Platon – Der Sinn des Lebens

Die größte aller Fragen

Heute möchte ich mich heute der vielleicht größten aller Fragen widmen: Was ist der Sinn des Lebens? Erinnert euch an meinen letzten Platon-Text zurück: Wir stecken eigentlich mitten in Platons Ethik. Der Höhlenforscher hatte argumentiert, dass Ungerechtigkeit unglücklich mache, weil es der Zweck der Seele sei, gerecht zu sein. Um diese steile These zu verstehen, widmen wir uns also heute dem Sinn des Lebens. Wie immer könnt ihr entweder das Video schauen oder darunter das Ganze als Text lesen.

Unser Meister der Ideen gehört zu den ältesten nicht-religiösen Quellen, die sich mit der Sinn-Frage beschäftigt haben. Und seine Antwort lautet: Der Sinn des Lebens ist, ein gutes, glückliches Leben zu führen. Das ist doch eine gute Antwort, oder?

Platon begründet sie sogar noch: Und zwar hält er das gute, glückliche Leben für eine Letztbegründung. Eine Letztbegründung – das hatten wir ja schon im Zusammenahng mit der platonischen Liebe gelernt – ist ein Punkt, an dem man nicht mehr sinnvoll „warum?“ fragen kann. Und die Antwort: „Weil du ein gutes und glückliches Leben führen willst“, ist ein solcher Punkt. Die Frage „warum“ macht hier keinen Sinn mehr, so Platon.

Ich denke, dass beim Glück weitgehend unstrittig sein dürfte, dass es eine Letztbegründung ist, denn wer will nicht glücklich sein? Aber wie sieht es mit dem Guten aus?

Wichtig ist dabei, dass „gut“ in diesem Kontext tatsächlich (auch) moralisch gut heißt. Was es mit diesem „auch“ auf sich hat, dazu komme ich später. Denn zunächst habe ich noch ein anderes Problem: Dass es der Sinn des Lebens ist, auch moralisch gut zu handeln ist nicht so einleuchtend wie das Streben nach Glück. Denn es ist anstrengend! Wenn ich immer rein egoistisch handle, ist es viel leichter, glücklich zu werden. Ich muss mir keine Gedanken machen, wer meine Kleidung oder mein Handy hergestellt hat. Ich brauche nicht darüber nachdenken, welches empfindsame Wesen für mein Essen sterben musste. Oder was mein Dieselmotor für diesen Planeten bedeutet. Können wir nicht auf Moral verzichten und einfach sagen, dass Glück der Sinn des Lebens ist?

Platon sagt dazu, dass Egoismus vielleicht meine Triebe befriedigt. Wenn ich mich durch ihn aber moralisch schlecht verhalte, weil ich nicht an meine Mitmenschen denke, dann füge ich dadurch meiner Seele Schaden zu und handle so nicht dem Sinn des Lebens entsprechend.

Hmm, interessante Behauptung. Mir ist diese Einstellung sehr sympathisch. Aber für Sympthie kann ich mir weder im Kapitalismus noch in der Philosophie etwas kaufen. Wo der Markt Cash sehen will, da wollen wir Philosophen Argumente sehen. Also: Warum sollte Egoismus meiner Seele schaden? Nun dazu müssen wir zu unserer Frage aus der letzten Folge zurückkehren und uns angucken, was Platon über Gerechtigkeit sagt.

Was ist Gerechtigkeit?

Die Frage, was Gerechtigkeit ist, beantwortet Platon dadurch, dass er ein Modell der Seele entwirft. Demnach besteht die Seele aus drei Teilen. Zum ersten gibt es die Begierden, die natürlichen Triebe wie Hunger, Durst und den Sexualtrieb. Der zweite Teil ist die Vernunft und der dritte Teil sind die Gefühle, die Emotionen. Auch diese drei Seelenteile hören sich wieder äußerst plausibel an. Zwar sieht die moderne Psychologie das ganze etwas komplexer, aber der Grundansatz ist verdammt clever.

Ein Mensch ist, so fährt Platon fort, dann zu sich selbst gerecht, wenn er allen drei Teilen seiner Seele das zukommen lässt, was ihnen zusteht. Oje, rieche ich da mal wieder „Jedem das Seine„? Für die Vernunft ist es angemessen, richtig, das heißt: logisch zu denken. Für die Emotionen ist es angemessen, angemessen zu reagieren und für die Triebe ist es angemessen, in angemessener Weise das Leben der Menschen zu bestimmen – für Platon heißt das vor allem: gezügelt zu werden. Es ist interessant, dass Platon alle drei Seelenteile als etwas Wildes betrachtet, das in der einen oder anderen Form kontrolliert werden muss.

Der Vernunft kommt dabei – wie könnte es auch anders sein – eine besondere Rolle zu. Sie muss über die anderen beiden Teile der Seele herrschen und so für Ordnung sorgen. Wenn also unsere Triebe danach verlangen etwas zu essen, obwohl wir wissen, dass wir schon genug Kalorien zu uns genommen haben, dann muss die Vernunft ihnen Einhalt gebieten, damit wir nicht dick werden. Genauso muss die Vernunft unsere Emotionen kontrollieren, wenn wir beispielsweise jemanden die Fresse polieren möchten, weil er verdammt noch mal ein Arschloch ist! Wenn die drei Seelenteile eines Menschen sich aber in einer inneren Harmonie befinden, dann herrscht Gerechtigkeit und dann wird ein Mensch in einer solchen Harmonie auch nur gerecht handeln.

Innere und äußere Gerechtigkeit

Aber Moment, das ist doch ein merkwürdiges Gerechtigkeitsverständnis, oder? Denkt noch einmal an die Untersuchung des Begriffs der Gerechtigkeit. Dort ging es um Probleme wie den Umgang mit Freunden und Feinden, um das Zurückgeben von Dingen die du dir ausgeliehen hast, um das Betätigungsfeld der Gerechtigkeit und um die Frage, wie eine Regierung handeln muss, damit sie gerecht ist.

Demgegenüber spricht Plato nun von Gerechtigkeit der eigenen Seele gegenüber. Platon macht hier aus einem Problem der Welt, also einem zwischenmenschlichen Problem einen inneren Zustand, ein innermenschliches Problem. Aber damit gibt er dem Begriff der Gerechtigkeit eine völlig neue Bedeutung, die sich massiv von unserem alltäglichen Gebrauch unterscheidet.

Normalerweise sagen wir nicht: Weil wir wissen, dass Wolfgang Schäuble sich in innerer Harmonie befindet, handelt er gerecht, daher sollten wir nicht am Sparkurs für Griechenland zweifeln. Stattdessen fragen wir so Sachen wie: Was hat Griechenland getan, dass es so tief in die Schulden abgerutscht ist? Hatte das Verhalten Deutschlands oder Europas einen Anteil daran? Ist es gerecht die griechische Bevölkerung für einen komplexen volkswirtschaftlichen Prozess durch so massive Sparmaßnahmen zu bestrafen? Und ist es gerecht, die deutsche Bevölkerung mit ihren Steuern für die griechischen Schulden zahlen zu lassen? Das sind alles Fragen, die sich auf das Verhalten von Menschen und Staaten beziehen. Diese Fragen betreffen Zustände in der Welt und nicht die inneren Zustände von Menschen.

