuchlich wurde, den Herr Sick sicherlich ebenfalls verachtet) gegen unsere drei kleinen Wörter aufmachte.

Im Jahr 2003 steckte ich mitten im kommunikationswissenschaftlichen Studium und hatte bereits die Ausfahrt in Richtung Schwerpunkt Linguistik genommen. Und dort, in der Linguistik, schwappte Herrn Sick mindestens soviel Verachtung entgegen, wie sie heute das Machen von Sinn erfährt. Das hatte neben dem ganz profanen Neid auf seinen Erfolg tatsächlich auch einen fachlichen Grund, da Herr Sick vor allem durch gefährliches Halbwissen aus dem Dunstkreis des Vereins Deutsche Sprache glänzt.

Doch zurück zu „Das macht Sinn“, was ist denn nun so schlimm an dieser grammatisch erst einmal korrekten Zusammenstellung dreier deutscher Wörter?

Kritikpunkt 1 von Herrn Sick und seitdem tausendfach nachgesagt:

„That makes sense“ mag völlig korrektes Englisch sein, aber „Das macht Sinn“ ist alles andere als gutes Deutsch.

Sebastian Sick: Zwiebelfisch: Stop making sense!

„Das macht Sinn“ ist also, zumindest seinem Ursprung nach, ein Anglizismus. Das allein ist schon verwerflich genug und keiner von uns würde wagen, solch schändliche Worte wie Internet oder iPhone in den Mund zu nehmen, okay? Äh, ich meine natürlich „in Ordnung“? Sick hat schon Recht, Anglizismen sind eindeutig ein Zeichen des Sprachverfalls, das hätte es zu Thomas Manns Zeiten nicht gegeben! Oder? Nun gut, der gute alte Monsieur Homme schreibt zwar:

„Das ist für mich wie ein Traum, musst du wissen, dass wir so sitzen –
comme un rêve singulièrement profond, …“

Thomas Mann: Der Zauberberg

Aber das ist etwas anderes, weil Französisch! Und wenn ich noch einmal kurz Herr Kant das bestätigen könnte, dass Fremdsprachengebrauch unser Deutsch kaputt macht. Bitte, Immanuel, Sie haben das Wort:

De nobis ipsis silemus: De re autem, quae agitur, petimus: ut homines eam non Opinionem, sed Opus esse cogitent; ac pro certo habeant, non Sectae nos alicuius, aut Placiti, sed utilitatis et amplitudinis humanae fundamenta moliri.

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft.

Nun, das ist mir jetzt ein bisschen unangenehm. Aber immerhin kommt das Französisch in anständigen deutschen Restaurants nicht auf den Tisch und lateinische Wörter sind im deutschen nicht Legion! Oh…

Doch schlimmer ist ja, dass „es macht Sinn“ auf eine falsche Übersetzung zurückgeht, so Sick. Oha! Eine falsche Übersetzung, wie konnte die sich nur so trügerisch ihren Weg in unseren Sprachschatz erschleichen? Nun gut, es gibt da die Fisimatenten, die auf die Napoleonischen Soldaten und ihre Einladung an die Damen-Welt, das eigene Zelt zu besuchen, zurückgehen. Ja gut, es gibt da auch dieses Handy, das auch irgendwie ganz unglücklich den Platz unseres guten alten Mobiltelefons eingenommen hat, aber sonst, ja sonst ist die deutsche Sprache doch sicher komplett frei von so etwas niveaulosem wie Übersetzungsfehlern! Das Menü in unseren Computern, das eigentlich eine Speisekarte ist, lassen wir jetzt einfach mal unter den Tisch fallen…

Sick erklärt uns aber – zum Glück – auch noch, warum es inhaltlich falsch ist, das etwas Sinn macht. Denn Sinn macht man nicht, Sinn hat man, wegen Etymologie und so! Klar. Verstehe ich voll und ganz. Und wo wir schon dabei sind, was ist eigentlich dieses „es“ bei „es regnet“. Macht das Sinn? Und wenn ich „etwas feststelle“, was genau „steht“ dann ? Und wie „fest“? Und warum ist dir kalt? Wo du doch eigentlich ein Kältegefühl hast? Oder bist du es etwa, die kalt ist? Was sagst du, wenn du jemandem Glück wünschst, etwa weil ihm oder ihr eine schwere Operation bevorsteht? Kleiner Tipp: „Herzlichen Glückwunsch“ solltest du lieber nicht sagen!

