Platon – Was ist das Gute?

Heute möchte ich heute einen sehr langen Bogen zurückschlagen. Er innert euch: Ich begann meine Platon-Reihe mit den drei Gleichnissen, die uns zu diesem ganzen Mindfuck von Platons  Metaphysik führten. Aber die Frage, die in den Gleichnissen gestellt wurde, war ja – zumindest vordergründig – eine ganz andere. Nämlich: Was ist das Gute? Wie immer habt ihr die Wahl: Oben Video, darunter Text.

Das Gute – ein höchst metaphysisches Konstrukt

Tja, was ist das Gute denn jetzt? Wir wissen vom letzten Mal, dass wir es anstreben sollen und wollen, wir wissen auch, dass wir uns darin irren können, was es  ist. Aber wir wissen noch immer nicht, was es verdammt noch einmal ist, dieses Gute! Schon bei den Gleichnissen hat Platon immer nur um den heißen Brei herumgeredet. Jetzt muss er doch mal sagen, ob es zum Beispiel gut ist, Kriegsflüchtlingen Asyl anzubieten oder, ob es gut ist, die Grenzen zu schützen! Was hat einen höheren moralischen Wert: Das Selbstbestimmungsrecht der Frau über ihren eigenen Körper oder das Recht auf Leben des ungeborenen Kindes?

Aber leider macht Platon es uns nicht so einfach, hier eine definitive Antwort zu geben. Er kommt in all seien Dialogen nie so richtig hinter dem Berg damit hervor, worin das Gute besteht. Wir hatten ja schon am Höhlengleichnis gesehen, dass er die Auffassung vertrat, dass man erst nach einer ausgiebigen Beschäftigung mit Philosophie die Erkenntnis erlangt, worin die Idee des Guten besteht. Sie uns einfach so hinzuschreiben, hielt er sogar für gefährlich, wie wir noch sehen werden, wenn wir uns mit seiner Schriftkritik befassen. Möglicherweise kam er auch nie zu einem abschließenden Ergebnis, was gut ist und was nicht. Fest steht zumindest, dass das Gute für Platon ein höchst metaphysisches Konstrukt ist und nicht in klaren Regeln besteht. Eine Tatsache für die ihn sein Schüler Aristoteles stark kritisiert hat.

Hedonismus und Wissen

Allerdings verschweigt Platon auch nicht vollkommen, was er über das Gute denkt, sondern greift das Thema immer wieder auf. So prüft er zum Beispiel im Dialog „Der Staat“ zwei zu seiner Zeit populäre Theorien. Zum einen ist das „Das Gute besteht in der Lust“. Das ist die These des Hedonismus, der zu Platons Lebzeit prominent von Aristippos von Kyrene vertreten wurde. Und zum anderen die These „Das Gute besteht im Wissen“. Das war ja die These, die – wie wir sahen – mehr oder weniger Sokrates vertreten hatte.

Dass Lust das Gute ist, verwirft Platon mit dem ziemlich guten Argument, dass es auch schlechte Lust gibt. Wir hatte schon den Junkie als Beispiel, der sicher viel Lust am nächsten Schuss haben wird. Allerdings dürfte es schwer zu begründen sein, dass dies eine gute Tat ist. Im Dialog „Gorgias“ bringt Platon ein noch stärkeres Argument gegen Lust als das Gute. Ich möchte es, das „Ramsay Bolton“-Argument nennen: Ein Mensch, dem es Spaß macht, andere Menschen zu quälen. Während ich beim Junkie zumindest noch argumentieren kann, dass dieser nur sich selbst schadet, wird es jetzt fast komplett aussichtslos, ein Argument zu finden, dass die Lust am Leid anderer etwas Gutes ist. Nicht die Lust kann das Gute sein, stattdessen muss das Gute hinzukommen, damit wir beurteilen können, ob eine Lust etwas Gutes ist.

Aus ganz ähnlichen Gründen scheitert auch die These, dass das Gute im Wissen besteht. Wieder wendet Platon ein, dass nicht jedes Wissen gut ist. Das Wissen, wie ich ein Selbstmordattentat verübe, ist sicher nichts Gutes. Wenn überhaupt ein Wissen als Kandidat um das Gute in Frage kommt, dann das Wissen, um das Gute. Aber diese Antwort ist wieder einmal ein Zirkelschluss: Ich begründe A mit B und B wieder mit A. Was ist das Gute? Wissen. Welches Wissen? Das Wissen um das Gute. Das ist ein logischer Fehler, es ist keine gültige Antwort und daher scheidet das Wissen auch aus im Rennen um die Frage, was das Gute ist.

Relativismus vs. objektiv Gutes

Wenn Platon also nie sagt, was das Gute ist, aber immer wieder betont, was es nicht ist, dann legt das ja den Schluss nahe, dass es das Gute überhaupt nicht gibt. Sophisten wie Protagoras vertraten diese Position. Berühmt wurde der Satz von Protagoras „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“, also die Ansicht, dass jede Erkenntnis und jede Moral nur menschengemacht und somit relativ ist. Doch ihr ahnt es schon: In mehreren Dialogen bezog Platon ebenfalls massiv Stellung gegen den sophistischen Relativismus, also dass es kein absolut Gutes gebe, sondern gut und böse für jede Kultur, jede soziale Schicht oder gar jeden Menschen etwas anderes sind. Dagegen spricht ein weiteres berühmtes logisches Argument: Der performative Widerspruch. Wenn ich sage: „Es gibt keine allgemeingültige Moral, daher kann jede machen, was sie will“, dann handelt es sich dabei ebenfalls um eine moralische Maxime, von der ich den Anspruch habe, dass sie allgemeine Gültigkeit hat, obwohl ich gerade bestritten habe, dass es so etwas gibt. Die Performanz meines Sprechakts steht somit im Widerspruch zum Inhalt meiner Äußerung. Wir werden dies wieder aufgreifen, wenn wir uns mit Platons Erkenntnistheorie beschäftigen.