Wir kennen natürlich auch Fälle, in denen wir davon sprechen, dass jemand selbstgerecht ist oder im Gegenteil zu hart mit sich ins Gericht geht. Aber diese Anwendung des Begriffs der Gerechtigkeit auf das eigene Ich ist ein Sonderfall, ein Extrem. das sich aus dem Regelfall der zwischenmenschlichen Gerechtigkeit ableitet.

So leid es mir tut, ich finde diesen Teil der platonischen Philosophie wirklich schwach. Allerdings darf ich nicht verschweigen, dass Platons Definition der Gerechtigkeit noch nicht am Ende ist. Damit ein Mensch gerecht handeln kann, muss noch etwas weiteres hinzukommen. Denn die Vernunft kann die Seele nur ordnen, wenn sie ihrerseits auf etwas bezogen ist, etwas anstrebt: Das Gute.

Das Gute als Lebensziel

Jetzt kommen wir auf das „auch“ vom Anfang zurück. Denn es ist wichtig zu wissen, dass Platon noch nicht eindeutig zwischen moralisch gut und zweckdienlich unterschied, da es in der griechischen Sprache diese Unterscheidung nicht explizit gab. Ein Messer kann genauso gut sein, wenn es gut schneidet, wie eine Person, wenn sie gut handelt. Das ist wichtig zu verstehen: Denn dann macht es plötzlich sehr viel Sinn, dass der Sinn des Lebens es ist, gut und glücklich zu leben.

Platon nennt alles „gut“, das irgendwie erstrebenswert ist. Immer wenn jemand etwas tut, dann macht er oder sie dies, weil das, was sie oder er anstreben, etwas gutes ist. Kapiert? Ich möchte etwas essen, weil es gut für mich ist. Genauso möchte meine Seele gerecht sein, weil es gut für sie ist. Allerdings ergänzt Platon, dass eine Person sich darin irren kann, was gut ist. Ein Junkie wird Heroin erstrebenswert finden, aber es ist nicht gut für ihn.

Aber angenommen, wir haben einmal herausgefunden, was das wirklich Gute ist. Dann kann und wird unsere Vernunft dies anstreben. Daraus folgt dann, dass unsere Seelenteile in Harmonie gebracht werden. Ein Mensch wiederum, dessen Seelenteile sich in Harmonie zueinander befinden, ist glücklich. Woraus wiederum für Platon folgt, dass das Streben nach dem Guten glücklich macht.

Und somit schließen wir wieder den Bogen zurück zum Sinn des Lebens: Nur, wenn wir gut handeln, ist unsere Seele in Harmonie und nur so werden wir auch wirklich glücklich sein. Damit deckt sich auch mit etwas, für das sich der echte Sokrates stark gemacht hat: Dass Unrecht zu tun schlechter ist als Unrecht zu erleiden. Denn, wenn ich Unrecht tue, dann wird meiner Seele Schaden zugefügt. Dies war der Grund, warum Sokrates sich weigerte nach dem Todesurteil zu fliehen.

Okay, jetzt wissen wir, was der Sinn des Lebens ist und wir wissen, was uns glücklich macht. Das Streben nach dem Guten. Doch damit werden wir wieder auf den Anfang meiner Erörterungen von Platons Philosophie zurückgeworfen zu den drei Gleichnissen. Denn wir müssen uns einmal mehr fragen: Was ist es denn nun, dieses Gute?

Doch das machen wir beim nächsten Mal …

Es gibt die selbstlose gute Tat!

Es gibt einen Mythos in unserer Gesellschaft, den uns, soweit ich das sehe, Immanuel Kant eingebrockt hat.

Ein Mythos sickert ins abschließende Vokabular

Vor 229 Jahren, im Jahr 1785 erschien Immanuel Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Und mit dem Einsickern der Grundlegung ins abschließende Vokabular kam ein Irrtum in die Welt, der seit dem Millionenfach wiederholt wurde und dadurch doch nicht richtiger wird: Die Vorstellung, dass es keine selbstlose gute Tat gäbe.

Die Argumentation geht folgendermaßen: Du tust etwas gutes, das zwar vordergründig selbstlos ist, aus dem du also keinen Nutzen ziehst. Du wirfst etwa einem Obdachlosen etwas Geld in den Hut. Doch durch eben diese Handlung fühlst du dich gut, weshalb du letztlich doch davon profitierst – die Tat ist also nicht selbstlos. Auf die Spitze wird die Argumentation dann oft noch dadurch getrieben, dass hinzugefügt wird, dass du die gute Tat nur deshalb getan hast, weil du dich gut fühlen wolltest. Das bedeutet, dass wir alle letztendlich immer egoistisch handeln. Denn selbst, wenn wir dies anscheinend nicht tun, machen wir es immer in Wahrheit nur, weil wir uns gut fühlen wollen. Es gibt also keinen Altruismus.

Der von Gram umwölkte Menschenfreund

Bevor ich dieses Argument widerlege, möchte ich mal wieder ein bisschen philosophische Grundlagenarbeit leisten und zeigen, in welchem Kontext Kant – dem ich ja alles in die Schuhe geschoben habe – die selbstlose gute Tat ins Spiel bringt.

Zu Beginn der Grundlegung legt Kant dar, dass „der gute Wille“ der höchste Wert der Ethik ist. Ob dies so ist, ist eine andere Geschichte, der ich mich ein anderes Mal widmen werde. Es geht mir heute um einen anderen Punkt, nämlich den nämlichen: Nach dem Abschnitt mit dem guten Willen führt Kant den Begriff der Pflicht ein, denn Kant will auf eine „Pflichtenethik“ hinaus (GMS 397). Der Begriff der Pflicht enthalte den Begriff des guten Willens, so Kant. Fortan interessiert sich Kant besonders für Handlungen, die aus Pflicht vollzogen werden, zu denen aber zugleich die Handelnde eine unmittelbare Neigung habe.

Kants erstes Beispiel ist ein Händler, der faire Preise hat. Kant diagnostiziert, dass dieser Händler weder aus Pflichtbewusstsein, noch aus unmittelbarer Neigung faire Preise hat, sondern aus schnödem Eigeninteresse, um auf dem Markt zu bestehen. Na? Merkta was?

Kants nächstes Beispiel ist der Erhalt des eigenen Lebens. Dem Christentum folgend behauptet Kant ohne weitere Begründung, dass dies eine Pflicht sei und zugleich hat jeder eine Neigung dazu. In diesem Fall verhält man sich zwar „pflichtmäßig“, also der Pflicht entsprechend, aber nicht aus Pflicht.