Sprache ist auf der Wortebene nicht logisch, sie macht dort oft keinen Sinn. Das ist ein grundsätzliches Missverständnis bei der Kritik an „das macht Sinn“. Gottlob wusste schon Frege, dass das Wort erst im Satzzusammenhang Bedeutung erhält. Abendstern und Morgenstern mögen mir verzeihen, dass ich hier so schamlos Sinn und Bedeutung in einen Topf werfe. Sicks Artikel streift übrigens auch einmal linguistische Realität, allerdings nur aus Versehen, da ironisch:

Die breite Masse der „macht Sinn“-Sager denkt sich nichts dabei, vielleicht hält sie die Redewendung sogar für korrektes Deutsch. Schließlich hört man es doch täglich im Fernsehen … Ob nun richtig oder falsch, was „macht“ das schon, solange es jeder versteht.

Sebastian Sick: Zwiebelfisch: Stop making sense!

Denn die spannende Frage ist und bleibt, wie denn das Wort im Satzzusammenhang seine Bedeutung erhält, wie denn „Das macht Sinn“ sinnvoll wird. Alle, die schon manchmal hier reingelesen haben, ahnen es schon: Ludwig Wittgenstein gibt uns eine Antwort darauf.

Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.

Ludwig Wittgenstein: PU 43

Sprache ist eine zutiefst demokratische Institution. Das Volk macht sie, die Sprachgemeinschaft. Was die Sprachgemeinschaft sagt und wieder sagt und immer wieder sagt, das ist richtig. Deswegen überhören wir „Kids“ als normalen Ausdruck, runzeln aber die Stirn, wenn der VDS will, dass wir „Rangen“ sagen. Der Sprachwandel hat uns längst von letzterem zu ersterem hingetrieben. Schon Ferdinand de Saussure wusste zu sagen, dass eine der treibenden Kräfte für den Sprachwandel die Analogie ist, der Ähnlichkeitsschluss. Wir kennen sprachliche Regeln in der Regel nicht, wir wenden sie ganz automatisch an, wenn ein Ausdruck einem anderen ähnelt. Und warum sollte das auf genuin deutsche Phrasen beschränkt sein, wenn es auch mit „das macht Sinn“ ganz wunderbar funktioniert?

Nun, der naheliegende Einwand ist, dass „das macht Sinn“ eben ein falscher Freund ist. Dass es nur übernommen wurde, weil es so ähnlich klingt. Aber wir ja auch tunlichst nicht das deutsche Gift mit dem englischen gift verwechseln sollten, genauso wenig wie wir become mit bekommen übersetzen sollten.

Aber es gibt da einen gewaltigen Unterschied zu „das macht Sinn“. Letzteres hat eben – ganz typisch für ein Fremdwort eine semantische Lücke besetzt. Denn Fremdwörter verweilen nur im Deutschen, wenn sie ein Platz im Sprachgefüge finden, der noch frei ist, wenn sie zumindest eine Konnotation haben, die vom gängigen Gebrauch abweicht, weshalb es sich lohnt, etwa Download oder Laptop zu sagen. Und vielleicht sollten wir „das macht Sinn“ mal unter diesem Aspekt betrachten. Vielleicht ist am Sinn viel mehr machen als besitzen.

Schließlich machen erst einmal sprachliche Äußerungen Sinn und die sind vor allem auch Handlungen. Eine Schlussfolgerung kann sinnvoll sein. Aber ich muss etwas machen, um das zu erkennen, nämlich diesen Schluss auch ziehen. Und vielleicht erscheint uns ein Kunstwerk, eine Fremdsprache, eine Formel oder ein Code auf den ersten Blick sinnlos, aber wenn wir uns damit beschäftigt haben, damit auseinandergesetzt, damit gerungen, kurz: wenn wir gehandelt haben, dann macht es, sie, er verdammt noch einmal Sinn!

