Was ist Heimat?

Vor ein paar Jahren schrieb ich diesen Text, als wir im Freundeskreis einen kleinen Wettbewerb hatten. Jeder sollte einen Text über seine Heimat schreiben. Lest selbst.

Ich könnte jetzt so Dinge schreiben wie: die Wetterau ist der schönste Fleck der Welt, die Natur ist spektakulär und die Menschen sind unglaublich cool. Aber das wäre alles Blödsinn. Die Wetterau ist spektakulär unspektakulär, aber sie ist mein Zuhause, meine Heimat.

Was macht sie dazu? Nur die Tatsache, dass dort mein Elternhaus steht? Ja und nein. Es sind bestimmt nicht die Menschen, denn mittlerweile wohnen mehr mir liebe Menschen im Rest des Landes als dort, in meiner Heimat.

Was diesen Landstrich zu meiner Heimat macht, sind die Erinnerungen. Das Gefühl der Vertrautheit. Es ist nicht bloß so, dass ich dort jeden Baum und jeden Stein kenne. Nein, jeder Baum und jeder Stein hat dort seine eigene Geschichte für mich. Vor kurzem war ich dort unterwegs. Direkt hinter dem Haus meiner Eltern beginnen Wald und Flur. Und als ich meinen Weg lief und zu meiner Rechten eine Wiese aus dem grünen Meer auftauchte, eine Wiese mit brusthohem Gras, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, sie zu durchqueren so schnell mich meine Füße trugen. Erst während ich schon lief, fiel mir die Geschichte jener Wiese wieder ein. Eine eben spektakulär unspektakuläre Geschichte. Ich habe auf dieser Wiese einige Male mit meiner Familie gepicknickt. Als ich noch klein war. Als meine Großma noch lebte. Es ist eine wundervolle Wiese. Von drei Seiten vom Wald eingefasst, zur Mitte hin sich sanft absenkend zu einem Bach. Diesen Bach hatten meine Freunde und ich einst gestaut und wir hatten dort Frösche versucht zu fangen. Und siehe da, jene kleine alte „Brücke“ überquerte ihn noch immer. „Brücke“ ist stark übertrieben. Es sind nicht mehr als fünf oder sechs halbe Baumstämme, die mittlerweile halb verrottet sind und wer weiß vor wie vielen Dekaden, wer weiß zu welchem Zweck dort niedergelegt wurden.

Unspektakulär? Sage ich doch… Und so wie diese Wiese, so ist meine Heimat, meine Wetterau. Auf einer Fläche von vielleicht hundert Kilometern Länge und 50 Kilometern Breit reihen sich sanfte Hügel aneinander. Leuchtender Mischwald und dunkler Tann wechseln sich ab mit gelben Feldern und grünen Wiesen. All das durchzogen von unzähligen namenlosen Bächen und gespickt mit kleinen Seen. Im Osten ist meine Au begrenzt vom Vogelsberg, einem unbedeutenden Mittelgebirge. Bei klarer Sicht kann man im Winter von meiner Heimatstadt aus seine schneebedeckten Gipfel sehen. Oft der einzige Schnee, den man dort sieht, wo das Klima so mild ist, dass es schon fast sprichwörtlichen Charakter annimmt. Nach Westen verliert sich die Au im Taunus, im Lahn- und im Dilltal, die ihre Wasser anderen Ländern entgegen tragen. Nach Norden gen Marburg steigt das Land an und aus den Hügeln werden Höhen. Doch auch sie überaus beschaulich, als wollten sie sich um jeden Preis die Mühe sparen, zu hoch hinaus zu wachsen… Nach Süden schließlich enden die Hügel. Die Täler vereinen sich zu einer großen Ebene. Die Wälder und Wiesen weichen großen Feldern und fruchtbaren Äckern. Und schließlich steht dort Babylon am Horizont als mahnendes Symbol, dass es eine große weite Welt jenseits der beschaulichen Grenzen meines kleinen Landes gibt – die kleinste Metropole der Welt, wie die Hessen Frankfurt liebevoll nennen.

