Heiligabend

Ich bin kein gläubiger Mensch. Aber an Heiligabend gehen wir in die Christmesse. Das Christentum hat einen großen Einfluss auf unsere Kultur und ich versuche meinen Töchtern diesen nahezubringen – das beste Mittel dagegen, dass sie eines Tages irgendeinen Abendlandblödsinn von sich geben.

Besonders leicht wird mir mein pädagogisches Anliegen dadurch gemacht, dass die Kirche in unserem Viertel so angenehm modern ist, dass ihr Pfarrer zum Beispiel demonstrativ schwul ist und während der Christmesse schon mal  Marilyn Monroes Version von „Happy Birthday“ anstimmt.

So war es auch nicht weiter verwunderlich, dass ein Programmpunkt des Gottesdienstes war, dass ein muslimischer Nachbar (wie er sich nannte) sprach, den Christen zu ihrem Fest gratulierte und für Liebe und Interreligiöses Verständnis plädierte.

Während dieser Rede spürte ich in mir eine leider vertraut gewordene Furcht, die mich mittlerweile immer ergreift, wenn der Islam in der Öffentlichkeit thematisiert wird: Hoffentlich sagt niemand aus dem Publikum etwas Dummes. Ich hatte Angst, dass – während auf der Bühne ein Mensch über Liebe sprach und seine Trauer über den Anschlag in Berlin zum Ausdruck brachte – jemand in meiner Nähe etwas hasserfülltes raunt oder gar laut hinaus schreit…

Aber das geschah nicht. Das Gegenteil trat ein: Als der Gast zu Ende geredet hatte, applaudierte die Gemeinde. Mir stiegen die Tränen in die Augen und es wurde mir sehr weihnachtlich ums Herz.

Kinder sind laut, kleben, riechen und stellen unangenehme Fragen

Am Montag fuhr ich auf dem Rad zur Arbeit und hörte dabei den schönen Podcast Der Weisheit. Dort diskutierten die Podcastenden Patricia, Malik und Marcus das Phänomen, dass anscheinend immer mehr Orte zu kinderfreien Zonen erklärt werden. Ein interessantes Thema, bei dem ich – die geneigte Leserin könnte es wissen – möglicherweise nicht ganz unvoreingenommen bin. Interessanterweise berichtete die Dame ebenfalls, dass eine Kollegin zum Urlaub in ein kinderfreies Hotel fährt. Die Dame war sehr aufgebracht darüber, während ich so etwas zwar befremdlich finde aber am Ende des Tages so ein beschissener Liberaler bin, der meint: Sollen sie halt machen wenn es ihnen Spaß macht … die Kackbratzen!

Kind im Museum: Ob es laut ist, klebt, riecht oder unangenehme Fragen stellt, ist nicht überliefert.
Kind im Museum: Ob es laut ist, klebt, riecht oder unangenehme Fragen stellt, ist nicht überliefert.

Allerdings regte mich das Thema dann zum Nachdenken an … Vielleicht irre ich mich, aber früher waren Kinder doch nur an Orten verboten, die für sie gefährlich sind: Baustellen, Kneipen, in denen geraucht wird, Kinosäle, in denen Filme für Erwachsene laufen, am Steuer von Autos oder auf der Brücke der Enterprise. Dass wir Kinder von Orten ausgrenzen, an denen wir sie als störend empfinden, weil wir Erwachsenen unsere Ruhe haben wollen, ist ein neueres Phänomen. Es begegnete mir als erstes, als hier in Frankfurt ein Café medienwirksam Kindern den Zutritt verwehrte. Das gleiche gab es später dann auch in Berlin, wo sie bekanntlich den Trends der Mainmetropole hinterherlaufen.