Drei Schlussanmerkungen

  1. Mein Prof. sagte mal, die deutsche Sprache verdaut Fremdwörter und scheidet am Ende alles wieder aus, was sie nicht mehr braucht. Und er hat prognostiziert, dass nach den Anglizismen das Chinesische die nächste Invasion starten wird.
  2. Ich glaube, @astefanowitsch hat mal geschrieben, dass die deutsche Sprache schon erwachsen ist und keinen Aufpasser braucht.
  3. Aus alledem folgt natürlich auch – leider – dass das Doofen-Apostroph höchstwahrscheinlich eines Tages korrektes Deutsch sein wird. Es hat schon begonnen…

 

Ich bin raus!

Hey Internet, so geht Logik! Oder: warum man nicht von einem Sein auf ein Sollen schließen kann

In den letzten Wochen kochte ja wegen Nestlé und Lego die Gender-Debatte in meinen Kreisen des Netzes hoch und mit ihr kamen gegenargumentative Reflexe, die jeder, der ein Proseminar in logischer Propädeutik (möchte ich unbedingt jedem empfehlen) absolviert hat, nicht so stehen lassen kann.

So etwas meine ich:

 

Das ist eine Variation des beliebten Arguments „In der Natur ist das so“. Von Natur aus kümmern sich die Weibchen um die Jungen, während die Männchen jagen. Männer sind stärker, sie sollten also herrschen. Oder auch immer sehr beliebt – wenngleich aus einer anderen Debatte: Homosexualität ist nicht natürlich.
Wer so argumentiert, der begeht einen ganz basalen logischen Fehler:

Den Sein-Sollen-Fehlschluss.

Eine Grundregel logischen Argumentierens, die Krux jedweder Ethik und weswegen der Menschenfreund mit Gram umwölkt ist lautet:

Man kann aus einem Sein nicht auf ein Sollen schließen.

Ihr habt sicher schon einmal etwas vom klassischen oder einfachen Syllogismus gehört. Der einfache Syllogismus ist die einfachste Form des logischen Schließens (Quasi der Lego-Viererstein) und funktioniert so, dass aus zwei Prämissen auf eine Konklusion geschlossen wird. Das berühmteste Gewand des einfachen Syllogismus ist folgendes:

P1 Sokrates ist ein Mensch.
P2 Alle Menschen sind sterblich.
C Sokrates ist sterblich
.

Was will uns nun der Sein-Sollen-Fehlschluss sagen? Ganz einfach: aus der Tatsache, dass etwas so und so ist, kann niemals folgen, dass es auch so sein sollte. Nur aus Fakten kann ich niemals auf Normen schließen.
Betrachten wir das anhand des Satzes „Homosexualität ist nicht natürlich“. Wichtig ist, dass es für die Logik erst einmal so egal wie das Urheberrecht für den Filesharer ist, ob der Satz wahr ist. Diese Frage haben andere zu entscheiden, es ist eine Frage der Empirie, der Erfahrungswelt. Fragt Biologen, Anthropologen, Soziologen, Whoever… Dem analytischen Philosophen geht es nicht um den Inhalt des Arguments sondern um dessen Struktur. Also widmen wir uns dieser, bringen wir in Wittgensteins Worten das Problem zum Verschwinden:

Zunächst fällt auf, dass unser Satz gar nicht als Schluss daher kommt, stattdessen stellt er sich unschuldig als Tatsachenbehauptung hin. Ich müsste jetzt weit ausholen um euch die heimlichen Verehrer dieses Satzes – Implikation und Implikatur– zu erläutern, aber das schöne ist ja, dass die Logik nicht erfunden wird, sondern in uns steckt und in Sokrates‘ Worten nur von einer Hebamme gehoben werden muss. Daher werdet ihr mir sicher auch ohne theoretischen Exkurs zustimmen, dass, wer in einer Diskussion, etwa ob Homosexuelle heiraten dürfen sollten (fieser grammatischer Möp), den Satz „Homosexualität ist nicht natürlich“ fallen lässt, diesen nicht einsam stehen lassen will wie einen gewissen Berg im tolkienschen Werk, sondern damit auf etwas hinaus will. Er impliziert etwas – nämlich einen Schluss.

Dieser Schluss soll wohl etwas wie das folgende aussagen:

P1 Homosexualität ist nicht natürlich.

C Deshalb sollten Homosexuelle nicht heiraten dürfen.

Was fällt uns da auf?

