Seit meine Tochter (7) zur Schule geht, bin ich kein Pendler mehr, sondern kann ganz gemütlich mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren. Am Freitag fuhr unsere nicht mehr ganz so kleine Familie dann aufs Land. Mit der Bahn. Zur Rush Hour. Ein interessanter Perspektivwechsel, denn jetzt konnte ich mal aus der Rolle des Touristen heraus all die gestressten Pendler beobachten.
Da war zum Beispiel die 20er-Jahre-Schönheit, die sich sehr viel Mühe mit ihrem Styling gegeben hatte und wahrscheinlich jede einzelne ihrer großen Locken von Hand gelegt hatte. Sie guckte die ganze Fahrt über demonstrativ genervt. Unter anderem, weil wir scheiß Touris mit unserem Kinderwagen mehrere Notsitze blockierten, sodass sie sich nicht setzen konnte.
Ein Klassiker unter den Pendlern war auch vertreten: Der Typ, der gar nicht einsieht, seine Tasche auf den Boden neben seinen Sitz zu stellen oder auf seinen Schoß zu nehmen. Nein, seine Tasche braucht einen eigenen Sitzplatz in der überfüllten Bahn. Selbst als er von der Schaffnerin mit nordhessisch rollenden „Rs“ dazu aufgefordert wurde, den Platz freizumachen, lamentierte er noch, dass die Tasche im Gang doch den Notausgang blockieren würde – was sie nicht tat. Letztlich musste er sich aber geschlagen geben, als die Schaffnerin einen bemitleidenswerten Stehreisenden quasi auf den Sitz nötigte.
Es gab den Feierabendbiertrinker und den Fastfoodesser. Beides Phänotypen, denen nicht bewusst ist, dass gestresste Mitreisende weniges noch weniger brauchen als den Geruch von Alkohol oder fettigem Essen. Dann gab es da noch den Typen mit dem unvorteilhaften Gesicht, der trotz brütender Heizungsluft seine Mütze aufbehielt, dann aber sich die nötige Ventilation durch einen offenstehenden Mund verschaffte. Es war jene Sorte Mensch, die andere unverhohlen anstarren, als wären sie zu ihrer persönlichen Unterhaltung da. Solchen Starrenden möchte ich gerne ins Gesicht schreien: „Hast du kein Smartphone, auf das du glotzen kannst?!“
Neben diesen paar Zeitgenossen, die durch ihre pendlerische Unangepasstheit auffallen, gab es noch eine große Gruppe von Normalos, die das tat, was man sinnvollerweise in der Bahn tut: Lesen. So etwa, der junge Mann mit der 80er-Digitaluhr, der Oben wie Unten Jeans trug und seinen Notsitz für unseren Kinderwagen geräumt hatte und ganz unaufgeregt auf einem anderen Platz mit Hilfe seines neuen iPhones weiterlas. Ihm gleich tat es der Mitvierziger in der Jacke eines Highscholl-Quaterbacks, der mit glänzend zurückgegelten Haaren auf sein Windows-Tablet blickte. Oder auch die brav gekleidete Frau mit dem freundlichen Rundgesicht, die „Der Fänger im Roggen“ auf Papier las und davon träumte, selbst eine rebellische Jugendliche in den 50er Jahren zu sein.
Ein schönes Phänomen bei längeren Bahnfahrten sind auch immer jene Zeitgenossen, die – sobald die Ansage erklingt, dass „in Kürze“ der nächste Bahnhof erreicht werde – schon einmal aufstehen und sich brav an der Tür anstellen. Schließlich weiß jeder, dass tagtäglich Millionen von Menschen verlorengehen, weil sie es nicht schaffen, rechtzeitig den Zug zu verlassen. Entsprechend panisch ist auch das Rennen und Drängen hinaus, sobald sich einmal die Türen geöffnet haben. Diese Panik wird nur noch überboten von jenen Menschen, die von der Angst erfüllt sind, nicht rechtzeitig in den Zug hineinzukommen und daher versuchen, jede noch so kleine Lücke im Strom der Hinausdrängenden zu nutzen für den rettenden Sprung in die Bahn.
Bleibt abschließend mir nur noch die Pflicht, mich bei dem genervten Piloten zu entschuldigen, dass wir die Dreistigkeit besaßen uns mit unserem Kinderwagen in SEINEN Fahrstuhl zu drängen, obwohl wir doch sehen konnten, dass er und seine Aktentasche diesen schon vollends ausfüllten! Es tut uns leid.
Nicht zu vergessen der ätzende Beobachter, der alle Reisenden anhand eines [zeitweisen] Merkmals in verschiedene Schubladen der Nervende-Mitmenschen-Kommode steckt.
Ich halte es zwar für ein Gerücht, dass es sojemanden gibt, aber er klingt sehr sympatisch…
Ein sehr lustiger Artikel!