„Dagegen, wenn Widerwärtigkeiten und hoffnungsloser Gram den Geschmack am Leben gänzlich weggenommen haben, wenn der Unglückliche, stark an Seele, über sein Schicksal mehr entrüstet als kleinmütig oder niedergeschlagen, den Tod wünscht und sein Leben doch erhält, ohne es zu lieben, nicht aus Neigung oder Furcht, sondern aus Pflicht: alsdann hat seine Maxime einen moralischen Gehalt.“

Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 398.

Der Suizid ist auch ein spannendes Thema und einem eigenen Blogpost würdig, aber auch auf diesen, und ob er moralisch verwerflich ist, will ich nicht hinaus. Sondern klarmachen, wie Kant den Begriff „aus Pflicht“ verwendet. Moralisch ist eine Handlung nach Kant nämlich nur, wenn man sie aus Pflicht vollzieht und das bedeutet für ihn immer, dass man sie gegen seine eigenen Neigungen vollführt. Kant fährt entsprechend auch fort, indem er nun endgültig die weitverbreitete Argumentation aufgreift: Es gibt viele Menschen, denen es Freude bereitet, Gutes zu tun. Aber wenngleich deren Handlungen dann pflichtgemäß sind, so geschehen sie dennoch nicht aus Pflicht und haben somit „keinen wahren sittlichen Wert“ (398).

„Gesetzt also, das Gemüt jenes Menschenfreundes wäre von eigenem Gram umwölkt, der alle Teilnehmungen an anderer Schicksal auslöscht, er hätte immer noch Vermögen, den Notleidenden wohlzutun, aber fremde Not rührte ihn nicht, weil er mit seiner eigenen genug beschäftigt ist, und dann, da keine Neigung ihn mehr dazu anreizt, risse er sich doch aus dieser tödlichen Unempfindlichkeit heraus und täte die Handlung ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht, alsdenn hat sie allererst ihren echten moralischen Wert.“

Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 398.

Wie wir sehen, vertritt Kant die These „Es gibt keine selbstlose gute Tat“ – in Kants Terminologie: Tat aus Pflicht – nur in abgeschwächter Form und räumt ein, dass man im Falle einer ernsten Depression doch mal gut, da aus Pflicht, handeln kann. Da dieser Fall so konstruiert ist, hat der Volksmund wohl ganz zu Recht daraus gemacht, dass es keine selbstlose gute Tat gibt.

Gesinnungsethik und Handlungsethik

Nein! Stopp! Es ist eben nicht zu Recht, sondern vollkommen falsch! Kant hat viele kluge Dinge geschrieben, aber dies hier gehört nicht dazu. Und das Schlimme ist, dass dieses Argument Kants so wirkungsmächtig war, weil sich damit ganz hervorragend der eigene Egoismus rechtfertigen lässt: „Warum soll ich dem Penner einen Euro geben? Wenn ich es tue, dann doch nur, weil ich mich gut fühlen will, dann kann ich es doch gleich lassen und mich um meinen eigenen Scheiß kümmern.“

Das Problem ist, dass Kant eine „Gesinnungsethik“ etabliert. Das wird schon an Kants höchstem Wert, dem guten Willen deutlich. Nicht eine moralisch gute Handlung kommt für Kant als höchster Wert in Frage sondern eine innere Einstellung. Und ich möchte hier behaupten, dass das falsch ist. Auch wenn es streng genommen kein Falsch (zumindest in diesem Sinn) in der Ethik gibt. Ich bin der Überzeugung, dass allein Handlungen einen moralischen Wert haben, will also im Gegensatz zur Gesinnungsethik eine Handlungsethik verteidigen. Und ich gehe noch weiter, indem ich sage, dass wir gewöhnlich alle nur Handlungen und nicht Gesinnungen moralischen Urteilen unterwerfen. Und diese Argumentation, wonach es keine selsbtlose gute Tat gibt, somit vom normalen Sprachgebrauch von „selbstlos“ abweicht. Das werde ich im Folgenden doppelt beweisen.

Gott als Game-Changer

Mein erster Beweis werde ich anhand eines unserer ältesten ethischen Dokumente vollziehen: den zehn Geboten. Das ist tricky, denn die zehn Gebote sind genau wie Kants Ethik eigentlich eine Gesinnungsethik, das wird gleich am ersten Gebot klar:

1. Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.

Die Zehn Gebote nach Martin Luthers Kleinem Katechismus

Genauso verhält es sich mit den Geboten 9 und 10:

9. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.

10. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat.

Die Zehn Gebote nach Martin Luthers Kleinem Katechismus

BTW: Auch interessant, dass das Haus ein eigenes Gebot hat, aber das Weib mit dem restlichen Kladderadatsch zusammengeschmissen wird. Ferner wird die männliche Zielgruppe der 10 Gebote klar…

Ich kann ja ausschließlich in Gedanken einen anderen Gott haben und ich kann nur in Gedanken begehren. Das würde Gott nicht gefallen. Also haben Kant und die Bibel doch Recht mit ihrer Gesinnungsethik? Ich glaube nicht und der entscheidende Punkt hier ist, dass Gott als Game-Changer ins Spiel gebracht wird. Denn der Allmächtige kann unsere Gedanken lesen und somit werden aus diesen inneren Zuständen Handlungen. Im Katholizismus wird das zum Beispiel im Akt der Beichte symbolisiert. Erst durch das Geständnis dem Pfarrer gegenüber wird aus dem Gedanken eine Handlung, die moralisch verwerflich wird.

Dass Ethik immer Handlungsethik ist, wird dann aber bei den anderen sieben Geboten klar:

2. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mißbrauchen.
3. Du sollst den Feiertag heiligen.
4. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.
5. Du sollst nicht töten.
6. Du sollst nicht ehebrechen.
7. Du sollst nicht stehlen.
8. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.

Die Zehn Gebote nach Martin Luthers Kleinem Katechismus

Das sind alles Handlungsanweisungen. Selbst wenn „heiligen“ oder „ehren“ sicher interpretationsbedürftige Begriffe sind, so zeigt sich ein ehren oder heiligen meines Erachtens erst in einer Handlung. Glaubt ihr nicht? Dann machen wir doch einmal die Gegenprobe: Kannst du deine Mutter in Gedanken ehren, wenn du sie wie Scheiße behandelst? Kannst du geistig den Feiertag heiligen, wenn du zugleich deine Angestellten zur Sonntagsarbeit verpflichtest? Ich denke nicht…

Hordenmoral

Aber lassen wir diese tausende Jahre alte Beispiel hinter uns und widmen wir uns meinem zweiten Beweis. Dafür möchte ich einen Blick in den heutigen Panoramateil von Spiegel Online werfen, denn Boulevardmedien haben immer die Aufgabe (in ihrem Selbstverständnis), den Lesern zu sagen, wie sie sich fühlen sollen. Sie schreiben nieder, was sittlich ist. „Hordenmoral“ in Hayeks Worten. Ich lasse mal die ganzen Promi-News außer acht und beschränke mich auf einige Artikel mit moralischem Gehalt:

„Nach Schüssen vor einem Luxushotel in Caracas ist ein Deutscher gestorben.“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Bedeutet: Mord ist doof.