Ihr könnt euch den majestätischen Anblick nicht vorstellen, der sich mir vor einigen Jahren bot… Ich war mit dem Auto im Morgengrauen unterwegs auf der A5 gen Süden. Die Sonne erhob sich gerade über dem Horizont, als ich den letzten namenlosen Hügel überquerte hinter dem sich jene Ebene erstreckt. Sie, die Sonne, war noch zu müde, um die Nebelfelder zu zerstreuen, sodass sich vor mir ein großes weißwaberndes Meer auftat und dort im Süden stachen sie daraus hervor, die Stahlbetontürme Frankfurts. Wie riesige Klippen einer fernen Küste, an denen sich das Nebelmeer brach. Und während sich ihre Wurzeln noch im Grau verbargen, brach sich in ihren gläsernen Wipfeln bereits flammendrotes Morgenlicht.

Freiheit und Toleranz

So, so, auf Youtube wurde also ein Video veröffentlicht, das den Islam beleidigt. Ich habe es persönlich nicht gesehen. Aber es diente in Einigen wenigen Islamischen Ländern als Aufhänger für einige wenige Menschen, mal ordentlich auf den Putz zu hauen. Gegen die Amerikaner, gegen den Westen und überhaupt.

 

 

Die Ausschreitungen gegen westliche Botschaften in Nordafrika führten letzte Woche zu einer Welle der Empörung, die leider allzubald in allgemeines Islam-Bashing und schließlich in Spot, Häme und Hass gegenüber jeder Form von Glauben ausartete. Grund genug mich mal dem Thema zu widmen.

 

 

1. „Wie kann man nur so doof sein, an einen Gott zu glauben“, hieß es auf Twitter.

2. „Die Meinungsfreiheit ist unser höchster Wert“, hieß es weiter, und: „Was bilden sich diese Gläubigen eigentlich ein, uns diesen uns verbieten zu wollen?“

3. „Und überhaupt hat Religion immer nur Verderben und Krieg über uns gebracht und soll endlich ad Acta gelegt werden“, war das dritte meistgenannte Argument im kleinen, blauen Vogelland.

Gehen wir dies der Reihe nach durch.

1. Ist einfach. Ich habe mich weitgehend damit schon hier beschäftigt.

Das Gegenargument: Auch Atheismus ist ein Glaube, denn logisch betrachtet, kann man die Existenz Gottes weder belegen noch widerlegen. Der große, wenngleich wohl etwas schrullige Immanuel Kant kam als erstes auf diesen Trichter und hat – mehr oder weniger – der langen philosophischen Tradition des Gottesbeweis das Spiel verdorben. Wenn ihr meine analytisch, nicht kantisch tradierte Argumentation diesbezüglich en détail nachlesen wollt, so könnt ihr das hier.

2. Zunächst einmal: Ist das so? Wo steht das geschrieben? Im Grundgesetz? Nun, ich bin keine Jurist, aber soweit ich mich erinnere sind die Grundrechte Rechte des einzelnen gegenüber dem Staat nicht gegenüber einer Religionsgemeinschaft. Aber diese Rechte sind natürlich nicht in einem Vakuum entstanden, sondern basieren auf einem Wertekanon. Und mir fällt da zunächst einmal auf, dass ich hier von Rechten und Werten schreibe. Plural. Und da kommen wir schon zum Hebel um die Argumentation ins Wanken zu bringen.

 

 

Denn in unserem komplexen Wertesystem gibt es nicht nur diesen einen Wert der Meinungsfreiheit. Sondern auch andere, diesem zuwiderstreitende Werte. Ich will hier gar nicht die Religionsfreiheit bemühen, denn die sehe ich nicht gefährdet. Ein schlechter Film verbietet noch niemandem, seine Religion auszuüben (Im Gegensatz dazu sehe ich das allgemeine Klima in der Gesellschaft, den Islam grundsätzlich als ablehnungswürdig anzusehen, schon problematischer).

 

 

Aber es gibt Persönlichkeitsrechte, wenn ich den thorschen Hammer rausholen wollte, könnte ich gar die unantastbare Menschenwürde zu Felde führen. Frei nach Kant: die Freiheit des einzelnen endet dort, wo sie die Freiheit des nächsten einschränkt. Daraus folgt in unserem Wertesystem, dass nicht jede Meinung schützenswert ist. Wer einen anderen als Arschloch bezeichnet, kann sich nicht auf die Meinungsfreiheit berufen. Denn wir erachten das Äußern von Beleidigungen nicht als schützenswerte Meinungen. Ferner haben wir ganze Themenkomplexe, die wir von der Meinungsfreiheit ausschließen.

 

 

Sei es nun Kinderpornographie, Die Ablehnung unserer demokratischen Grundordnung oder etwa Antisemitismus. Oh. Moment. Ja stimmt. Letzteres ist — Gott sei Dank — ein Konsens. Nämlich, dass die unsachgemäße Verunglimpfung dieser Religion nicht durch die Meinungsfreiheit geschützt sein sollte. Nun frage ich euch: warum sollte, was für die eine Religion gilt, nicht auch für die anderen gelten?

Wie gesagt, habe ich das Video nicht gesehen, und weiß nicht, ob es nun sehr ehrverletztend war. Ich habe ein paar der Karrikaturen vor zehn Jahren gesehen und fand sie jetzt nicht so dramatisch, aber ich wollte diese Sätze mal allen mitgeben, die im braveheartartigen Reflex gleich „Freiheit“ schrien.

3. Was mich zum Letzten und wichtigsten Punkt bringt. Wer von euch hat eigentlich den Koran gelesen? Da ihr ja alle so genau wisst, dass er Hass und Intoleranz propagiert. Klar, habe ich auch schonmal vom Djihad und der Scharia gehört. Aber das sind nur quotenbringende Labels von Clash-of-Cultures-Propagandisten.

Ich glaube gern, dass es Stellen im Koran gibt, die Hass predigen, aber ich bin mir fast sicher, dass sich dort genauso Stellen finden, die Liebe predigen. Genauso wie ich weiß, dass in der Bibel genauso Backen hingehalten werden, wie an anderer Stelle Augen und Zähne fliegen. Denn beide Bücher sind komplexe Systeme, die nicht nur die Existenz Gottes behaupten. Darüber hinaus waren sie vor allem Handlungsanweisungen für das Zusammenleben von Gesellschaften, die schon 1.000 respektive 2.000 Jahre alt sind. Das heißt nicht, dass sie komplett obsolet sind, sondern, dass sie differenziert betrachtet werden müssen.

Im Bezug auf die Bibel haben wir hier im Westen durch Reformation, Renaissance, Aufklärung und Revolution regelmäßige Updates geliefert, die leider im Islam fehlen. Das wiederum ist ein Tatbestand, an dem wir, der Westen, durch Imperialismus, Kolonialismus, Kalten Krieg und Globalisierung nicht unschuldig sind.

Denn, im Ernst, wer sind denn die zornigen jungen Männer, die religiöse Beleidigungen durch uns zum Anlass nehmen, ordentlich auf den Putz zu hauen? Es sind die Verlierer der Globalisierung. Ohne Bildung, ohne Eigentum und ohne Zukunft.

Und der Hass fällt dort auf fruchtbaren Boden, wo wir den Acker bestellt haben. Wir haben die Grenzen dieser Staaten oft willkürlich gezogen, wir haben die arabischen und afrikanischen Diktatoren jahrzehntelang protegiert, solange sie uns nur Sicherheit und Rohstoffe lieferten. Wir haben Afghanistan in einen nunmehr 30 Jahre währenden Krieg getrieben. Wir? Nein, nicht wir. Denn genau das ist das Problem, der auf 140 Zeichen verkürzten Antiislamstatements auf Twitter genauso, wie das Problem der Botschaftszerstörer im Maghreb. Sie setzen die Untaten einzelner, kleinerer und größerer Gruppen mit „dem Westen“ oder eben „dem Islam“ gleich.

 

 

Der Islam ist nicht unser Problem. Die moslemische Erzieherin in der Kita bringt unseren Kindern Liebe und keinen Hass bei. Der moslemische Autor in meinem Verlag lächelt, wenn er mich sieht und streckt mir freundlich die Hand entgegen. Mein moslemischer Obsthändler verkauft freundlichere Äpfel als der laizistische Discounter nebenan und mein moslemischer Schulfreund hat mich nicht gehasst, sonst wäre er ja nicht mein Freund gewesen. Machen wir einmal die Gegenprobe: wenn Religion angeblich Hass und Krieg befördern. Wie sieht es denn dann mit dem Atheismus aus. Der fördert dann Frieden. Immer. Auch zwischen den Jahren 1939 und 1945? Ja, jetzt komme ich mit der Nazikeule, aber nicht zum Todschlagen, sondern um zu zeigen, dass komplexe Systeme immer interne Widersprüche aufweisen. Und so kann auch der Atheismus genauso zur Dialektik der Aufklärung führen wie zu so etwas so wundervollem wie dem Russellschen Pazifismus! Unser Problem sind nicht die Gläubigen oder die Atheisten. Unser Problem sind die Hassprediger auf allen Seiten. Und wenn ihr wollt, dass keine Botschaften brennen, dann dürft ihr nicht den Islam verteufeln, sondern dann müsst ihr Krankenhäuser und Schulen bauen und diesen zornigen jungen Menschen eine Zukunft bieten.

 

Ich bin raus.

 

 

Falls es euch interessiert, ich persönlich bin Agnostiker, denn das ist die einzig logisch stringente Position. Siehe 1.

Literatur:

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung.

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft.

Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten.

Die permanente Prüfungssituation

Ein Elternteil zu sein ist anstrengend. Und zwar weniger wegen der kleinen Plage – gut, die kann auch sehr anstrengend sein, aber die habe ich mir ja schließlich ausgesucht – sondern vielmehr wegen der vielen Ratschläge/Vorschriften/Anweisungen/Vorwürfe, die von allen Seiten auf dich einströmen. Du hast das permanente Gefühl, dass du es nicht richtig machen kannst. Vielleicht liegt das am medialen Horrorszenario einer alternden Gesellschaft ohne Kinder, vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht.

Ich möchte mich in einer Zustandsbeschreibung versuchen.

Bild von Erich Sellin (fl. c. 1900 in Berlin) via Wikimedia Commons.
Bild von Erich Sellin (fl. c. 1900 in Berlin) via Wikimedia Commons.

Der Stress fängt schon lange vor der Geburt an. Mit der Namensfindung. Der Name soll bitteschön individuell aber nicht extravagant sein. Hüte dich vor Namen, die sich einem eindeutigen Milieu zuordnen lassen. Kevin und Chantalle werden später schlechtere Noten bekommen. Überhaupt solltest du französische Namen meiden, kann eh keiner aussprechen. Lass ja nicht eine promieske Extravaganz à la Jimmy Blue Oberhand gewinnen, und dieser bürgerliche Trend Heinz, Kurt und Ottilie wieder nach ihren Großeltern zu benennen ist nun wirklich zu völkisch. Aber wehe du nimmst eine Chartplatzierung unter den beliebtesten Vornamen! Finn und Sophie? Alter, ist das langweilig, so heißt doch jedes zweite Kind, da kannst du ja gleich Julia und Stephan exhumieren!

Weiter geht es mit dem richtigen Verhalten in der Schwangerschaft. Am besten die Frau wird für neun Monate in einen Stase-Tank gesteckt, um ja nichts falsch zu machen! Natürlich wird das Kind mit Mozart, einer Volkslied-/-märchenauswahl und der Stimme des Vaters ständig beschallt, sonst bleibt es ja schließlich dumm! Ein Leben lang!
Meine Freundin und ich waren während der Schwangerschaft mal auf einem Konzert. Nicht Klassik, denn das währe ja sooooooo gut und wichtig gewesen, sondern so eines mit E-Gitarren und dicken Bässen und aus den Gesichtern der anderen Besucher sprach blanker Hass: na vielen Dank für das Problemkind, das du uns gebären wirst!
Noch schlimmer ist natürlich der Besuch einer Party, wo dir dann jemand – den Kippenrauch ins Gesicht blasend – zu verstehen gibt, dass du gerade dafür gesorgt hast, dass dein Kind Krebs bekommen wird!

Die Geburt brauche ich gar nicht weiter zu erwähnen: TRAUMA!!!?!

Sondern kann mich gleich dem Grabenkampf Nummer 1 widmen: dem Stillen. Du stillst nicht? Na, dann spar schon einmal für die Therapie! Aber genauso: dein Kind ist ein Jahr alt und du stillst noch immer? Das ist doch nicht normal!
Wir haben mit 5 Monaten zugefüttert und aus den Blicken der anderen Eltern sprach: blanker Hass.

Ist das Kind erst einmal auf der Welt, beginnt umgehend auch der Wettkampf. Besonders im ersten Jahr kannst du da eigentlich nur Kotzen. Im Strahl. Vorne herum wird sich natürlich immer tolerant gegeben: „Jedes Kind hat das Recht auf seine eigene Entwicklung.“ Aber der kleine Jakob kann noch nicht Krabbeln/Laufen/Sprechen? „Oh“.
Natürlich kommt für Ida kein Studium in Frage, wenn sie erst mit zehn statt mit neun Monaten beginnt zu Krabbeln. Und Leon ist gar nicht gekrabbelt? Gleich gelaufen? Hallo?! Schon klar, dass der später mal einen Bandscheibenvorfall bekommen wird.

Derweil die Eltern natürlich weiterhin regelmäßig katastrophale Fehler machen: Du darfst auf keinen Fall das Kleine zu früh in sein eigenes Bettchen/Zimmer stecken, sonst wird es Zeit seines Lebens unter Bindungsängsten leiden. Was, das Baby schläft noch immer in eurem Bett/Zimmer? Na, mach dich schon einmal aufs Hotel Mama gefasst!

Noch schlimmer ist natürlich sein Kind von anderen Personen betreuen zu lassen respektive dies nicht zu tun. Was, du gibst dein Kind, schon in die KiTa, weißt du denn nicht, wie wichtig die ersten drei Jahre bei der Mutter sind? Du willst drei Jahre lang nicht arbeiten? Na vielen Dank, du asoziales Wesen, nicht nur, dass du unseren Sozialstaat zugrunde richtest, aus deinem Kind wird später ein Amokläufer/Terrorist, schon klar?
Wir hatten nach drei Monaten schon einen Babysitter und aus den Gesichtern der anderen Eltern sprach: blanker Hass.

Die U-Untersuchungen sind auch ein ganz großer Spaß. Der gesellschaftlich verordnete Leistungscheck. Versteht mich nicht falsch, auch die sind eine nützliche Sache, aber wir hatten mal bei einer dieser „Wir züchten uns den Übermenschen“-Testreihen „retardierende Grobmotorik“ in unserem gelben Heft stehen. Wir haben das fast niemandem erzählt, weil: „Oh“.
Dass bei dem standardisierten Test zwar Werfen abgefragt wurde, woran meine Tochter einfach keinen Spaß hat. Aber nicht Klettern, wo sie jedem Gibbon Konkurrenz macht, zählt da nicht, sondern nur: Aber das musst du doch fördern! Kein Ding, Steck ich mein Kind halt in den örtlichen Sportverein. Es hat da keinen Spaß dran? Wie kannst du nur so grausam zu einer so kleinen Seele sein!

Überhaupt: das Fördern. Du solltest dein Kind dringend zweisprachig erziehen. Hallo?! Schon klar, dass es dann stottern wird! Aber das ist soooo wichtig für die Karriere! Schon mal was von Sprachverweigerung gehört? Überhaupt braucht dein Kind eine musikalische Früherziehung, Kinderturnen, Sprachunterricht, Kinderjoga/-Massage/-Entspannung, zweimal in der Woche Treffen mit Freunden für die Sozialkompetenz, Reiten, Ballett, Kunstworkshops ABER pass ja auf, dass du es nicht überforderst.

Hatten wir schon Ernährung (nach dem Stillen)? Aber das ist eigentlich nicht kontrovers, wenn man mal „strickt vegan“ vs. „tierische Eiweiße sind sooooooo wichtig“ außer Acht lässt, ist die Marschrichtung klar: tu mal lieber die Möhrchen!
Süßigkeiten? Zucker? Am besten noch weißer Zucker mit Weizenmehl? Bist du denn des Wahnsinns? Ich bilde da gefühlt die Ein-Mann-Oposition mit meiner Einstellung: Süßigkeiten wurden für Kinder erfunden. In Maßen natürlich. Wo habe ich noch gleich Waage und Nährstofftabelle?

Ich könnte das hier noch ewig weiterführen, werde mich aber nur noch über einen letzten Punkt auslassen: Mit dem Kind in der Öffentlichkeit.

Trage niemals nie einen Konflikt mit deinem Kind auf offener Straße aus! Tu es nicht! Nein! Pfui! Dass Kinder die gefühlslose Maske für die Öffentlichkeit noch nicht beherrschen, zählt nicht. Ohhhhh, was hat denn die Kleine? Boah, immer diese Arschlochkinder! Hat man denn nirgends vor denen seine Ruhe? Ist das Ihr Kind, das sich da auf den Boden geworfen hat? So tun Sie doch was! Sie wissen schon, dass Sie es zu einem Tyrannen erziehen, wenn Sie ihm immer nachgeben!
Ich habe mal sehr mit meiner Tochter geschimpft, weil sie vor Wut im Supermarkt mit einer Weinflasche geworfen hat, die auf dem Boden zerschellte. Und aus den Gesichtern der Passanten sprach: blanker Hass.
Dass es einfach gefährlich ist, mit Weinflaschen zu werfen und dass ich da ein für alle Mal eine Grenze errichten musste, spielte keine Rolle.
Unerzogene Kinder sind die Pest, aber Erziehung soll bitte hinter verschlossenen Türen stattfinden. Dass man manches, wie „nicht auf die Straße rennen auch wenn du wütend bist, weil du das Spielzeug in dem Geschäft nicht bekommen hast“ nicht Zuhause sondern nur auf offener Straße klären kann, zählt nicht. Du bist schließlich ein/e Rabenvater/-Mutter.

Ach ja, dein Kind hat nie einen Trotzanfall? „Oh.“

Schon klar, dass es Probleme hat, seine Gefühle zu artikulieren. Spare schon mal für die Therapie …

Schlussbemerkung:

Nochmal: Vieles, was oben steht ist richtig und wichtig und Kindererziehung ist eben ein Balanceakt bei dem man stets aufpassen muss, sich nicht zu stark in die eine oder andere Richtung zu lehnen.

 

Aber: macht euch mal locker!

 

Unser aller geliebter Manfred Spitzer hat früher mal gute Bücher geschrieben, nämlich über seine Kernkompetenz: Hirnforschung. Und er hatte da zwei verdammt gute Punkte:

1. Das Gehirn besteht aus 80 Milliarden Neuronen. Es ist so komplex, da gibt es keine einfachen wenn-dann-Beziehungen. Und jeder, der sagt, du musst dein Kind zu X erziehen, sonst wird es mit Sicherheit Y, hat Unrecht.

2. So viele Anweisungen es in der Kindererziehung gibt, so wenige Studien gibt es. Denn Studien zur kindlichen Entwicklung kosten viel Geld und Zeit. Und jeder, der den Wissenschaftsbetrieb und seine Publikationspflichten kennt, weiß, dass dies die beiden knappsten Ressourcen sind.

Ich bin raus.

Hey Internet, so geht Logik! Oder: warum man nicht von einem Sein auf ein Sollen schließen kann

In den letzten Wochen kochte ja wegen Nestlé und Lego die Gender-Debatte in meinen Kreisen des Netzes hoch und mit ihr kamen gegenargumentative Reflexe, die jeder, der ein Proseminar in logischer Propädeutik (möchte ich unbedingt jedem empfehlen) absolviert hat, nicht so stehen lassen kann.

So etwas meine ich:

 

Das ist eine Variation des beliebten Arguments „In der Natur ist das so“. Von Natur aus kümmern sich die Weibchen um die Jungen, während die Männchen jagen. Männer sind stärker, sie sollten also herrschen. Oder auch immer sehr beliebt – wenngleich aus einer anderen Debatte: Homosexualität ist nicht natürlich.
Wer so argumentiert, der begeht einen ganz basalen logischen Fehler:

Den Sein-Sollen-Fehlschluss.

Eine Grundregel logischen Argumentierens, die Krux jedweder Ethik und weswegen der Menschenfreund mit Gram umwölkt ist lautet:

Man kann aus einem Sein nicht auf ein Sollen schließen.

Ihr habt sicher schon einmal etwas vom klassischen oder einfachen Syllogismus gehört. Der einfache Syllogismus ist die einfachste Form des logischen Schließens (Quasi der Lego-Viererstein) und funktioniert so, dass aus zwei Prämissen auf eine Konklusion geschlossen wird. Das berühmteste Gewand des einfachen Syllogismus ist folgendes:

P1 Sokrates ist ein Mensch.
P2 Alle Menschen sind sterblich.
C Sokrates ist sterblich
.

Was will uns nun der Sein-Sollen-Fehlschluss sagen? Ganz einfach: aus der Tatsache, dass etwas so und so ist, kann niemals folgen, dass es auch so sein sollte. Nur aus Fakten kann ich niemals auf Normen schließen.
Betrachten wir das anhand des Satzes „Homosexualität ist nicht natürlich“. Wichtig ist, dass es für die Logik erst einmal so egal wie das Urheberrecht für den Filesharer ist, ob der Satz wahr ist. Diese Frage haben andere zu entscheiden, es ist eine Frage der Empirie, der Erfahrungswelt. Fragt Biologen, Anthropologen, Soziologen, Whoever… Dem analytischen Philosophen geht es nicht um den Inhalt des Arguments sondern um dessen Struktur. Also widmen wir uns dieser, bringen wir in Wittgensteins Worten das Problem zum Verschwinden:

Zunächst fällt auf, dass unser Satz gar nicht als Schluss daher kommt, stattdessen stellt er sich unschuldig als Tatsachenbehauptung hin. Ich müsste jetzt weit ausholen um euch die heimlichen Verehrer dieses Satzes – Implikation und Implikatur– zu erläutern, aber das schöne ist ja, dass die Logik nicht erfunden wird, sondern in uns steckt und in Sokrates‘ Worten nur von einer Hebamme gehoben werden muss. Daher werdet ihr mir sicher auch ohne theoretischen Exkurs zustimmen, dass, wer in einer Diskussion, etwa ob Homosexuelle heiraten dürfen sollten (fieser grammatischer Möp), den Satz „Homosexualität ist nicht natürlich“ fallen lässt, diesen nicht einsam stehen lassen will wie einen gewissen Berg im tolkienschen Werk, sondern damit auf etwas hinaus will. Er impliziert etwas – nämlich einen Schluss.

Dieser Schluss soll wohl etwas wie das folgende aussagen:

P1 Homosexualität ist nicht natürlich.

C Deshalb sollten Homosexuelle nicht heiraten dürfen.

Was fällt uns da auf?

Rischtisch: Für unseren einfachen Syllogismus fehlt die zweite Prämisse.

BTW: Unser einfache Syllogismus ist eine Deduktion. Zwar gibt es andere Formen des Schließens (Induktion, Analogie und wenn wir es gar zu weit treiben wollten auch noch die Abduktion) die nicht unbedingt und ausgerechnet zwei Prämissen verlangen, aber diese sind im Gegensatz zur Deduktion nicht zwingend, wie der Logiker so schön sagt.

Wenn wir also den oben stehenden Syllogismus zwingen wollen zwingend zu werden, müssen wir ihm die zweite Prämisse hinzufügen um am Ende „Heureka!“ schreien zu dürfen. Und hier kommen wir an des Pudels Dickdarm aka. Kern:

Wir können jetzt noch so viele faktische Sätze als P2 einfügen, wie wir wollen, daraus wird nie zwingend die C folgen. Ob wir jetzt behaupten

P2 Alle Tiere sind heterosexuell. 

Oder P2 Nur Heterosexuelle dürfen heiraten. 

Oder gar P2 die höchste Steilküste der Welt finden wir auf Hawaii.

Daraus wird nie unsere C folgen, weil noch etwas ganz wesentliches fehlt, was unser aller geschätzter Wowi damals so ausdrückte: und das ist auch gut so. Oder um den Satz seines faktischen Gewandes zu entledigen: und es sollte auch so sein.

Aus unserer P1 Homosexualität ist nicht natürlich 

können wir nur mit der

P2 Nur natürliche Sexualpartnerschaften sollen heiraten dürfen

auf unsere C schließen: Homosexuelle sollen nicht heiraten dürfen.

Und diese P2 ist natürlich wieder äußerst kontrovers und setzt zunächst einmal eine Antwort auf die Frage voraus: Wollen wir so leben? Um jetzt wieder einmal wie der Formel-1-Fahrer den äußerst langen Bogen zurückzuschlagen:

Wenn jetzt also @rachelzwitscher konstatiert

P1 Männer und Frauen sind verschieden

Fehlt ihr eben noch immer die P2  Um auf eine

C Und deshalb sollten sie mit verschiedenen Ü-Eiern spielen

Oder C Software ist für Mädchen

Oder C Nippelzwicker-Tweets sind cool (Siehe auch hier und hier (Der Käse hat seinen Account deaktiviert, macht er aber öfter mal, also gut möglich, dass der bald wieder da sind. In dem Tweet hat er das alte Klischee geäußert, dass Männer, die Feministen sind, keinen Sex haben; 28.11.13))

zu schließen.

Und ihr könnt das jetzt in Grabenkämpfen, im Superflausch, argumentativ oder however austragen, wer hier recht hat. Alles worauf ich hinweisen wollte, war, dass auch ihr euch nicht der Logik entziehen könnt.

 q.e.d.

Ein paar Anmerkungen zum Schluss:

Wenn man den Sein-Sollen-Fehlschluss einmal verstanden hat, folgt daraus wieder mal – wie so oft in dieser verderbten (Hausaufgabe erfüllt) analytischen Philosophie – die prinzipielle Unmöglichkeit der Letztbegründung einer jedweden Ethik. Und das ist ziemlich harter Tobak. Es folgt nämlich leider daraus, dass wir nie werden beweisen können, dass die Nazis Unrecht hatten. Wir können nur sagen: Wir wollen nicht so leben.

Das war der Grund, warum ich ziemlich frustriert die Ethik als durchgespielt nach meinem Grundstudium aufgegeben habe.

Und jetzt dürft ihr weitermachen… Mit dem Köpfeeinschlagen oder womit auch immer.

Ich – als Mensch in meinem Widerspruch – werde meiner Tochter ein sexistisches rosa Kleidchen anziehen und dann ganz unsexistisch mit ihr das alte Lego spielen.

 

Ich bin raus!

Wen das alles interessiert, dem empfehle ich die Lektüre von:

Ernst Tugendhat, Ursula Wolf, Logisch-semantische Propädeutik. Reklam Stuttgart 1986.

@spitzwegerich hat mich noch auf diese beiden schönen Links aufmerksam gemacht:

Getting to QED

yourlogicalfallacyis.com

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