Krebs zu Weihnachten

Fünf Weihnachtsfeste – Nummer 3 von 5 – Weihnachten in den 2000ern

Krebs. Fuck. Da saß ich nun am 23.12. allein in meiner Wohnung in Aachen, draußen wirbelten die Schneeflocken – es würde zum ersten Mal seit Jahren weiße Weihnachten geben – und meine Mutter hatte mir eben am Telefon verkündet, dass mein Vater Krebs hatte und noch am nächsten Tag, am heiligen Abend operiert werden musste.

Die ganze Familie wusste es schon lange. Nur mir hatten sie es nicht gesagt. Ich war Mitte 20, wohnte 400 Kilometer entfernt in meiner eigenen Wohnung, wusch meine Wäsche selbst, studierte und jobbte nebenher und dennoch sah meine Mutter in mir noch immer das Nesthäkchen der Familie, das es vor bösen Nachrichten zu beschützen galt, weswegen sie mich vor dieser Hiobsbotschaft hatte verschonen wollen. Erst, als es nicht mehr ging – da ich am nächsten Tag in den Zug steigen würde, um in mein Mittelhessisches Kaff zu fahren – da rief sie an und berichtete mir, dass ich morgen meinen Vater nicht oder wenn, dann nur auf der Intensivstation sehen werde.

Es war ein hartes Jahr am Ende einer Reihe harter Jahre für mich gewesen. Ich war nach dem Zivildienst nach Aachen gezogen. Alleine. Ich war zum ersten Mal seit dem Kindergarten nicht mehr mit meinen beiden besten Freunden zusammen. Wir waren auf alle drei Schulen gemeinsam gegangen und hatten sogar den Zivildienst an der gleichen Sonderschule gemacht. Doch dann war Schluss. Wenn man, wie wir 16 Jahre lang durch Kindheit und Pubertät hindurch befreundet ist, dann ist die Freundschaft mal dicker und mal dünner. Aber die beiden nicht länger quasi täglich zu sehen, war eine merkwürdige Erfahrung.  C. war für ein Jahr nach Australien gegangen und M. wie die Hälfte unseres Abi-Jahrgangs nach Berlin.

Mich zog es nach Aachen. Na ja, eher trieb es mich dorthin – Odysseus-Style. Natürlich hatte ich mich auch in Berlin um einen Studienplatz beworben. Mit meinem Abischnitt von 1,7 sollte das ja kein Problem sein. Ja, Pustekuchen! Ich wurde zum Nebenfach Philosophie zugelassen und solle beim Immatrikulieren einfach mal schauen, was sonst noch so frei sei. So machten es die anderen. Na vielen Dank. Leipzig sagte ab, in Hamburg und Aachen kam ich auf die Nachrückerlisten.

Nur aus Freiburg bekam ich eine Zusage. Ich also ab in den Süden gefahren, um mich zu immatrikulieren und eine Wohnung zu suchen. Dass ich für die Dauer meiner Wohnungssuche keinen Platz in einer Jugendherberge, kein Zimmer und keine Pension in der Innenstadt fand, machte mich stutzig. Ich musste mir ein Zimmer in einem Kaff im Speckgürtel der Stadt suchen, da alles in der Innenstadt zu teuer oder ausgebucht war.

Wie sich herausstellte, war der Wohnungsmarkt noch schlimmer  als der für Touristen. Es gelang mir schlichtweg nicht, eine Wohnung zu finden, die ich mir halbwegs leisten konnte. Später erfuhr ich von einer ehemaligen Klassenkameradin, dass es ihr ähnlich ergangen war, sie sich in einem Schwarzwaldkaff eingemietet hatte, täglich nach Freiburg pendelte und die Augen offenhielt, bis sie ein WG-Zimmer fand.

Ich zögerte und haderte. Doch als eines Tages eine Zusage aus Aachen reinflatterte, ließ ich Freiburg sausen und landete schließlich im äußersten Westen der Republik, im Dreiländereck. Jedem Politiker, der gerade wieder davon faselt, die Grenzen zu schließen, sollte man mal einen Trip nach Aachen empfehlen und ihm zeigen, wie Europa wirklich geht. Die Vorstellung dort die Grenzen dichtzumachen ist einfach nur absurd.

Jedenfalls war der Neustart für mich schwer. Ganz allein in dieser Stadt. Ich wohnte im verrufenen Aachener Ostviertel in einer Mischung aus WG und Apartment – Wir teilten uns das Bad, aber die einzelnen Zimmer hatten quasi Wohnungstüren und Küchenzeilen. Warum auch immer … Meine Vermieterin kümmerte sich kaum um die Wohnung, alles war am verfallen. Zwei der fünf Zimmer standen leer, weil es reinregnete. Zwei weitere wurden von meinem einzigen Mitbewohner in Beschlag genommen, der ein übler Messi war und auch den Rest der Wohnung mit seinem Zeug vollstellte, von dem er die Hälfte daließ, als er nach einem halben Jahr oder so auszog.