„In Kürze soll die Rettung des verletzten Forschers aus der Riesending-Schachthöhle abgeschlossen sein.“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Bedeutet: Retter sind Helden.

„Weil ein dreister Nager ihrem Beet zusetzte, griff Schriftstellerin Jeanette Winterson zu einem drastischen Mittel. Sie zog dem Karnickel das Fell über die Ohren – zum Zorn ihrer Internetfans.“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Das ist spannend, denn hier wird ein Wert ausgehandelt: Darfst du ein Kaninchen töten, das dir Schaden zugefügt hat?

„Nach dem qualvollen Sterben eines Todeskandidaten hatten manche US-Staaten Hinrichtungen gestoppt. Nun sind binnen 24 Stunden gleich drei Menschen exekutiert worden.“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Bedeutet: Die Todesstrafe gehört abgeschafft.

„Johann Breyer lebt in Philadelphia, der 89-Jährige soll im KZ Auschwitz Beihilfe zum hunderttausendfachen Mord geleistet haben. Jetzt ist er verhaftet worden, die USA müssen über eine Auslieferung entscheiden.“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Bedeutet: Fuck you Nazi!

„Ein Rentner erschießt einen jungen Räuber auf der Flucht – Totschlag oder Notwehr?“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Auch hier wird wieder ein Wert ausgehandelt, eben: Totschlag oder Notwehr?

„Freida Pinto hat in einem Interview sexuelle Gewalt gegen Frauen in ihrem Heimatland Indien beklagt. Belästigungen seien dort Alltag, sagte die Schauspielerin.“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Bedeutet: Sexuelle Gewalt ist verwerflich.

Ich bin mir bewusst, dass neben meinen Allzu-Kurzanalysen noch mehr in diesen Artikeln steckt. Zum Beispiel: Warum wird das Alter des mutmaßlichen Naziverbrechers genannt? Soll hier eine Verjährung des Holocausts angedacht werden? Und warum wird sexuelle Gewalt mal wieder am Beispiel Indien durchdekliniert? Weil es so schön weit weg ist?

Es gibt die selbstlose gute Tat

Aber der entscheidende Punkt ist: Hier werden ausschließlich Handlungen gemeldet. Da steht nirgends: Weil die Höhlenretter sich gut fühlten, handelten sie nicht selbstlos. Genausowenig wird gefragt, wie sich die Todesschützen in Caracas fühlten oder was sie dachten. Oder ob die Ermordung des Kaninchens nun pflichtgemäß oder aus Pflicht geschah.

Und das ist der springende Punkt: Es ist scheißegal, wie du dich nach einer guten Handlung fühlst. Ob du Spaß beim Helfen hast oder es widerwillig machst, ist schnurzpiepsegal. Wir sollten Handlungen immer auf ihre weltlichen Konsequenzen hin beurteilen nicht auf ihre Auswirkung auf eigene innere Zustände. Daher gibt es selbstverständlich auch die selbstlose gute Tat.

Eine selbstlose gute Tat ist eine Tat, die für mich persönlich in der Welt keine Vorteile einbringt. Wenn ich ein fremdes weinendes Kind tröste, dann mag das aus einem Vaterinstinkt heraus geschehen, aber im Endeffekt habe ich keinen Nutzen davon, daher ist es eine selbstlose gute Tat. Wenn ich einer alten Frau ihre Einkäufe die Treppen rauftrage, dann mag das vielleicht nur pflichtgemäß im Sinne Kants sein, es ist dennoch eine verfickte gute Tat und da ich keinen Vorteil dadurch habe, ist sie selbstlos. Und jeder, der etwas anderes erzählt, will nur seinen eigenen Egoismus rechtfertigen.

Literatur

Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Umsonst im Volltext bei Zeno oder auf Papier bei Amazon*).

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Demut

eine Begriffsbestimmung

[Dieser Blogpost ist so lang, dass du schon wahnsinnig sein musst, wenn du ihn komplett liest. Daher kannst du einfach ans Fazit springen und den ganzen Schmonzes dazwischen auslassen. Dann wirst du feststellen, dass das Fazit so interessant ist, dass du auch das davor lesen willst und insgesamt noch viel mehr Zeit verplempern: Das Zeitreisenparadoxon.]

Zum Fazit springen

Besinnlich wird es zum Advent auch im deutschsprachigen Internet. Da kann es dann auch mal vorkommen, dass sich ein paar Blogger an den Begriff der Demut heranwagen. Ausgelöst wurde die Begriffsbestimmung vom Haltungsturnen, es folgten wirres.net und – logischerweise – Anmut und Demut.

Demut

Demut. Bild von mir. Lizenz: CC BY 3.0.

Ich finde es erstaunlich, dass auf der Klaviatur der ethischen Begriffe ausgerechnet auf diese Taste gedrückt wurde. Und das gleich drei Mal! Ich hätte vermutet, dass der Begriff schon längst vom Strom des Sprachwandels hinfortgespült worden ist. Zumindest in meinem abschließenden Vokabular spielt das Wörtchen keine Rolle mehr. Und fast noch erstaunlicher finde ich, dass alle drei Interpreten den Begriff der Demut positiv deuten, während ich es bei ihm eher mit Nietzsche halte. Doch eines nach dem anderen, schauen wir doch erst einmal, was die drei demütig zu verkünden haben. Denn das ist mein eigentliches Anliegen: hier kann man mal richtig schön Sprachanalyse betreiben und ganz im Sinne Wittgensteins „dem Volk“ aufs Maul schauen. Also: Was ist Demut?

Haltungsturnen + Pferde + Kinder = Demut

Ich musste schon ein wenig Schmunzeln, als ich über der Überschrift „Demut“ den Slogan von Wolfgang Luenenbuerger-Reidenbachs Seite las: „Niveau sieht nur von unten aus wie Arroganz“. Hmmm… Nicht gerade demütig, oder? Im Gegenteil: Ist nicht gerade das „Unten“ der Ort der Demut? Aber das nur am Rande…

Wolfgang Luenenbuerger-Reidenbach geht seine Definition in platonischer Tradition extensional an, indem er sich fragt, was unter den Begriff fällt beziehungsweise was ihn demütig macht:

„Kinder und Pferde machen demütig. Mich jedenfalls. Anderen wird es vielleicht mit anderem so gehen. Aber Kinder und Pferde erinnern mich immer wieder daran, wie zufällig so vieles ist, wie wenig binär, eindeutig, plan- und beherrschbar.“

Wolfgang Luenenbuerger-Reidenbach: Demut.

