Ballade über den Hades, der keine Unterwelt mehr sein wollte

Agentur für Arbeit
Agentur für Arbeit. Bild von Daniel Brockmeier. Lizenz: CC0.

 

Eines vorweg: Wahrscheinlich geht ihr an diesen Text mit einer Betroffenheit heran, die er nicht verdient. Ich will kein Mitleid, denn dass ich arbeitslos bin, ist nicht schlimm. Es wird zwar allenortes suggeriert, es sei schlimm, aber das stimmt nicht. Im Englischen gibt es die Redewendung, dass man zwischen zwei Jobs ist. Die gibt es hier nicht. Hier ist man arbeitslos. Oh. Endlager. Das ist Blödsinn. Warum? Das werdet ihr gleich lesen.

 

 

Ich habe mich also am Montag arbeitslos gemeldet. Ich saß nur 4 ½ Stunden in der Wartezone der Agentur für Arbeit und wartete auf ein Gespräch mit einem Sachbearbeiter, das dann effektiv 10 Minuten gedauert hat. Der Kern dieses Gespräches war eine Unterschrift, die bezeugte, dass ich tatsächlich ordnungsgemäß anwesend war, andernfalls hätte man mich als Arbeitslosen bestraft durch Geldentzug oder etwas Ähnliches. Ferner wurde mir noch ein Termin mitgeteilt, bei dem dann erst alle Formalitäten geklärt werden.  

  Zweites vorweg: Ich werde hier nicht unterscheiden zwischen Agentur für Arbeit, Jobcenter, Arge, Arbeitslosengeld eins und zwei sowie Harz vier. Das ist verkürzt, das weiß ich. Aber das ist Strategie. Denn diese Klassenbildung übersieht, dass wir Arbeitslose letztlich alle Menschen sind, die eben nur zwischen zwei Jobs stehen, die durch einen Haufen Zufälle gerade nicht selbst für sich sorgen können und die deshalb zum Glück durch unseren – ganz ehrlich und aufrichtig gesprochen – tollen Sozialstaat finanziert werden. Bis sie dann selbst wieder dem Solidaritätsprinzip Rechnung tragend eben jene Rechnung begleichen können indem sie Steuern und Sozialabgaben zahlen. Und irgendwo singt Elton John „Circle of Life“. Aber jetzt los, hier sind meine Gedanken vom Montag:  

 Ich saß also so da und es wollten sich partout weder Wut, noch Frust oder Ärger darüber einstellen, dass ich warten musste. Im Gegensatz zu den anderen – seriös geschätzten – 200 Wartenden, störte ich mich nicht daran, dass im ehemaligen Amt nur eine Vorfeiertagsbesetzung anwesend war oder dass die Sachbearbeiter auch mal Mittags- oder Raucherpause machen. Ich saß da und dachte zurück an meine Erfahrungen mit der Agentur für Arbeit.

 

 

Das Amt, das kein Amt mehr sein will, ist noch immer eines. Das ist die wichtigste Erkenntnis in meinem Umgang mit der Agentur für Arbeit. Wenn ich oben den Sozialstaat gelobt habe, so gilt dies nicht für den Hades Agentur für Arbeit. Ich bin zum zweiten Mal arbeitslos. Das ist nicht schlimm sondern die Realität in einem Arbeitsmarkt, der flexibilisiert wurde wie ein Theraband. Ich weiß das, aber das Amt weiß das noch nicht. Ich weiß, was mich in der nächsten Zeit erwarten wird: mir werden Sachbearbeiter immer wieder erklären, dass alles erstens aussichtslos ist, und ich zweitens jetzt mal endlich meinen Arsch in Bewegung setzen muss, sonst werde ich noch langzeitarbeitslos und dann kann ich eigentlich nur noch Einwegpfand sammeln.