Rischtisch: Für unseren einfachen Syllogismus fehlt die zweite Prämisse.

BTW: Unser einfache Syllogismus ist eine Deduktion. Zwar gibt es andere Formen des Schließens (Induktion, Analogie und wenn wir es gar zu weit treiben wollten auch noch die Abduktion) die nicht unbedingt und ausgerechnet zwei Prämissen verlangen, aber diese sind im Gegensatz zur Deduktion nicht zwingend, wie der Logiker so schön sagt.

Wenn wir also den oben stehenden Syllogismus zwingen wollen zwingend zu werden, müssen wir ihm die zweite Prämisse hinzufügen um am Ende „Heureka!“ schreien zu dürfen. Und hier kommen wir an des Pudels Dickdarm aka. Kern:

Wir können jetzt noch so viele faktische Sätze als P2 einfügen, wie wir wollen, daraus wird nie zwingend die C folgen. Ob wir jetzt behaupten

P2 Alle Tiere sind heterosexuell. 

Oder P2 Nur Heterosexuelle dürfen heiraten. 

Oder gar P2 die höchste Steilküste der Welt finden wir auf Hawaii.

Daraus wird nie unsere C folgen, weil noch etwas ganz wesentliches fehlt, was unser aller geschätzter Wowi damals so ausdrückte: und das ist auch gut so. Oder um den Satz seines faktischen Gewandes zu entledigen: und es sollte auch so sein.

Aus unserer P1 Homosexualität ist nicht natürlich 

können wir nur mit der

P2 Nur natürliche Sexualpartnerschaften sollen heiraten dürfen

auf unsere C schließen: Homosexuelle sollen nicht heiraten dürfen.

Und diese P2 ist natürlich wieder äußerst kontrovers und setzt zunächst einmal eine Antwort auf die Frage voraus: Wollen wir so leben? Um jetzt wieder einmal wie der Formel-1-Fahrer den äußerst langen Bogen zurückzuschlagen:

Wenn jetzt also @rachelzwitscher konstatiert

P1 Männer und Frauen sind verschieden

Fehlt ihr eben noch immer die P2  Um auf eine

C Und deshalb sollten sie mit verschiedenen Ü-Eiern spielen

Oder C Software ist für Mädchen

Oder C Nippelzwicker-Tweets sind cool (Siehe auch hier und hier (Der Käse hat seinen Account deaktiviert, macht er aber öfter mal, also gut möglich, dass der bald wieder da sind. In dem Tweet hat er das alte Klischee geäußert, dass Männer, die Feministen sind, keinen Sex haben; 28.11.13))

zu schließen.

Und ihr könnt das jetzt in Grabenkämpfen, im Superflausch, argumentativ oder however austragen, wer hier recht hat. Alles worauf ich hinweisen wollte, war, dass auch ihr euch nicht der Logik entziehen könnt.

 q.e.d.

Ein paar Anmerkungen zum Schluss:

Wenn man den Sein-Sollen-Fehlschluss einmal verstanden hat, folgt daraus wieder mal – wie so oft in dieser verderbten (Hausaufgabe erfüllt) analytischen Philosophie – die prinzipielle Unmöglichkeit der Letztbegründung einer jedweden Ethik. Und das ist ziemlich harter Tobak. Es folgt nämlich leider daraus, dass wir nie werden beweisen können, dass die Nazis Unrecht hatten. Wir können nur sagen: Wir wollen nicht so leben.

Das war der Grund, warum ich ziemlich frustriert die Ethik als durchgespielt nach meinem Grundstudium aufgegeben habe.

Und jetzt dürft ihr weitermachen… Mit dem Köpfeeinschlagen oder womit auch immer.

Ich – als Mensch in meinem Widerspruch – werde meiner Tochter ein sexistisches rosa Kleidchen anziehen und dann ganz unsexistisch mit ihr das alte Lego spielen.

 

Ich bin raus!

Wen das alles interessiert, dem empfehle ich die Lektüre von:

Ernst Tugendhat, Ursula Wolf, Logisch-semantische Propädeutik. Reklam Stuttgart 1986.

@spitzwegerich hat mich noch auf diese beiden schönen Links aufmerksam gemacht:

Getting to QED

yourlogicalfallacyis.com

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