In diesem Absatz stecken schon drei spannende Aspekte des Begriffs:

  1. Demut ist ein innerer Zustand. Anders als zum Beispiel Freiheit hat die Gesellschaft darauf keinen Einfluss. Egal welchen äußeren Einflüssen ich unterliege, ich kann immer demütig sein.
  2. Demut bezieht sich auf etwas. Es ist kein alleinstehender Wert. Wieder verglichen mit der Freiheit zeigt sich der Unterschied. Freiheit ist absolut. Ein unveräußerliches Recht. Es gibt sowohl die Freiheit von etwas, als auch die Freiheit zu etwas. Demut hingegen steht immer in einer Relation zu einem anderen Wert.
  3. Demut hat etwas mit Bewusstmachen zu tun. Luenenbuerger-Reidenbach erinnert sich an etwas, das macht ihn demütig.

So weit, so gut.

Aus dieser ersten Annäherung an den Begriff zieht Wolfgang Luenenbuerger-Reidenbach aber sogleich einen falschen Schluss, indem er technikpositivistischen Menschen und Technokraten Demut abspricht. Aber warum sollte das so sein? Alle drei oben erwähnten Bedeutungsaspekte von Demut kann ich auch auf Technikpositivismus oder Technokratie anwenden. Es gibt keine intrinsischen Bedeutungsaspekte von Technikpositivismus oder Technokratie, die mit Demut im Widerspruch stehen. Ich kann sehr demütig daruf hoffen, dass der Replikator erfunden wird und mit ihm der Hunger der Welt endet. Genauso kann ich als Technokrat vor jeder Regierungsentscheidung Wissenschaftler befragen, um dann ganz demütig zu einer Entscheidung zu kommen. Luenenbuerger-Reidenbach zieht diesen Schluss, um damit implizit einen weiteren, zentralen Bedeutungsaspekt von Demut einzuführen:

„Ob es wirklich und ernsthaft Menschen geben kann, die sich nicht nur einzureden versuchen (ob aus Schwäche und Unsicherheit oder aus Kalkül), sie könnten die Zukunft vertraglich regeln oder die Funktionsweise von irgendwas mit Menschen oder der Natur mithilfe von Gesetzmäßigkeiten erklären und vorhersagen.“

Wolfgang Luenenbuerger-Reidenbach: Demut.

Demut ist das Gegenteil von Hybris, Arroganz und Hochmut. Sie ist verwandt mit Bescheidenheit. Allerdings muss ich noch einmal betonen, dass Luenenbuerger-Reidenbach keinerlei Argument liefert, warum Technikpositivismus oder Technokratie nicht auch demütig sein können. Seine vemeintliche Schlussfolgerung ist ein purer Sophismus. Karl Poppers Stückwerk-Sozialtechnik ist ein äußerst technokratischer Ansatz. Aber gerade im Wissen um seine eigene Fehlbarkeit erscheint er mir demütig, in dem Sinne in dem Luenenbuerger-Reidenbach den Begriff verwendet. Letzterer benutzt die Demut hier als nichts anderes, denn als Buzzword um seine Abneigung gegenüber Technokratie und Technikpostivismus zur Schau zu stellen. Technikpositivismus und Technokratie sind böse weil Demut! Eine Begründung lässt er aus.

Aus dieser Einstellung heraus folgt im Haltungsturnen ein Rant über den Begriff des Naturgesetzes, den wir hier vernachlässigen können, weil er m. E. auf einer falschen Definition des Begriffs aufbaut. Interessant ist noch dieses Zitat bevor wir uns den Wirren von wirres.net zuwenden:

„Nur Wesen, die wir gebrochen haben, ergeben sich in die Beherrschbarkeit“

Wolfgang Luenenbuerger-Reidenbach: Demut.

Denn meinem Verständnis nach gibt es noch etwas anderes, das Beherrschbarkeit über Jahrhunderte hinweg ermöglicht hat: Demut. Ich werde das später noch weiter ausführen.

Wahrheit und Fehlbarkeit

„Madame Kovarian: Good men have too many rules.
The Doctor: Good men don’t need rules. Today is not the day to find out why I have so many.“

Doctor Who: A Good Man Goes to War.

Da dieser Text schon jetzt langsam tl;dr wird, möchte ich zu Felix Schwenzel und seinem Demut-Text voranschreiten. Denn dieser bringt mein Problem mit der Demut sogleich auf den Punkt, auch wenn sein Autor es negiert:

„für mich spielt der bedeutungsaspekt [sic! Stellvertretend für jedes kleingeschriebene Substantiv, das noch kommt; db] der unterwürfigkeit weniger eine rolle, als die bescheidenheit. und zwar nicht bescheidenheit im sinne von understatement, sondern im sinne eines eingeständnisses der eigenen fehlbarkeit.“

Felix Schwenzel: Demut.

Hier haben wir also drei weitere Bedeutungsaspekte von Demut:

1. Unterwürfigkeit
2. Bescheidenheit
3. Eingeständnis der eigenen Fehlbarkeit

Schwenzel fährt fort, indem er auch wieder die innere Haltung ins Spiel bringt, kombiniert mit Toleranz und Respekt:

„eine haltung, die den austausch und die kommunikation mit anderen menschen erleichtert, aber auch den umgang mit und das verständnis der welt.“

Felix Schwenzel: Demut.

Dann macht er etwas spannendes, nämlich die epistemologische Wende des Begriffs der Demut:

„…sogenannten wahrheiten immer differenziert, skeptisch und mit demut zu begegnen. denn ich bin überzeugt davon, dass menschen, die glauben im besitz der wahrheit zu sein, die welt zur hölle machen.“

Felix Schwenzel: Demut.

Er setzt hier Demut in Relation zu Skepsis und differenzierter Betrachtung in Bezug auf die Wahrheit. Das begründet er dann moralisch. Menschen, die sich im Besitz der Wahrheit wähnen, werden zu Tyrannen. Das ist ein spannender Punkt, den ich partiell teile, wenngleich ich ihn wesentlich vorsichtiger formulieren würde. Denn ich glaube nicht, dass die Gewissheit, dass ich jetzt eine Hand hochhalte, mich in die Gefahr bringt, tyrannisch zu werden. Da ich Felix Schwenzel auch nicht unterstellen möchte, dass er so weit gehen würde, ist mit der Gewissheit, also dem Besitz der Wahrheit, auf den er sich bezieht, wohl etwas anderes gemeint. Eine besondere Form der Gewissheit: das Wissen darum, was moralisch richtig ist. Menschen, die sich dessen gewiss sind, die ihre Handlungen nicht hinterfragen, sind gefährlich. Sie sind nicht demütig.

„das eingeständnis von fehlbarkeit bedeutet keinesfalls, dass man nicht felsenfest von etwas überzeugt sein kann. solange man diese überzeugung, wie ein guter wissenschaftler, als hypothese betrachtet, die durch neue fakten, andere blickwinkel oder perspektiven neu evaluiert oder formuliert werden muss.“

Felix Schwenzel: Demut.