 

 

Und ich weiß, dass ich dann doch einen neuen Job finden werde, der mir hoffentlich sehr viel Spaß machen wird und höchstwahrscheinlich ganz anders sein wird, als ich es mir jetzt so vorstelle. Darüber hinaus habe ich auch noch andere Eisen im Feuer, aber das ist eine andere Geschichte, die ich aber schon bald erzählen werde.  

  Ich bin einer dieser Menschen, die eine Geisteswissenschaft studiert haben und wie all die anderen Geisteswissenschaftler, die nicht das Glück hatten, ein Vermögen in der Matratze eingenäht zu haben, um damit nach dem Studium den studentischen Lebensstil aufrecht zu erhalten, musste ich mit meinem Examen in der Hand frisch, fromm, fröhlich, frei zum ersten Mal aufs Amt.  

 Damals hatte ich Glück. Meinen Sachbearbeiter habe ich nur drei Mal gesehen: beim ersten Mal erklärte er mir, dass er nun wirklich nicht die Ressourcen habe, sich um Akademiker zu kümmern, das müsse ich schon selbst tun. Beim zweiten Mal kam er zum vereinbarten Termin aus seinem Büro, sagte: „bin gleich wieder da“, kam zehn Minuten später, nach Kippenrauch riechend, wieder, um mir dann einen Vortrag zu halten, dessen Kernaussage darin bestand, dass ich das alles zu locker nehme, faul bin und jetzt gefälligst einen Job finden solle. Anschließend druckte er mir drei Jobangebote aus, für die ich nicht einmal ansatzweise qualifiziert war, auf die ich mich dann aber bewerben musste, sonst wäre ich bestraft worden. Egal, die Bewerbungen hat das Amt bezahlt. Also ihr. Mit euren Steuern und Sozialabgaben. Beim dritten Mal segnete er schließlich ein Praktikum ab, das ich ergattert hatte und das anschließend in ein Volontariat mündete. Dass mir das Amt während des Praktikums, entgegen der zuvor gemachten Zusagen, urplötzlich den Status als Arbeitsloser kappte und ich auf einmal ohne Krankenversicherung dastand: geschenkt.

 

 

Denn ich habe andere Storys gehört und gesehen, die geradezu drollig waren. Das fängt mit vollkommen sinnlosen „Maßnahmen“ also Fortbildungen an. Wobei „Maßnahmen“ der ideale Ausdruck dafür ist, denn in der Regel handelt es sich um bloßen Aktionismus, der die Statistik bereinigen soll. Weil ich nicht als arbeitslos gezählt werde, solange ich in einer „Maßnahme“ stecke. Da gibt es etwa Anfängerenglischkurse für Akademiker zu denen man dann aber gehen muss, sonst wird man bestraft. Die Drolligkeit des ehemaligen Arbeitsamtes hört mit der Hotline, bei der man sich arbeitssuchend melden muss, noch lange nicht auf.

 

 

Die Hotline ist kostenpflichtig. Zwar nur 4 Cent, könnte man sagen, aber wenn man dann 2 Stunden in der Warteschleife hängt und zwischendurch mehrmals aus der Leitung geschmissen wird, sind auch das plötzlich fünf Euro, die man da für eine Formalität abkassiert. Denn ich habe noch von niemandem gehört, der direkt im Anschluss an ein beendetes Beschäftigungsverhältnis ein neues gefunden hat, weil in der Onlinemaske ein Sachbearbeiter den Schalter auf „suchend“ gestellt hat.  

  Eine Freundin hat sich da mal angemeldet mit folgenden Worten: „Mein Name ist Schiller. Wie der Dichter.“ Der Sachbearbeiter gab zu verstehen, dass Name und Dichter ihm bekannt seien. Als später die Unterlagen per Post kamen, war als Name angegeben: Schillernder. Kann man ja mal verwechseln, die großen Dichter Friedrich Schiller und Fritze Schillernder.  

 Selbe Freundin bezweifelte dem Sachbearbeiter gegenüber, dass sie sich auch am Wochenende beim Amt abmelden müsse, wenn sie die Stadt verlasse. Da diskutiere er nicht drüber, da sei er Verwaltungsmensch, sagte der Sachbearbeiter und behielt Unrecht.

