Böses WLAN, Böse Schrift

Die FAZ schrieb gestern, dass die SHZ schrieb, dass Hamburg jetzt doch kein Vorreiter sein will in Sachen Digitaltechnik an Schulen. Allein diese Einführung ist so wundervoll, dass sich au dieser Metaebene stundenlang über den Artikel diskutieren ließe.

Caspar David Friedrich: Zwei Männer in Betrachtung des Mondes

Vor allem weil die FAZ mittlerweile maximal intransparent den Artikel schlichtweg durch einen anderen ersetzt hat, der darauf verweist, dass das Projekt doch nicht gestoppt wurde. Hier kann man das schön an an der URL sehen: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/wegen-gesundheitsbedenken-hamburg-stoppt-w-lan-an-schulen-13295887.html. Es ist fast so, als habe tatsächlich jemand aus dem Frankfurter Redaktionshaus diesen Artikel gelesen und festgestellt, wie halbseiden er zusammengezimmert worden ist. Das ist sehr schade, da der ursprüngliche Artikel ein Paradebeispiel für eine „Standardsituation der Technologiekritik“ war.

Zum Glück gibt es ja die Wayback Machine... Und so steht uns nach wie vor dieses argumentative Kunstwerk zur Verfügung. Also schauen wir doch noch einmal, was die FAZ gestern noch schrieb, aber vor allem, wie sie es schrieb. Hamburg habe sein Pilotprojekt gestoppt, weil…

„…Fragen wegen möglicher Strahlenbelastung durch die hierfür benötigten W-Lan-Verbindungen nicht völlig geklärt seien“

Es werden zwar auch noch „datenschutzrechtliche“ und „andere juristische Probleme“ erwähnt, aber im Fortlauf konzentriert sich die FAZ auf den Gesundheitsaspekt. Wobei die Argumentation, so wie sie dann in der FAZ folgt, maximal verworren ist. Die FAZ tritt dem parteilosen Bürgerschaftsabgeordneten Walter Scheuerl zur Seite, der „mit mehreren Gutachten Kritik geübt“ habe. Anscheinend stammen diese Gutachten vom „Ärztearbeitskreis Digitale Medien Stuttgart“. Hier sind wir mal wieder beim Sophismus des Namedroppings. Ärzte haben gesagt, dass Strahlen gefährlich sind, dann muss es ja stimmen! Doch die FAZ hält sich nicht lange mit dem gedropten Arbeitskreis auf, sondern wechselt gleich zum nächsten „großen“ Namen, der bei der Netzgemeinde freilich regelmäßig für kollektives Nackenhaareaufstellen sorgt: Manfred Spitzer. Spitzer wird zitiert mit…

„Die Korrelation des Anstiegs von Überforderung, Kopfschmerzen, ADHS und psychischen Erkrankungen mit der wachsenden Nutzung der digitalen Medien ist besorgniserregend“

Hier schmeißt die FAZ zwei Aspekte wild durcheinander. Zumindest meines bescheidenen Wissens nach geht es Spitzer gewöhnlich nicht um die gefährliche Strahlung des WLANs, sondern um den Inhalt der digitalen Medien. Glaubt man der FAZ, so habe ich allerdings Spitzer bislang immer falsch verstanden, denn er sagt laut den Frankfurter Qualitätsjournalisten:

„Daneben könne die Belastung nachweislich auch zu Spermienschädigungen und sogar DNA-Strangbrüchen führen, also das Erbgut verändern“.

Schließlich wird das Triptychon des Namedroppings noch mit einer Sprecherin des Bundes für Umwelt- und Naturschutz komplettiert, die

„die Schädlichkeit der W-Lan-Nutzung belegten; insbesondere die gebündelte und ‚körpernahe‘ Nutzung durch Dutzende Schüler sei bedenklich.“

Ich kann nicht beurteilen, ob WLAN in irgendeiner Weise schädlich ist. Aber ich kann eine gute Argumentation erkennen, wenn ich eine sehe. Und fast genauso gut kann ich Humbug ausmachen. Daher verlasse ich mich lieber auf den gut argumentierenden Joachim Schulz, der schreibt:

„DNA-Strangbrüche treten bei radioaktiver Bestrahlung und Röntgenstrahlung auf. Hierbei werden die Molekülbindungen in der DNA, dem Erbgut tragenden Molekül, aufgebrochen. Um solch eine kovalente Molekülbindung aufzubrechen ist Energie nötig. Diese Energie kann im Photoeffekt nur von einem einzelnen Photon aufgebracht werden. Die Photonenenergie der Strahlung, die im WLAN verwendet wird, liegt bei etwa 10 Mikroelektronenvolt. Um eine kovalente Bindung aufzubrechen braucht es mehrere Elektronenvolt, also einige 10.000 mal mehr Energie, als die 2,4 Gigahertz-WLAN-Strahlung aufbringen kann. DNA-Strangbrüche durch WLAN sind physikalisch unmöglich.“

Mich interessiert, wie gesagt, vor allem, wie die Menschen argumentieren, denn das kann ich gut beurteilen. Und diesbezüglich sehe ich hier das fast schon panische Plädoyer für zwei sehr alte menschliche Ängste: Zum einen die Angst vor Strahlen. Strahlen und ihre Verwandte wie „Etwas im Trinkwasser“ sind Ausdruck der tief in uns verwurzelten Angst vor Dingen, die wir nicht wahrnehmen können, die uns aber dennoch krank machen oder gar töten. Eine Angst, die spätestens mit der Entdeckung von Krebs massentauglich wurde. Schließlich können und wollen wir uns nicht mit dem Gedanken abfinden, dass unser eigener Körper sich gegen uns wendet. Daher brauchen wir eine Erklärung dafür und da es offensichtliche Korrelationen etwa zwischen Rauchen und Krebs gibt, versuchen wir eben jene Fälle der Krankheit, die wir nicht erklären können, auf Unsichtbares wie Stahlen zu schieben. Und was bei Krebs klappt, klappt auch bei Unfruchtbarkeit, „Überforderung, Kopfschmerzen, ADHS und psychischen Erkrankungen“.

Schließlich aber ist der Artikel vor allem ein Ausdruck des Kulturpessimismus. Und das ist ja quasi die Paradedisziplin der FAZ. Kathrin Passig hat in ihrem bekanntesten Text, den ihr sicher alle kennt, neun Standardargumente der Technologiekritik zusammengefasst:

  1. Wozu soll das denn gut sein?
  2. Wer will denn so was?
  3. Nur seltsame Gestalten oder privilegierte Minderheiten wollen das Neue.
  4. Vielleicht geht es wieder weg.
  5. Dadurch ändert sich gar nichts
    5a Es ist nur ein Spielzeug
    5b Damit ist kein Geld zu verdienen
    5c Die Nutzer haben einander nichts mitzuteilen.
  6. Das Neue ist nicht gut genug
  7. Schwächere können nicht damit umgehen
  8. Schlechte Manieren
  9. Schädlicher Einfluss auf das Denken, Schreiben und Lesen

Hier in überarbeiteter Form.

und was die FAZ hier vertritt ist quasi das siebte Argument in Reinform, denn schließlich geht es ja um Kinder:

„Spätestens zu diesem Zeitpunkt muss man sich Gedanken darüber machen, was das Neue in den Köpfen von Kindern, Jugendlichen, Frauen, der Unterschicht und anderen leicht zu beeindruckenden Mitbürgern anrichtet. „Schwächere als ich können damit nicht umgehen!“, lautet Argument sieben.“

Kombiniert wird dies durch die Instanz von Manfred Spitzer mit dem neunten Argument:

„Hat die neue Technik mit Denken, Schreiben oder Lesen zu tun, dann verändert sie ganz sicher unsere Denk-, Schreib- und Lesetechniken zum Schlechteren.“

Ich möchte euch nicht verschweigen, dass Passig ihre Position später selbst kritisiert hat:

„Bitte denken Sie also beim nächsten Teil meines Vortrags daran, dass alles, was ich sage, falsch ist.“

Und diesen kritischen Standpunkten Standardsituationen des Technikoptimismus entgegengesetzt hat. Denenzufolge bringen neue Techniken:

  1. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, garantierte Redefreiheit
  2. Weltfrieden
  3. Lernen wird ganz einfach
  4. Ende der Knappheit
  5. Ende des Verbrechens
  6. Überwindung des Todes

Ich finde es zwar schön, dass Kathrin Passig  ihre Position durch falsche optimistische Prognosen ergänzte, dennoch finde ich, dass sie mit sich selbst zu hart ins Gericht geht, wenn sie sagt, ihre Auffassung war falsch, dass bestimmte Kritiken immer wiederkehren, sondern dass es eben nur diese sind, die uns überliefert wurden. Denn wichtig ist ja auch die Frage, warum sie uns überliefert wurden. Und ich denke nicht, dass dies immer nur aus Spott gegenüber konservativen Positionen geschah, sondern auch, weil Kulturpessimismus für viele Menschen schlichtweg attraktiv ist. Schließlich wissen wir alle, dass früher alles besser war. Und besonders dann ist dieses Gefühl für uns attraktiv, wenn sich gerade große Umwälzungen ereignen wie beispielsweise ein Medienwandel. Einen solchen Medienwandel erleben wir gerade mit der Digitalisierung, aber schon in den fast 2500 Jahre alten Texten von Platon lassen sich Passigs Argumente finden, und zwar gegen die Technik des Schreibens:

„Dieses Mißliche nämlich, o Phaidros, hat doch die Schrift, und sie ist darin der Malerei gleich. Denn die Erzeugnisse auch dieser stehen wie lebendig da; wenn du sie aber etwas fragst, schweigen sie sehr vornehm.“

Zu Platons Zeit war die Alphabetschrift quasi der neue heiße Scheiß. Gewissermaßen „gerade erst erfunden“, und mit ihr die erste gewissermaßen vollständig demokratische Schrift*. Ein Schriftsystem, das so einfach zu lernen war, dass es nicht mehr bloß Eliten, sondern breiten Massen zur Verfügung stand.

Das führte in Platon zu einer entsprechenden pessimistischen Haltung die er im Dialog Phaidros und im berühmten siebten Brief festgehalten hat. Er kritisierte an der Schrift folgende Punkte:

  1. Schrift schwäche das Gedächtnis
  2. Schrift sei zur Vermittlung von Wissen ungeeignet, da die Schüler keine Rückfragen stellen könnten
  3. Der Leser bilde sich ein, etwas begriffen zu haben, ohne dass er es wirklich verstanden hat (weil er es nicht im Dialog erlernte, wo ihn der Lehrer ermahnen könne)
  4. Schreiben sei nur ein mangelhaftes Abbild des Redens
  5. Text könne sich nicht gegen unberechtigte Kritik zur Wehr setzen
  6. Text könne nicht auf die individuellen Bedürfnisse der Leser eingehen

Wieder sind es die Argumente sieben und neun von Passig, die sich hier herauslesen lassen. Wie später noch so oft, etwa gegenwärtig von Spitzer, hat Platon damals wirklich existierende Schwächen des Mediums schamlos übertrieben und verallgemeinert, zugleich aber die positiven Seiten unter den Tisch fallen lassen. Denn natürlich kann (oder in Zeiten von Textmessagern besser: konnte) man mit der Schrift in keinen Dialog treten. Aber dafür können wir aufgrund von Platons performativen Widerspruch (Ein Widerspruch der dadurch entstand, dass er seine Schriftkritik aufschrieb!) noch heute Platons Kritik lesen. Denn die Schrift bietet gegenüber dem gesprochenen Wort den großen Vorteil, beständig, persistent, zu sein, während das gesprochene Wort sich ephemer wie ein FAZ-Artikel von gestern verhält und kaum ist es geäußert, auch schon wieder verschwunden ist…

Irrtümer – Teil 3

Scharfe Babyaugen dichten Reißverschlussverfahren im Sternennebel

Es ist mal wieder Zeit für eine Runde Irrtümer! Schon zum dritten Mal widme ich mich all den Themen, die wir unkritisch als wahr annehmen, die in Wirklichkeit aber so falsch sind, dass sich einem Vulkanier die Nackenhaare aufstellen. Beim ersten Mal in dieser Rubrik, widmete ich mich unter anderem dem Irrtum, dass die Hummel nicht fliegen kann, weswegen ich mich heute unter anderem mit Bienen auseinandersetzen werde. Und im zweiten Teil der Reihe hatte ich mich einerseits – wiederum unter anderem – mit dem Gehirn und andererseits mit der Geburt auseinandergesetzt. Daher wird es heute um das Gehirn von Neugeborenen gehen.