So fährt Schwenzel fort. Auch das ist wieder ein sehr schöner Gedanke, denn er versteht Demut hier als moralische Falsifikation. Aber auch hier geht er wieder zu weit, indem er dann folgert:

„genaugesehen sind alle unsere urteile vorurteile. wir können versuchen unsere urteile auf eine möglichst breite basis zu stellen, aber niemals ausschliessen, dass wir etwas übersehen oder vergessen haben.“

Felix Schwenzel: Demut.

Es gibt vier Arten von Urteilen:

  1. die Abduktion (Schluss von einem Einzelfall auf etwas Allgemeines)
  2. die Induktion (Schluss von einer Reihe von Einzelfällen auf etwas Allgemeines)
  3. die Deduktion (Schluss vom Allgemeinen auf einen Einzelfall)
    und
  4. die Analogie (Schluss von einem Einzelfall auf einen anderen Einzelfall aufgrund einer Ähnlichkeit)

Und nur 1. und mit Einschränkungen noch 2. sind Vorurteile. Nicht hingegen, dass Sokrates sterblich ist, wenn er ein Mensch ist und alle Menschem sterben (3.). Oder dass die 1. Person singular im Futur I von „möpen“ „ich werde möpen“ lautet, weil die 1. Person singular im Futur I von „sagen“ genau so gebildet wird (4.).

Doch das nur am Rande, denn Felix Schwenzel liefert uns noch weitere Bedeutungsaspekte von Demut:

„demut muss man lernen. sie ist ein erkenntnisprozess und nichts schwermütiges oder trübsinniges.“

Felix Schwenzel: Demut.

Während er den Lernaspekt mit der Abduktion seiner eigenen Kindheit begründet, lässt Schwenzel den zweiten Teil der Hypothese etwas wirr unbegründet stehen. Das ist schade, denn das sind genau die Konnotationen von Demut, die mir den Begriff unangenehm machen. Genau diese Argumentation wäre also für mich die eigentlich spannende gewesen.

Platz halten: Demut!


Kommen wir zum letzten Teil unseres Triptychons: anmut und demut. Benjamin Birkenhake beginnt seinen Beitrag zur Demut etwas konfus:

„Im Titel dieses Blogs verwende ich „demut“ in zwei Bedeutungen: Zum einen als Platzhalter für alles Gute und Wahre – im Zusammenspiel mit „anmut“ als Platzhalter für alle Schöne und Faszinierende. Obschon mir die Demut eigentlich eine relative Tugend scheint, weil man jemandem, oder anderen gegenüber demütig ist, im Zweifel im Verhältnis zu seinem vorherigen Ich, scheint sie mir eine Primärtugend zu sein. Man kann nicht demütig sein und zugleich ein KZ führen. Sie ist eine der Tugenden, die uns vor der Barbarei rettet.“

Benjamin Birkenhake: Demut.

Zum einen fehlt mir das „zum anderen“ hier und zum anderen macht Birkenhake mehr als zwei Bedeutungen auf:

  1. Demut ist Platzhalter für alles Gute und Wahre. Hat also irgendetwas mit Erkenntnis und Moral zu tun.
  2. Demut ist eine relative Tugend – den Aspekt hatten wir oben schon bei Luenenbuerger-Reidenbach. Doch anders als beim Haltungsturnen wird hier die Demut nicht in Relation zu einem anderen Wert sondern zu einer anderen Person gesetzt. Sofern ich diesen wirklich konfusen Satz richtig auslege, kann die andere Person auch man selbst in der Vergangenheit sein. Was auch immer das bedeuten mag.
    Da Benjamin Birkenhake uns sicher nicht das Zeitreisenparadoxon erklären will, scheint er wohl zu sagen, dass man sich demütig gegenüber Positionen zeigen soll, die man selbst früher mal vertreten hat. Oder bin ich total auf dem Holzweg? Mir erschließt sich das überhaupt nicht: Wenn ich zu einer neuen Erkenntnis gelangt bin, etwa dass die Erde eine Kugel und keine Scheibe ist, warum soll ich dann Demut vor meinem Ich haben, das noch dem Irrglauben verhaftet ist, dass unsere Erde Pizzagestalt hat? Vielleicht meint er wohl doch das Zeitreisenparadoxon…
  3. Demut ist eine Primärtugend
  4. Demut schützt vor Barbarei

Spannend ist wohl vor allem 3. und die Frage, was Birkenhake unter „Primärtugend“ versteht. Leider lässt er den Begriff hier ganz isoliert ohne Erläuterung stehen. Möglicherweise meint er Kardinaltugend, aber das ist ein weiteres Mal bloße Spekulation. Und ein Blick in die Wikipedia genügt, um festzustellen, dass die Demut gerade nicht dafür bekannt ist, eine Kardinaltugend zu sein. Allerdings schreibt Birkenhake ja, dass sie für ihn eine Primärtugend ist. Jedoch ergibt sich daraus ein anderes Problem, dem ich mich gleich noch widmen werde.

„Zum anderen ist sie mir – wie ich oben schon erwähnt habe – vor allem eine Mahnung.“

Benjamin Birkenhake: Demut.

Ahhh, da ist „das andere“. Da schlägt jemand lange Bögen – das mag ich. Aber was lernen wir von ihm hier über die Demut? Demut ist eine Mahnung oder Lektion. Die Demut wird von ihm erneut in Relation zum Erinnern gesetzt. Aber Birkenhake erinnert nicht – wie oben Luenenbuerger-Reidenbach – ein Drittes an Demut. Stattdessen muss er sich selbst an sie, die Demut, erinnern: ermahnen. Demut ist ferner ein Prozess, eine Persönlichkeitsentwicklung. Allerdings er schließt an, dass diese Entwicklung nie abgeschlossen ist. Da stellt sich mir die Frage, ob man dann wirklich von einer „Entwicklung“ sprechen kann. Gehört es nicht zum Begriff der Entwicklung, dass sie irgendwann abgeschlossen ist? Zumindest wenn sie nicht gestört wird. Was Benjamin Birkenhake hier anspricht scheint eher ein innerer Kampf zu sein. Es gibt einen demütigen und einen hochmütigen Aspekt meines Charakters, die sich bekämpfen und ich muss mich zeitlebens bemühen, dass der Hochmut nicht gewinnt.

Mit Anmut und Demut fährt Benjamin Birkenhake fort, dass die Demut für ihn eine „säkulare“ Tugend ist. Diese Idee führt ihn stilistisch zur anfänglichen Konfusion zurück, denn Demut sei eine Überzeugung, nicht rational sondern ein Glaube. Er meint sogar, aus rationalen Gründen demütig zu sein, sei quatsch. Aber – und hier schreit die Kontradiktion schriller als Oskar Matzerath – die Demut sei ein „säkularer Glaube“.