 

 

Aber am schönsten fand ich, als eine hochqualifizierte Bekannte bei der Beratung von ihrem Sachbearbeiter gefragt wurde, was sie denn machen wolle. Sie sagte, sie habe ihre Magisterarbeit über Umweltbewusstsein in China geschrieben. Und da dies ein Zukunftsthema sei, hoffe sie diesbezüglich etwas zu finden. Der Sachbearbeiter schaute kurz in seine Datenbank und antwortete dann: Ich hätte hier einen Job in einem Chinarestaurant.

 

 

Ich bin raus.

 

Was ist Heimat?

Vor ein paar Jahren schrieb ich diesen Text, als wir im Freundeskreis einen kleinen Wettbewerb hatten. Jeder sollte einen Text über seine Heimat schreiben. Lest selbst.

Ich könnte jetzt so Dinge schreiben wie: die Wetterau ist der schönste Fleck der Welt, die Natur ist spektakulär und die Menschen sind unglaublich cool. Aber das wäre alles Blödsinn. Die Wetterau ist spektakulär unspektakulär, aber sie ist mein Zuhause, meine Heimat.

Was macht sie dazu? Nur die Tatsache, dass dort mein Elternhaus steht? Ja und nein. Es sind bestimmt nicht die Menschen, denn mittlerweile wohnen mehr mir liebe Menschen im Rest des Landes als dort, in meiner Heimat.

Was diesen Landstrich zu meiner Heimat macht, sind die Erinnerungen. Das Gefühl der Vertrautheit. Es ist nicht bloß so, dass ich dort jeden Baum und jeden Stein kenne. Nein, jeder Baum und jeder Stein hat dort seine eigene Geschichte für mich. Vor kurzem war ich dort unterwegs. Direkt hinter dem Haus meiner Eltern beginnen Wald und Flur. Und als ich meinen Weg lief und zu meiner Rechten eine Wiese aus dem grünen Meer auftauchte, eine Wiese mit brusthohem Gras, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, sie zu durchqueren so schnell mich meine Füße trugen. Erst während ich schon lief, fiel mir die Geschichte jener Wiese wieder ein. Eine eben spektakulär unspektakuläre Geschichte. Ich habe auf dieser Wiese einige Male mit meiner Familie gepicknickt. Als ich noch klein war. Als meine Großma noch lebte. Es ist eine wundervolle Wiese. Von drei Seiten vom Wald eingefasst, zur Mitte hin sich sanft absenkend zu einem Bach. Diesen Bach hatten meine Freunde und ich einst gestaut und wir hatten dort Frösche versucht zu fangen. Und siehe da, jene kleine alte „Brücke“ überquerte ihn noch immer. „Brücke“ ist stark übertrieben. Es sind nicht mehr als fünf oder sechs halbe Baumstämme, die mittlerweile halb verrottet sind und wer weiß vor wie vielen Dekaden, wer weiß zu welchem Zweck dort niedergelegt wurden.

Unspektakulär? Sage ich doch… Und so wie diese Wiese, so ist meine Heimat, meine Wetterau. Auf einer Fläche von vielleicht hundert Kilometern Länge und 50 Kilometern Breit reihen sich sanfte Hügel aneinander. Leuchtender Mischwald und dunkler Tann wechseln sich ab mit gelben Feldern und grünen Wiesen. All das durchzogen von unzähligen namenlosen Bächen und gespickt mit kleinen Seen. Im Osten ist meine Au begrenzt vom Vogelsberg, einem unbedeutenden Mittelgebirge. Bei klarer Sicht kann man im Winter von meiner Heimatstadt aus seine schneebedeckten Gipfel sehen. Oft der einzige Schnee, den man dort sieht, wo das Klima so mild ist, dass es schon fast sprichwörtlichen Charakter annimmt. Nach Westen verliert sich die Au im Taunus, im Lahn- und im Dilltal, die ihre Wasser anderen Ländern entgegen tragen. Nach Norden gen Marburg steigt das Land an und aus den Hügeln werden Höhen. Doch auch sie überaus beschaulich, als wollten sie sich um jeden Preis die Mühe sparen, zu hoch hinaus zu wachsen… Nach Süden schließlich enden die Hügel. Die Täler vereinen sich zu einer großen Ebene. Die Wälder und Wiesen weichen großen Feldern und fruchtbaren Äckern. Und schließlich steht dort Babylon am Horizont als mahnendes Symbol, dass es eine große weite Welt jenseits der beschaulichen Grenzen meines kleinen Landes gibt – die kleinste Metropole der Welt, wie die Hessen Frankfurt liebevoll nennen.