Someone is wron on the internet
Quelle: XKCD. Lizenz: CC BY-NC 2.5.

Können Männer stillen?

Doch zunächst Sex! Also im Sinne von Geschlecht… Habt ihr euch schon einmal gefragt, warum Männer Brustwarzen haben? Mir begegnete nun schon zweimal die These (so auch hier), dass Männer eigentlich auch Milchgewebe hätten und stillen könnten, da sie es aber noch nie gemacht hätten, hätte die beseelte Evolution dafür gesorgt, dass sich die Brustwarzen der Männer und das Milchgewebe immer mehr zurückgebildet haben… Die Pointe sei nun aber, dass Mann wie Frau nach der Geburt nur das Baby lange genug an der Brust nuckeln lassen müsse, damit die Milch einschieße. Dann könnten auch Männer wieder stillen. Und sogar Alexander von Humboldt habe auf seinen Reisen einen stillenden Mann getroffen.

Krasse Geschichte! Zu schade nur, dass sie nicht stimmt. Denn dass Männer Brustwarzen haben, liegt ganz einfach daran, dass diese beim Embryo vor den Hoden ausgebildet werden. Die Embryos von Jungs und Mädchen entwickeln sich nämlich zunächst einmal identisch. Ist ja auch klar: so ein Herz, ist ein Herz, ist ein Herz. Und erst wenn dann die Unterscheidung zwischen Hoden und Eierstöcken ausgebildet wurde, werden die entsprechenden Hormone ausgeschüttet, die unsere Geschlechtsmerkmale ausbilden. Und das bedeutet dann eben Milchgewebe und große, Milch-spendende Brustwarzen bei den Frauen und kleine, nutzlose bei den Männern…

Wie scharf sehen Babys?

Bleiben wir noch etwas beim Stillen: Eine tolle Geschichte, die auch oft erzählt wird, ist jene, wonach Neugeborene in einem Abstand von 20-25 cm scharf sehen können. Das ist nämlich der Abstand zwischen Mutterbrust und Muttergesicht. So schön diese Geschichte ist, so falsch ist sie auch, das erläutert Sabina Pauen, in ihrem lesenswerten Buch „Was Babys denken*“. Frau Pauen ist Psychologin, spezialisiert auf frühkindliche Entwicklung und macht klar, dass, selbst wenn die Augen schon in der Lage wären, die Linse scharf zu stellen (wofür es keine Belege gibt), könnte das Kind dennoch nicht scharf sehen, da die Sehzentren im Gehirn des Neugeborenen noch nicht fertig ausgereift sind.

 Ziemlich leer im Weltall

A propos Sehen: Die Dame und ich sehen gerade mal wieder Star Trek: Voyager. Und im Vorspann von Voyager gibt es diesen tollen Shot:

Screenshot: Star Trek Voyager. Copyright: Paramount Home Entertainment. Hier bei Amazon.
Screenshot: Star Trek Voyager. Copyright: CBS Studios Inc. Hier bei Amazon*.

Mensch wäre das nicht toll, wenn die Menschheit schon heute so weit durchs All fliegen könnte, dass wir so einen kosmischen Nebel verwirbeln könnten? Dahin zu fliegen, wäre zwar toll, allerdings bliebe uns der Ausblick vorenthalten, denn was wir durch unsere Teleskope als Nebel sehen, sehen wir nur deshalb so, weil es einerseits sehr groß und andererseits sehr weit weg ist. Wären wir dort, würden wir wahrscheinlich garnichts sehen, denn die Partikeldichte in so einem Nebel schwankt zwischen 100 und 10,000 Partikeln pro cm³. Das ist sehr, sehr wenig. 100 Partikel pro cm³ hat nämlich auch das beste Vakuum, das wir hier auf der Erde herstellen können. Luft hat beispielsweise ein Partikeldichte von 10^19, also 100.000.000.000.000.000.000 Partikeln pro cm³.