Die Dame war schnell dabei, diese Ausgrenzung mit Rassismus und Sexismus gleichzusetzen. Und auch in der Weisheit wurde diskutiert, ob das zulässig ist. Mein erster Impuls ist, das problematisch zu finden. Denn Menschen, die aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihres Geschlechts diskriminiert werden, machen ja nichts. Sie existieren einfach, und allein diese Existenz stört manche Vollpfosten. Bei Kindern hingegen ist es eher das Verhalten, das andere Menschen stört: Kinder sind laut, kleben, riechen, stellen unangenehme Fragen, gehen dorthin, wo sie nicht hin sollen und nutzen Dinge anders als die gesellschaftliche Konvention es vorsieht … Hmmm … Ein bisschen so wie Nerds, oder?

Egal! Denn auf den zweiten Blick gibt es andere Diskriminierungen, die dieser – wenn ich es eine Diskriminierung nennen will, da bin ich mir noch immer nicht sicher – schon näher kommen: So zum Beispiel die Religionsfreiheit. All die Pegidioten regen sich über den Islam auf, weil Moslems Dinge machen oder lassen, die sie nicht gut finden. Weil sie anders sind. Weil sie sich zum Beten auf einen Teppich knien anstatt die Glotze einzuschalten. Ach was weiß ich, warum rechte Spinner Muslime nicht mögen … Von dort aus kommen wir jedenfalls schnell zu noch anderen Diskriminierungen, die jener (möglichen) von Kindern noch ähnlicher sind. Ich spreche davon geistig behinderte Menschen oder Demenzkranke auszuschließen. Allerdings machen wir letzteres auch tatsächlich oft dann, wenn ihr nicht regelkonformes Verhalten uns stört. Etwa im Kino, im Theater oder in der Oper …

Ein anderer Aspekt schlich sich im Zuge dieser Gedanken noch in mein Bewusstsein, als wäre er der Häuptling der Apachen: Vielleicht irre ich mich, aber was Menschen meist an Kindern kritisieren, ist der Lärm, den sie machen. Allerdings ist Lärm ganz unabhängig von Dezibelzahlen etwas sehr subjektives. Denkt einfach mal an einen Actionfilm, den ihr gut findet, bei dem die Explosionen krachen im Vergleich zu einem bedrückenden Horrorfilm, bei dem ihr in gleicher Lautstärke Menschen schreien hört oder noch Schlimmeres … Oder denkt daran, einen Song zu hören, den ihr richtig mögt im Gegensatz zu der Plörre, die aus dem Musikantenstadel rausgelaufen kommt. Gibt es das eigentlich noch? Hoffentlich, denn das passt gut zu meiner These …

Wir sollten alleine mal überlegen, welchen Lärm wir in Kauf nehmen, nur weil wir des Deutschen liebstes Kind in unsere Städte lassen: Das Auto! Ich frage mich, wie oft ein Spezialsympath seinen Kaffee im kinderlosen Café in aller Ruhe genießt, während davor ein SUV oder ein Porsche vorbeiknattert oder ein Lastwagen laut piepend rückwärts fährt. Ernsthaft: Wer sich über Kinderlärm aufregt, aber kein Problem mit Autos hat, der oder die macht sich einfach nur lächerlich.

Wenn Lärm subjektiv ist, warum ordnen wir dann Kinderlärm in den störenden Teil des Lärmspektrums ein? Hier meine These: Das liegt an unserer überalternden Gesellschaft, in der Kinder immer mehr zur Ausnahme werden. Autolärm ist allgegenwärtig, daher fällt er uns überhaupt nicht auf. Dass immer mehr Leute immer ablehnender auf Kinderlärm reagieren, liegt daran, dass es ihn immer seltener gibt. Es handelt sich um einen Ausdruck unserer kinderlosen Gesellschaft. Obendrein ist es ein kleines Stellrädchen in einem sich selbst verstärkenden Prozess. Zwar pumpt unser Staat viel Geld in Eltern, aber die Rahmenbedingungen stimmen trotzdem nicht, weil viele Faktoren in unserem Land schlichtweg kinderfeindlich sind. Womit ich nicht sagen will, dass du uns nicht noch mehr Geld geben darfst, lieber Staat! Aber Kinder von Orten des öffentlichen Lebens auszusperren, ist einer dieser Faktoren, die das Poppen mit Endprodukt unattraktiver machen. Und es ist obendrein einfach nur dumm! Denn selbst wenn du Kinder hasst, brauchst du sie. Einen Unterschied zu den oben erwähnten anderen Arten von Diskriminierung gibt es nämlich noch: Kinder bleiben nicht immer Kinder. Sie werden erwachsen. Auch wenn du diese kleinen, lauten Menschen, die kleben, riechen und unangenehme Fragen stellen, hasst, solltest du ihnen vielleicht das Leben nicht allzu schwer machen. Denn eines Tages wirst du 60, 80 oder 100 Jahre alt sein und alle dein Freunde auch. Und dann brauchst du jemanden, der oder die für dich den Müll abholt, die Toilette putzt oder den Kaffee in deinem kinderlosen Café ausschenkt.

