Harry Potter und die verlorenen Väter

Ein weiteres halbes Jahr ist vergangen und wir besteigen zum drittletzten Mal den Hogwarts-Express. Ach ja, auch wenn wohl noch mehr Seiten vor uns als hinter uns liegen, beginnt bei mir mit Band 5 regelmäßig der Abschiedsschmerz. Doch nicht so schnell! Erst muss ich noch einmal erklären, was das hier ist: Ich lese mit meiner Tochter (derzeit 8) die Harry-Potter-Bücher und damit sie nicht überfordert ist, sondern mit den Büchern mitwachsen kann, lesen wir jedes halbe Jahr einen Band. Anschließend beschreibe ich hier, wie es war und was mir auffiel.

Applaus

Bisher habe ich das schon in diesen Texten getan:

Eine Warnung noch: Falls ihr in den letzten eineinhalb Jahrzehnten im Raum der Wünsche an eurem Patronus geübt habt und nichts über diesen Potter wisst, seid euch gewiss: Ich werde spoilern!

Schock!

Taktisches Vorlesen

Nach dem dramatischen Ende der letzten Vorleserei war ich ein bisschen besorgt, wie meine Tochter einerseits die sadistische Umbridge und andererseits Sirius‘ Tod verkraften würde. Der Mord an Cedric hatte sie ja ziemlich mitgenommen, obwohl Cedric nur irgendein Schüler war, den wir nur in einem Band etwas näher kennengelernt haben. Aus meinen Fehlern vom letzten Mal habe ich gelernt und bin an die dramatischen Textstellen viel taktischer herangegangen: Ich habe sie nicht abends, sondern am helllichten Tag vorgelesen. Den Showdown habe ich in insgesamt fünf verdaulichere Häppchen aufgeteilt. Sodass wir nicht wieder vom Sog der Geschichte gefangen genommen wurden, sondern meine Tochter jeweils Zeit hatte, das Gehörte zu verarbeiten. Auch habe ich vor dem Showdown angekündigt, dass ein wichtiger Charakter sterben wird. Und wir haben noch einmal darüber gesprochen, warum Autorinnen liebgewonnene Personen sterben lassen. Wir haben auch beraten, ob ich nicht besser vorher erzählen soll, wer sterben wird. Aber außer der Zusicherung, dass es kein Kind ist, wollte meine Tochter keinen Spoiler. Diese Strategie ging voll auf und so war ich der Einzige, der Tränen in den Augen hatte, als Sirius dann durch den Vorhang fiel.

crying

Aus dieser Erfahrung nehme ich zwei Erkenntnisse mit: Einerseits finde ich spannend, dass es ganz offensichtlich nicht so schlimm ist, wenn eine Vaterfigur stirbt, als wenn dies einem Kind zustößt. Auch wenn das an meinem Ego kratzt, kann ich es nachvollziehen. Wenn ich die Geschichte lese, identifiziere ich mich auch immer mit Harry, Ron, Hermine, Ginny und vor allem mit Luna und Neville. Die andere interessante Erkenntnis ist, dass der Schrecken, der von Umbridge ausgeht, auf meine Tochter quasi keine Wirkung hatte.

„Harry setzte die Federspitze auf das Papier und schrieb:
Ich soll keine Lügen erzählen.
Er keuchte auf vor Schmerz. Die Wörter waren auf dem Pergament erschienen, offenbar mit leuchtend roter Tinte geschrieben. Zugleich waren die Wörter auf dem Rücken von Harrys rechter Hand aufgetaucht, in seine Haut geschnitten, als hätte ein Skalpell sie dort eingeritzt.“

Gerade bei dieser fürchterlichen Feder schielte ich immer wieder heimlich zu einer gewissen Achtjährigen rüber, aber das juckte sie nicht die Bohne. Ich vermute, dass der bürokratische Anstrich, den Rowling Umbridge verpasst hat, etwas ist, das eher auf Erwachsene als auf Kinder wirkt. Während etwas pures, unerklärlich Böses wie Voldemort ein Kind mehr gruselt. Doch genug der Küchenpsychologie, lasst uns das Buch auseinandernehmen!

Lesen!

Fünf Dimensionen

Insgesamt werde ich diesmal fünf Dimensionen des Buches besprechen: Natürlich darf die Coming-of-Age-Geschichte nicht fehlen. Das Abenteuer ist diesmal ein zweigesichtiges: Neben dem Kampf gegen Voldemort muss Harry auch gegen das Ministerium antreten. Dann werde ich die Geschichte in den großen Handlungsbogen einordnen. Aber natürlich darf auch mein übliches Nitpicking nicht fehlen.

Insgesamt gehört Der Orden des Phönix zu den besseren Bänden der Reihe und vor diesem Durchgang war er auch immer im Kampf um meinen Lieblingsteil ganz vorne mit dabei, aber diesmal sind mir doch ein paar Schwächen aufgefallen, die das Buch in meiner Gunst haben leicht abfallen lassen. So braucht Rowling ziemlich lange, bis die Geschichte mal so richtig ins Laufen kommt. Das Buch hat eine ziemlich ausführliche Exposition und sie bereitet so viel für das spätere Abenteuer vor, dass wir nach etwa 250 Seiten Hogwarts überhaupt erst betreten. Zum Vergleich: Der Stein der Weisen hat insgesamt nur 335 Seiten. Dieser schleppende Anfang liegt zum Teil auch daran, dass sie ihre Versäumnisse aus den Bänden 3 und 4 wieder gut machen muss: Ich spreche von Sirius‘ überstürztem Rutsch in die Vaterrolle am Ende von Der Gefangene von Askaban. In Der Feuerkelch gab es dann nur wenige Szenen, die Gelegenheit für eine stärkere Bindung zwischen Harry und Sirius boten. Damit der Höhpunkt in diesem Band die nötige Dramatik entfalten kann, muss Rowling Harry und Sirius entsprechend relativ viel Zeit zusammen verbringen lassen, worunter das Pacing etwas leidet.

Ist das so?

Würde bitte mal jemand mit dem Jungen reden?!

Doch die größte Schwäche dieses Bandes ist der Teil des Abenteuers, der sich um Voldemort dreht. Voldis Plan ist zwar wesentlich cleverer als noch im Band zuvor, und dass Rowling ihn mal wieder von Hermine laut aussprechen lässt, ohne dass wir zu diesem Zeitpunkt der Geschichte ihr Glauben schenken ist ein klassischer Rowling – sehr schön.

„Du … das ist keine Kritik, Harry! Aber du … irgendwie … ich meine – glaubst du nicht, dass du so was wie – wie ein – Menschenrettungsding hast?“, sagte sie.

Auch dass am Ende gerade nicht die vermeintliche Kontrolle von Voldemort über Harry die Geheimwaffe ist, sondern das Wissen darum, wie der dunkle Lord Harry töten kann, ist eine schöne Auflösung. ABER der ganze schöne Plan von Du Weißt Schon Wem, Harry in die Mysteriumsabteilung zu locken, wäre zu Staub zerfallen, wenn nur ein einziger Erwachsener sich mal die Zeit genommen hätte, mit Harry zwei Sätze über seine Situation zu wechseln. Dass sie nie auf diese Idee kommen, ist ein typischer Fall von dummen Protagonisten, die dumme Dinge tun. Etwas, das ich in meinem Podcast Spätfilm oft anprangere und das mir immer ein bisschen das Mitfiebern versaut.

Wenn Harry mit niemandem über seine Sorgen und Nöte spricht, ist das zwar auch dumm und mittlerweile ein bisschen abgenutzt, aber Harry ist ein Teenager und die sind nun einmal dumm. Wenn hingegen ein ganzer Club voller Phönixkriegern es nicht auf die Reihe kriegt, mal zu sagen: „Hör mal Harry, wir machen uns Sorgen, nicht weil wir Angst vor dir haben, sondern davor, dass Voldi dich mit einem fiesen Trick aus unserem Schutz heraus locken und dich so in Gefahr bringen kann. Deshalb musst du Okklumentik lernen.“ Dass alle immer nur stammeln, wenn es darum geht, Harry zu erklären, was Phase ist, ist mir wirklich zu konstruiert, bloß um den Konflikt voranzutreiben.

Tja ...

Umbridges repressive Herrschaft in Hogwarts

Ganz anders steht es hingegen um den zweiten Teil des Abenteuers: Harrys Kampf gegen das Ministerium. Das ist vom Prozess gegen Harry angefangen bis zu Umbridges „Entsorgung“ durch die Zentauren perfekt konstruiert. In Band vier wurde bloß angedeutet, dass der Zaubererstaat keine heile Welt sondern repressiver ist, als Rowling es in früheren Bänden darstellte und dass Rassismus tief in der Zauberergesellschaft verwurzelt ist und nicht bloß ein Problem von wenigen Todessern.

„Was hat sie gegen Werwölfe?“, sagte Hermine aufgebracht.
„Hat Angst vor ihnen, vermute ich“, entgegnete Sirius und lächelte angesichts ihrer entrüsteten Miene. „Offenbar hasst sie Halbmenschen; sie hat sich letztes Jahr auch dafür engagiert, Wassermenschen zusammenzutreiben und einzufangen.“

Dieses mal belässt Rowling es nun nicht länger bei Andeutungen, sondern erhebt genau diese Geschichte zu einem zentralen Plottpunkt. Als zentrales Symbol hierfür nutzt sie den Brunnen im Ministerium, den Dumbledore im Showdown nicht weniger symbolträchtig zerstört, um gegen Voldemort zu kämpfen. Aber auch die Gleichschaltung der Presse durch den Minister und Umbridges repressive Herrschaft in Hogwarts schlagen in die gleiche Bresche. Dass die rassistische Umbridge, die keine Gelegenheit auslässt, um gegen Halbmenschen zu hetzen, am Ende von Zentauren vertrieben wird, bildet dann auch einen sehr schönen Payoff für diesen Handlungsstrang.

Das Ende des zweiten Aktes

Warum wusste er, was Voldemort fühlte? Worin bestand jene unheimliche Verbindung zwischen ihm und Voldemort, die Dumbledore ihm nie richtig hatte erklären können?

Gewohnt meisterlich agiert Rowling, wenn es darum geht, diese Geschichte in den großen Handlungsbogen des gesamten Epos einzuordnen. Wenn wir die komplette Reihe als Dreiakter auslegen, dann schließt sie mit diesem Band den zweiten Akt ab: Emotional ist Harry auf dem Tiefpunkt angelangt, sein Pate ist nichtzuletzt wegen Harrys Fehlern gestorben und er hat erfahren, dass prophezeit wurde, dass er entweder sterben wird, oder Voldemort umbringen muss. Zugleich liegen jetzt aber auch alle Karten auf dem Tisch: Harrys Problem ist klar umrissen und im dritten Akt – den letzten beiden Bänden – kann es nun endlich um die Lösung gehen und damit begonnen werden, Voldemort zu besiegen.

„Im vergangenen Jahrzehnt deuteten die Zeichen darauf, dass die Zaubererschaft nichts weiter als eine kurze Stille zwischen zwei Kriegen erlebt.“

Rowling fängt nun an, erste Payoffs zum lange aufgebauten Epos zu geben: das wahre Gesicht des Ministeriums ist so ein Payoff, die Rolle von Trelawny in Harrys persönlicher Geschichte ein weiterer, genau wie die Auflösung, warum Harry immer wieder zu den Dursleys zurückkehren muss.

Harry antwortete nicht. Er wusste genau, warum Neville so wütend wurde, wenn es um Leute ging, die wegen magischer Gehirnschäden im St. Mungo waren, doch er hatte Dumbledore geschworen, Nevilles Geheimnis niemanden zu erzählen.

Der beste Punkt diesbezüglich ist aber Nevilles Geschichte, nachdem das Schicksal seiner Eltern in Der Feuerkelch angeteasert wurde, bekommt Neville hier seinen eigenen Call to Adventure in Form des Gefängnisausbruchs von Bellatrix LeStrange. Vom bloßem Comic Relief mausert er sich zu einem handelnden Charakter. Eine Wandlung, die in den nächsten Bänden weitergehen wird. Womit wir angelangt wären bei all den neuen epischen Vorausdeutungen und Chekhov’s Guns, die Rowling eingebaut hat: So wird angedeutet, dass noch mehr an Tante Petunia dran ist, als das Auge sieht. Snapes Mysterium wird weiter angeteasert, und Dumbledores Bruder wird unauffällig in Position gebracht. Am Ende des Bands kündigt Draco sogar seine Rolle im Band 6 an. Aber am cleversten verwebt Rowling hier die Vorausdeutungen auf Harrys ureigenes Mysterium.

„Natürlich, natürlich“, murmelte Dunbledore wie zu sich selbst, während er weiterhin den Rauchstrom ohne die geringste Spur von Überraschung betrachtete. „Aber im Wesen gespalten?“

Sie bedient sich hier eines Tricks, den sie oft verwendet und der dennoch nicht an Brillanz einbüßt: Durch die Prophezeiung hat sie uns nun vermeintlich endgültig enthüllt, worin die Verbindung zwischen dem dunklen Lord und Harry besteht. Aber auf der anderen Seite baut sie unzählige Vorausdeutungen ein, die uns wieder einmal sagen, dass da noch mehr dahinter steckt, ohne dass wir es jetzt schon verstehen können.

„Außerdem gab es … ein schweres Medaillon, das keiner von ihnen öffnen konnte …“

Das ist meines Erachtens eine der höchsten Künste des Geschichtenerzählens und nicht der geringste der vielen Gründe, warum der Harry-Potter-Zyklus so verdammt gut ist. Bei so hoher Kunst verzeihe ich J. K. Rowling dann sogar, dass sie auch wieder etwas Retconning betreibt, wie zum Beispiel bei den Testralen, die plötzlich die „pferdelosen“ Kutschen schon immer gezogen haben sollen! So etwas könnte ganz unmöglich ein Geheimnis unter den Schülern sein, auch wenn ich natürlich die Symbolik verstehe.

Oh no!

Vom Verlieben und Entlieben

Das sollten sie uns hier beibringen, dachte er und drehte sich zur Seite. Wie die Gehirne von Mädchen ticken … das wär jedenfalls nützlicher als Wahrsagen …

Kommen wir zur Coming-of-Age-Geschichte: Hier erscheinen mir zwei Aspekte besonders bemerkenswert. Zum einen natürlich Harrys erste Liebe.

„Misteln“, sagte Cho leise und deutete an die Decke über seinem Kopf.
„Ja“, sagte Harry. Sein Mund war sehr trocken. „Sind aber wahrscheinlich voller Nargel.“
„Was sind Nargel?“
„Keine Ahnung“

Mir gefällt sehr, sehr gut, wie unaufgeregt Rowling diese Geschichte erzählt und wie es ihr gelingt, sämtliche Klischees zu umschiffen. Weder ist Cho gleich die große Liebe, noch präsentiert Rowling uns die Geschichte als großes Drama. Da verlieben sich einfach zwei Teenager, wissen dann in ihrer Unerfahrenheit nichts miteinander anzufangen und entlieben sich daher wieder – ein wunderschön realistischer Ansatz.

Dann ist Der Orden des Phönix zum anderen die Geschichte der verlorenen Väter. Gleich drei Stück muss Harry einbüßen: Zunächst ist da Dumbledore, der zwar immer etwas zu distanziert und abgehoben für eine Vaterfigur war, der aber dann, wenn es hart auf hart kam, doch in diese Rolle schlüpfte und der vor allem Harry am Ende immer alles genau erklärt hat. Das macht er in diesem Band zwar beides wieder, aber lange Zeit wird Harry der Eindruck vermittelt, Dumbledore habe diese Rolle aufgegeben. Dann verliert Harry seinen leiblichen Vater ein zweites Mal und zwar verliert er ihn als strahlendes Vorbild, als Harry entdeckt, dass sein Vater ein Bully war und Snape gequält hat. Schließlich verliert Harry auch noch Sirius, der – wie ich oben schon schrieb – gerade erst so richtig in dieser Rolle angekommen war. Erzählerisch ist das ein klassischer Move, Harry ist der Chosen One, der unumstrittene Held dieser Geschichte. Rowling muss also sein Auffangnetz abbauen, damit gesichert ist, dass am Ende auch wirklich Harry und kein anderer Voldemort besiegt. Mit diesem Abbau wird sie in den kommenden Bänden bekanntlich fortfahren. Aber bei aller Klassik: Auch in diesem Teil der Geschichte verpackt Rowling wieder einen cleveren kleinen Kommentar: Und zwar als sie McGonagall ausschaltet.

Es gab niemanden mehr, dem er es sagen konnte. Dumbledore war fort, Hagrid war fort, doch er hatte es immer für selbstverständlich gehalten, dass Professor McGonagall da sein würde, reizbar und starrsinnig vielleicht, aber immer verlässlich, stets verfügbar …

Während traditionell um die Väter viel Geschiss gemacht wird, war es für Harry also immer selbstverständlich, dass die Mutterfigur einfach für ihn da ist, „stets verfügbar“. Ein wirklich guter kleiner Kommentar auf unser Bild von Vätern und Müttern sowohl in Literatur als auch in der Realität.

Not impressed!

Wenn es dagegen doch bloß einen Zauber gäbe …

Ja, beim Schreiben dieses Textes wurde mir wieder klar: Der Orden des Phönix ist trotz der paar Schwächen wirklich ein sehr gutes Buch. Daran ändert auch mein letzter Punkt nichts – das traditionelle Nitpicking:

  • Harry ist bei allen an der Schule total unbeliebt. Hatten wir die Geschichte nicht schon einmal, zweimal oder drölfzigmal?
  • Lupin ist arm, weil er als Werwolf diskriminiert wird. Aber muss er deshalb wirklich Flicken auf seinem Umhang haben? In dieser Welt lernen die Schulkinder Mäuse in Tassen zu verwandeln. Aber es gibt keinen Zauberspruch, der dafür sorgt, dass Lupins Umhang wieder einwandfrei ist?
  • Das Haus Slytherin hat noch immer ein Image-Problem
  • Zacharias Smith ist ein Riesenarsch! Warum haben die ihn bei Dumbledores Armee mitmachen lassen?
  • Draco freut sich, weil Slytherin zwischenzeitlich als einziges Team die Erlaubnis bekommen hat, Quidditsch zu spielen. Hmmm, Draco, das Konzept eines Sporttuniers hast du noch nicht verstanden, oder? Viel Spaß beim einsamen Rundenfliegen im Stadion!
  • Dieses „Zwischen Bildern hin und her laufen“ von Portraits ist doch totaler Mumpitz! Da lässt du dir ein Gemälde von deiner geliebten, verstorbenen Frau machen. Aber weil irgendein Exfreund von ihr sich auch ein Bild hat machen lassen, muss sie dann immer zwischen den beiden hin und her pendeln? Das Konzept sollte noch einmal überdacht werden!
  • Zauberer sind Dilettanten, Teil 2359: Die Sessel im Fahrenden Ritter rutschen bei der Fahrt hin und her und fallen bei jeder zweiten Kurve um. Mensch wäre es nicht toll, wenn es so etwas praktisches wie den Dauerklebefluch gäbe?
  • Snape ist ein schlechter Lehrer, ein sehr schlechter Lehrer!

Ich freue mich schon jetzt auf den Halbblutprinz. In einem halben Jahr lest ihr dann hier, wie er war.
Tschüss!

Kommissar Potter ermittelt gegen den Erben Slytherins

Ein halbes Jahr ist vergangen und meine Tochter (mittlerweile 7) und ich haben uns dem zweiten Potter-Band gewidmet: Harry Potter und die Kammer des Schreckens*. Er war spannend, so spannend, dass ich nach der Versteinerung von Justin Finch-Fletchley nicht mehr abends sondern nur noch tagsüber vorlesen durfte.

The Making of Harry Potter 29-05-2012 von Karen Roe. Lizenz: CC BY 2.0.
The Making of Harry Potter 29-05-2012 von Karen Roe. Lizenz: CC BY 2.0.

 

Kein Abenteuer- sondern ein Kriminalroman

HPs zweites Abenteuer wird allgemein als schwächster Band der Reihe angesehen. Zum Beispiel hier auf Goodreads, wenn auch auf unglaublich hohem Niveau. Das ist eine Meinung, die ich nicht teilen kann. Ich finde ihn um einiges besser als den ersten Band. Zwar hat er wieder einige Schwächen im Plott aber insgesamt ist die Geschichte aus einem Guss, Rowling findet ihren Stil, indem Sie uns mit einer Fülle von epischen Vorausdeutungen vor der Nase herumwedelt, sodass wir, wenn wir dann endlich die Lösung kennen uns wundern, wie wir sie übersehen konnten.

„Was bedeutet das, Albus?“, fragte Professor McGonagall ängstlich.
„Es heißt“, sagte Dumbledore, „dass die Kammer des Schreckens tatsächlich wieder offen ist.“
Madam Pomfrey schlug sich die Hand gegen den Mund.
Professor McGonagall starrte Dumbledore an.
„Aber Albus … wer?“
„Die Frage ist nicht, wer“, sagte Dumbledore, die Augen auf Colin gerichtet. „Die Frage ist, wie …“

Außerdem lernen wir das Leitmotiv von Rowling kennen und wir werden weiter in das große Mysterium des Zyklus’ eingeweiht.

Ich glaube sogar die Antwort auf die Frage zu kennen, warum der Band eher schlechter bewertet wird: Er hat ein anderes Genre als die sechs anderen Bücher. Die Kammer des Shreckens ist im Grunde kein Abenteuer- sondern ein Kriminalroman, mitsamt Indizienbeweisen, falschen Verdächtigen und einem Geständnis. Aber der Reihe nach…

Spoiler Alert

Ja, ich werde spoilern. Das Buch ist 16 Jahre alt, wenn du es bisher nicht gelesen hast, dann wirst du es auch in Zukunft nicht tun. Außerdem werde ich teilweise auch spoilern, was in den folgenden Bänden noch passiert.

Das Mysterium entwickelt sich

Wir bekommen neue Zutaten der Zaubererwelt, die uns in den kommenden Bänden weiter begleiten werden. Die Nokturngasse, das Flohpulver, die peitschende Weide, Squibs, der Vielsaft-Trank, Parsel, Dumbledores Büro, den ZAG (OWL), Askaban und Gryffindors Schwert sind alles Elemente, die im weiteren Verlauf der Saga noch eine größere oder kleinere Rolle spielen werden und die in diesem Band eingeführt werden.

Vor allem bekommt aber Harry sein Markenzeichen. Den einen Zauberspruch, der ihn definieren wird und mit dem er am Ende auch „Du weißt schon wen“ ausschaltet. Und er lernt ihn ausgerechnet von Snape:

„Beide schwangen ihre Zauberstäbe über die Schultern; Snape rief: „Expelliarmus!“ Ein blenden scharlachroter Blitz riss Lockhart von den Füßen“

Das Buch fängt mit viel Redundanz an, man merkt, dass Frau Rowling noch nicht komplett das große Ganze im Auge hat, nicht damit rechnet, dass eines Tages mal alle ihre Bücher hintereinander gelesen werden. So wiederholt sie viel, was wir bereits im ersten Buch erfuhren, schreibt also nicht eine „reinblütige“ Fortsetzung, sondern ein Buch, das man auch lesen könnte, ohne das erste zu kennen.

Die Vollhonk-Stieffamilie

Hier zeigen sich auch einige Schwächen, so zum Beispiel, wenn die Dursleys ihren Kindesmissbrauch so sehr auf die Spitze treiben, dass sie Harry schließlich als Gefangenen halten, sodass Harry aus seinem Verließ ausbrechen muss. Ich frage mich allen Ernstes, warum Harry so gleichmütig am Ende des Buches zu diesen Unmenschen zurückkehrt und warum alle Freunde und Förderer des kleinen Scarface’ ihn auch gehen lassen, ohne diese Vollhonk-Stieffamilie wenigstens mal zur Rede zu stellen. Klar weiß ich, dass Rowling im weiteren Verlauf der Reihe uns erzählt, warum Harry immer wieder zurück muss, aber jetzt tut sie dies eben nicht. Daher ist es ziemlich befremdlich, dass der arme Tropf am Ende wieder in seinen Knast muss…

Genauso beginnt das Thema Schulrauswurf zu nerven. Ey joa, wir haben’s kapiert: In Hogwarts gibt es viele Regeln und der freche kleine Harry bricht die gerne, obwohl das für ihn gefährlich ist. Können wir das Thema jetzt als beendet erklären? Nein? Oh…

Ich muss mich immer wieder selbst daran erinnern, dass es sich bei der Kammer des Schreckens um ein Kinderbuch handelt, denn einige Dinge, die mich stören, begeistern Kinder sicherlich. So etwa die immerzu unanständig überladenen Tische:

„Die vier langen Haustische unter der magischen Decke (heute in wolkig trübem Grau) ächzten unter ihrer Last aus Schüsseln mit Haferbrei, Platten voll geräuchertem Hering, Tellern mit Eiern und Schinken und Bergen von Toastbrot“

Eigentlich müssten alle Schüler in Howarts adipös sein. Aber aus irgendeinem, wahrscheinlich magischen Grund frühstücken unsere Helde sowieso immer nur Haferbrei. HAFERBREI? WTF?! Eier mit Schinken auf Toast, was anderes käm mir nicht auf den Teller! Vor allem nicht Kleisterersatz…

Reactiongif: Ungläubigkeit

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Löcher im Plott

Aber wo ich gerade bei Plottlöchern bin, mache ich da doch auch gleich weiter:

Da wäre zunächst einmal die Geschichte mit dem Heuler. Ron muss diesen sofort öffnen, weil es sonst „schrecklich“ enden würde. Mal davon abgesehen, dass ich die Erziehungsmethode, das eigene Kind vor der versammelten Schule am Frühstückstisch derart zur Schnecke zu machen, fragwürdig finde … Kein Wunder, dass der arme Ron später dann noch Schnecken kotzt … Wie könnte es denn bitte noch schlimmer werden? Wird der Brief gewaltätig? Ich meine, hätte Ron sich das Ding nicht einfach schnappen können, die paar Schritte vor die Tür gehen können und den Brief sich in aller Ruhe ausschreien lassen? Ein typischer Fall von: Das geht nicht, weil es die Autorin nicht wollte.

Die nächste Sache ist Rons Zauberstab. Wie kann die Schule nur so unverantwortlich sein, den armen Jungen die ganze Zeit mit dem kaputten Ding zaubern zu lassen? Hallo? Eine Schule, in deren Unterricht fast nichts anderes gemacht wird, als mit dem Zauberstab zu wedeln, stört sich nicht daran, dass ausgerechnet der Stab eines Schülers kaputt ist? Ein Glück für Ron, dass in diesem Jahr die Prüfungen ausfielen…

Und wo wir schon bei der Verantwortungslosigkeit der Lehrer sind: In der Schule treibt mutmaßlich ein Mörder sein Unwesen, und was machen die Lehrer? Schließen sie die Schule? Schicken sie die Schüler nach Hause? Nein! Sie bringen den Schülern Duellieren bei. Grandiose Idee!

Reactiongif: Yay!

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Diese Schule ist sowieso ein recht merkwürdiger Ort. An ihr wird zum Beispiel nicht sehr viel von Ethik gehalten. Ständig werden irgendwelche Tiere in Gegenstände verwandelt. An dem Auto der Weasleys sieht man zudem, dass magische „Wesen“ ein Bewusstsein haben, aber dennoch werden sie zerschnitten und geschmort:

Madam Pomfrey konnte erfreut berichten, dass die Alraunen launisch und geheimnistuerisch wurden, was hieß, dass sie die Kindheit nun rasch hinter sich ließen.
„Sobald ihre Akne zurückgeht, kann man sie wieder eintopfen“, hörte Harry sie eines Nachmittags mit freundlicher Stimme Filch erklären. „Und danach dauert es nicht mehr lange, bis wir sie zerschneiden und schmoren…“

Dann ist da Harrys Mantel… Der, der unsichtbar macht. Allerdings scheinen die Protagonisten das bis zur Hälfte des Buches vergessen zu haben, sodass alle möglichen Plottpoints nur deshalb welche sind, weil sie den Mantel nicht einsetzen. So zum Beispiel der Diebstahl der Zutaten für den Vielsaft-Trank. Da wird so viel Geschiss drum gemacht, wie unsere Helden ungesehen an Snapes Vorrat kommen. Tja, wenn sie nur etwas hätten, das ihnen dabei helfen könnte … ZUM BEISPIEL EINEN MANTEL, DER UNSICHTBAR MACHT!!!111einself

Reactiongif: Oh shit!

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Klar muss auch Dumbledore mal wieder aus dem Weg geschafft werden. Wie beim ersten Band besteht eben das Superheldenproblem: Dumbledore ist so mächtig und so schlau, dass er den Fall eigentlich alleine lösen müsste. Wie können wir das verhindern? Wir wollen ja schließlich, dass Harry unser Held wird. Na, wir entlassen Dumbledore mal eben. Weil die Kinder in Hogwarts bestimmt sicherer sind, wenn der mächtigste lebende Zauberer sie nicht länger beschützen kann …

Beim Lösen des Falls kann Harry dann aber auf eine versteinerte Hermine ex machina zurückgreifen:

Doch Harry sah nicht auf Hermines Gesicht. Er war mehr an ihrer rechten Hand interessiert. Sie lag zusammengeballt auf der Bettdecke, und als er sich über sie beugte, sah er, dass Hermine ein zerknülltes Stück Papier in der Faust hielt.

Mal ganz davon abgesehen, dass die pedantische Hermine plötzlich kein Problem damit hat, eine Seite aus einem Buch zu reißen, wenn es für den Plott wichtig ist … Findet in dieser Schule eigentlich überhaupt keine Ermittlung statt? Sorry, aber da wurden vier Kinder, ein Geist und eine Katze versteinert und keiner außer Harry kommt auf die Idee mal Beweise zu sichern?

Kriminalaufklärung ist eben nicht die Sache der Zaubererwelt, wie man schon am letzten Mal sieht, als die Kammer des Schreckens geöffnet wurde. Vor 50 Jahren starb sogar ein Mädchen, dennoch hielt man es anscheinend nicht für nötig, den Tatort zu inspizieren:

„Und dann stutzte Harry: An der Seite eines der kupfernen Wasserhähne war eine winzige Schlange eingekratzt.
„Der Hahn hat nie funktioniert“, sagte Myrte munter …

Srsly? Wie viele hundert Jahre gibt es Howarts schon? Und nie hat jemand versucht diesen Wasserhahn zu reparieren, der nicht funktioniert? Und nie hat er oder sie dabei festgestellt, dass da der Eingang zur Kammer des Schreckens ist?

Reactiongif: Staunen

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Chekhov’s Myrte

Harrys winkeladvokatischen Sockentrick um Dobby zu befreien lasse ich jetzt mal komplett unkommentiert und komme endlich zu den guten Seiten des Buches, indem ich mich noch einmal der maulenden Myrte zuwende: Von allen Hinweisen, die uns Rowling zur Lösung des Falles gibt, ist Myrte der schönste! Eine Chekhov’s Gun, wie sie im Buche steht. Oder besser gesagt: ein Chekhov’s Gag. Denn wir denken die ganze Zeit, dass sie uns nur als ein weiteres schrulliges Detail, als ein weiterer Lacher in die Geschichte eingeführt wurde. Doch im großen Finale wird sie zum Schlüssel für die Lösung des Falls. Das ist großer Sport, Frau Rowling, chapeau!

Rassismus-Allegorie und die richtige Entscheidung

Genauso gefällt mir, wie unser Antagonist hier endlich Kontur gewinnt. Im ersten Band war Voldemort schlicht böse. Mehr erfuhren wir nicht. Jetzt bekommen wir eine Origin Story, lernen den bürgerlichen Namen Tom Riddle kennen und bekommen erstmals die Rassismus-Allegorie präsentiert. Die Lehre von „reinblütigen Zauberern“ liefert uns eine realistische Motivation für Voldemorts Taten und macht so einen Schritt aus dem einfachen Kinderbuch hinaus in die Richtung, in die sich die Reihe noch entwickeln wird. Nicht zuletzt bekommen wir auch die Horkrux-Geschichte erstmals angeteasert:

„Du kannst Parsel, Harry“, sagte Dumbledore ruhig, „weil Lord Voldemort, der tatsächlich der letzte Nachfahre von Salazar Slytherin ist, Parsel sprechen kann. Und wenn ich mich nicht irre, hat er in jener Nacht, als er dir die Narbe zugefügt hat, einige seiner eigenen Kräfte auf dich übertragen … nicht dass er es beabsichtigt hätte, da bin ich mir sicher …“

Im Rahmen unserer Heldenreise ist Harry am Punkt der Refusal: Er will sein Schicksal als Held nicht annehmen, er zweifelt, überlegt, ob er nicht doch der Böse ist. Er hört Stimmen, ist eigentlich ein halber Slytherin und auch sonst ähnelt er diesem schrecklichen Voldemort sehr:

Ich hab mich gewundert, weißt du. Schließlich gibt es merkwürdige Ähnlichkeiten zwischen uns. Selbst du musst das bemerkt haben. Beide Halbbütige, Waisen, von Muggeln aufgezogen. Wahrscheinlich die einzigen Parselzungen, die seit dem großen Slytherin nach Hogwarts kamen. Wir sehen uns sogar ein wenig ähnlich …

… erkennt sogar Tom Riddle. Doch am Ende kriegt Harry dann die Kurve, weil er sich dafür entscheidet, der Held zu sein und damit etabliert Joanne K. Rowling ihr Leitmotiv. Denn wie Dierk Haasis mal schön erleuterte, dreht sich bei der Potterreihe alles darum die richtigen Entscheidungen zu fällen:

„Genau“, sagte Dumbledore und strahlte abermals, „Und das heißt, du bist ganz anders als Tom Riddle, Harry. Viel mehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, Harry, die zeigen, wer wir wirklich sind.“

Reactiongif: that's right!

Quelle: Reactiongifs. Lizenz: fragwürdig.

Literatur

J. K. Rowling: Harry Potter und die Kammer des Schreckens*

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