A pros pos Weltall: Unser aller Bild von Asteroidenfeldern ist wahrscheinlich maßgeblich durch diese Szene beeinflusst:

Hammer-Szene! Allerdings wäre eine realistischere Aufnahme von einem Asteroidenfeld eher das hier:

schwarz
schwarz

Denn Asteroidenfelder sind vor allem eines: leer.

„Even if an asteroid belt has millions and millions of asteroids in it, you’d have to be the unluckiest person in the universe to hit one. It’s not impossible, but the chances are astronomical.“

Quelle: 10 Space Myths We Need to Stop Believing

Und zwar ganz einfach, weil die Abstände zwischen den Asteroiden so riesig sind…

Gefangen auf der Autobahn

Und wo ich schon beim Treffen und Einfädeln bin… Äh, war ich da wirklich? Egal. Warum hält sich eigentlich niemand an das Reißverschlussverfahren? Ihr wisst schon, wenn zwei Fahrbahnen zu einer zusammengeführt werden, sollten eigentlich alle Verkehrsteilnehmer bis zum Ende ihrer Fahrbahn fahren und sich dann abwechselnd einfädeln. So steht es sogar im Gesetz! Und auch der ADAC – wenn er nicht gerade Stimmzahlen fälscht – predigt jahraus, jahrein, dass es so gemacht werden sollte. Aber dennoch hält sich kaum einer daran… Schuld daran dürfte das Gefangenendilemma sein:

Ihr wisst schon, die Story aus der Spieltheorie, bei der zwei Gefangene in einem Verhör sitzen, wenn beide schweigen, bekommen beide nur 2 Jahre Haft. Verrät einer die andere bekommt einer nur 1 Jahr Haft, die andere aber sechs Jahre, verraten sie sich gegenseitig, bekommen beide 4 Jahre. Wenn wir das kurz überschlagen, verbringen die beiden die geringste Summe an Zeit im Stau, äh im Knast, wenn beide schweigen. Da aber beide nicht wissen, was der jeweils andere tut, ist für sie die vernünftigste Option, den anderen zu verraten.

Wie übertragen wir das auf die Autobahn? Wenn ich auf das Hindernis zufahre, kann ich mir nicht sicher sein, ob die Fahrerinnen auf der Nebenbahn mich auch wirklich reinlassen, sobald ich das Hindernis erreicht habe. Daher ist es für mich das Vernünftigste, schon früher die Chance zu ergreifen und in eine Lücke einzuscheren, sobald sich mir eine bietet. Andererseits habe ich dann aber auch keinen Anreiz mehr, jemanden vor mich zu lassen, da das ja nur die Zeit verlängert, in der ich im Knast, äh, Stau stehe.

Zwar ist es auch nicht sehr vernünftig anzunehmen, man würde nie wieder reingelassen, aber mit Blick auf die Massen die sich in die Bahn drängeln, ohne andere aussteigen zu lassen, scheint diese Angst unter den Menschen weit verbreitet zu sein…

Das Gefangenendilemma hilft uns also zu verstehen, was auf unseren Autobahnen schief läuft. Da soll noch mal jemand sagen, Philosophie habe keinen praktischen Nutzen.

Einstein war kein Imker

Praktischen Nutzen haben auch Bienen. Wie sagte einst Albert Einstein:

„Wenn die Biene einmal von der Erde verschwindet, hat der Mensch nur noch vier Jahre zu leben. Keine Bienen mehr, keine Bestäubung mehr, keine Pflanzen mehr, keine Tiere mehr, kein Mensch mehr.“

Aber eines ist komisch: Warum maßte Einstein als Physiker sich an, diese Aussage zu treffen, das ist doch eher ein Ding der Biologie… Tja, das liegt daran, dass Einstein derlei wahrscheinlich nie gesagt hat, sondern das Zitat eine Erfindung des “Canadian Bee Journal” aus dem Jahre 1941 ist.