Kognitive Verzerrungen

Casper David Friedrich - Das Eismeer
Caspar David Friedrich: Das Eismeer. Lizenz: Gemeinfrei. via Wikimdedia Commons

Heute werden (vielleicht?) wieder tausende „besorgte Bürger“ und dem Label PEGIDA durch Dresden marschieren, um damit gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ zu demonstrieren. Obwohl in Sachsen nur 0,1 Prozent der Bevölkerung dem muslimischen Glauben anhängen. Das sind in absoluten Zahlen: 4000 Menschen.

Als vor Weihnachten 20.000 Vollpfosten, pardon, „besorgte Bürger“ gegen die Islamisierung demonstrierten, hätten also jeweils vier PEGIphile ein Stuhlbein des Stuhls tragen können, auf dem ein Moslem sitzt, während ein fünfter ihn liebevoll mit Lebkuchen füttert (noch so einer schrecklichen Sache aus dem „Morgenland“). Und doch glaubt sogar eine „Undercover Agent“ von RTL, dass auf den Straßen „überall Türken rumlaufen“.

Doch woher kommt diese dramatische Fehleinschätzung der PEGIrasten?

Hier liegt ofenbar eine kognitive Verzerrung vor. Eine koginitve Verzerrung, oder cognitive bias ist eine systematische Fehlleistung unseres Gehirns, bei der Informationen auf bestimmte und immer gleiche Weise falsch interpretiert werden, sodass wir immer zu einem falschen Ergebnis kommen. Dieser Prozess läuft komplett unterbewusst ab. Wir können ihn aber reflektieren und wenn wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten, den Fehler entdecken.

Ich weiß, das klingt alles ziemlich vage und kryptisch. Ein Klassiker, den alle Studierende bei der Einfühung in die empirische Sozialforschung kennenlernen, ist die Scheinkorrelation. Zwei Ereignisse lassen sich beobachten und die beobachtende Person glaubt daher an einen Kausalzusammenhang, also dass das eine stattfand weil das andere passierte. Die Erstsemesterinnen aus der Soziologie hören dann immer die Geschichte von den Störchen: Geburtenraten sind in der Regel in jenen Gegenden höher, in denen es auch mehr Störche gibt. Ganz klar: Störche bringen die Kinder! In Wirklichkeit geht beides eher auf ländliche Regionen zurück, in denen sowohl mehr Kinder geboren werden als in Städten als auch mehr Störche leben.

Ich glaube aber, hier liegt eine andere Verzerrung vor, wenngleich die Scheinkorrelation möglicherweise mit hineinspielt. Ich glaube, wir beobachten bei PEGIDA einen Bestätigungsfehler. Ein Bestätigungsfehler ist die Neigung, denen empirischen Daten mehr Relevanz zuzuschreiben, die die eigene Theorie bestätigen. Klassiker sind hier der Freitag der 13. Wenn uns an einem solchen Freitag ein Unglück geschieht, dann nehmen wir das als Beweis dafür, dass dies ein Unglückstag ist. Hingegen beziehen wir all die 13. Freitage nicht in unsere Beobachtung mit ein, die ereignislos verlaufen und somit unsere These widerlegen würden.