Ihr könnt euch den majestätischen Anblick nicht vorstellen, der sich mir vor einigen Jahren bot… Ich war mit dem Auto im Morgengrauen unterwegs auf der A5 gen Süden. Die Sonne erhob sich gerade über dem Horizont, als ich den letzten namenlosen Hügel überquerte hinter dem sich jene Ebene erstreckt. Sie, die Sonne, war noch zu müde, um die Nebelfelder zu zerstreuen, sodass sich vor mir ein großes weißwaberndes Meer auftat und dort im Süden stachen sie daraus hervor, die Stahlbetontürme Frankfurts. Wie riesige Klippen einer fernen Küste, an denen sich das Nebelmeer brach. Und während sich ihre Wurzeln noch im Grau verbargen, brach sich in ihren gläsernen Wipfeln bereits flammendrotes Morgenlicht.

Die permanente Prüfungssituation

Ein Elternteil zu sein ist anstrengend. Und zwar weniger wegen der kleinen Plage – gut, die kann auch sehr anstrengend sein, aber die habe ich mir ja schließlich ausgesucht – sondern vielmehr wegen der vielen Ratschläge/Vorschriften/Anweisungen/Vorwürfe, die von allen Seiten auf dich einströmen. Du hast das permanente Gefühl, dass du es nicht richtig machen kannst. Vielleicht liegt das am medialen Horrorszenario einer alternden Gesellschaft ohne Kinder, vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht.

Ich möchte mich in einer Zustandsbeschreibung versuchen.

Bild von Erich Sellin (fl. c. 1900 in Berlin) via Wikimedia Commons.
Bild von Erich Sellin (fl. c. 1900 in Berlin) via Wikimedia Commons.

Der Stress fängt schon lange vor der Geburt an. Mit der Namensfindung. Der Name soll bitteschön individuell aber nicht extravagant sein. Hüte dich vor Namen, die sich einem eindeutigen Milieu zuordnen lassen. Kevin und Chantalle werden später schlechtere Noten bekommen. Überhaupt solltest du französische Namen meiden, kann eh keiner aussprechen. Lass ja nicht eine promieske Extravaganz à la Jimmy Blue Oberhand gewinnen, und dieser bürgerliche Trend Heinz, Kurt und Ottilie wieder nach ihren Großeltern zu benennen ist nun wirklich zu völkisch. Aber wehe du nimmst eine Chartplatzierung unter den beliebtesten Vornamen! Finn und Sophie? Alter, ist das langweilig, so heißt doch jedes zweite Kind, da kannst du ja gleich Julia und Stephan exhumieren!

Weiter geht es mit dem richtigen Verhalten in der Schwangerschaft. Am besten die Frau wird für neun Monate in einen Stase-Tank gesteckt, um ja nichts falsch zu machen! Natürlich wird das Kind mit Mozart, einer Volkslied-/-märchenauswahl und der Stimme des Vaters ständig beschallt, sonst bleibt es ja schließlich dumm! Ein Leben lang!
Meine Freundin und ich waren während der Schwangerschaft mal auf einem Konzert. Nicht Klassik, denn das währe ja sooooooo gut und wichtig gewesen, sondern so eines mit E-Gitarren und dicken Bässen und aus den Gesichtern der anderen Besucher sprach blanker Hass: na vielen Dank für das Problemkind, das du uns gebären wirst!
Noch schlimmer ist natürlich der Besuch einer Party, wo dir dann jemand – den Kippenrauch ins Gesicht blasend – zu verstehen gibt, dass du gerade dafür gesorgt hast, dass dein Kind Krebs bekommen wird!