Obwohl ich eine spätere gute Freundin, mit der ich in ein paar Jahren noch in eine WG ziehen sollte, schon in meiner ersten Woche an der Uni kennenlernte, brauchte ich insgesamt lange, um Freunde zu finden. Ich war einsam. Doch irgendwann ergab sich alles, wie sich immer alles ergibt. Doch als für mich schließlich alles rosig war, merkte ich, dass ich nicht das Zentrum des Universums war. Innerhalb meines Freundeskreises verliebte sic hder falsche Junge in die falsche falsche Mädchen, eine WG, die ein Anker dieser Clique war, zerbrach und ehe ich mich versah, waren drei Viertel meines Freundeskreises auch schon wieder aus Aachen verschwunden und das Gefühl der Einsamkeit stellte sich wieder ein.

Die Vorlesungszeit war in diesem Jahr ungewöhnlich lange gegangen und aus einem Grund, an den ich mich nicht mehr erinnere, konnte ich auch nicht den Ferris Bueller machen, sondern musste bis zum bitteren Ende auf den harten Holzbänken sitzen. Doch jetzt war das alles egal, waren meine eigenen Probleme und Sorgen plötzlich so nichtig und klein, als stammten sie aus einem Reinhard-Mey-Lied. Krebs. Mein Vater hatte Krebs.

Am 24. schulterte ich meinen Reiserucksack und fuhr mit der Bahn in mein mittelhessisches Kaff. Ich weiß noch, dass die Bahnfahrt aufgrund des anhaltenden Schneefalls das reinste Chaos war. Die Deutsche Bahn hielt sich an ihre Klassiker: Verspätungen, Zugausfälle und überfüllte Wagen. Von Köln an musste ich stehen und ständig drängten noch mehr Menschen in den Wagen, bis es so eng war, dass ein Autist in meiner Nähe einen Overload bekam. Stumm beobachtete ich, wie komisch die anderen Menschen reagierten. Manche waren angewidert, andere versuchten den jungen Mann zu beruhigen. Ich erinnere mich noch, dass mir auffiel, dass alle den Mann dutzten. Ein bisschen abnormes Verhalten und schon verliert man sein Anrecht auf das ‚Sie‘, dachte ich mir. Keine Ahnung, ob das stimmt oder nur schön klingt.

Als ich in meinem Elternhaus ankam, war die Stimmung gespannt, aber mit Blick auf die Umstände recht gut. Die Operation war gut gelaufen, meine Mutter hatte meinen Vater bereits besucht und am Nachmittag durften wir auch kurz auf die Intensivstation des Kreiskrankenhauses. Es war bereits dunkel, als wir drei Kinder nun alle Erwachsen durch den Schnee, den Berg hinauf stapften, auf dem das Krankenhaus meiner Geburtsstadt auch heute noch steht. Ich habe so gut wie keine Erinnerungen mehr an die Intensivstation. Obwohl ich dieses Krankenhaus kenne, selbst schon dort lag und auch oft andere besucht hatte, weiß ich nicht mehr, wo wir langgingen, was wir tun mussten, um uns von Keimen zu befreien und wie dicht wir an unseren Vater heran durften. Alles woran ich mich noch erinnere, ist der Anblick dieses Mannes, der immer meine Welt getragen hatte, der für alle meine Probleme Lösungen hatte und der mir mir immer alles hatte erklären können, das ich nicht verstand. Er war so klein. Er war so zerbrechlich.

Aber es ging ihm – wieder den Umständen entsprechend – gut, sodass meine Geschwister, meine Mutter und ich erlöst den Heiligabend begehen konnten. Mein Bruder holte uns eine Flasche Rotwein aus dem Weinkeller meines Vaters. Er suchte extra eine Flasche aus, von der es insgesamt drei gab. Natürlich war es die falsche und als mein Vater aus dem Krankenhaus entlassen wurde, klärte er uns auf, dass wir einen recht teuren Wein weggesoffen hatten, den er extra zum Einlagern und Reifenlassen oder was auch immer gekauft hatte.

Heute, mehr als ein Jahrzehnt später, geht es meinem Vater gut.

Ich verblogge meine Erinnerungen an fünf Weihnachtsfeste. Vielleicht interessiert euch auch, wie ich Weihnachten in den 90ern als Teenager oder in den 80ern als Kind erlebte.

2 Gedanken zu „Krebs zu Weihnachten“

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