Ein anderes Beispiel hierfür sind Schlafprobleme bei Vollmond. Menschen müssen schlafen, aber können es manchmal nicht. Wer ist schuld? Der Mond. Gut, wir können zwar in den verschiedensten Nächten nicht schlafen und finden dafür dann andere Erklärungen. Aber jede schlaflose Nacht, in der der Vollmond am Himmel steht, werten wir als Beweis dafür, dass unsere These, dass wir bei Vollmond nicht schlafen können, stimmt.

So wird von den besorgten Rechtsauslegern jedes Indiz für ihre „Islamisierungsthese“ – beispielsweise eine Moschee – dramatisch überbewertet, während all jene Aspekte, die gegen ihre Theorie sprechen – Beispielsweise die Realität – ignoriert werden.

Die eigentlich spannende Frage ist: Woher beziehen die PEGIDAnten ihre verzerrten Daten, die ihre These stützen, dass wir von radikalen Islamisten überrannt werden, obwohl die Tatsachen eine andere Sprache sprechen. Nun, vielleicht kommen diese Daten hierher:

Verfassungsschützer über Islamismus: „Wir müssen mit Einzeltätern rechnen, die Schrecklichstes tun“

Spiegel Online

Islamismus: Hilferufe bei der Beratungsstelle Radikalisierung nehmen zu

Spiegel Online

Wir müssen uns wappnen

Der Spiegel

Bruder, Kämpfer, Dschihadist

Der Spiegel

Dschihadisten soll Personalausweis entzogen werden

Süddeutsche Zeitung

Ein Tarnverein für modernen Islamismus

Süddeutsche Zeitung

Salafist mit Stellenzusage für die Polizei

Süddeutsche Zeitung

„Ich kann die Furcht vor der Islamisierung verstehen“

FAZ

Geißler nennt Furcht vor Islamismus „berechtigt“

Die Welt

Salafist Lau verweigert Aussage im Stuttgarter Terrorprozess

Die Welt

Polizei warnt vor den „tickenden Zeitbomben“

Die Welt

„Deutschland im Fadenkreuz des Dschihad-Terrors“

Die Welt

Internet soll im Kampf gegen Islamismus Beitrag leisten

Die Welt

Nachtsichtgeräte bei mutmaßlichen IS-Anhängern beschlagnahmt

Die Welt

Islamforscherin: Moscheen müssen mehr gegen Salafisten tun

Frankfurter Rundschau

Unsere Dschihadisten

Frankfurter Rundschau

Kampf gegen Islamismus: Landtag sieht Aktionstag als Signal

Frankfurter Rundschau

Streit nach Koranverteilaktion

Frankfurter Rundschau

Angst vor den Gotteskriegern

Frankfurter Rundschau

Landtag beschäftigt sich mit Salafisten

Frankfurter Rundschau

Terror-Gefahr in Deutschland groß wie lange nicht!

BILD

Von wegen 70
Warnung vor 240 radikalen Salafisten

BILD

So lockt ISIS junge Mädchen nach Syrien

BILD

Warum sympathisieren so viele Muslime mit ISIS?

BILD

So groß ist die Gefahr in Deutschland
Der große Terror-Check

BILD

Vergesst bitte nicht: Dies ist nur ein verzerrter, nichtrepräsentativer Ausschnitt der gesamten Berichterstattung. Gerade in den letzten Wochen gab es auch viele Berichte über die überzogenen Ängste der PEGIDAstien.
Dennoch lautet meine Arbeitshypothese, dass Presse und Politik radikalen Islamismus in Deutschland, unverhältnismäßig oft thematisieren, wenn man bedenkt, dass es in Deutschland faktisch keinen islamistischen Terror gibt im Unterschied zu anderen Formen von radikalen Straftaten.
Aber mit Angst lassen sich eben sowohl Klicks generieren als auch Prozente für die nächste Umfrage sammeln…

Philosophen in der Kneipe

Platon und Popper sprechen über Pegida

Eine verrauchte Eckkneipe irgendwo zwischen London und Athen. An einem Tisch in der Ecke sitzt ein alter Mann mit schütternem Haar und buschigen Augenbrauen. Auf dem Tisch steht ein Wimpel, der verkündet, dass es sich um den Stammtisch handelt. Ein breitschultriger Mann mit Vollbart, der in eine Abolla gewandet ist, betritt die Kneipe, er tritt an den Tisch…