„Es bedarf keiner Metaphysik, keinen religiösen Elementen, um Demut als Position zu wählen. Und das Praktizieren von Demut erfordert weder Glauben, noch Ritaule. Demut ist neben der Selbstbeurteilung zuerst ein Verhaltensmuster anderen gegenüber.“

Benjamin Birkenhake: Demut.

Sorry Herr Birkenhake, aber bitte kriegen Sie mal Ihre Terminologie auf die Reihe!

Zum ersten: Welchen Metaphysikbegriff hat er? Es liest sich so, als würde er „Metaphysik“ mit „Religion“ gleichsetzen, das aber ist eine steile These. Ich bediene mich hier mal der Wikipedia, die die Fragestellungen der Metaphysik folgendermaßen wiedergibt:

„Gibt es einen letzten Sinn, warum die Welt überhaupt existiert? Und dafür, dass sie gerade so eingerichtet ist, wie sie es ist? Gibt es einen Gott/Götter und wenn ja, was können wir über ihn/sie wissen? Was macht das Wesen des Menschen aus? Gibt es so etwas wie „Geistiges“, insbesondere einen grundlegenden Unterschied zwischen Geist und Materie (Leib-Seele-Problem)? Besitzt der Mensch eine unsterbliche Seele, verfügt er über einen Freien Willen? Verändert sich alles oder gibt es auch Dinge und Zusammenhänge, die bei allem Wechsel der Erscheinungen immer gleich bleiben?“

Wikipedia: Metaphysik.

Wie wir sehen, umfasst Metaphysik weit mehr als bloß Fragestellungen der Religion. Ferner widerspricht sich Birkenhake indem er plötzlich behauptet, Demut erfodere keinen Glauben. Also Demut ist ein Glaube erfordert aber keinen Glauben? Ich glaube wir sind hier wieder beim Zeitreisenparadoxon angelangt…

Statt dessen wird Demut in anmut und demut nun als Selbstbeurteilung und Verhaltensmuster anderen gegenüber erklärt. Dafür gibt es einen Terminus in der Philosophie: Ein Wert oder – wie es oben schon stand – eine Tugend. Nix mit Glaube oder so. Das sind zwei Paar Schuhe. Ich glaube… aber das ist einmal mehr bloße Spekulation … dass Benjamin Birkenhake hier auf die Letztbegründungsproblematik hinaus will. Ich kann eine Ethik nicht letztbegründen. Warum das so ist, habe ich bereits hier und hier ausgeführt. Den Weg, den die theistischen Religionen gehen, um ihre Ethik zu begründen ist das Dogma. Sie begründen jeden Wert und jede Norm mit: „Weil Gott es so will“. Möglicherweise versucht uns Birkenhake zu sagen, dass er auf diese Letztbegründung verzichten will, stattdessen will er die Demut selbst als letzten Grund ansetzen. Das wäre natürlich logisch keinen Deut besser als Gott, denn damit erhebt er sich selbst zum Maß aller Dinge. Und der belesene Platonkenner weiß, dass daraus der performative Widerspruch folgt. Aber das möchte ich hier nicht weiter ausführen, denn wie gesagt, ist das bloße Spekulation und ich habe nicht einen blassen Schimmer ob es das ist, was Birkenhake uns sagen will, oder ob er auf etwas ganz anderes hinaus will. Schauen wir mal, was er sonst noch zu sagen hat.

„Ich denke hinter der Demut steht vor allem die Überzeugung und Erfahrung, dass eine ganze Reihe von Glücksversprechen mit denen wir aufwachsen nichts als Irrlichter sind. Karriere, Wohlstand, Ansehen, Macht …“

Benjamin Birkenhake: Demut.

Hier kommen wieder die Bescheidenheit und die Skepsis zum Vorschein. Demut sei ein Wegweiser, der auf die kleinen Freuden im Leben verweise. Weniger ist mehr, mit anderen Worten: Genügsamkeit wird hier als ein Bedeutungsaspekt von Demut hervorgehoben. Birkenhake fährt fort, dass demütig Interagieren mit anderen bedeutet, „Rücksicht und Gnade“ walten zu lassen. Und schließlich charakterisiert er die Demut als diejenige Tugend, die hinter Rawls „Schleier des Nichtwissens“ steckt.
Puuuh… That’s a tough one. Denn Rawls Schleier basiert ja auf der Idee, dass alle Akteure in einer Gesellschaft zunächst einmal nicht demütig sondern egoistisch agieren. Erst wenn sie nicht wissen, wo sie in der Gesellschaft stehen, sind sie bereit anderen Güter zukommen zu lassen, aus Angst selbst benachteiligt zu werden. Aber das heißt ja nicht, dass Birkenhake unrecht hat. Gewissermaßen könnte man den Schleier als Metapher für die Demut verstehen. Das würde Demut eine altruistische Bedeutungskomponente geben…

Benjamin Birkenhake schließt, indem er zu Luenenbuerger-Reidenbachs Kindern und Pferden zurückgekehrt. Er übersetzt diese, indem er demütig noch einmal darauf hinweist, dass er (und ich möchte ergänzen: „und ich und du“) nur einer (drei) Menschen von sieben Milliarden sind.

Die Quintessenz: Was ist Demut?

So, nun haben wir die drei Blogposts erfolgreich analysiert. Schauen wir also mal, was hinten raustropft, wenn wir den Begriff der Demut auswringen. Welche Bedeutungsaspekte hat „Demut“?

  1. Demut ist ein innerer Zustand
  2. Demut ist eine Relation, kein alleinstehender Wert
  3. Zur Demut gehört, sich etwas bewusst machen
  4. Demut ist das Gegenteil von Hybris, Arroganz und Hochmut
  5. Zur Demut gehört Bescheidenheit
  6. Unterwürfigkeit
  7. Eingeständnis der eigenen Fehlbarkeit
  8. Skepsis
  9. Differenzierte Betrachtung in Bezug auf die Wahrheit
  10. Zweifel, was moralisch richtig ist
  11. moralische Falsifikation
  12. Demut muss man lernen
  13. Demut ist Platzhalter für alles Gute und Wahre. Hat also irgendetwas mit Erkenntnis und Moral zu tun.
  14. Demut kann eine Relation zu einem anderen Wert oder zu einer anderen Person sein
  15. Demut ist eine Primärtugend
  16. Demut schützt vor Barbarei
  17. Demut ist eine Mahnung oder Lektion
  18. Demut ist ein Prozess, eine Persönlichkeitsentwicklung oder ein innerer Kampf
  19. Eine Überzeugung
  20. Ein Glaube
  21. Selbstbeurteilung und Verhaltensmuster anderen gegenüber
  22. Ein Wegweiser
  23. Genügsamkeit
  24. demütig Interagieren mit anderen bedeutet, „Rücksicht und Gnade“ walten zu lass
  25. Rawls „Schleier des Nichtwissens“
  26. Altruismus