Nein, den Relativismus lehnte Platon stets ab. Seine zentrale philosophische Bemühung, die gesamte Ideenlehre, ist dem Versuch geschuldet, die Ethik auf ein objektives Fundament zu stellen. Aus den Lehren des Sokrates und dann den frühen platonischen Dialogen war ein zentrales Problem hervorgegangen: Eine haltbare Definition des Guten zu finden und auch wenn Platon uns diese nie liefert, so steht für ihn unumstößlich fest, dass es das Gute gibt und dass es etwas objektives ist.

Ein metaphysischer Schauer am Ende

In den Gleichnissen hatten wir verschiedene metaphysische Erklärungen gesehen, worin der Status des Guten besteht. Diese halte ich persönlich allesamt für wenig glaubwürdig und muss sie nicht noch einmal wiederholen. Ihr könnt euch ja die entsprechenden Folgen ansehen. Lediglich die These aus dem Höhlengleichnis ist nicht unplausibel: Dass die Erkenntnis, was das Gute ist, die schwerste von allen ist und sich erst nach langer und intensiver Auseinandersetzung mit Philosophie beantworten lässt. Dies ist die Lehre des Sokrates, die Platon verinnerlicht hat: Philosophie im Allgemeinen und die Suche nach dem Guten im Besonderen ist nichts, was sich einfach in einem Buch nachlesen lässt. Sie muss gelebt werden, erst dann wird dich eines Tages die Erkenntnis mit einem metaphysischen Schauer ergreifen. Und du wirst verstehen, worin das wahre Gute besteht.

Sehr ihr das genauso? Oder ist das für euch nur Geschwafel? Schreibt mir doch mal einen Kommentar! Beim nächsten Mal lassen wir die Ethik ein Stück weit hinter uns und tauchen in Platons politische Philosophie ein.

Die Medien und ihre rechte Schuld

50 Gedanken – Gedanke 5

Sascha Lobo schrieb vor Kurzem in seiner Kolumne „Woran „die Medien“ wirklich schuld sind„:

„Die Medien sind schuld. Das ist die Universalschuldformel geworden, sie wird explizit verwendet oder implizit transportiert. Sie geht rechts wie links und überall dazwischen.“

Es folgt eine differenzierte Auseinandersetzung mit dieser These. Für diese Differenziertheit schätze ich Sascha Lobo sehr und höre auch sehr gerne seinen neuen Debattencast, in dem er sich noch einmal mit den Gegenargumenten, die auf seine Kolumnen folgen, auseinandersetzt. Lobo fährt fort:

„“Lügenpresse“ ist nur die offensichtlichste, aggressivste Ausprägung, mit Trump als Säulenheiligem der Generalschuld der Medien. Eine typische Erzählung von links lautet dagegen, dass die Medien die Schuld tragen am Aufstieg der AfD, zum Beispiel „die Talkshows“.“

Diesen Punkt greift er später wieder auf:

„Sich einfache Erklärungen zu wünschen für komplexe Probleme. Dahinter steht eine geradezu kindliche Hoffnung, denn in der Beschuldigung der Medien schwingt der Glaube mit, dass es eine simple Lösung gebe. Einfach keine AfDler mehr in Talkshows einladen – hurra, alle Probleme mit rechts gelöst!“

Und hier muss ich einhaken. Denn was Lobo wie ein Verschwörungstheorie aussehen lässt, lässt sich mit harten Fakten belegen. Monitor hat alles 141 Talkshows des Jahres 2016 ausgewertet. In 76 von ihnen ging es um Flüchtlinge, Islamismus, Terrrorismus und Rechtspopulismus. Gut, da könnte man mit Lobo jetzt sagen, dass die Medien doch nur der Überbringer der Botschaft sind. Die Welt ist halt so. Aber das ist eine sehr naive und unterkomplexe Weltsicht. Denn wir erschließen uns die Welt mit Hilfe der Medien. Wie viele von euch haben die Flüchtlingskrise, Islamismus, Terrorismus und sogar Rechtsradikalismus im Alltag zu spüren bekommen?

Ich glaube ganz sicher, dass die neuen Migrationsbewegungen ein drängendes Problem des 21. Jahrhunderts sind. Mir macht Terrorismus auch Angst und ich glaube, er wird uns weiter begleiten. Und ich weiß, dass jede von euch, die nicht weiß, männlich, heterosexuell ist, Diskriminierung erfährt. Aber vergleicht das mal mit Themen wie: hohe Mieten, Ärztemangel, schlechte Infrastruktur (Straßen, Bahn und Internet) oder Umweltbelastungen wie schlechte Luft und Klimaerwärmung. Das sind Themen, die wir alle täglich spüren und sie mussten sich mit unzähligen anderen Themen 2016 die 65 verbleibenen Slots in Talkshows teilen, weil in über der Hälfte von rechten Themen gesprochen wurde.

Um Lobo abzuschließen, möchte ich noch erwähnen, dass er später einschränkt: „Und dass Talkshows nicht die Alleinschuld für die AfD tragen heißt keinesfalls, dass nicht eine Mitverantwortung vorliegt, über die debattiert werden muss. “

Die Medien™ haben der AfD und ihren Themen überdurchschnittlich viel Aufmerksamkeit geschenkt und das hat den Betrachtern das Bild vermittelt, dass die AfD Lösungen auf Probleme unserer Zeit hat. Hätte man die Partei zum Klimawandel oder zu bezahlbaren Wohnraum 76-mal befragt, hätten die Wähler/innen gemerkt, dass die Partei keine Antworten hat.

Alles hängt mit allem zusammen

Ich glaube übrigens nicht, dass Die Medien™ das aus bösem Willen gemacht haben. Stattdessen ist es eine Entwicklung, die sich aus einem komplexen Geflecht an Ursachen ergeben hat. Ein Grund ist zum Beispiel das Internet. In diesem gibt es für Medienhäuser nur eine tragbare Einnahmequelle: Werbung. Werbung wiederum fordert hohe Klickzahlen und die werden durch Themen wie Terror besser erreicht als durch Ärztinnenmangel. Die privaten Medien sind daher immer am Rande einer Existenzangst und schimpfen deshalb wiederum auf die öffentlich-rechtlichen und ihre staatliche Finanzierung. Das setzt die Öffis unter einen Rechtfertigungsdruck, dem sie mit hohen Einschaltquoten begegnen. Wie erreichen sie die? Mit Terror …

Es ist zum Weinen.