„Herr Popper.“
Popper: „Herr Platon.“
Platon: „Einfach Platon genügt.“
Popper: „Ist das nicht ein wenig zu unaristokratisch für Ihren Geschmack?“
Platon: „Letztlich sind wir doch alle Höhlenmenschen.“
Poppper: „Was zu falsifizieren war.“
Platon: „Was ist das Thema des heutigen Abends?“
Popper: „Pegida.“
Platon: „Was ist das? Doch nicht schon wieder so ein Unsinn des Deutschen Idealismus’…“
Popper: „Deutscher Unsinn freilich schon. Idealismus wohl kaum. Es steht für: ‚Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes‘.“
Platon: Ach, Europa, diese Kopfgeburt. Das klingt mir nach demokratischen Unsinn.“
Popper: „Mitnichten, es sind die Feinde der offenen Gesellschaft! Sie demonstrieren in Sachsen, einem Landstrich mit gerade einmal 0,1% Islamanteil gegen die ‚drohende Ausbreitung des Islamismus in Deutschland und Europa‘.“
Platon: „Das kommt davon, wenn man die Untertanen, ihre Kinder selbst aufziehen lässt!“
Popper: „Ihnen altem Faschisten müsste das doch eigentlich gefallen, immerhin wird Pegida vom ‚mehrfach vorbestraften Lutz Bachmann‘ angeführt.“
Platon: „Wohl kaum ein Angehöriger der Herrscherklasse, kein Philosophenkönig würde je behaupten, dass ‚Asylbewerber in luxuriös ausgestatteten Unterkünften lebten‘. Schließlich sitzen wir doch alle bloß in einer Höhle! Nein, er ist ein Untertan und maßt sich an, zur Schicht der Herrscher zu gehören. Aber Untertanen und Wächter müssen von wahren Philosophenkönigen regiert werden!“
Popper: „Von so jemandem wie Dionysios II?“
Platon: „Ich möchte nicht darüber reden.“
Popper: „Zu Recht! Denn Macht wird immer missbraucht werden, daher muss sie streng begrenzt werden, durch die Möglichkeit der Abwahl.“
Platon: „Ach Demokratie schon wieder. Und was, wenn die Menschen jemanden einfach nicht abwählen wollen? So wie diese Merkel und ihre Gurkentruppe? Nein, nein, nein, ich sage Ihnen, die Demokratie hat schon früher meinen großen Lehrer Sokrates umgebracht und heute foltert sie hemmungslos, wen auch immer sie zwischen die Finger bekommt…“
Popper: „Hmmm… Ich sehe, wir finden keinen Konsens, war ja auch nicht zu erwarten, bei Ihnen alten Historizisten. Aber was machen wir jetzt mit diesen Pegida-Spinnern?“
Platon: „Vielleicht sollten wir ihnen Descartes zweifelhaften Dämonen anhängen.“
Popper: „Oder wir lassen sie sich Beulen holen an Wittgensteins Grenzen der Sprache.“
Platon: „Wie dem auch sei, ich geb erstmal einen aus. Diese Welt ist so frustrierend, da hilft nur Ouzo! Herr Ober…“

Freiheit und Toleranz

So, so, auf Youtube wurde also ein Video veröffentlicht, das den Islam beleidigt. Ich habe es persönlich nicht gesehen. Aber es diente in Einigen wenigen Islamischen Ländern als Aufhänger für einige wenige Menschen, mal ordentlich auf den Putz zu hauen. Gegen die Amerikaner, gegen den Westen und überhaupt.

 

 

Die Ausschreitungen gegen westliche Botschaften in Nordafrika führten letzte Woche zu einer Welle der Empörung, die leider allzubald in allgemeines Islam-Bashing und schließlich in Spot, Häme und Hass gegenüber jeder Form von Glauben ausartete. Grund genug mich mal dem Thema zu widmen.