Mythen zwischen der Bastille und  Kolumbus

Eine andere Erfindung der Geschichte ist – darauf machte mich @Evo2Me kürzlich aufmerksam – ist der Sturm auf die Bastille. Noch so ein Ding, das ich in der Schule als Fakt gelehrt bekam. In Wirklichkeit wurde die Festung übergeben (gut, ich glaube, das hatte mein Lehrer noch erwähnt) aber auch die Haftbedingungen in der Bastille waren wohl nicht so schlimm, sodass überhaupt nur sieben Leute befreit werden konnten und bei einem zweiten Blick auf diese glorreiche Sieben stellt sich heraus, dass es denen eigentlich ganz gut erging in der Bastille und sie obendrein auch noch ganz zurecht im Knast saßen. Alles in allem könnte man sich zurecht fragen „How is this still a thing“ Und wo ich schon dabei bin:

Absurd, dass Kolumbus noch immer ein Unterrichtsstoff in unseren Schulen ist und noch absurder, dass wir dort diese unkritische Heldengeschichte erzählt bekommen.

Haikus sind sinnlos

Wisst ihr, was auch noch absurd ist? Und damit beschließe ich den dritten Teil meiner kleinen Irrtümer-Reihe: Dass außerhalb von Japan, beziehungsweise dem Japanischen Haikus gelesen, und noch absurder: geschrieben werden. Warum? Dafür muss ich jetzt ein bisschen weiter ausholen:

Ein Haiku wird allgemein als ein kurzes, stark formalisiertes Gedicht angesehen, dass keine Pointe hat. Klassisch für westliche Lyrik ist, dass sie eine Schlussfolgerung nach sich ziehen, die durch ihre Metaphorik entsteht, so etwa bei Goethes „Ein Gleiches“:

Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.

Im Grunde ist das ein unverfänglicher Text, dennoch drängt sich bei uns die Schlussfolgerung auf, dass der olle Johan Wolle, eigentlich vom Tod schreibt. Nicht so verhält es sich bei einem Haiku, zum Beispiel bei diesem von Matsuo Bashō:

Der alte Weiher:
Ein Frosch springt hinein.
Oh! Das Geräusch des Wassers

Keine Pointe, keine Schlussfolgerung, Ausdruck des Zen. Oder? Na ja, eben nicht. Denn die Metaphorik kommt im Japanischen durch die Schrift ins Spiel. Um das zu verstehen, müsst ihr zwei Tatsachen über das Japanische wissen:

1. Das Japanisch verfügt über viele Homonyme: Also gleiche Worte mit verschiedenen Bedeutungen.

2. Japan verfügt über zwei Schriftsysteme (eigentlich sogar drei mit Katakana, aber das führt jetzt zu weit…), die in der Regel kombiniert werden. Zum einen das Hiragana – Eine Silbenschrift, das heißt: hier hat jede Silbe ein Zeichen. Zum anderen das aus China übernommene Kanji, eine Begriffsschrift, in der also die einzelnen Begriffe jeweils ein Zeichen haben.

Um nun in der Schriftsprache für die vielen Homonyme eine eindeutige Lesart zu erzeugen, werden für sie Kanji-Zeichen verwendet und diese werden (fahrlässig vereinfacht gesprochen) mit Hiragana-Zeichen flektiert. Nicht so jedoch beim Haiku! Dort wird nur Hiragana verwendet, um bewusst die Homonymie nicht zu verlieren. So kommt durch die japanische Schrift die komplette Metaphorik ins Haiku, die uns abgeht, wenn wir Haikus nicht in Hiragana lesen. Und deshalb ist das Lesen und erst recht das Schreiben von Haikus etwa in deutscher Sprache vollkommen sinnlos.

Ich freue mich schon auf wütende Dichter, die mir in Dreizeilern erklären, warum ich mich irre… 😉 Falls Ihr auch noch Irrtümer kennt, die gut in meine Reihe passen würden, schreibt mir ne Mail an info@privatsprache.de. Ewiger Dank, Namensnennung und Verlinkung sind euch gewiss!

 

*Hinterhältiger Affili-Link: Wenn Ihr das Buch kauft, bekomme ich eine winzige Provision und freue mich.