Platon – Der Sinn des Lebens

Die größte aller Fragen

Heute möchte ich mich heute der vielleicht größten aller Fragen widmen: Was ist der Sinn des Lebens? Erinnert euch an meinen letzten Platon-Text zurück: Wir stecken eigentlich mitten in Platons Ethik. Der Höhlenforscher hatte argumentiert, dass Ungerechtigkeit unglücklich mache, weil es der Zweck der Seele sei, gerecht zu sein. Um diese steile These zu verstehen, widmen wir uns also heute dem Sinn des Lebens. Wie immer könnt ihr entweder das Video schauen oder darunter das Ganze als Text lesen.

Unser Meister der Ideen gehört zu den ältesten nicht-religiösen Quellen, die sich mit der Sinn-Frage beschäftigt haben. Und seine Antwort lautet: Der Sinn des Lebens ist, ein gutes, glückliches Leben zu führen. Das ist doch eine gute Antwort, oder?

Platon begründet sie sogar noch: Und zwar hält er das gute, glückliche Leben für eine Letztbegründung. Eine Letztbegründung – das hatten wir ja schon im Zusammenahng mit der platonischen Liebe gelernt – ist ein Punkt, an dem man nicht mehr sinnvoll „warum?“ fragen kann. Und die Antwort: „Weil du ein gutes und glückliches Leben führen willst“, ist ein solcher Punkt. Die Frage „warum“ macht hier keinen Sinn mehr, so Platon.

Ich denke, dass beim Glück weitgehend unstrittig sein dürfte, dass es eine Letztbegründung ist, denn wer will nicht glücklich sein? Aber wie sieht es mit dem Guten aus?

Wichtig ist dabei, dass „gut“ in diesem Kontext tatsächlich (auch) moralisch gut heißt. Was es mit diesem „auch“ auf sich hat, dazu komme ich später. Denn zunächst habe ich noch ein anderes Problem: Dass es der Sinn des Lebens ist, auch moralisch gut zu handeln ist nicht so einleuchtend wie das Streben nach Glück. Denn es ist anstrengend! Wenn ich immer rein egoistisch handle, ist es viel leichter, glücklich zu werden. Ich muss mir keine Gedanken machen, wer meine Kleidung oder mein Handy hergestellt hat. Ich brauche nicht darüber nachdenken, welches empfindsame Wesen für mein Essen sterben musste. Oder was mein Dieselmotor für diesen Planeten bedeutet. Können wir nicht auf Moral verzichten und einfach sagen, dass Glück der Sinn des Lebens ist?

Platon sagt dazu, dass Egoismus vielleicht meine Triebe befriedigt. Wenn ich mich durch ihn aber moralisch schlecht verhalte, weil ich nicht an meine Mitmenschen denke, dann füge ich dadurch meiner Seele Schaden zu und handle so nicht dem Sinn des Lebens entsprechend.

Hmm, interessante Behauptung. Mir ist diese Einstellung sehr sympathisch. Aber für Sympthie kann ich mir weder im Kapitalismus noch in der Philosophie etwas kaufen. Wo der Markt Cash sehen will, da wollen wir Philosophen Argumente sehen. Also: Warum sollte Egoismus meiner Seele schaden? Nun dazu müssen wir zu unserer Frage aus der letzten Folge zurückkehren und uns angucken, was Platon über Gerechtigkeit sagt.

Was ist Gerechtigkeit?

Die Frage, was Gerechtigkeit ist, beantwortet Platon dadurch, dass er ein Modell der Seele entwirft. Demnach besteht die Seele aus drei Teilen. Zum ersten gibt es die Begierden, die natürlichen Triebe wie Hunger, Durst und den Sexualtrieb. Der zweite Teil ist die Vernunft und der dritte Teil sind die Gefühle, die Emotionen. Auch diese drei Seelenteile hören sich wieder äußerst plausibel an. Zwar sieht die moderne Psychologie das ganze etwas komplexer, aber der Grundansatz ist verdammt clever.

Ein Mensch ist, so fährt Platon fort, dann zu sich selbst gerecht, wenn er allen drei Teilen seiner Seele das zukommen lässt, was ihnen zusteht. Oje, rieche ich da mal wieder „Jedem das Seine„? Für die Vernunft ist es angemessen, richtig, das heißt: logisch zu denken. Für die Emotionen ist es angemessen, angemessen zu reagieren und für die Triebe ist es angemessen, in angemessener Weise das Leben der Menschen zu bestimmen – für Platon heißt das vor allem: gezügelt zu werden. Es ist interessant, dass Platon alle drei Seelenteile als etwas Wildes betrachtet, das in der einen oder anderen Form kontrolliert werden muss.

Der Vernunft kommt dabei – wie könnte es auch anders sein – eine besondere Rolle zu. Sie muss über die anderen beiden Teile der Seele herrschen und so für Ordnung sorgen. Wenn also unsere Triebe danach verlangen etwas zu essen, obwohl wir wissen, dass wir schon genug Kalorien zu uns genommen haben, dann muss die Vernunft ihnen Einhalt gebieten, damit wir nicht dick werden. Genauso muss die Vernunft unsere Emotionen kontrollieren, wenn wir beispielsweise jemanden die Fresse polieren möchten, weil er verdammt noch mal ein Arschloch ist! Wenn die drei Seelenteile eines Menschen sich aber in einer inneren Harmonie befinden, dann herrscht Gerechtigkeit und dann wird ein Mensch in einer solchen Harmonie auch nur gerecht handeln.

Innere und äußere Gerechtigkeit

Aber Moment, das ist doch ein merkwürdiges Gerechtigkeitsverständnis, oder? Denkt noch einmal an die Untersuchung des Begriffs der Gerechtigkeit. Dort ging es um Probleme wie den Umgang mit Freunden und Feinden, um das Zurückgeben von Dingen die du dir ausgeliehen hast, um das Betätigungsfeld der Gerechtigkeit und um die Frage, wie eine Regierung handeln muss, damit sie gerecht ist.

Demgegenüber spricht Plato nun von Gerechtigkeit der eigenen Seele gegenüber. Platon macht hier aus einem Problem der Welt, also einem zwischenmenschlichen Problem einen inneren Zustand, ein innermenschliches Problem. Aber damit gibt er dem Begriff der Gerechtigkeit eine völlig neue Bedeutung, die sich massiv von unserem alltäglichen Gebrauch unterscheidet.