 

 

1. „Wie kann man nur so doof sein, an einen Gott zu glauben“, hieß es auf Twitter.

2. „Die Meinungsfreiheit ist unser höchster Wert“, hieß es weiter, und: „Was bilden sich diese Gläubigen eigentlich ein, uns diesen uns verbieten zu wollen?“

3. „Und überhaupt hat Religion immer nur Verderben und Krieg über uns gebracht und soll endlich ad Acta gelegt werden“, war das dritte meistgenannte Argument im kleinen, blauen Vogelland.

Gehen wir dies der Reihe nach durch.

1. Ist einfach. Ich habe mich weitgehend damit schon hier beschäftigt.

Das Gegenargument: Auch Atheismus ist ein Glaube, denn logisch betrachtet, kann man die Existenz Gottes weder belegen noch widerlegen. Der große, wenngleich wohl etwas schrullige Immanuel Kant kam als erstes auf diesen Trichter und hat – mehr oder weniger – der langen philosophischen Tradition des Gottesbeweis das Spiel verdorben. Wenn ihr meine analytisch, nicht kantisch tradierte Argumentation diesbezüglich en détail nachlesen wollt, so könnt ihr das hier.

2. Zunächst einmal: Ist das so? Wo steht das geschrieben? Im Grundgesetz? Nun, ich bin keine Jurist, aber soweit ich mich erinnere sind die Grundrechte Rechte des einzelnen gegenüber dem Staat nicht gegenüber einer Religionsgemeinschaft. Aber diese Rechte sind natürlich nicht in einem Vakuum entstanden, sondern basieren auf einem Wertekanon. Und mir fällt da zunächst einmal auf, dass ich hier von Rechten und Werten schreibe. Plural. Und da kommen wir schon zum Hebel um die Argumentation ins Wanken zu bringen.

 

 

Denn in unserem komplexen Wertesystem gibt es nicht nur diesen einen Wert der Meinungsfreiheit. Sondern auch andere, diesem zuwiderstreitende Werte. Ich will hier gar nicht die Religionsfreiheit bemühen, denn die sehe ich nicht gefährdet. Ein schlechter Film verbietet noch niemandem, seine Religion auszuüben (Im Gegensatz dazu sehe ich das allgemeine Klima in der Gesellschaft, den Islam grundsätzlich als ablehnungswürdig anzusehen, schon problematischer).

 

 

Aber es gibt Persönlichkeitsrechte, wenn ich den thorschen Hammer rausholen wollte, könnte ich gar die unantastbare Menschenwürde zu Felde führen. Frei nach Kant: die Freiheit des einzelnen endet dort, wo sie die Freiheit des nächsten einschränkt. Daraus folgt in unserem Wertesystem, dass nicht jede Meinung schützenswert ist. Wer einen anderen als Arschloch bezeichnet, kann sich nicht auf die Meinungsfreiheit berufen. Denn wir erachten das Äußern von Beleidigungen nicht als schützenswerte Meinungen. Ferner haben wir ganze Themenkomplexe, die wir von der Meinungsfreiheit ausschließen.

 

 

Sei es nun Kinderpornographie, Die Ablehnung unserer demokratischen Grundordnung oder etwa Antisemitismus. Oh. Moment. Ja stimmt. Letzteres ist — Gott sei Dank — ein Konsens. Nämlich, dass die unsachgemäße Verunglimpfung dieser Religion nicht durch die Meinungsfreiheit geschützt sein sollte. Nun frage ich euch: warum sollte, was für die eine Religion gilt, nicht auch für die anderen gelten?

Wie gesagt, habe ich das Video nicht gesehen, und weiß nicht, ob es nun sehr ehrverletztend war. Ich habe ein paar der Karrikaturen vor zehn Jahren gesehen und fand sie jetzt nicht so dramatisch, aber ich wollte diese Sätze mal allen mitgeben, die im braveheartartigen Reflex gleich „Freiheit“ schrien.