Diese allzu unordentlich Liste kann man in drei Bedeutungsfelder einteilen:

Zunächst einmal haben alle drei Autoren Bedeutungsaspekte hervorgearbeitet, die allgemein für Werte gelten und die die Demut im Wertespektrum verordnen. Das gilt allem voran für „Demut schützt vor Barbarei“. Uns vor Barbarei zu schützen, ist die grundsätzliche Aufgabe einer jeden Ethik. Die Decke der Zivilisation ist äußerst dünn und allen voran der Nationalsozialismus aber auch – in jüngerer Zeit – der Bosnien-Krieg oder der Völkermord in Ruanda haben gezeigt, wie leicht sie abgestreift ist. Ethische Regeln haben genau diese Aufgabe: Die zivilisatorische Decke schön festzurrren, um somit Barbarei möglichst zu verhindern. Dass Demut ein Wegweiser und eine Überzeugung ist, eine Mahnung oder Lektion, dass man sie lernen muss, dass sie eine Selbstbeurteilung und Verhaltensmuster anderen gegenüber ist und in ihrer Unbegründbarkeit sogar einem Glauben ähnelt, teilt die Demut mit allen anderen normativen Sätzen. Eben das machen sie zu einem Wert, einer Norm, einer Tugend. Demut als einen Prozess, eine Persönlichkeitsentwicklung oder ein innerer Kampf zu charakterisieren bedeutet genau ihren Kern als Tugend (und wie wir mit Tugenden umgehen) zu definieren.
Kommen wir zur Einordnung der Tugend im Wertespektrum: Als Tugend bezieht sich die Demut dann auf einen inneren Zustand. Sie verhält sich da genau wie etwa der Verzicht auf Neid, Missgunst oder Hass. Sie gibt weniger konkrete Handlungsanweisungen im Miteinander mit anderen Menschen wie die Gerechtigkeit oder die Freiheit (im Sinne vom Zugestehen von Freiheiten) sondern bezieht sich auf unsere Gefühle unsere Einstellungen der Welt und unseren Mitmenschen gegenüber. Das kombiniert die Demut mit ihrem relationalem Charakter. Man ist in Bezug auf etwas oder jemanden demütig. Was dieses andere ist, demgegenüber man demütig ist, ist nun sehr schwer zu fassen, denn es scheint weitgehend eine subjektive Entscheidung zu sein.

Diese subjektive Entscheidung spiegelt sich im zweiten Bedeutungsfeld, das unsere Autoren aufgemacht haben, in dem sie sich mit den Zweifeln und der Bewusstmachung herumgeschlagen haben. Auf der Suche nach etwas, demgegenüber ich demütig sein sollte oder sein kann, muss ich zunächst meine eigene Fehlbarkeit eingestehen. Das ist eine Krux, denn das impliziert natürlich auch, dass der Wert der Demut ein Irrtum sein kann. Ich muss gegenüber meinen eigenen Überzeugungen und gegenüber den (moralischen) Gewissheiten anderer immer Skepsis an den Tag legen. Ich muss stets bereit sein, vermeintliche Wahrheiten differenziert zu betrachten, Zweifel haben, was moralisch richtig ist und in eben diesem Zweifel meine moralischen Werte auch falsifizieren.

Und diese Einstellung, der Zweifel und die Vorsicht führen uns dann zum dritten Bedeutungsfeld der Demut. Denn aus ihnen folgt die Bescheidenheit, die Genügsamkeit und der Altruismus. Ich muss mich vor der eigenen Hybris, Arroganz und dem eigenen Hochmut in Acht nehmen. Meinen Mitmenschen gegenüber „Rücksicht und Gnade“ walten lassen, auch wenn es sich arg mittelalterlich-christlich anhört. Doch genau das führt uns zu der letzten Bedeutungskomponente der Demut, die zweifellos da ist, auch wenn sie wie das ungeliebte Kind in den Keller gesperrt wird. Vielleicht wird sie sogar nur von der Demut konnotiert, doch sie lässt sich nicht verleugnen, selbst wenn unsere Autoren betonen, dass sie ihnen nicht so wichtig ist. Zur Demut gehört eben auch die Unterwürfigkeit. Und sie ist die „dunkle Seite der Macht“. Sie ist genau jener Aspekt an der Demut der mich stört und der sie aus meinem abschließenden Vokabular verbannt hat.

Doch bevor ich zu diesem letzten Kapitel dieses langen, allzu langen, Textes voranschreite, möchte ich noch eines zur Bedeutung der Demut sagen: Aus alldem – besonders aus der Relationseigenschaft und dem inneren Wert, schließe ich, dass die Demut gerade keine Primär- oder Kardinaltugend ist, sondern immer nur gut und wichtig, wenn sie richtig eingesetzt wird.

Demut und Unterwürfigkeit

Die Dame und meine Tochter (6) lesen gerade „Der Kleine Ritter Trenk und fast das ganze Leben im Mittelalter“* von Kirsten Boje. Meine Tochter erzählte mir daraufhin, dass die meisten Menschen im Mittelalter so arm waren, dass sie sich nicht einmal Feuerholz leisten konnten und im Winter frieren mussten.

Darauf ich so: Warum sind sie dann nicht einfach in den Wald gegangen und haben Holz gesammelt.
Sie so: Weil der Wald dem Fürsten gehört.
Ich so: Wenn sie keine Bäume fällen, sondern einfach sammeln, was am Boden liegt, merkt der Fürst das doch gar nicht.
Sie so: Aber der Fürst ist doch von Gottes Gnaden. Das darf man deshalb nicht.

Das ist Demut. Das ist die Unterwürfigkeit, die mit der Demut einhergeht. Das ist der Grund, warum Nietzsche das Christentum „Sklavenmoral“ nannte. Demut bedeutet nämlich auch immer, sich mit den herrschenden Verhältnissen zu arrangieren. Bloß nicht aufbegehren, sondern bescheiden sein. Wenn das Volk kein Brot hat, soll es doch demütig auf ein besseres Leben im Jenseits hoffen. Natürlich ist das kein Problem wenn alle kategorisch-imperativ demütig wären.

Aber wissta was? Die Welt ist nicht so.

Wir können uns nicht hinstellen, guten Willens demütig sein und uns dann wundern, dass die Welt dafür noch nicht bereit ist. Wir müssen verantwortungsethisch auch damit rechnen, dass es in der Welt auch Arschlöcher gibt, die versuchen die Ethik der Anständigen auszunutzen. Und dann heißt es aufstehen und dagegen rebellieren. Doch diese Rebellion ist eben nicht mit Demut vereinbar. Daher möchte ich auf die Demut verzichten. Skepsis, Zweifel, Altruismus, Genügsamkeit, Bescheidenheit sind Teil meines abschließenden Vokabulars, aber eben nicht die Demut. Weil Demut Unterwürfigkeit zumindest konnotiert.

Ich bin raus.

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