Normalerweise sagen wir nicht: Weil wir wissen, dass Wolfgang Schäuble sich in innerer Harmonie befindet, handelt er gerecht, daher sollten wir nicht am Sparkurs für Griechenland zweifeln. Stattdessen fragen wir so Sachen wie: Was hat Griechenland getan, dass es so tief in die Schulden abgerutscht ist? Hatte das Verhalten Deutschlands oder Europas einen Anteil daran? Ist es gerecht die griechische Bevölkerung für einen komplexen volkswirtschaftlichen Prozess durch so massive Sparmaßnahmen zu bestrafen? Und ist es gerecht, die deutsche Bevölkerung mit ihren Steuern für die griechischen Schulden zahlen zu lassen? Das sind alles Fragen, die sich auf das Verhalten von Menschen und Staaten beziehen. Diese Fragen betreffen Zustände in der Welt und nicht die inneren Zustände von Menschen.

Wir kennen natürlich auch Fälle, in denen wir davon sprechen, dass jemand selbstgerecht ist oder im Gegenteil zu hart mit sich ins Gericht geht. Aber diese Anwendung des Begriffs der Gerechtigkeit auf das eigene Ich ist ein Sonderfall, ein Extrem. das sich aus dem Regelfall der zwischenmenschlichen Gerechtigkeit ableitet.

So leid es mir tut, ich finde diesen Teil der platonischen Philosophie wirklich schwach. Allerdings darf ich nicht verschweigen, dass Platons Definition der Gerechtigkeit noch nicht am Ende ist. Damit ein Mensch gerecht handeln kann, muss noch etwas weiteres hinzukommen. Denn die Vernunft kann die Seele nur ordnen, wenn sie ihrerseits auf etwas bezogen ist, etwas anstrebt: Das Gute.

Das Gute als Lebensziel

Jetzt kommen wir auf das „auch“ vom Anfang zurück. Denn es ist wichtig zu wissen, dass Platon noch nicht eindeutig zwischen moralisch gut und zweckdienlich unterschied, da es in der griechischen Sprache diese Unterscheidung nicht explizit gab. Ein Messer kann genauso gut sein, wenn es gut schneidet, wie eine Person, wenn sie gut handelt. Das ist wichtig zu verstehen: Denn dann macht es plötzlich sehr viel Sinn, dass der Sinn des Lebens es ist, gut und glücklich zu leben.

Platon nennt alles „gut“, das irgendwie erstrebenswert ist. Immer wenn jemand etwas tut, dann macht er oder sie dies, weil das, was sie oder er anstreben, etwas gutes ist. Kapiert? Ich möchte etwas essen, weil es gut für mich ist. Genauso möchte meine Seele gerecht sein, weil es gut für sie ist. Allerdings ergänzt Platon, dass eine Person sich darin irren kann, was gut ist. Ein Junkie wird Heroin erstrebenswert finden, aber es ist nicht gut für ihn.

Aber angenommen, wir haben einmal herausgefunden, was das wirklich Gute ist. Dann kann und wird unsere Vernunft dies anstreben. Daraus folgt dann, dass unsere Seelenteile in Harmonie gebracht werden. Ein Mensch wiederum, dessen Seelenteile sich in Harmonie zueinander befinden, ist glücklich. Woraus wiederum für Platon folgt, dass das Streben nach dem Guten glücklich macht.

Und somit schließen wir wieder den Bogen zurück zum Sinn des Lebens: Nur, wenn wir gut handeln, ist unsere Seele in Harmonie und nur so werden wir auch wirklich glücklich sein. Damit deckt sich auch mit etwas, für das sich der echte Sokrates stark gemacht hat: Dass Unrecht zu tun schlechter ist als Unrecht zu erleiden. Denn, wenn ich Unrecht tue, dann wird meiner Seele Schaden zugefügt. Dies war der Grund, warum Sokrates sich weigerte nach dem Todesurteil zu fliehen.

Okay, jetzt wissen wir, was der Sinn des Lebens ist und wir wissen, was uns glücklich macht. Das Streben nach dem Guten. Doch damit werden wir wieder auf den Anfang meiner Erörterungen von Platons Philosophie zurückgeworfen zu den drei Gleichnissen. Denn wir müssen uns einmal mehr fragen: Was ist es denn nun, dieses Gute?

Doch das machen wir beim nächsten Mal …

Ein dialektisches Meisterwerk

50 Gedanken – Gedanke 4

In den Replies dieses Tweets von Margarete Stokowski …

… fand sich ein dialektisches Meisterwerk:

 

Dieser Tweet ist ein kleines Kunstwerk. Warum? Das möchte ich kurz erläutern:

Reiner Wein beginnt mit einer klassischen These: „der Kampf gg vermeintliche Frauenfeindlichkeit“. Es gibt gar keine Misogynie. Das ist alles eine Unterstellung.

Doch dann bringt Reiner eine überraschende Antithese: „untervögelte irre Feministinnen“. Potzblitz! Wer hätte das erwartet? Er exemplifiziert gnadenlos, dass es Misogynie gibt, indem er sie hinschreibt. Geschickter Schachtzug, hatte ich ihn doch zuerst für einen Sexisten gehalten!

Doch, dass er das nicht ist, beweist schließlich seine dialektische Synthese: „vollends diskreditiert“. Ja, was wird hier denn vollends diskreditiert? Genau! Der Kampf gegen vermeintliche Frauenfeindlichkeit. Herr Wein macht damit klar, wie ungemein wichtig der Kampf gegen echte Frauenfeindlichkeit ist!!! Etwa gegen Typen, die auf Twitter hinter jedem Argument, das eine Frau vorbringt, eine vermeintliche sexuelle Unbefriedigtheit vermuten …

Well played, Mr. Wein, well played …

Kuscheln in der Opferrolle

50 Gedanken – Gedanke 3

Ich fuhr heute Morgen auf meinem Rad am Main entlang zur Arbeit. Über dem Fluß hingen noch vereinzelte Nebelschwaden und die Sonne brach am Horizont durch die rissige Wolkendecke. Ich hörte derweil eine wirklich aufschlussreiche Folge von „This American Life“, die sich um die Neue Rechte in Amerika drehte. Nicht zuletzt weil seit zwei Tagen wieder eine rechtsextreme Partei im deutschen Bundestag sitzt, ist das ein Thema, das mir keine Ruhe lässt. Wie kommt es, dass die Feinde der offenen Gesellschaft überall im Westen auf dem Vormarsch sind? Nach wie vor glaube ich, dass unsere mediale Besessenheit von islamistischem Terror seit 2001 der wichtigste Grund ist. Doch darüber schreibe ein anderes Mal …

… Denn am oben erwähnten Podcast war am allerspannendsten ein Interview mit einem Initiator der rechtsradikalen Demo in Charlottesville – Jason Kessler. In diesem Gespräch kam irgendwann zur Sprache, was ihn denn zu einem White Supremacist hat werden lassen. Und die Antwort ist nahezu unglaublich: Er hat mal eine Stelle nicht bekommen, auf die er sich beworben hat. Stattdessen wurde eine Frau eingestellt. Er ist der Meinung, dass diese Frau weniger qualifiziert war als er und nur genommen wurde, weil sie eine Frau war. Das ließ ihn zu der Überzeugung kommen, dass weiße Männer in den USA unterdrückt werden.

WTF!?! Was für ein erbärmliches Gejammer! Ich kann nicht zählen, wie viele Absagen auf Bewerbungen ich in meinem Leben bekommen habe. Aber ich bin nie auf die absurde Idee gekommen, dass es daran liegt, dass ich ein weißer Mann bin. Wie widerlich diese Haltung ist, zu glauben, die Welt schulde einem etwas und nur weil man das nicht kriegt, mit Hass auf Schwächere zu reagieren! Allein, die unglaubliche Ignoranz dieser Aussage ist verblüffend, denn es gibt ja durchaus Statistiken zur Vergabe von Arbeitsplätzen. Uns diese sagen klipp und klar, dass es sich gerade andersherum verhält. Dass wir weißen Männer eben gerade auf dem Arbeitsmarkt bevorzugt werden! Doch der Typ stellt den Einzelfall seiner narzisstischen Kränkung über die objektiv erhobenen Fakten, die zeigen, wie die Welt wirklich ist.

Was er macht ist eine beliebte Strategie unter Rechtsextremen: Ich habe dies schon früher „Kuscheln in der Opferrolle“ genannt. Der Rechtsextremist verdreht die Fakten so, dass er nicht mehr Täter (geistiger Brandstifter, der anderen Menschenrechte aberkennt) ist, sondern Opfer – weil wir anderen seine persönliche Sonderstellung nicht anerkennen. Achtet mal darauf, es ist wirklich ein beliebter Sophismus in der Neuen Rechten.

 

Leben ist mehr wert als Arbeit

50 Gedanken – Gedanke 2

Ich verblogge 50 Gedanken, dies ist der zweite. Dieser Gedanke ist sicher nicht neu und ich maße mir nicht an, ihn als erstes gedacht zu haben. Alles, was ich bescheiden zur Diskussion stellen möchte, ist, dass er wahr ist.

Im Diesel-Skandal werde in der öffentlichen Diskussion viele verschiedene Aspekte in die Waagschale gelegt, um zu entscheiden, wie weiter vorgegangen werden soll. Doch die Hauptkonfliktlinie ist die Frage, wer die Kosten tragen soll für den Skandal. Die eine Seite sagt, dass die Autofahrerinnen nicht belastet werden dürfen, denn sie sind nicht schuld an der Misere. Auf der anderen Seite wird argumentiert, dass der Industrie nicht zu hohe Kosten aufgetragen werden dürfen, denn das gefährde Arbeitsplätze.

Ich nehme mal für einen Augenblick an, dass die Industrie nicht kompletten Kokolores verzapft (was sie tut), dann hat sie ein gar nicht mal so schlechtes Argument: Während die Dieselwagenfahrer eine sicherlich harte finanzielle Belastung erfahren, weil sie ihr Auto aufgeben oder es für viel Geld umrüsten müssten, wäre der Verlust der Arbeit der Angestellten in der Autoindustrie tatsächlich das höhere Gut. Nicht nur finanziell wäre die Einbuße höher als der Gegenwert eines Autos. Hinzu käme auch noch der Verlust der sozialen Dimension von Arbeit, die wir nicht unterschätzen dürfen. Wie gesagt, ich glaube, die Industrie erzählt hier kompletten Bullshit und jede/r weiß es. Aber ich spiele das Spiel der Politik mal kurz mit und behandle das als valides Argument.

Denn der Punkt, auf den ich hinaus möchte, ist folgender: Dies ist bloßes Schattenboxen. Hier geht es gar nicht um die Verhandlung der Werte Autos vs. Arbeit. Es ist eine Nebelkerze, die von der eigentlichen Verhandlung ablenken soll: Arbeit vs. Leben. Denn, was ist denn der eigentliche Dieselskandal? Doch nicht irgendwelche abstrakten Grenzwerte auf irgendwelchen Prüfstationen für Autos. Sondern, dass die Luft in unseren Städten so scheiße ist, dass Menschen krank werden und früher sterben. Und obgleich Arbeit in unserer Gesellschaft ein hoher Wert ist, ist das Leben ein ungleich höherer. Daher kann die einzige moralisch vernünftige Forderung nur heißen: Fahrverbot für alle Dieselfahrzeuge bis zu einer effektiven Umrüstung – wer auch immer die bezahlt.

50 Gedanken

Gedanke 1 – die Leichtigkeit beim Bloggen

Ich habe gerade die neuste Folge Leitmotiv gehört. Nach neun Monaten hat Caspar Clemens Mierau endlich mal wieder eine Folge veröffentlicht. Ich merke jetzt erst, wie sehr ich seine Interviews vermisst habe.

Dieses Mal sprach er mit Kübra Gümüşay. Neben vielen anderen Themen ging es um die Leichtigkeit beim Bloggen und wie sie Kübra im Laufe der Jahre abhanden gekommen ist. Da fiel mir auf, dass das bei mir genauso ist. Früher habe ich aufgeschrieben, was mir durch den Kopf ging. Das konnte vom Elternsein genauso handeln, wie vom Sein-Sollen-Fehlschluss. Ich habe über Kassetentapes geschrieben oder über Überwachungsbefürworter. Es waren mal kurze, mal längere Stücke, die ich einfach so heruntergeschrieben habe.

Heute mache ich das gar nicht mehr. Heute verblogge ich wohldurchdachte, langgeplante Essays oder institutionalisierte Stücke. Aber einfach aufschreiben, was mir durch den Kopf geht …? Eigentlich ist das etwas sehr schönes und genau dafür ist doch so ein Blog (auch) da!

Zum Glück hatte Kübra Gümüşay auch gleich eine Abhilfe: Nur lose zusammenhängend zur Leichtigkeit beim Bloggen erzählte sie von einer Aktion, bei der sie mal 50 Gedanken in 50 Wochen verbloggte. Das möchte ich mir aneignen. Und ich will die Schlagzahl sogar noch erhöhen! 50 Gedanken bis Jahresende, das habe ich mir vorgenommen.

12 von 12 im September 2017

Das war mein 12. September 2017.

Morgentrunk

Um 6:30 ging es los. Während die Dame im Bad ist, gibt es für meine Tochter (3) Milch und für mich Kaffee. Das hat den schönen Vorteil, dasss das Erwachen ganz friedlich ist. Während „aufstehen!“ zu apokalyptischen Wutausbrüchen führen kann, führt „Millch!“ nur dazu, dass sich die Körperposition der Kleinen um 90° ändert. Am Ende der Flasche sind ihre Augen dann auch weit genug geöffnet, sodass sie den Tag beginnen und ich ihre große Schwester wecken kann.

Frühmorgens am Main

Ja, wie solll ich euch das schonend beibringen? Der Sommer ist vorbei.

Am 12. September war es aber zumindest morgens noch trocken und da die kühlen Temperaturen die Fahrradtouristen verscheuchen, war es am Main nicht nur schön sondern auch schön leer.

Frühschicht

Ich mache beruflich „was mit Social Media“. Und einer aus unserem Team fängt immer schon um 8 Uhr an, zu arbeiten, um die Lage vor allem auf Facebook zu checken und den Hof zu fegen. Damit der Rest des Teams um 9 Uhr ohne böse Überraschungen mit seiner Arbeit anfangen kann. Wir nennen das etwas staatstragend „Frühschicht“. Gestern hatte ich die Frühschicht inne.

Mittagspause

Auf dem Weg zu dem Platz am Osthafen, auf dem ich meine Pausen verbringe, solange es das Wetter noch zulässt, kam ich an den Überresten dieser ehemaligen Industriearchitektur vorbei.

Noch 24 Tage

… Dann findet das diesjährige Capoeira-Event von meiner Gruppe Aruanda Frankfurt statt. Um in Form zu kommen und die Vorfreude zu steigern, haben wir die Challenge #tododia gegründet. Es gilt, jeden Tag Capoeira zu trainieren, immmer drei Bewegungen. Diese Woche waren es Ginga, Role und Au. Diesen Handstand (Bananeira) habe ich nur für die Show noch dazugepackt. 😉

Feierabend

Früh mit der Arbeit anfangen, heißt auch: Früh Feierabend.

Einkaufen

Die Kleinste und ich gingen dann noch zum Supermarkt, um den Wocheneinkauf zu erledigen.

Als wir wieder auskamen wurden wir von einem Regenschauer überrascht, der seinesgleichen sucht …

Tja, der Sommer ist vorbei. Ich sag es ja. Es wird Herbst.

Podcasten

Als die Kinder im Bett lagen, haben die Dame und ich die neueste Folge des Spätfilms aufgenommen. Es ging um Notorious von Alfred Hitchcock. Merlin hat uns dazu einen  Einspieler vorbereitet, auf den ihr euch freuen könnt, sobald ich die Folge fertig geschnitten habe.

Schlafenszeit

Kurz hatte ich noch überlegt, eine Folge Last Week Tonight zu sehen. Für die fünf unter euch, die die Show noch nicht kennen: Es ist eine tolle Kombination aus Comedy und politischem Magazin. Absolute Sehempfehlung. Aber gestern nicht mehr für mich: Der Schlaf übermannte mich.

Platon – Das Recht des Stärkeren

Was ist Gerechtigkeit?

Heute beginne ich mit Platons Ethik, die uns zu seiner politischen Philosophie führen wird. Genauer gesagt, werde ich mit Platons Prüfung des Rechts des Stärkeren anfangen. Zu diesem Zweck blicken wir mal wieder in einen der Dialoge und zwar in keinen anderen als in „Der Staat“. „Der Staat“ beginnt mit einer der zentralen Fragen für Platon. Einer Frage, die ihn sein Leben lang umgetrieben hat: Was ist Gerechtigkeit? Wiiiiiiiiiiiieeeee immer könnt ihr euch die Erörterung als Video angucken oder unter dem Video weiterlesen …

Sokrates ist in der Geschichte beim wohlhabenden Kephalos zu Gast und fragt diesen, was der größte Vorteil seines Reichtums ist. Kephalos meint, dass er immer gerecht sein konnte und nie jemandem etwas schuldig blieb. Dies nimmt Sokrates – der offensichtlich sonst keine Hobbys hat – sogleich zum Anlass, den Begriff der Gerechtigkeit zu definieren.

Zurückgeben, was man empfangen hat

Die alte Hebamme erbittet von seinen Gesprächspartnern Kephalos, Simonides, Polemarchos und Thrasymachos einen Vorschlag zur Begriffsbestimmung, was denn bitteschön gerecht ist und erhält diesen auch von Simonides: Gerechtigkeit bedeutet, jedem das wiederzugeben, was man von ihm empfangen hat. Das ist quasi das alttestamentarische Gerechtigkeitsverständnis. Auge um Auge und Zahn um Zahn. Oder in einer positiven Wendung: Wenn du mir etwas gibst, dann ist es nur gerecht, wenn du auch von mir genausoviel zurückerhältst. Das klingt doch ganz einleuchtend, oder?

Ein wenig ungerecht lehnt unser alter Barfußgänger diese Definition aber umgehend ab. Allerdings hat er dafür gute Gründe: Sokrates bringt das Gegenbeispiel, dass jemand mir eine Waffe geliehen hat, doch als ich sie zurückgeben will, stelle ich fest, dass der Besitzer dem Wahnsinn verfallen ist. Wäre es gerecht, die Waffe dennoch zurückzugeben?

An dieser Stelle muss ich gleich mal einhaken. Denn es ist wirklich ungewöhnlich, dass Sokrates ausgerechnet dieses Beispiel als einen Fall von Ungerechtigkeit wählt. Ich würde nicht sagen, dass es ungerecht ist, sondern unverantwortlich. Dass also der Wert des verantwortlichen Handelns hier mit dem der Gerechtigkeit in einen Konflikt gerät. Darüber hinaus ist dieser sehr spezielle Fall auch eine gewaltige Ausnahme. Und als solche zeigt sie doch eigentlich, dass im Normalfall durchaus gilt: es ist gerecht, das zurückzugeben, was man erhalten hat, sofern es nicht triftige Gründe gibt, die dagegen sprechen.

Zugleich fällt mir ein viel besseres Beispiel ein als Sokrates‘ spezieller Fall. Ein Beispiel bei dem wir „jedem das wiedergeben, was man von ihm empfangen hat“ nicht als gerecht ansehen: Steuern. Reiche Menschen müssen mehr Steuern zahlen als Arme. Aber deshalb halten wir es nicht unbedingt für gerecht, dass Reiche auch mehr von den Investitionen des Staates profitieren, oder? Ich denke, wir können also trotz seiner merkwürdigen Argumentation mit Platon diese erste Definition als falsch ablehnen.

Jedem das Seine

Im Dialog springt Polemarchos Simonides zur Seite und schlägt eine neue Definition vor: Gerechtigkeit ist Freunden Gutes zu tun. Polemarchos zieht weiter den Schluss, dass daraus folge, seinen Feinden Schlechtes zu tun. Denn Feinde seien ja das Gegenteil von Freunden. Finde ich jetzt nicht unbedingt überzeugend, aber ich halte mich mal zurück. Denn Sokrates übernimmt die Schlussfolgerung zunächst einmal und stellt die nächste Definition auf: Gerechtigkeit ist, jedem das zu geben, was ihm zusteht. Diese berühmte platonische Gerechtigkeitsdefinition wird oft mit dem nicht minder berühmten wie unrühmlichen Spruch abgekürzt: Jedem das Seine. Das stand an der Tür des KZ‘ Buchenwald. Unser Menschenrecht „Alle Menschen sind gleich“ ist ein direkte Antwort auf diese Weltsicht. Doch das war 2.200 Jahre später, kehren wir nach Athen zurück, wo Sokrates erst einmal abschweift.

Denn Sokrates fragt sich als nächstes: Wenn Gerechtigkeit die Kunst ist, Freunden Nutzen zuzufügen und Feinden Schaden, was ist denn dann das Betätigungsfeld dieser Kunst? Zum Beispiel ist das Restaurant dass Betätigungsfeld des Kochens. Aber was ist das der Gerechtigkeit? Sokrates selbst bringt ein anderes Beispiel: Wenn ein Freund krank ist, dann ist es nach unserer Definition gerecht, ihn zu heilen. Aber im Gegensatz zur Kochkunst, die jemand ausüben kann, der sie gelernt hat, kann in unserem Beispiel dem kranken Freund nicht jemand helfen, der Gerechtigkeit studiert hat, sondern Medizin. Der Freund braucht keinen Gerechten sondern eine Ärztin. Was ist denn dann das Betätigungsfeld der Gerechtigkeit? Da der Dialog „Der Staat“ heißt, habe ich einen Verdacht, was sich am Ende als das Betätigungsfeld für die Gerechte herausstellen wird.

Allerdings finde ich die Untersuchung des Begriffs bis hier hin noch recht wackelig. Ich würde sie fast schon sophistisch nennen und lasse das nur, weil Platon mich dafür wahrscheinlich zu einem Leben in der Höhle verdammen würde. Denn wieder einmal konstruiert Platon ein Problem dadurch, dass er alle Begriffe über einen Kamm schert. Schließlich müssen nicht alle „Künste“ immer gleich zu Berufen führen. Ich habe die Kunst der Radfahrens gelernt, dennoch bin ich von Beruf nicht Radfahrer. Diese Kunst kann mir aber in anderen Bereichen meines Lebens durchaus von Nutzen sein. Ihr Betätigungsfeld ist eben viel größer als das der Medizin. Vielleicht gibt es Situationen, in denen ein Arzt auch gerecht sein muss? Zum Beispiel in der Notaufnahme, wenn sich ihm die Frage stellt, welchen Patienten er als erstes behandeln soll. Oder bei der Frage, ob einer unheilbar kranken Patientin Sterbehilfe geleistet werden soll.

Während ihr über diesen Einwand nachdenkt, lässt Sokrates von diesem Pfad der Untersuchung schon wieder ab und kehrt zurück zur Frage, ob „Feinden Schaden zuzufügen“ wirklich  gerecht ist. Platon zeigt hier mal wieder, dass sein Akzeptieren dieser Definition vor allem dazu diente, uns zum Nachdenken anzuregen. Denn auf den zweiten Blick erkennt Sokrates: Wenn man jemandem etwas Schlechtes antut, wird die Person nur noch schlechter. Das leuchtet mir ein: Wenn mir jemand etwas Schlechtes antut, dann reagiere ich oft mit Trotz und denke nicht zuerst über meine eigenen Schwächen nach. Das kann doch wohl nicht im Sinne der Gerechtigkeit sein.

Das Recht des Stärkeren

Als nächstes gibt dann Thrasymachos seine Definition von Gerechtigkeit zum besten: Gerecht sei, was den Stärkeren nützt – also das Recht des Stärkeren. Sokrates gibt sofort zu bedenken, dass die Starken im Sinne von Machthabern in einem Staat sich irren können, was für sie von Nutzen ist. Thrasymachos gesteht dies Sokrates zu und präzisiert, dass gerecht nur das ist, was sie zu Recht als nützlich ansehen und von den Bürgern verlangen. Thrasymachos tappt in Sokrates’ Falle, als er die Analogie zum Arzt aufmacht: Ein Arzt ist nur dann ein gerechter, wir würden eher sagen: guter Arzt, wenn er die richtige Medizin verschreibt, nicht wenn er sich in seinen Anweisungen irrt. Jetzt hat Sokrates ihn am Haken, denn Platons Lehrer spinnt die Analogie weiter und sagt: Jatzt aber mal halb lang, Thrasymachos, der Arzt ist doch nur ein guter Arzt, wenn er dem Kranken hilft und nicht sich selbst. Dann kann doch der Staatsmann auch nur ein guter Staatsmann sein, wenn er etwas für die Bevölkerung tut und nicht nur zu seinem eigenen Vorteil regiert.

Thrasymachos will die Analogie zum Arzt jetzt aber doch lieber nicht mehr gelten lassen und schlägt stattdessen die Analogie zum Hirten vor: Der muss sich zwar um seine Herde kümmern, aber nicht zu deren Vorteil sondern zu seinem eigenen, denn er will ja am Ende durch Wolle, Milch oder Fleisch davon profitieren. Offensichtlich gerät er jetzt in Rage. Denn er redet sich um Kopf und Kragen. Seines Erachtens ist nämlich die Ungerechtigkeit eh viel cooler als die Gerechtigkeit. Das sieht man doch an einem Tyrannen, also einem Diktator. Der muss den Gesetzen, die er anderen auferlegt, selbst nicht folgen und wird dafür noch gefeiert. Das zeigt doch, dass Ungerechtigkeit nicht deswegen gefürchtet wird, weil man anderen gegenüber ungerecht ist, sondern nur weil man selbst Angst hat, Ungerechtigkeiten zu erfahren. Daraus ergibt sich für Thrasymachos das Recht des Stärkeren. Solange du nur an der Spitze stehst, brauchst du keine Angst zu haben und alles, was du machst ist gut.

Gerecht ist nicht Geschäftstüchtig

Nachdem es so aus Thrasymachos herausgeplatzt ist, will er eigentlich gleich den Abgang machen, aber Sokrates meint nur: Moooomentemal! Zunächst wirft er Thrasymachos vor, dass er zweierlei verwechselt: Zum einen den Beruf des Hirten und zum anderen seine Geschäftstüchtigkeit. Der Job des Hirten ist es, sich gut um seine Herde zu kümmern. Und ob er ein guter Hirte ist, das zeigt sich daran, ob es seiner Herde gut gehe. Ganz unabhängig davon ist die Frage zu beurteilen, ob er auch geschäftstüchtig ist, das zeige sich aus dem, was er aus seiner Herde rausholt. Im übrigen sei das ja beim Arzt nicht anders: Ob der Karriere macht, hängt von seiner Geschäftstüchtigkeit ab. Aber ob er ein guter Arzt ist, das zeigen seine Heilerfolgen. Und bei Regierenden sei es auch nicht anders. Die können zwar Geld und Ruhm erwerben, wenn sie geschäftstüchtig sind, aber das sagt noch nichts über ihre Qualität als Regierungschefs aus.

Das ist ein sehr schöner und wichtiger Gedanke, der in unser heutigen Zeit allzu oft vergessen wird, da alles nur darauf ausgelegt ist, möglichst erfolgreich am Markt zu sein, möglichst viel Geld zu erwirtschaften. Ich kann zum Beispiel als Forstwirtin schnell viel Kohle machen, indem ich einfach ganze Wälder abholze oder Monokulturen anpflanze mit Bäumen, die schnell wachsen. Aber das macht mich zwar zu einer geschäftstüchtigen Volkswirtin, jedoch nicht zu einer guten.

Erst wenn ich einen Wald so bewirtschafte, dass ich das ökologische Gleichgewicht erhalte und auch noch in zwei, drei oder zehn Generation der Wald gesund sein wird und die nach mir kommenden Forstwirte davon profitieren. Erst dann bin ich auch ein gute Forstwirtin. Genauso verhält es sich bei der Politik: Deutschland profitiert gerade sehr von seiner strengen Finanzpolitik, die Schulden schrumpfen und der Staatshaushalt wächst. Aber das sagt noch nichts über die Qualität unserer Regierung aus, nur über ihr volkswirtschaftliches Geschick. Ob wir gut regiert werden, zeigt sich darin, wie das zur Verfügung stehende Geld investiert wird.

Selbst Diktatoren müssen gerecht sein

Aber Thrasymachos hatte ja nicht nur das Hirtenargument gebracht, sondern dann sogar gesagt, dass Ungerechtigkeit besser ist als Gerechtigkeit. Gerechtigkeit nennt er eine edle Einfalt. Da seht ihr mal, wie alt die Vorwürfe gegenüber „Gutmenschen“ sind. Aber mit so einem billigen sophistischen Trick ist er bei Sokrates an der falschen Adresse! Sokrates erwidert, dass die Ungerechtigkeit schon deshalb nicht besser sein kann als die Gerechtigkeit, da selbst ein Diktator nicht komplett auf sie verzichten kann: Er muss zumindest seinen Helfern gegenüber gerecht sein. Er braucht die Unterstützung einer Herrscherklasse oder eines Staatsapparats, um sich an der Macht zu halten. Wenn er gegen jeden, sogar gegen die eigenen Verbündeten ungerecht ist, dann wird er schnell soviel Unmut ernten, dass er gestürzt wird. Gerechtigkeit wenigstens einer Gruppe der Bevölkerung gegenüber ist eine notwendige Bedingung für einen stabilen Staat. Das ist ein sehr kluger machtpolitischer Gedanke, merkt ihn euch!

Aber unabhängig davon mache Ungerechtigkeit auch unglücklich. Jedes Ding habe seinen Zweck und der Zweck der Seele sei, gerecht zu handeln. Okay … Dieser Umschwung kam jetzt recht plötzlich. Das Argument, dass selbst Diktatoren nicht komplett ungerecht sein können, war sehr stark. Da hatte die alte Socke mich voll auf seiner Seite. Warum jetzt dieser esoterische Umschwung auf den Zweck der Seele? Nun, das bringt uns zum nächsten Aspekt, den ich beim nächsten Mal besprechen werde: Was ist der Sinn des Lebens?

Literatur

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