Die Geburt brauche ich gar nicht weiter zu erwähnen: TRAUMA!!!?!

Sondern kann mich gleich dem Grabenkampf Nummer 1 widmen: dem Stillen. Du stillst nicht? Na, dann spar schon einmal für die Therapie! Aber genauso: dein Kind ist ein Jahr alt und du stillst noch immer? Das ist doch nicht normal!
Wir haben mit 5 Monaten zugefüttert und aus den Blicken der anderen Eltern sprach: blanker Hass.

Ist das Kind erst einmal auf der Welt, beginnt umgehend auch der Wettkampf. Besonders im ersten Jahr kannst du da eigentlich nur Kotzen. Im Strahl. Vorne herum wird sich natürlich immer tolerant gegeben: „Jedes Kind hat das Recht auf seine eigene Entwicklung.“ Aber der kleine Jakob kann noch nicht Krabbeln/Laufen/Sprechen? „Oh“.
Natürlich kommt für Ida kein Studium in Frage, wenn sie erst mit zehn statt mit neun Monaten beginnt zu Krabbeln. Und Leon ist gar nicht gekrabbelt? Gleich gelaufen? Hallo?! Schon klar, dass der später mal einen Bandscheibenvorfall bekommen wird.

Derweil die Eltern natürlich weiterhin regelmäßig katastrophale Fehler machen: Du darfst auf keinen Fall das Kleine zu früh in sein eigenes Bettchen/Zimmer stecken, sonst wird es Zeit seines Lebens unter Bindungsängsten leiden. Was, das Baby schläft noch immer in eurem Bett/Zimmer? Na, mach dich schon einmal aufs Hotel Mama gefasst!

Noch schlimmer ist natürlich sein Kind von anderen Personen betreuen zu lassen respektive dies nicht zu tun. Was, du gibst dein Kind, schon in die KiTa, weißt du denn nicht, wie wichtig die ersten drei Jahre bei der Mutter sind? Du willst drei Jahre lang nicht arbeiten? Na vielen Dank, du asoziales Wesen, nicht nur, dass du unseren Sozialstaat zugrunde richtest, aus deinem Kind wird später ein Amokläufer/Terrorist, schon klar?
Wir hatten nach drei Monaten schon einen Babysitter und aus den Gesichtern der anderen Eltern sprach: blanker Hass.

Die U-Untersuchungen sind auch ein ganz großer Spaß. Der gesellschaftlich verordnete Leistungscheck. Versteht mich nicht falsch, auch die sind eine nützliche Sache, aber wir hatten mal bei einer dieser „Wir züchten uns den Übermenschen“-Testreihen „retardierende Grobmotorik“ in unserem gelben Heft stehen. Wir haben das fast niemandem erzählt, weil: „Oh“.
Dass bei dem standardisierten Test zwar Werfen abgefragt wurde, woran meine Tochter einfach keinen Spaß hat. Aber nicht Klettern, wo sie jedem Gibbon Konkurrenz macht, zählt da nicht, sondern nur: Aber das musst du doch fördern! Kein Ding, Steck ich mein Kind halt in den örtlichen Sportverein. Es hat da keinen Spaß dran? Wie kannst du nur so grausam zu einer so kleinen Seele sein!