3. Was mich zum Letzten und wichtigsten Punkt bringt. Wer von euch hat eigentlich den Koran gelesen? Da ihr ja alle so genau wisst, dass er Hass und Intoleranz propagiert. Klar, habe ich auch schonmal vom Djihad und der Scharia gehört. Aber das sind nur quotenbringende Labels von Clash-of-Cultures-Propagandisten.

Ich glaube gern, dass es Stellen im Koran gibt, die Hass predigen, aber ich bin mir fast sicher, dass sich dort genauso Stellen finden, die Liebe predigen. Genauso wie ich weiß, dass in der Bibel genauso Backen hingehalten werden, wie an anderer Stelle Augen und Zähne fliegen. Denn beide Bücher sind komplexe Systeme, die nicht nur die Existenz Gottes behaupten. Darüber hinaus waren sie vor allem Handlungsanweisungen für das Zusammenleben von Gesellschaften, die schon 1.000 respektive 2.000 Jahre alt sind. Das heißt nicht, dass sie komplett obsolet sind, sondern, dass sie differenziert betrachtet werden müssen.

Im Bezug auf die Bibel haben wir hier im Westen durch Reformation, Renaissance, Aufklärung und Revolution regelmäßige Updates geliefert, die leider im Islam fehlen. Das wiederum ist ein Tatbestand, an dem wir, der Westen, durch Imperialismus, Kolonialismus, Kalten Krieg und Globalisierung nicht unschuldig sind.

Denn, im Ernst, wer sind denn die zornigen jungen Männer, die religiöse Beleidigungen durch uns zum Anlass nehmen, ordentlich auf den Putz zu hauen? Es sind die Verlierer der Globalisierung. Ohne Bildung, ohne Eigentum und ohne Zukunft.

Und der Hass fällt dort auf fruchtbaren Boden, wo wir den Acker bestellt haben. Wir haben die Grenzen dieser Staaten oft willkürlich gezogen, wir haben die arabischen und afrikanischen Diktatoren jahrzehntelang protegiert, solange sie uns nur Sicherheit und Rohstoffe lieferten. Wir haben Afghanistan in einen nunmehr 30 Jahre währenden Krieg getrieben. Wir? Nein, nicht wir. Denn genau das ist das Problem, der auf 140 Zeichen verkürzten Antiislamstatements auf Twitter genauso, wie das Problem der Botschaftszerstörer im Maghreb. Sie setzen die Untaten einzelner, kleinerer und größerer Gruppen mit „dem Westen“ oder eben „dem Islam“ gleich.

 

 

Der Islam ist nicht unser Problem. Die moslemische Erzieherin in der Kita bringt unseren Kindern Liebe und keinen Hass bei. Der moslemische Autor in meinem Verlag lächelt, wenn er mich sieht und streckt mir freundlich die Hand entgegen. Mein moslemischer Obsthändler verkauft freundlichere Äpfel als der laizistische Discounter nebenan und mein moslemischer Schulfreund hat mich nicht gehasst, sonst wäre er ja nicht mein Freund gewesen. Machen wir einmal die Gegenprobe: wenn Religion angeblich Hass und Krieg befördern. Wie sieht es denn dann mit dem Atheismus aus. Der fördert dann Frieden. Immer. Auch zwischen den Jahren 1939 und 1945? Ja, jetzt komme ich mit der Nazikeule, aber nicht zum Todschlagen, sondern um zu zeigen, dass komplexe Systeme immer interne Widersprüche aufweisen. Und so kann auch der Atheismus genauso zur Dialektik der Aufklärung führen wie zu so etwas so wundervollem wie dem Russellschen Pazifismus! Unser Problem sind nicht die Gläubigen oder die Atheisten. Unser Problem sind die Hassprediger auf allen Seiten. Und wenn ihr wollt, dass keine Botschaften brennen, dann dürft ihr nicht den Islam verteufeln, sondern dann müsst ihr Krankenhäuser und Schulen bauen und diesen zornigen jungen Menschen eine Zukunft bieten.

 

Ich bin raus.

 

 

Falls es euch interessiert, ich persönlich bin Agnostiker, denn das ist die einzig logisch stringente Position. Siehe 1.

Literatur:

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung.

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft.

Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten.