Aristoteles – Semantik & De Interpretatione

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Daniel
denkt über Bedeutungen nach

Aristoteles – Der Logiker – Folge 6

Heute gehe ich von den Kategorien zu De Interpretatione über – der Lehre vom Satz. Zunächst frage ich mich zusammen mit Aristoteles dabei die Kernfrage der Semantik: Wie kommt Bedeutung zustande. Im Anschluss löse ich mit Ari noch mehrere sehr spannende semantische Rätsel oder verzweifle an ihnen.

Was ist Artikulation?

Was war Semantik noch gleich?  Semantik ist die Theorie über die Bedeutung sprachlicher Zeichen. Die Frage, was Bedeutung überhaupt ist und wie sie zustande kommt. Und diese Frage beantwortet Aristoteles in De Interpretatione. Kleine Einschub am Rande: Ich springe heute immer wieder zwischen De Interpretatione und den Kategorie hin und her und mache das nicht immer explizit. Aber da beide Bücher zusammen nur auf ca. 70 Seiten kommen, snackt einfach beide an einem verregneten Sonntag weg.

Ari sagt jedenfalls, dass Wörter aufgrund von Konventionen ihre Bedeutung erhalten und Bedeutung nicht natürlich entstehe, wie Platon das noch glaubte. Erneute, schamlose Werbung: Schaut/Hört noch einmal meine Folge zu Platons Sprachphilosophie! Aristoteles Argument jedenfalls dafür, dass Bedeutung konventionell ist, lautet: Auch Tiere können artikulierte Laute von sich geben, diese haben aber keine Bedeutung. An dieser Stelle muss ich bereits ein erstes Mal widersprechen als wäre ich ein Faktenchecker, der über jeden zweiten Satz von Armin Laschet verzweifelt. Denn Hadumod Bußmann definiert in ihrem Lexikon der Sprachwissenschaft Artikulation als:

„Zur Bildung von Sprachlauten intentional gesteuerte und koordinierte Bewegung der Sprechwerkzeuge Atemapparat, Kehlkopf, Nasenhöhle und Mundhöhle.“

Tiere sind in der Lage, Töne in Lautstärke und Tonhöhe zu modulieren und zu takten. Aber sie sind gerade nicht der Artikulation fähig, denn die ist der Prozess der Sprachlautbildung. Jemand die oder der in der Lage ist, Knöpfe auf einem Controller zu drücken, ist ja deshalb auch noch nicht in der Lage, Minecraft zu spielen. Es muss hinzukommen, diese Knöpfe auf ganz bestimmte Art und Weise zum Zwecke des Minecraftspielens zu drücken.

Meine Freundin kritisierte, dass meine Definition von Artikulation zu eng gefasst sei. In einem Lexikon der Sprachwissenschaft sei natürlich eine sehr spezifische Auffassung von Artikulation zu finden. Okay. Point taken. Die Wikipedia unterscheidet drei Unterbedeutungen von Artikulation: die Sprachwissenschaftliche (die der von mir wiedergegebenen weitgehend entspricht), die Zahnmedizinische (die ich mal weglassen, denn wer hat schon Bock, sich mit Zahnärztinnen auseinanderzusetzen? Und die musikalische. Schauen wir uns die musikalische Definition mal an:

Unter Artikulation in der Musik wird erstens die Art verstanden, wie ein einzelner Ton stimmlich oder instrumental erzeugt oder gebildet wird; zweitens wie aufeinander folgende Töne miteinander verbunden werden.  … Die zahlreichen Arten, Töne zu verbinden sind ein Gestaltungsmittel zur Charakterisierung der Melodiebewegung.

Auch hier steckt wieder der Aspekt der  Zweckbindung drin. Der Ton wird auf besondere Art angeschlagen, um ihn genauso klingen zu lassen, wie man möchte und Töne werden kombiniert, um meine Melodiebewegung zu charakterisieren

Entsprechend weise ich den Einspruch ab, Frau Anwältin der normalen Sprache!

Das Frege-Prinzip der Bedeutung

Aber schauen wir mal weiter, was Aristoteles schreibt. Ari macht klar, dass Worte immer nur als Ganzes eine bestimmte Bedeutung haben. Wenn wir uns etwa „Hundekuchen“ ansehen, dann hat das Gesamtwort eine andere Bedeutung als es die beiden Teile „Hunde“ und „Kuchen“ haben. Denn beim „Erdbeerkuchen“ sind Erdbeeren im Kuchen, aber beim Hundekuchen keine Hunde.

Was Aristoteles hier beschreibt, ist ein erster Ansatz dessen, was später das Frege-Prinzip der Bedeutung oder auch das Kompositionsprinzip genannt werden wird. Der Name Frege-Prinzip kommt daher, dass der analytische Philosoph und Logiker, dessen Eltern ihn leider besoffen taufen ließen, Gottlob Frege dieses Prinzip ausformuliert hat. Demnach ergibt sich die Bedeutung eines Wortes erst aus dem Kontext der höheren semantischen Einheit. Bei Aristoteles‘ Beispiel ergibt sich die Bedeutung „Für Hunde gemacht“ aus dem Kompositum Hundekuchen. Man könnte aber sogar noch einen Schritt weiter gehen. Denn wenn aus dem Satz oder einem noch größeren semantischen Kontext klar würde, dass wir uns in Ostasien befinden. Dann könnte die Bedeutung von „Hundekuchen“ sich erneut für uns wandeln. Aber da mir Kuchen mit Hunden, Kühen oder Schweinen drin als Vegetarier zu unappetitlich sind, schaue ich doch lieber mal, was Ari sonst noch so schreibt.

Bedeutung als Eindruck der Seele

Nach Aristoteles sind die Äußerungen der Stimme Symbole für Eindrücke der Seele. Das Geschriebene wiederum ist ein Symbol für das Gesprochene. Das sind zwei Sätze, die die Sprachphilosophie noch Jahrtausende lang ganz kirre machen werden! Was die Eindrücke der Seele sind und ob sie wirklich der Grund für sprachliche Bedeutung sind, ist ein wesentliches Beschäftigungsfeld dieser philosophischen Disziplin. Nicht weniger spannend für Sprachphilosophie und Linguistik ist die Frage, in welchem Verhältnis gesprochene Sprache und Schrift stehen. Spoiler: So einfach, wie Aristoteles sich das vorstellt, ist es nicht. Denn es gibt zum Beispiel logographische Sprachen, die ohne den Umweg über die gesprochene Sprache direkt Bedeutungen abbilden.

Zumindest trägt Aristoteles der Tatsache Rechnung, dass es verschiedene Sprachen und Schriftsysteme gibt, indem er schreibt: Während Schriften und Sprachen sich unterscheiden können, sind die Seeleneindrücke bei allen Menschen gleich. Die Dinge, von denen sie Eindrücke sind, sind ebenfalls gleich. Puh, das ist ein Satz, der mit über 2300 Jahren Abstand ohne Schnaps nur schwer ernstzunehmen ist… Ari sagt, dass die seelischen Eindrücke den Dingen ähnlich sind. Das scheint ein Konzept von inneren Bildern zu sein, Auch wenn Nelson Goodman wegen dieser Ähnlichkeit und Gilbert Ryle wegen der Metapher vom Bild im Kopf gerade in ihren Gräbern rotieren. Was Aristoteles hier macht, ist eine klassische metaphysische Unterstellungen. Ari nimmt diese Seeleneindrücke einfach an und spekuliert wild über sie, aber wirklich begründen tut er das nicht.

Wir müssen uns nur eine Frage stellen, um das ganze so leicht zu Fall zu bringen, als wäre es ein Todesstern des Imperiums: Was ist mit Worten, die nichts Wahrnehmbares bezeichnen? Welchen Seeleneindruck haben die? Wie sieht der Seeleneindruck von „Demokratie“, von „Philosophie“ oder von „Liebe“ aus? Obendrein trampelt Ari einmal über die Qualia-Debatte, als wäre diese Rebel-Scum und der Philosoph ein AT-AT. Woher will er wissen, dass mein Seeleneindruck und deiner gleich sind?

Hier landen wir am Grunde wieder bei Wittgensteins Privatsprachen-Argument. Schaut/Hört euch am besten noch einmal meine Folge dazu an. Aber in Kürze so viel: Wittgenstein entwirft das Bild vom Käfer in der Schachtel. Stell dir vor, deine Seeleneindrücke sind ein Käfer in einer Schachtel. Wesentlich für diesen Käfer ist, dass jede*r nur in ihre*seine Schachtel gucken kann und nur von iher*seiner Schachtel weiß, was ein Käfer ist. Wittgenstein plädiert nun dafür, diesen vertrackten Knoten so zu lösen, dass wir den Käfer einfach aus der Gleichung streichen und andere Erklärungen dafür finden, wie Bedeutung zustande kommt. Denn egal, wie dein oder mein Käfer aussehen. Fakt ist: das Wort „Käfer“ hat eine Bedeutung in unserer Sprache. Aber es sollte noch über 2000 Jahre dauern, bevor Wittgenstein überhaupt geboren wurde, daher kehren wir in die Antike zurück, als wären wir mit Bill und Ted in einer Telefonzelle unterwegs.

Etwas über etwas aussagen und in etwas sein

Aristoteles fährt in der Kategorienschrift mit einer ganzen Reihe Nebenüberlegungen fort. Mir gelingt es nicht, die in eine stringente Erzählung zu packen, aber sie sind auch zu spannend, um sie hier einfach wegzulassen. Daher zähle ich ein paar von ihnen einfach mal auf:

Die nächste wichtige semantische Unterscheidung, die Ari trifft, ist, das es Dinge gibt, die man über ein Subjekt aussagen kann und solche, die sich in dem Subjekt befinden. Ich kann über Frodo sagen, dass er ein Hobbit ist, aber der Hobbit ist nicht in Frodo drin. Mut oder ein gutes Herz wiederum sind in Frodo.

Ari macht das nicht explizit, aber wenn ich mein Beispiel betrachte, dann fällt auf, dass „Hobbit“ eine Substanz ist. Während „Mut“ und „ein gutes Herz“ Qualitäten sind. Die Frage, die sich mir stellt: Sind generell nur Qualitäten in einem Menschen? Beziehungsweise können sie in etwas sein? Denn nicht jede Qualität ist in etwas. Wenn ich rot bin, dann ist die Röte ja nicht in mir, oder? Andererseits ist es ja eine Metapher, dass der Mut in mir ist. Denn zeigen wird sich der Mut erst in meinen Taten. Hmm …

Meine Haus- und Hof-Psychologin hat an dieser Stelle interveniert und sich dagegen ausgesprochen, das In-Mir-Drin-Sein als bloße Metapher abzutun. Denn Mut ist zwar nicht als irgendein Ding in mir drin, aber er ist eine Charaktereigenschaft. Als solche ist der Mut ein relativ stabiles Merkmal, dass sich über einen langen Zeitraum des Lebens in meinen Handlungen zeigen wird. Es ist Teil meiner Persönlichkeit, macht mich aus und ist auch in meinem Gehirn verankert.

Ari will aber auf einen anderen Punkt hinaus. Er betont gerade, dass Substanzen nicht in einem Ding drin sind. Aber von einem Ding ausgesagt werden können. Über mich lässt sich aussagen, dass ich ein Mensch bin. Hoffe ich zumindest …. Aber der Mensch ist nicht in mir drin. Das wird uns in Zukunft noch im Rahmen seiner Metaphysik beschäftigen. Vermute ich … Denn um uns noch komplett zu verwirren, sagt Ari, dass nicht nur Substanzen nicht in den Dingen sind, sondern über sie ausgesagt werden können. Das gelte auch für andere Arten von Prädikaten. Puh, ich weiß wirklich nicht, was ich damit anfangen soll, ich glaube das sind Probleme, die dadurch entstehen, dass die Sprache feiert, um Wittgenstein noch einmal heraufzubeschwören. Und um auch noch den großen Philosophen Herrn Lehman zu zitieren: Das bringt jetzt hier alles nichts.

Okay, wie schon gesagt, mit diesen beschäftigen wir uns intensiver, wenn wir von der Logik zur Metaphysik wechseln. Wie ich schon beim letzten Mal sagte, entstehen hier nämlich Probleme daraus, dass Ari nicht klar zwischen Sprache und Welt unterscheidet. Aber lasst uns schon einmal im Kopf behalten, dass Substanzen wichtig sind. Die anderen Kategorien scheinen überhaupt nur in Abhängigkeit von Substanzen ihre Bedeutung zu erhalten.

Wesen und Akzidenz

Eng damit zusammen hängt die nächste wichtige Unterscheidung, die Aristoteles in den Kategorien fällt, ist die zwischen Wesen und Akzidenz. Es gibt Prädikate, die einem Subjekt wesentliche Eigenschaften zusprechen, die aussagen, was es ausmacht, ein bestimmtes Subjekt zu sein. Hamilton ist ein Musical, weil darin gesungen und getanzt wird und es für Musicals wesentlich ist, dass darin gesungen und getanzt wird. Wenn in einem Film oder Bühnenstückt weder Gesang noch Tanz vorkommen, dann kann es kein Musical sein.

Demgegenüber gibt es auch bloß akzidentielle Prädikate. „Daniel sitzt hier im Schlafanzug und tippt diese Worte in sein Handy“ etwa. Die drei hier drin steckenden Prädikate ’sitzend‘, ‚im Schlafanzug‘, ‚Worte ins Handy tippend‘ machen sicher nicht das Wesen von Daniel aus. Gut, es gibt Menschen, die behaupten, dass etwas ins Handy zu tippen wesentlich für mich ist. Aber ich weiß nicht, wie sie darauf kommen!

Die Entdeckung der Relation

Nicht unerwähnt lassen, möchte ich ferner, dass Aristoteles die Relation entdeckt. Bei Platon hatte ich mich ja das eine oder andere Mal aufgeregt, dass er immer nur von absoluten Begriffen spricht. Etwa von der absoluten Größe, was absolut keinen Sinn macht, da etwas immer nur auf etwas anderes groß ist. Ari kritisiert seinen Lehrer hier ebenfalls und macht das schön anhand des Begriffs „voll“ klar. Wenn bei mir in der Wohnung 20 Leute wären würde ich sagen: Oh, Boy, das ist aber voll! Wenn nun die gleichen 20 Leute in einem Theatersaal säßen würden wir diesen hingegen als leer bezeichnen, obwohl sich die absolute Zahl der Menschen ja nicht geändert hat. Voll ist eben ein relativer Begriff und seine Bedeutung ergibt sich erst daraus, dass man angibt, in Bezug auf was etwas voll ist … Gut, Ari schießt dann seinerseits übers Ziel hinaus, wenn er anfängt, auch „Wissenschaft“ als einen relativen Begriff zu interpretieren, aber diesen Teil der Erörterung spare ich uns einfach. Komische Meinungen gibt ja schließlich immer. Es soll sogar Menschen geben, die „Rough Night“ für einen lustigen Film halten.

Substanzen können nicht mehr oder minder sein

Der nächste Punkt ist für mich schon wieder spannende: Ari stellt fest, dass Substanzen nicht mehr oder minder sein können. Man ist zum Beispiel immer 100% Mensch und nicht nur zu einem bestimmten Grad. Das ist eine wichtige Feststellung, an die wir uns noch so manches Mal in der Ethik erinnern sollten. Unser Grundsatz, dass es unveräußerliche Menschenrechte gibt, baut darauf auf. Egal, was du tust, du kannst deine Menschenrechte nicht verlieren. Denn egal, wie du sonst so drauf bist, du bist noch immer ein Mensch.

Rassisten und Sexisten missachten dieses Prinzip massiv, indem sie oft biologistisch argumentieren. Sie sagen dann, dass Menschen bestimmter Nationalität, Ethnie oder Geschlechts weniger Menschen sind als es alte weiße Männer sind und dass ihnen daher weniger Rechte zustehen würden. Hört dazu noch einmal meine Rassismus-Folge (ja, ich weiß, ich wollte zu Neuen Rechten noch mehr Folgen machen und das Nationalismus-Buch steht auch schon seit 1,5 Jahren in meinem Schrank. Corona hatte dem Plan einen Strich durch die Rechnung gemacht. // Drüben in meinem Podcast habe ich eine Folge zu Rassismus veröffentlicht. Hört da doch mal rein.

Bei allem Hurra, dass ich auf diesen einen Satz runterregnen lasse, dürfen wir den naturalistischen Fehlschluss nicht vergessen. Denn aus der Tatsache, dass jede*r immer 100% Mensch ist, folgt nicht zwangsläufig, dass für alle auch die gleichen Rechte gelten sollten. Man kann nicht aus einem Sein auf ein Sollen schließen. Ethik bleibt die Aushandlung der Frage, wie wir leben wollen. Aristoteles nimmt sich das (wenn auch ein weiteres Mal nicht explizit) zu Herzen und spricht alten Weißen Männern in seiner Ethik viele Rechte zu, die er anderen Menschen versagen will. Doch das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden.

Diskretheit und Kontinuen

Einen habe ich noch! Für die Medientheorie wiederum ist Aristoteles‘ Ausführung von Bedeutung, dass Quantitäten diskret oder kontinuierlich sein können. Zahlen und Sprache sind diskret. Das bedeutet in diesem Fall aber nicht, dass sie darüber schweigen, was in Las Vegas geschehen ist, sondern es heißt, sie bestehen aus klar abgegrenzten Einheiten. Die für jedes Sprachverständnis notwendige Fähigkeit unseres Gehirns zur Segmentierung  basiert darauf, dass sprachliche Einheiten diskret sind. So gelingt es unserem Gehirn höchst unterschiedliche akustische Wellen als immer das gleiche Wort zu segmentieren. Das kleine Wörtchen „das“ kann aufgrund von Dialekt, Soziolekt, Akzent und Idiom höchst unterschiedlich klingen, je nachdem, wer es ausspricht. Aber unser Gehirn macht daraus immer das gleiche Wort. Nur so können wir Sprache verstehen.

Längen und Flächen sind hingegen kontinuierlich. Gleiches gilt auch für Zeit und Ort: Sie sind ein Kontinuum. Ohne dass Ari es explizit macht – mal wieder, löst er mit dieser Feststellung das Schildkröten-Paradoxon:

Diesem berühmten Trugschluss des Zenon von Elea zufolge machen Achilles und eine Schildkröte ein Wettrennen. Achilles gibt der Schildkröte einen Vorsprung, weil er sich seines Sieges sicher ist. Doch dieser führt dazu, dass er das Rennen nicht mehr gewinnen kann. Denn bevor Achilles die Schildkröte überholen kann, muss er zuerst ihren Vorsprung einholen. Während er das macht, hat die Schildkröte aber einen neuen, wenn auch kleineren Vorsprung gewonnen. Jetzt muss Achilles den erst einholen. Doch sobald er das geschafft hat, hat die Schildkröte wiederum einen – noch kleineren – Vorsprung gewonnen und so weiter. Der Vorsprung, den die Schildkröte hat, wird demnach zwar immer kleiner, aber dennoch bleibt immer ein Vorsprung.

Das Problem an diesem vermeintlichen Paradoxon ist eben, dass es Längen als diskrete Einheiten auffasst, die nacheinander abgearbeitet werden müssen, so wie Zahlen nacheinander gezählt werden müssen. Aber in Wirklichkeit sind Längen kontinuierlich. Achilles – bekanntermaßen eh nicht die hellste Fackel beim Marathonlauf – denkt zum Glück nicht nach, sondern läuft einfach weiter, ohne sich um die Streckeneinheiten zu kümmern.

Wir können und werden noch weitere Beziehungen von Prädikaten zueinander ausmachen. Doch damit kommen wir zum sogenannten logischen Quadrat und mit ihm – der Name deutet es an – der Logik jetzt schon so nahe, dass ich es auf die nächste Folge verschieben möchte. Insgesamt bleibt mir aber zu sagen, dass in den wenigen Seiten der Kategorienschrift und von De Interpretatione noch viel mehr steckt, was ich weggelassen habe, da es hier den Rahmen sprengen würde. Schaut in die Texte rein und nicht nur Youtube/hört nicht nur Podcasts ist wohl ein Rat, den man immer geben sollte.

Was natürlich nicht heißen soll, dass ihr hier nicht mehr weiter schauen/hören sollt: Damit ihr die nächste Folge nicht verpasst, solltet ihr dringend diesen Kanal/Podcast abonnieren. Ich danke euch, dass ihr mir eure Zeit geschenkt habt.

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Aristoteles – Die Kategorien

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Daniel
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Aristoteles – Der Logiker – Folge 5

Kommen wir zum Kern eines der berühmtesten Bücher von Aristoteles: zu den Kategorien. Beim letzten Mal waren wir bei der Frage stehen geblieben, was alles in einem Satz als Prädikat verwendet werden kann. Da mache ich weiter und lande bei den 10 Bedeutungs-Kategorien, in die jedes Wort nach Aristoteles fällt. Im Anschluss frage ich mich noch, wo der Unterschied zwischen Wort und Begriff ist und wir formalisieren die Sprache vollständig, damit wir für die formale Logik vorbereitet sind.

Organon – Kategorienschrift – Die Kategorien

Heute geht es um Aristoteles‘ berühmte Kategorien. Beim letzten Mal hatten wir die Prädikation kennengelernt. Also die grundlegende Satzstruktur, mit deren Hilfe wir in der Zukunft Schlüsse ziehen können. Es gibt immer ein Subjekt, über das wir sprechen und etwas, was wir darüber aussagen – das Prädikat. Bei der Frage, was wir an der Position des Prädikats einsetzen können, waren wir beim letzten Mal gestolpert. Denn anscheinend gibt es sehr verschiedene Arten von Wörtern, die hier eingesetzt werden können.

Und damit kommen wir zu den eigentlichen Kategorien, nach denen das erste Buch des Organons benannt ist. Funfact: Die Zusammenfassung der logischen Schriften als Organon geht übrigens noch nicht auf Ari zurück. Stattdessen geschah sie erst später durch Aristoteles-Interpret*innen.

Ari jedenfalls sagt, dass jedes ohne Verbindung gesprochene Wort (also jedes Wort, das in keinem Satzzusammenhang steht) in eine von zehn Kategorien fällt. Zu den verschiedenen Kategorien gibt es immer passende Fragen, mit denen wir erkennen können, um welche Kategorie es sich handelt. Schauen wir sie uns an:

  1. Ein Wort kann eine Substanz sein. Was eine Substanz ist, ist für Ari eine äußerst komplexe Frage, wir kommen in den Folgen zur Metaphysik darauf zurück. Wenn wir nach einer Substanz fragen, dann machen wir das mit der uns schon allzu oft begegneten Was-ist-Frage: Was ist das?: Ein Pferd, ein Film, ein Mensch.
  2. Kann das Wort auch eine Quantität sein. Fragen, die dazu passen, sind: Wie viel? Wie groß? Ein Beispiel: Wieviele Spartaner haben diese komische Zack-Snyder-Schlucht verteidigt? 300 Spartaner.
  3. Oder es ist eine Qualität. Dann fragen wir uns: Wie ist etwas? Mein Kind (13) ist schlecht gelaunt.
  4. Bei der Relation können wir fragen: In welchem Verhältnis steht etwas zu etwas anderem? Wieviel mal reicher ist Jeff Bezos als ich. Die Antwort lautet: LOL.
  5. Der Ort ist die nächste Kategorie. Wir fragen dann: Wo ist sie? Sie ist im Impfzentrum – lecker Impfsaft abholen.
  6. Natürlich gibt es auch die Kategorie der Zeit: Wann ist etwas? Wir befinden uns im Jahre 50 vor Chr. Ganz Gallien ist von den Römern besetzt. Ganz Gallien? Nein!
  7. Dann findet Ari noch die Lage oder Position als Kategorie. Die Frage dazu ist wenig originell: In welcher Position ist etwas? Es sitzt oder liegt. Ich würde jetzt auch gerne liegen.
  8. Als nächstes kommt das Haben. Was hat etwas (an)? Die AfD hat einen an der Waffel. Wobei das schon eher eine Qualität ist …
  9. Zwei Kategorien gibt es noch, dann habt ihr es geschafft: Zum einen die Kategorie des Tuns. Was tut etwas? Es macht ein Video über Ari.
  10. Schließlich gibt es noch das Leiden. Doch das hat nichts mit dem zu tun, was den Protagonisten in Tarantinos Filmen widerfährt. Oder vielleicht doch? Die Frage dazu lautet jedenfalls: Was leidet etwas? Die Antwort ist: Es wird angezogen, es wird erschossen. Es geht also um Passivsätze.

Falsch in Richtung Begriff abgebogen

Seid ihr noch wach? Ich nur noch gerade so. Aber an diese Liste schließen sich für mich mehrere Gedanken an: Zunächst ist sie sowas von typisch Ari, dass ich sie mit einem Stempel versehen möchte. Einem dicken, fetten Aristoteles-Stempel. Denn es ist einerseits genial, sich mal hinzusetzen und zu überlegen, was ein Wort grundsätzlich bedeuten kann. Irgendjemand musste das mal tun und Ari hat es gemacht. Also hoch die Tassen!

Andererseits ist es in seiner Systematik auch uuuuuuunglaublich langweilig. So langweilig wie mir ist, während ich weiter auf meine Impfung warten muss. Und damit sind die Kategorien auch wieder typisch Ari. Der Unterschied zwischen Platon und Aristoteles ist, dass der Ältere ein Künstler war, der Jüngere ein Handwerker. Bei Platon denke ich beim Lesen oft: Genial! Und im Nachhinein kommen mir dann die Zweifel, ob das alles so stimmen kann. Aristoteles hingegen jagt mir eher selten metaphysische Schauer den Rücken runter, macht dabei dann aber eben auch keine „Fehler“. Okay, auch das ist nicht ganz richtig, denn einen Fehler, so groß wie die Debatte rund um die geschmackliche Qualitäten von Rosenkohl sehe ich hier gleich.

Wir waren von der Frage aus gestartet, was alles prädiziert werden kann. Doch dann machte Aristoteles plötzlich eine harte Kurve und sprach davon, dass die Kategorien sagen, was ein „ohne Verbindung gesprochenes Wort“ bedeuten kann.

Ari sagt also, dass die Kategorien Wortkategorien sind. Aber wenn wir uns Antworten wie „50 vor Chr.“ oder „schlecht gelaunt“ angucken, dann handelt es sich dabei um Wortgruppen. Andererseits passen Wörter wie ’nicht, ‚und‘, ‚ähm‘ oder ‚Alter!‘ nicht so recht in eine der Kategorien, oder? Worüber Ari hier spricht, sind nicht Wörter, sondern Begriffe. Einschränkend möchte ich dazu sagen, dass ich als komplette Flachpfeife die Kategorien natürlich nur auf Deutsch und nicht im griechischen Original gelesen habe. Aber, gehen wir mal davon aus, dass der Übersetzer kein kompletter Vollpfosten war und kritisieren, dass hier eigentlich von Begriffen und nicht von Wörtern gesprochen werden müsste.

Mein kleines philosophisches Wörterbuch sagt, ein Begriff ist nach Christian Wolff:

„eine jede Vorstellung einer Sache in Gedanken“

Kants Definition ist noch feiner:

„Ein Begriff ist … eine allgemeine Vorstellung oder eine Vorstellung dessen, was mehreren Objekten gemein ist.“

Aus der analytischen Philosophie kommend würde ich das viel einfacher sagen und damit zur Antwort auf unsere eigentliche Ausgangsfrage – was alles prädiziert werden kann – zurückkehren:

Ein Begriff ist das, was in einem Satz als logisches Prädikat fungieren kann.

Und mit dieser Einschränkung auf Begriffe statt Wörter stellte Ari eine Weiche und schickte die westliche Philosophie auf ein Gleis, auf dem sie bis ins 20. Jahrhundert blieb. Erst dann begannen so Menschen wie Wittgenstein, Austin und Saussure nachzudenken, ob es in unserer Sprache nicht noch mehr gibt, als Begriffe, die in diese 10 Kategorien passen. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden.

Logisch-semantische Propädeutik

Kehren wir zu Aris Text zurück. Denn uns geht es ja zunächst einmal um die Logik, und für die haben wir jetzt schon fast unser gesamtes Besteck zusammen. Ein Satz, der sich mit mit logischen Mitteln untersuchen lässt ( zumindest mit jenen, die Aristoteles zu Verfügung standen) ist so aufgebaut:

X ist Y.

Wobei X das Subjekt ist und Y das Prädikat. An Stelle des Prädikats kann nun ein Begriff aus einer der 10 Kategorien stehen. Doch ein kleines, aber nicht unwichtiges Detail fehlt uns noch. Denn worum geht es uns in der Logik?

Kleiner Tipp: Es geht uns nicht darum, wie sehr das Wahlprogramm der CDU im vergangenen Jahrhundert feststecken. Wir könnten aber so manche Behauptung aus diesem Wahlprogramm mit logischen Mitteln prüfen. Und wenn wir das machen, dann prüfen wir es auf Wahrheit. Doch die Wahrheit ist uns bislang noch gar nicht begegnet …

In einem unscheinbaren Satz in der Kategorienschrift (den er dann allerdings in De Interpretatione wieder aufgreift), setzt Aristoteles sich mit der Wahrheit auseinander und dabei entschieden von Platon ab. Denn er macht eine wichtige Feststellung: Die Begriffe der Kategorien enthalten noch keine Bejahung oder Verneinung, denn diese kommt erst in Wortverbindungen, also in Sätzen zustande. Bejahungen und Verneinungen wiederum sind entweder wahr oder falsch, das gilt aber nicht für einzelne Wörter. Was Ari hier sagt, ist, dass nur Sätze wahr oder falsch sein können. Wörter haben keinen Wahrheitswert. Es gibt keine richtigen und falschen Wörter, wie Platon es noch glaubte. Hört/schaut gerne noch einmal meine Folge zu Platons Sprachphilosophie.

Damit haben wir jetzt unser komplettes logisches Besteck zusammen. Es gibt ein Subjekt X dem ich ein Prädikat Y zu oder aussprechen kann. Das zusammen ergibt einen Satz, der wahr oder falsch sein kann.

Das Münchener Fußballstadion leuchtete beim Spiel Deutschland gegen Ungarn nicht in Regenbogenfarben. Dieser Satz ist wahr und die UEFA ein rückgratloser Haufen.

Wir können den Satz zergliedern in:

X (Das Münchener Fußballstadion)

Y (leuchtete in Regenbogenfarben) – das Prädikat drückt übrigens eine Qualität aus

Und die Negation – für ’nicht‘

Der gesamte Satz X (-Y) = wahr.

Herzlichen Glückwunsch! Wir haben unsere normale Sprache erfolgreich formalisiert und sind nun bereit für die formale Logik!

Aber dafür raucht mir heute zu sehr der Kopf, das machen wir beim übernächsten Mal, denn davor habe ich noch ein paar andere semantische Überlegungen, die ich mit euch teilen möchte.

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Probleme von Platons Ideenlehre

Der Titel spoilert schon ganz heftig. Heute soll es um die Probleme von Platons Ideenlehre gehen. Nachdem wir in den Posts zu Metaphysik und der Suche nach dem sicheren Wissen erfahren haben, warum die Ideenlehre notwendig erscheint und nachdem wir sie kennengelernt haben, zeige ich diesmal, dass die Ideenlehre eben auch nicht eitel Sonnenschein ist, sondern den Philosophen einiges Kopfzerbrechen bereitet. Daher sollten wir sie noch nicht mit dem Stempel „Wahrheit“ versehen.

Ich widme mich zunächst einem Argument, das Platon selbst in seinem Dialog Parmenides vorträgt. Dann gehe ich aber zu allgemeineren Problemen über mit mathematischen Figuren, der Idee der Schönheit und jenen Ideen von konkreten Gegenständen. Am Ende betrachte ich noch kurz den Unterschied zwischen Eigenschaften und Relationen. Ihr kennt das Spiel, hier gibt es das Video, darunter das Transkript:

Die Argumente aus dem Parmenides

 

Wir hatten beim letzten Mal die Ideenlehre kennengelernt sowie ein paar gute Gründe, um an die Existenz von Ideen zu glauben. Aber zugleich hatte ich auch immer mal wieder angedeutet, dass ich persönlich nicht unbedingt der größte Fan des Platonismus bin. Daher möchte ich euch heute mal einige Probleme im Zusammenhang mit dieser Theorie aufzeigen.

Platon nennt in seinen späten Dialogen selbst einige Argumente gegen die Ideenlehre. Allerdings bekomme ich bei diesen Beispielen von Platon oft einen Knoten ins Gehirn, daher will ich von Platons Punkten nur einen Aufgreifen und mich eher auf allgemeinere Probleme konzentrieren.

Im Dialog Parmenides lässt Platon eben diesen berühmten Vorsokratiker das Argument gegen die Ideenlehre vortragen, über das ich sprechen möchte. Eine interessante Randnotiz ist hier übrigens, dass der Parmenides einer der wenigen Dialoge ist, in dem Sokrates mal nicht am Ende Recht behält.

Parmenides‘ Argument geht so: Einer Idee stehen jeweils viele Erscheinungen gegenüber. Daraus folgt entweder, dass jede Erscheinung an der gesamten Idee teilhat oder dass jede Erscheinung nur an einem Teil der Idee teilhat. Soweit, so logisch: Es gibt nur diese beiden Möglichkeiten. Ich kann nur behaupten, dass ich „Der Marsianer“ gelesen habe, wenn ich entweder das gesamte Buch oder einen Teil gelesen habe, nicht jedoch wenn ich es gar nicht gelesen habe. Klar?

Aber Parmenides fährt fort, dass egal welche der beiden Möglichkeiten wir annehmen, beide führen dazu, dass man die Einheit der Idee aufgeben muss. Es sei nicht möglich, dass die gesamte Idee an vielen verschiedenen Dingen teilhabe. Entsprechend müsse man viele verschiedene Ideen annehmen. Das ist mir schon nicht mehr klar: Wenn wir uns erinnern, dass Platon das Verhältnis von Idee und Erscheinung als Abbildverhältnis beschreibt, dann haben wir schon ein perfektes Gegenbeispiel, in dem ein Urbild zu unzähligen Abbildern führen kann. Gebt einfach mal „Eifelturm“ in die Google-Bildersuche ein. Selbst wenn wir nur auf natürlich Abbilder gucken, so kann ein Ding mehrere Schatten werfen oder mehrere Spiegelbilder haben.

Anyway … Der zweite Teil von Parmenides‘ Gegenargument ist einleuchtender: Wenn jede Erscheinung nur an einem Teil der Idee teilhat, dann kann die Idee nicht unteilbar sein. Teilt ihr diesen Teil der Argumentation? Übrigens lässt Platon Parmenides hierfür als Beispiel das Bild eines Segeltuches verwenden, dass über viele Menschen geworfen wird und auf sie fällt. Ich habe mal gehört, dass unsere Redewendungen „etwas ist der Fall“ und „etwas fällt darunter“ auf dieses Bild von Platon zurückgeht. Allerdings habe ich keinen Beleg dafür finden können, weswegen ich das hier mal einfach als Legende stehen lasse.

Im Dialog Parmenides finden sich noch viele Argumente, er ist also auf jeden Fall eine Lektüre wert, aber ich will jetzt, wie gesagt, etwas allgemeiner über die Probleme der Ideenlehre sprechen.

Eine metaphysische Unterstellung

Meine größte Schwierigkeit mit der Ideenlehre ist, dass sie eine metaphysische Unterstellung ist. Lasst mich das erklären: Wir können mit unserer Sprache einerseits auf konkrete Einzeldinge verweisen, wie beispielsweise auf eine DVD von Inglourious Basterds. Andererseits haben wir aber auch Allgemeinbegriffe wie „Film“. Auf was verweisen die? Gute Frage …  Eine mögliche Antwort sorgt dafür, dass es gute logische Gründe gibt, von der Existenz von Ideen auszugehen. Wenn ich über die DVD von Inglourious Basterds spreche, dann ist (verkürzt gesprochen) Der Gegenstand Inglourious Basterds die Bedeutung des des Wortes „Inglourious Basterds“. Wenn wir jetzt versuchen, dazu analog einen Gegenstand zu finden, der die Bedeutung des Allgemeinbegriffs ist, dann gibt es diesen nicht in der Welt. Entsprechend ist es nicht ganz unplausibel, zu sagen, dass die Bedeutung von „Film“ die Idee des Films ist.

Soweit, so gut. Aber da wir sie per Definition nicht wahrnehmen können, ist jede Spekulation darüber, was eine Idee ist und welche Eigenschaften sie hat, komplett unbegründet. Platon kann natürlich hingehen, und die Idee des Schönen definieren, wie wir das letzte Mal sahen, aber was wenn ich jetzt eine andere Definition für die Idee des Schönen gebe? Was zum Beispiel, wenn ich wieder sage, die Idee des Schönen sieht aus wie Brokkoli? Wie können wir dann entscheiden, wer Recht hat? Der Witz ist ja, dass wir auf nichts in der Welt als Argument verweisen können, da sich die Idee nicht in der Welt zeigt.

Ich finde, der Begriff des Schönen ist sehr gut geeignet, um dieses Problem zu veranschaulichen, da alle Menschen anderer Meinung sind, was schön ist. Ich finde zum Beispiel Streetart sehr schön, von vielen wird sie aber nur als Schmiererei angesehen.

Mathematische Begriffe und Gegenstände

Das Problem wird komplexer, wenn wir von abstrakten Begriffen wie „Schönheit“ zu mathematischen Begriffen übergehen. Eben sagte ich ja, dass Platon annimmt, dass es zu jeder Erscheinung nur genau eine Idee gibt: Nehmen wir an, es gibt die eine Idee der perfekten Geraden. Sicher gibt es dann auch die Idee des perfekten Schittpunkts. Oder? Aber wie soll das möglich sein, wenn wir nur EINE Idee der Geraden haben? Platons These ist also nicht haltbar. Wir brauchen für den Schnittpunkt schon zwei Ideen für Geraden. Das Problem potentiert sich, wenn wir anfangen, zu überlegen, welche verschieden Schnittpunkte es gibt. Statt zwei Geraden, kann eine Gerade auch einen Kreis schneiden, zwei Kreise können sich schneiden, Kurven können sich schneiden, etc.

Gibt es für jede denkbare Kombination von geometrischen Figuren eigene Ideen? Aber es gibt unendlich viele Möglichkeiten. Kann es unendlich viele Ideen geben?

Doch richtig schlimm wird es, wenn wir uns den von Menschen gemachten Gegenständen zuwenden: Hat die Idee des Stuhls drei oder vier Beine, hat sie Armlehnen und eine durchgehende Rückenlehne? Ich bin stark dafür, dass sie eine durchgehende Rückenlehne haben sollte! Gibt es nur die Idee des perfekten Smartphones oder gibt es die Idee des iPhones, des Android Handys, des Blackberrys und am Ende sogar die Idee des Windows Phone?!?! Und wenn es die Idee des iPhones gibt, ist dann das iPhone 7 näher an der Idee als das iPhone SE?

Und was ist mit Dingen, die an sich schon einfach nur scheiße sind? Gibt es von denen dennoch Ideen? Gibt es die Idee von Google Glasses? Vom Selfie-Stick? Vom Tamagotchi? Der Atombombe? Gibt es am Ende sogar die Idee des perfekten Haufens Scheiße?

Eigenschaften und Relationen

Schließlich kommen wir noch zum Problem, dass Platon auch von relationalen Begriffen annimmt, dass es von ihnen Ideen gibt. So sagt er zum Beispiel, dass es die Idee der Größe gibt. Etwas, das groß ist, etwa Dirk Nowitzki, hat demnach viel Anteil an der Idee der Größe. Die Idee der Größe aber ist per Definition die absolute Größe, die nicht größer sein könnte. Das Problem daran ist, dass Platon damit alle Begriffe über einen Kamm schert. Aber es gibt verschiedene Formen von Begriffen. Es gibt nicht nur Eigenschaften, wie zum Beispiel „gestreift sein“, es gibt zum Beispiel auch so etwas wie Relationen und genau das ist der Begriff „groß“. Etwas ist immer nur groß in Bezug auf etwas anderes. Dirk Nowitzki ist verglichen mit mir groß. Aber verglichen mit einem Sternenzerstörer ist er superklein. Die Größe an sich unabhängig von einer konkreten Relation anzunehmen, ist vollkommen unsinnig.

Ihr seht, die Ideenlehre hat viele Probleme. Was machen wir also damit? Schmeißen wir sie auf den Müllhaufen der Philosophiegeschichte? Nun, das wäre vielleicht nicht das Schlauste. Denn obwohl sie so viele Probleme hat, löst sie uns auch genauso viele. Das ist der Grund, warum wir sie nach 2.300 Jahren noch immer diskutieren. Und welche Probleme genau gelöst werden, davon werde ich euch ab dem nächsten Mal erzählen.

Literatur

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Demut

eine Begriffsbestimmung

[Dieser Blogpost ist so lang, dass du schon wahnsinnig sein musst, wenn du ihn komplett liest. Daher kannst du einfach ans Fazit springen und den ganzen Schmonzes dazwischen auslassen. Dann wirst du feststellen, dass das Fazit so interessant ist, dass du auch das davor lesen willst und insgesamt noch viel mehr Zeit verplempern: Das Zeitreisenparadoxon.]

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Besinnlich wird es zum Advent auch im deutschsprachigen Internet. Da kann es dann auch mal vorkommen, dass sich ein paar Blogger an den Begriff der Demut heranwagen. Ausgelöst wurde die Begriffsbestimmung vom Haltungsturnen, es folgten wirres.net und – logischerweise – Anmut und Demut.

Demut

Demut. Bild von mir. Lizenz: CC BY 3.0.

Ich finde es erstaunlich, dass auf der Klaviatur der ethischen Begriffe ausgerechnet auf diese Taste gedrückt wurde. Und das gleich drei Mal! Ich hätte vermutet, dass der Begriff schon längst vom Strom des Sprachwandels hinfortgespült worden ist. Zumindest in meinem abschließenden Vokabular spielt das Wörtchen keine Rolle mehr. Und fast noch erstaunlicher finde ich, dass alle drei Interpreten den Begriff der Demut positiv deuten, während ich es bei ihm eher mit Nietzsche halte. Doch eines nach dem anderen, schauen wir doch erst einmal, was die drei demütig zu verkünden haben. Denn das ist mein eigentliches Anliegen: hier kann man mal richtig schön Sprachanalyse betreiben und ganz im Sinne Wittgensteins „dem Volk“ aufs Maul schauen. Also: Was ist Demut?

Haltungsturnen + Pferde + Kinder = Demut

Ich musste schon ein wenig Schmunzeln, als ich über der Überschrift „Demut“ den Slogan von Wolfgang Luenenbuerger-Reidenbachs Seite las: „Niveau sieht nur von unten aus wie Arroganz“. Hmmm… Nicht gerade demütig, oder? Im Gegenteil: Ist nicht gerade das „Unten“ der Ort der Demut? Aber das nur am Rande…

Wolfgang Luenenbuerger-Reidenbach geht seine Definition in platonischer Tradition extensional an, indem er sich fragt, was unter den Begriff fällt beziehungsweise was ihn demütig macht:

„Kinder und Pferde machen demütig. Mich jedenfalls. Anderen wird es vielleicht mit anderem so gehen. Aber Kinder und Pferde erinnern mich immer wieder daran, wie zufällig so vieles ist, wie wenig binär, eindeutig, plan- und beherrschbar.“

Wolfgang Luenenbuerger-Reidenbach: Demut.

In diesem Absatz stecken schon drei spannende Aspekte des Begriffs:

  1. Demut ist ein innerer Zustand. Anders als zum Beispiel Freiheit hat die Gesellschaft darauf keinen Einfluss. Egal welchen äußeren Einflüssen ich unterliege, ich kann immer demütig sein.
  2. Demut bezieht sich auf etwas. Es ist kein alleinstehender Wert. Wieder verglichen mit der Freiheit zeigt sich der Unterschied. Freiheit ist absolut. Ein unveräußerliches Recht. Es gibt sowohl die Freiheit von etwas, als auch die Freiheit zu etwas. Demut hingegen steht immer in einer Relation zu einem anderen Wert.
  3. Demut hat etwas mit Bewusstmachen zu tun. Luenenbuerger-Reidenbach erinnert sich an etwas, das macht ihn demütig.

So weit, so gut.

Aus dieser ersten Annäherung an den Begriff zieht Wolfgang Luenenbuerger-Reidenbach aber sogleich einen falschen Schluss, indem er technikpositivistischen Menschen und Technokraten Demut abspricht. Aber warum sollte das so sein? Alle drei oben erwähnten Bedeutungsaspekte von Demut kann ich auch auf Technikpositivismus oder Technokratie anwenden. Es gibt keine intrinsischen Bedeutungsaspekte von Technikpositivismus oder Technokratie, die mit Demut im Widerspruch stehen. Ich kann sehr demütig daruf hoffen, dass der Replikator erfunden wird und mit ihm der Hunger der Welt endet. Genauso kann ich als Technokrat vor jeder Regierungsentscheidung Wissenschaftler befragen, um dann ganz demütig zu einer Entscheidung zu kommen. Luenenbuerger-Reidenbach zieht diesen Schluss, um damit implizit einen weiteren, zentralen Bedeutungsaspekt von Demut einzuführen:

„Ob es wirklich und ernsthaft Menschen geben kann, die sich nicht nur einzureden versuchen (ob aus Schwäche und Unsicherheit oder aus Kalkül), sie könnten die Zukunft vertraglich regeln oder die Funktionsweise von irgendwas mit Menschen oder der Natur mithilfe von Gesetzmäßigkeiten erklären und vorhersagen.“

Wolfgang Luenenbuerger-Reidenbach: Demut.

Demut ist das Gegenteil von Hybris, Arroganz und Hochmut. Sie ist verwandt mit Bescheidenheit. Allerdings muss ich noch einmal betonen, dass Luenenbuerger-Reidenbach keinerlei Argument liefert, warum Technikpositivismus oder Technokratie nicht auch demütig sein können. Seine vemeintliche Schlussfolgerung ist ein purer Sophismus. Karl Poppers Stückwerk-Sozialtechnik ist ein äußerst technokratischer Ansatz. Aber gerade im Wissen um seine eigene Fehlbarkeit erscheint er mir demütig, in dem Sinne in dem Luenenbuerger-Reidenbach den Begriff verwendet. Letzterer benutzt die Demut hier als nichts anderes, denn als Buzzword um seine Abneigung gegenüber Technokratie und Technikpostivismus zur Schau zu stellen. Technikpositivismus und Technokratie sind böse weil Demut! Eine Begründung lässt er aus.

Aus dieser Einstellung heraus folgt im Haltungsturnen ein Rant über den Begriff des Naturgesetzes, den wir hier vernachlässigen können, weil er m. E. auf einer falschen Definition des Begriffs aufbaut. Interessant ist noch dieses Zitat bevor wir uns den Wirren von wirres.net zuwenden:

„Nur Wesen, die wir gebrochen haben, ergeben sich in die Beherrschbarkeit“

Wolfgang Luenenbuerger-Reidenbach: Demut.

Denn meinem Verständnis nach gibt es noch etwas anderes, das Beherrschbarkeit über Jahrhunderte hinweg ermöglicht hat: Demut. Ich werde das später noch weiter ausführen.

Wahrheit und Fehlbarkeit

„Madame Kovarian: Good men have too many rules.
The Doctor: Good men don’t need rules. Today is not the day to find out why I have so many.“

Doctor Who: A Good Man Goes to War.

Da dieser Text schon jetzt langsam tl;dr wird, möchte ich zu Felix Schwenzel und seinem Demut-Text voranschreiten. Denn dieser bringt mein Problem mit der Demut sogleich auf den Punkt, auch wenn sein Autor es negiert:

„für mich spielt der bedeutungsaspekt [sic! Stellvertretend für jedes kleingeschriebene Substantiv, das noch kommt; db] der unterwürfigkeit weniger eine rolle, als die bescheidenheit. und zwar nicht bescheidenheit im sinne von understatement, sondern im sinne eines eingeständnisses der eigenen fehlbarkeit.“

Felix Schwenzel: Demut.

Hier haben wir also drei weitere Bedeutungsaspekte von Demut:

1. Unterwürfigkeit
2. Bescheidenheit
3. Eingeständnis der eigenen Fehlbarkeit

Schwenzel fährt fort, indem er auch wieder die innere Haltung ins Spiel bringt, kombiniert mit Toleranz und Respekt:

„eine haltung, die den austausch und die kommunikation mit anderen menschen erleichtert, aber auch den umgang mit und das verständnis der welt.“

Felix Schwenzel: Demut.

Dann macht er etwas spannendes, nämlich die epistemologische Wende des Begriffs der Demut:

„…sogenannten wahrheiten immer differenziert, skeptisch und mit demut zu begegnen. denn ich bin überzeugt davon, dass menschen, die glauben im besitz der wahrheit zu sein, die welt zur hölle machen.“

Felix Schwenzel: Demut.

Er setzt hier Demut in Relation zu Skepsis und differenzierter Betrachtung in Bezug auf die Wahrheit. Das begründet er dann moralisch. Menschen, die sich im Besitz der Wahrheit wähnen, werden zu Tyrannen. Das ist ein spannender Punkt, den ich partiell teile, wenngleich ich ihn wesentlich vorsichtiger formulieren würde. Denn ich glaube nicht, dass die Gewissheit, dass ich jetzt eine Hand hochhalte, mich in die Gefahr bringt, tyrannisch zu werden. Da ich Felix Schwenzel auch nicht unterstellen möchte, dass er so weit gehen würde, ist mit der Gewissheit, also dem Besitz der Wahrheit, auf den er sich bezieht, wohl etwas anderes gemeint. Eine besondere Form der Gewissheit: das Wissen darum, was moralisch richtig ist. Menschen, die sich dessen gewiss sind, die ihre Handlungen nicht hinterfragen, sind gefährlich. Sie sind nicht demütig.

„das eingeständnis von fehlbarkeit bedeutet keinesfalls, dass man nicht felsenfest von etwas überzeugt sein kann. solange man diese überzeugung, wie ein guter wissenschaftler, als hypothese betrachtet, die durch neue fakten, andere blickwinkel oder perspektiven neu evaluiert oder formuliert werden muss.“

Felix Schwenzel: Demut.

So fährt Schwenzel fort. Auch das ist wieder ein sehr schöner Gedanke, denn er versteht Demut hier als moralische Falsifikation. Aber auch hier geht er wieder zu weit, indem er dann folgert:

„genaugesehen sind alle unsere urteile vorurteile. wir können versuchen unsere urteile auf eine möglichst breite basis zu stellen, aber niemals ausschliessen, dass wir etwas übersehen oder vergessen haben.“

Felix Schwenzel: Demut.

Es gibt vier Arten von Urteilen:

  1. die Abduktion (Schluss von einem Einzelfall auf etwas Allgemeines)
  2. die Induktion (Schluss von einer Reihe von Einzelfällen auf etwas Allgemeines)
  3. die Deduktion (Schluss vom Allgemeinen auf einen Einzelfall)
    und
  4. die Analogie (Schluss von einem Einzelfall auf einen anderen Einzelfall aufgrund einer Ähnlichkeit)

Und nur 1. und mit Einschränkungen noch 2. sind Vorurteile. Nicht hingegen, dass Sokrates sterblich ist, wenn er ein Mensch ist und alle Menschem sterben (3.). Oder dass die 1. Person singular im Futur I von „möpen“ „ich werde möpen“ lautet, weil die 1. Person singular im Futur I von „sagen“ genau so gebildet wird (4.).

Doch das nur am Rande, denn Felix Schwenzel liefert uns noch weitere Bedeutungsaspekte von Demut:

„demut muss man lernen. sie ist ein erkenntnisprozess und nichts schwermütiges oder trübsinniges.“

Felix Schwenzel: Demut.

Während er den Lernaspekt mit der Abduktion seiner eigenen Kindheit begründet, lässt Schwenzel den zweiten Teil der Hypothese etwas wirr unbegründet stehen. Das ist schade, denn das sind genau die Konnotationen von Demut, die mir den Begriff unangenehm machen. Genau diese Argumentation wäre also für mich die eigentlich spannende gewesen.

Platz halten: Demut!


Kommen wir zum letzten Teil unseres Triptychons: anmut und demut. Benjamin Birkenhake beginnt seinen Beitrag zur Demut etwas konfus:

„Im Titel dieses Blogs verwende ich „demut“ in zwei Bedeutungen: Zum einen als Platzhalter für alles Gute und Wahre – im Zusammenspiel mit „anmut“ als Platzhalter für alle Schöne und Faszinierende. Obschon mir die Demut eigentlich eine relative Tugend scheint, weil man jemandem, oder anderen gegenüber demütig ist, im Zweifel im Verhältnis zu seinem vorherigen Ich, scheint sie mir eine Primärtugend zu sein. Man kann nicht demütig sein und zugleich ein KZ führen. Sie ist eine der Tugenden, die uns vor der Barbarei rettet.“

Benjamin Birkenhake: Demut.

Zum einen fehlt mir das „zum anderen“ hier und zum anderen macht Birkenhake mehr als zwei Bedeutungen auf:

  1. Demut ist Platzhalter für alles Gute und Wahre. Hat also irgendetwas mit Erkenntnis und Moral zu tun.
  2. Demut ist eine relative Tugend – den Aspekt hatten wir oben schon bei Luenenbuerger-Reidenbach. Doch anders als beim Haltungsturnen wird hier die Demut nicht in Relation zu einem anderen Wert sondern zu einer anderen Person gesetzt. Sofern ich diesen wirklich konfusen Satz richtig auslege, kann die andere Person auch man selbst in der Vergangenheit sein. Was auch immer das bedeuten mag.
    Da Benjamin Birkenhake uns sicher nicht das Zeitreisenparadoxon erklären will, scheint er wohl zu sagen, dass man sich demütig gegenüber Positionen zeigen soll, die man selbst früher mal vertreten hat. Oder bin ich total auf dem Holzweg? Mir erschließt sich das überhaupt nicht: Wenn ich zu einer neuen Erkenntnis gelangt bin, etwa dass die Erde eine Kugel und keine Scheibe ist, warum soll ich dann Demut vor meinem Ich haben, das noch dem Irrglauben verhaftet ist, dass unsere Erde Pizzagestalt hat? Vielleicht meint er wohl doch das Zeitreisenparadoxon…
  3. Demut ist eine Primärtugend
  4. Demut schützt vor Barbarei

Spannend ist wohl vor allem 3. und die Frage, was Birkenhake unter „Primärtugend“ versteht. Leider lässt er den Begriff hier ganz isoliert ohne Erläuterung stehen. Möglicherweise meint er Kardinaltugend, aber das ist ein weiteres Mal bloße Spekulation. Und ein Blick in die Wikipedia genügt, um festzustellen, dass die Demut gerade nicht dafür bekannt ist, eine Kardinaltugend zu sein. Allerdings schreibt Birkenhake ja, dass sie für ihn eine Primärtugend ist. Jedoch ergibt sich daraus ein anderes Problem, dem ich mich gleich noch widmen werde.

„Zum anderen ist sie mir – wie ich oben schon erwähnt habe – vor allem eine Mahnung.“

Benjamin Birkenhake: Demut.

Ahhh, da ist „das andere“. Da schlägt jemand lange Bögen – das mag ich. Aber was lernen wir von ihm hier über die Demut? Demut ist eine Mahnung oder Lektion. Die Demut wird von ihm erneut in Relation zum Erinnern gesetzt. Aber Birkenhake erinnert nicht – wie oben Luenenbuerger-Reidenbach – ein Drittes an Demut. Stattdessen muss er sich selbst an sie, die Demut, erinnern: ermahnen. Demut ist ferner ein Prozess, eine Persönlichkeitsentwicklung. Allerdings er schließt an, dass diese Entwicklung nie abgeschlossen ist. Da stellt sich mir die Frage, ob man dann wirklich von einer „Entwicklung“ sprechen kann. Gehört es nicht zum Begriff der Entwicklung, dass sie irgendwann abgeschlossen ist? Zumindest wenn sie nicht gestört wird. Was Benjamin Birkenhake hier anspricht scheint eher ein innerer Kampf zu sein. Es gibt einen demütigen und einen hochmütigen Aspekt meines Charakters, die sich bekämpfen und ich muss mich zeitlebens bemühen, dass der Hochmut nicht gewinnt.

Mit Anmut und Demut fährt Benjamin Birkenhake fort, dass die Demut für ihn eine „säkulare“ Tugend ist. Diese Idee führt ihn stilistisch zur anfänglichen Konfusion zurück, denn Demut sei eine Überzeugung, nicht rational sondern ein Glaube. Er meint sogar, aus rationalen Gründen demütig zu sein, sei quatsch. Aber – und hier schreit die Kontradiktion schriller als Oskar Matzerath – die Demut sei ein „säkularer Glaube“.

„Es bedarf keiner Metaphysik, keinen religiösen Elementen, um Demut als Position zu wählen. Und das Praktizieren von Demut erfordert weder Glauben, noch Ritaule. Demut ist neben der Selbstbeurteilung zuerst ein Verhaltensmuster anderen gegenüber.“

Benjamin Birkenhake: Demut.

Sorry Herr Birkenhake, aber bitte kriegen Sie mal Ihre Terminologie auf die Reihe!

Zum ersten: Welchen Metaphysikbegriff hat er? Es liest sich so, als würde er „Metaphysik“ mit „Religion“ gleichsetzen, das aber ist eine steile These. Ich bediene mich hier mal der Wikipedia, die die Fragestellungen der Metaphysik folgendermaßen wiedergibt:

„Gibt es einen letzten Sinn, warum die Welt überhaupt existiert? Und dafür, dass sie gerade so eingerichtet ist, wie sie es ist? Gibt es einen Gott/Götter und wenn ja, was können wir über ihn/sie wissen? Was macht das Wesen des Menschen aus? Gibt es so etwas wie „Geistiges“, insbesondere einen grundlegenden Unterschied zwischen Geist und Materie (Leib-Seele-Problem)? Besitzt der Mensch eine unsterbliche Seele, verfügt er über einen Freien Willen? Verändert sich alles oder gibt es auch Dinge und Zusammenhänge, die bei allem Wechsel der Erscheinungen immer gleich bleiben?“

Wikipedia: Metaphysik.

Wie wir sehen, umfasst Metaphysik weit mehr als bloß Fragestellungen der Religion. Ferner widerspricht sich Birkenhake indem er plötzlich behauptet, Demut erfodere keinen Glauben. Also Demut ist ein Glaube erfordert aber keinen Glauben? Ich glaube wir sind hier wieder beim Zeitreisenparadoxon angelangt…

Statt dessen wird Demut in anmut und demut nun als Selbstbeurteilung und Verhaltensmuster anderen gegenüber erklärt. Dafür gibt es einen Terminus in der Philosophie: Ein Wert oder – wie es oben schon stand – eine Tugend. Nix mit Glaube oder so. Das sind zwei Paar Schuhe. Ich glaube… aber das ist einmal mehr bloße Spekulation … dass Benjamin Birkenhake hier auf die Letztbegründungsproblematik hinaus will. Ich kann eine Ethik nicht letztbegründen. Warum das so ist, habe ich bereits hier und hier ausgeführt. Den Weg, den die theistischen Religionen gehen, um ihre Ethik zu begründen ist das Dogma. Sie begründen jeden Wert und jede Norm mit: „Weil Gott es so will“. Möglicherweise versucht uns Birkenhake zu sagen, dass er auf diese Letztbegründung verzichten will, stattdessen will er die Demut selbst als letzten Grund ansetzen. Das wäre natürlich logisch keinen Deut besser als Gott, denn damit erhebt er sich selbst zum Maß aller Dinge. Und der belesene Platonkenner weiß, dass daraus der performative Widerspruch folgt. Aber das möchte ich hier nicht weiter ausführen, denn wie gesagt, ist das bloße Spekulation und ich habe nicht einen blassen Schimmer ob es das ist, was Birkenhake uns sagen will, oder ob er auf etwas ganz anderes hinaus will. Schauen wir mal, was er sonst noch zu sagen hat.

„Ich denke hinter der Demut steht vor allem die Überzeugung und Erfahrung, dass eine ganze Reihe von Glücksversprechen mit denen wir aufwachsen nichts als Irrlichter sind. Karriere, Wohlstand, Ansehen, Macht …“

Benjamin Birkenhake: Demut.

Hier kommen wieder die Bescheidenheit und die Skepsis zum Vorschein. Demut sei ein Wegweiser, der auf die kleinen Freuden im Leben verweise. Weniger ist mehr, mit anderen Worten: Genügsamkeit wird hier als ein Bedeutungsaspekt von Demut hervorgehoben. Birkenhake fährt fort, dass demütig Interagieren mit anderen bedeutet, „Rücksicht und Gnade“ walten zu lassen. Und schließlich charakterisiert er die Demut als diejenige Tugend, die hinter Rawls „Schleier des Nichtwissens“ steckt.
Puuuh… That’s a tough one. Denn Rawls Schleier basiert ja auf der Idee, dass alle Akteure in einer Gesellschaft zunächst einmal nicht demütig sondern egoistisch agieren. Erst wenn sie nicht wissen, wo sie in der Gesellschaft stehen, sind sie bereit anderen Güter zukommen zu lassen, aus Angst selbst benachteiligt zu werden. Aber das heißt ja nicht, dass Birkenhake unrecht hat. Gewissermaßen könnte man den Schleier als Metapher für die Demut verstehen. Das würde Demut eine altruistische Bedeutungskomponente geben…

Benjamin Birkenhake schließt, indem er zu Luenenbuerger-Reidenbachs Kindern und Pferden zurückgekehrt. Er übersetzt diese, indem er demütig noch einmal darauf hinweist, dass er (und ich möchte ergänzen: „und ich und du“) nur einer (drei) Menschen von sieben Milliarden sind.

Die Quintessenz: Was ist Demut?

So, nun haben wir die drei Blogposts erfolgreich analysiert. Schauen wir also mal, was hinten raustropft, wenn wir den Begriff der Demut auswringen. Welche Bedeutungsaspekte hat „Demut“?

  1. Demut ist ein innerer Zustand
  2. Demut ist eine Relation, kein alleinstehender Wert
  3. Zur Demut gehört, sich etwas bewusst machen
  4. Demut ist das Gegenteil von Hybris, Arroganz und Hochmut
  5. Zur Demut gehört Bescheidenheit
  6. Unterwürfigkeit
  7. Eingeständnis der eigenen Fehlbarkeit
  8. Skepsis
  9. Differenzierte Betrachtung in Bezug auf die Wahrheit
  10. Zweifel, was moralisch richtig ist
  11. moralische Falsifikation
  12. Demut muss man lernen
  13. Demut ist Platzhalter für alles Gute und Wahre. Hat also irgendetwas mit Erkenntnis und Moral zu tun.
  14. Demut kann eine Relation zu einem anderen Wert oder zu einer anderen Person sein
  15. Demut ist eine Primärtugend
  16. Demut schützt vor Barbarei
  17. Demut ist eine Mahnung oder Lektion
  18. Demut ist ein Prozess, eine Persönlichkeitsentwicklung oder ein innerer Kampf
  19. Eine Überzeugung
  20. Ein Glaube
  21. Selbstbeurteilung und Verhaltensmuster anderen gegenüber
  22. Ein Wegweiser
  23. Genügsamkeit
  24. demütig Interagieren mit anderen bedeutet, „Rücksicht und Gnade“ walten zu lass
  25. Rawls „Schleier des Nichtwissens“
  26. Altruismus

Diese allzu unordentlich Liste kann man in drei Bedeutungsfelder einteilen:

Zunächst einmal haben alle drei Autoren Bedeutungsaspekte hervorgearbeitet, die allgemein für Werte gelten und die die Demut im Wertespektrum verordnen. Das gilt allem voran für „Demut schützt vor Barbarei“. Uns vor Barbarei zu schützen, ist die grundsätzliche Aufgabe einer jeden Ethik. Die Decke der Zivilisation ist äußerst dünn und allen voran der Nationalsozialismus aber auch – in jüngerer Zeit – der Bosnien-Krieg oder der Völkermord in Ruanda haben gezeigt, wie leicht sie abgestreift ist. Ethische Regeln haben genau diese Aufgabe: Die zivilisatorische Decke schön festzurrren, um somit Barbarei möglichst zu verhindern. Dass Demut ein Wegweiser und eine Überzeugung ist, eine Mahnung oder Lektion, dass man sie lernen muss, dass sie eine Selbstbeurteilung und Verhaltensmuster anderen gegenüber ist und in ihrer Unbegründbarkeit sogar einem Glauben ähnelt, teilt die Demut mit allen anderen normativen Sätzen. Eben das machen sie zu einem Wert, einer Norm, einer Tugend. Demut als einen Prozess, eine Persönlichkeitsentwicklung oder ein innerer Kampf zu charakterisieren bedeutet genau ihren Kern als Tugend (und wie wir mit Tugenden umgehen) zu definieren.
Kommen wir zur Einordnung der Tugend im Wertespektrum: Als Tugend bezieht sich die Demut dann auf einen inneren Zustand. Sie verhält sich da genau wie etwa der Verzicht auf Neid, Missgunst oder Hass. Sie gibt weniger konkrete Handlungsanweisungen im Miteinander mit anderen Menschen wie die Gerechtigkeit oder die Freiheit (im Sinne vom Zugestehen von Freiheiten) sondern bezieht sich auf unsere Gefühle unsere Einstellungen der Welt und unseren Mitmenschen gegenüber. Das kombiniert die Demut mit ihrem relationalem Charakter. Man ist in Bezug auf etwas oder jemanden demütig. Was dieses andere ist, demgegenüber man demütig ist, ist nun sehr schwer zu fassen, denn es scheint weitgehend eine subjektive Entscheidung zu sein.

Diese subjektive Entscheidung spiegelt sich im zweiten Bedeutungsfeld, das unsere Autoren aufgemacht haben, in dem sie sich mit den Zweifeln und der Bewusstmachung herumgeschlagen haben. Auf der Suche nach etwas, demgegenüber ich demütig sein sollte oder sein kann, muss ich zunächst meine eigene Fehlbarkeit eingestehen. Das ist eine Krux, denn das impliziert natürlich auch, dass der Wert der Demut ein Irrtum sein kann. Ich muss gegenüber meinen eigenen Überzeugungen und gegenüber den (moralischen) Gewissheiten anderer immer Skepsis an den Tag legen. Ich muss stets bereit sein, vermeintliche Wahrheiten differenziert zu betrachten, Zweifel haben, was moralisch richtig ist und in eben diesem Zweifel meine moralischen Werte auch falsifizieren.

Und diese Einstellung, der Zweifel und die Vorsicht führen uns dann zum dritten Bedeutungsfeld der Demut. Denn aus ihnen folgt die Bescheidenheit, die Genügsamkeit und der Altruismus. Ich muss mich vor der eigenen Hybris, Arroganz und dem eigenen Hochmut in Acht nehmen. Meinen Mitmenschen gegenüber „Rücksicht und Gnade“ walten lassen, auch wenn es sich arg mittelalterlich-christlich anhört. Doch genau das führt uns zu der letzten Bedeutungskomponente der Demut, die zweifellos da ist, auch wenn sie wie das ungeliebte Kind in den Keller gesperrt wird. Vielleicht wird sie sogar nur von der Demut konnotiert, doch sie lässt sich nicht verleugnen, selbst wenn unsere Autoren betonen, dass sie ihnen nicht so wichtig ist. Zur Demut gehört eben auch die Unterwürfigkeit. Und sie ist die „dunkle Seite der Macht“. Sie ist genau jener Aspekt an der Demut der mich stört und der sie aus meinem abschließenden Vokabular verbannt hat.

Doch bevor ich zu diesem letzten Kapitel dieses langen, allzu langen, Textes voranschreite, möchte ich noch eines zur Bedeutung der Demut sagen: Aus alldem – besonders aus der Relationseigenschaft und dem inneren Wert, schließe ich, dass die Demut gerade keine Primär- oder Kardinaltugend ist, sondern immer nur gut und wichtig, wenn sie richtig eingesetzt wird.

Demut und Unterwürfigkeit

Die Dame und meine Tochter (6) lesen gerade „Der Kleine Ritter Trenk und fast das ganze Leben im Mittelalter“* von Kirsten Boje. Meine Tochter erzählte mir daraufhin, dass die meisten Menschen im Mittelalter so arm waren, dass sie sich nicht einmal Feuerholz leisten konnten und im Winter frieren mussten.

Darauf ich so: Warum sind sie dann nicht einfach in den Wald gegangen und haben Holz gesammelt.
Sie so: Weil der Wald dem Fürsten gehört.
Ich so: Wenn sie keine Bäume fällen, sondern einfach sammeln, was am Boden liegt, merkt der Fürst das doch gar nicht.
Sie so: Aber der Fürst ist doch von Gottes Gnaden. Das darf man deshalb nicht.

Das ist Demut. Das ist die Unterwürfigkeit, die mit der Demut einhergeht. Das ist der Grund, warum Nietzsche das Christentum „Sklavenmoral“ nannte. Demut bedeutet nämlich auch immer, sich mit den herrschenden Verhältnissen zu arrangieren. Bloß nicht aufbegehren, sondern bescheiden sein. Wenn das Volk kein Brot hat, soll es doch demütig auf ein besseres Leben im Jenseits hoffen. Natürlich ist das kein Problem wenn alle kategorisch-imperativ demütig wären.

Aber wissta was? Die Welt ist nicht so.

Wir können uns nicht hinstellen, guten Willens demütig sein und uns dann wundern, dass die Welt dafür noch nicht bereit ist. Wir müssen verantwortungsethisch auch damit rechnen, dass es in der Welt auch Arschlöcher gibt, die versuchen die Ethik der Anständigen auszunutzen. Und dann heißt es aufstehen und dagegen rebellieren. Doch diese Rebellion ist eben nicht mit Demut vereinbar. Daher möchte ich auf die Demut verzichten. Skepsis, Zweifel, Altruismus, Genügsamkeit, Bescheidenheit sind Teil meines abschließenden Vokabulars, aber eben nicht die Demut. Weil Demut Unterwürfigkeit zumindest konnotiert.

Ich bin raus.

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