Überhaupt: das Fördern. Du solltest dein Kind dringend zweisprachig erziehen. Hallo?! Schon klar, dass es dann stottern wird! Aber das ist soooo wichtig für die Karriere! Schon mal was von Sprachverweigerung gehört? Überhaupt braucht dein Kind eine musikalische Früherziehung, Kinderturnen, Sprachunterricht, Kinderjoga/-Massage/-Entspannung, zweimal in der Woche Treffen mit Freunden für die Sozialkompetenz, Reiten, Ballett, Kunstworkshops ABER pass ja auf, dass du es nicht überforderst.

Hatten wir schon Ernährung (nach dem Stillen)? Aber das ist eigentlich nicht kontrovers, wenn man mal „strickt vegan“ vs. „tierische Eiweiße sind sooooooo wichtig“ außer Acht lässt, ist die Marschrichtung klar: tu mal lieber die Möhrchen!
Süßigkeiten? Zucker? Am besten noch weißer Zucker mit Weizenmehl? Bist du denn des Wahnsinns? Ich bilde da gefühlt die Ein-Mann-Oposition mit meiner Einstellung: Süßigkeiten wurden für Kinder erfunden. In Maßen natürlich. Wo habe ich noch gleich Waage und Nährstofftabelle?

Ich könnte das hier noch ewig weiterführen, werde mich aber nur noch über einen letzten Punkt auslassen: Mit dem Kind in der Öffentlichkeit.

Trage niemals nie einen Konflikt mit deinem Kind auf offener Straße aus! Tu es nicht! Nein! Pfui! Dass Kinder die gefühlslose Maske für die Öffentlichkeit noch nicht beherrschen, zählt nicht. Ohhhhh, was hat denn die Kleine? Boah, immer diese Arschlochkinder! Hat man denn nirgends vor denen seine Ruhe? Ist das Ihr Kind, das sich da auf den Boden geworfen hat? So tun Sie doch was! Sie wissen schon, dass Sie es zu einem Tyrannen erziehen, wenn Sie ihm immer nachgeben!
Ich habe mal sehr mit meiner Tochter geschimpft, weil sie vor Wut im Supermarkt mit einer Weinflasche geworfen hat, die auf dem Boden zerschellte. Und aus den Gesichtern der Passanten sprach: blanker Hass.
Dass es einfach gefährlich ist, mit Weinflaschen zu werfen und dass ich da ein für alle Mal eine Grenze errichten musste, spielte keine Rolle.
Unerzogene Kinder sind die Pest, aber Erziehung soll bitte hinter verschlossenen Türen stattfinden. Dass man manches, wie „nicht auf die Straße rennen auch wenn du wütend bist, weil du das Spielzeug in dem Geschäft nicht bekommen hast“ nicht Zuhause sondern nur auf offener Straße klären kann, zählt nicht. Du bist schließlich ein/e Rabenvater/-Mutter.

Ach ja, dein Kind hat nie einen Trotzanfall? „Oh.“

Schon klar, dass es Probleme hat, seine Gefühle zu artikulieren. Spare schon mal für die Therapie …

Schlussbemerkung:

Nochmal: Vieles, was oben steht ist richtig und wichtig und Kindererziehung ist eben ein Balanceakt bei dem man stets aufpassen muss, sich nicht zu stark in die eine oder andere Richtung zu lehnen.

 

Aber: macht euch mal locker!

 

Unser aller geliebter Manfred Spitzer hat früher mal gute Bücher geschrieben, nämlich über seine Kernkompetenz: Hirnforschung. Und er hatte da zwei verdammt gute Punkte:

1. Das Gehirn besteht aus 80 Milliarden Neuronen. Es ist so komplex, da gibt es keine einfachen wenn-dann-Beziehungen. Und jeder, der sagt, du musst dein Kind zu X erziehen, sonst wird es mit Sicherheit Y, hat Unrecht.

2. So viele Anweisungen es in der Kindererziehung gibt, so wenige Studien gibt es. Denn Studien zur kindlichen Entwicklung kosten viel Geld und Zeit. Und jeder, der den Wissenschaftsbetrieb und seine Publikationspflichten kennt, weiß, dass dies die beiden knappsten Ressourcen sind.

Ich bin raus.