Schießbefehl auf den Karneval – Mein Wochenrückblick

Was für eine Woche! Schon wieder … Deutschland diskutiert nicht nur weiter, was man noch alles zum sicheren Herkunftsland erklären kann, sondern jetzt auch noch den Schießbefehl! Nur noch verrückt! Und dann wurde auch noch Beatrix von Storch angegriffen. 😉 Mein Wochenrückblick:

Samstag

Es ging los damit, dass Frau Petry jetzt auf Flüchtlinge schießen will. Nein, das stimmt natürlich nicht, sondern:

Angesichts solcher bizarren Ideen, kommen erste Verschwörungstheorien auf:

https://twitter.com/kamelschwalbe/status/693443391066128388

Aber es geht auch voran mit der Bewältigung der Flüchtlingskrise. Das Wichtigste ist, dass sich die Neuankömmlinge richtig integrieren. Und was könnte besser dafür geeignet sein, als erst einmal die deutsche Bürokratie kennenzulernen.

Montag

Die Gerüchteküche köchelt weiter, besonders da ja auch ein Wahlkampf stattfindet:

Andere machen sich mehr Sorgen um die Grenzsicherung. Ich hätte übrigens gerne 7,4 cm Nordsee.

Zum Glück gab es zwischendurch mal eine Ablenkung, denn wir sind jetzt auch Handball. Allerdings muss man dafür auch Opfer bringen.

Dienstag

Doch es kam alles anders …

Ich übergebe an die Kollegen vom Wetter:

https://twitter.com/justhadonejob/status/694176670010335235

Mittwoch

In den USA fanden die ersten Vorwahlen statt. Wichtig ist dabei natürlich immer die Terrorgefahr.

Doch das war bald kein Thema mehr, denn dann kam die Hammerschlagzeile der Woche zur Vizevorsitzenden der AfD, oder?

„Beatrix von Storch angegriffen“

https://twitter.com/lutz_ek/status/694509237087682560

Bald darauf stellte sich heraus, dass dieser Angriff kein Einzelfall war!

Donnerstag

… wurde die Forderung der CSU, die Grenzen dichtzumachen plötzlich sehr attraktiv.

Außerdem begann der Straßenkarneval. Ich will, wie ihr alle, den Kölner Hauptbahnhof nie wieder sehen. Aber manche Präventivmaßnahmen gehen wirklich zu weit:

Derweil befand sich die AfD weiterhin im Wahlkampf:

Freitag

Anscheinend gibt es Vollpfosten, die dafür eintreten, Vergewaltigungen zu legalisieren. Der Chef dieser Vollpfosten ist übrigens weiß. Nein? Doch! Oh!!! Ich persönlich finde ja, man sollte so Leute vor allem durch maximales Ignorieren bestrafen. Denn wenn keiner ihnen zuhört, dann lassen sie das Schreien bald wieder sein. Aber dann hatte der große Protest gegen den Heini doch eine erstaunliche Konsequenz:

Nach Seehofer ging dann übrigens auch de Maizière auf Auslandsreise. Und zwar in ein „sicheres Herkunftsland“.

Geben wir noch einmal zu unserem Russland-Korrespondenten. Der kann uns sagen, dass Edward Snowden nun Deutsch lernt.

Zurück zum Karneval. Den konnten wir natürlich nicht ohne den obligatorischen Terroralarm begehen. Da stellt sich die Frage …

Das war es von dieser Woche. Aber so verrückt die Zeiten auch sind, ich kann euch versichern, früher war auch nicht alles besser:

 

Wenn Qualitätsjournalisten Metaphern nicht verstehen

Wissen Sie, was eine Metapher ist? Kurz gesagt: Eine rhetorische Figur, bei der ein Ausdruck für einen anderen steht. Metaphern sind allgegenwärtig. Allein in diesem Satz:

Eine rhetorische Figur, bei der ein Ausdruck für einen anderen steht.

… stecken drei Metaphern: ‚Figur‘, ‚Ausdruck‘ und ’steht‘. Metaphern sind so etwas banales, dass sie uns in den meisten Fällen nicht einmal mehr auffallen. Ich mag sehr gerne die Metaphern-Definition von Nelson Goodman, die verkürzt so lautet: Eine Metapher ist ein Symbolsystem, das ich von einer Bedeutungssphäre auf eine andere übertrage.

Wir nehmen einen Ausdruck, wie zum Beispiel die Farbe „Rot“ und übertragen sie aus der Bedeutungssphäre der Farben in jene der Gefühle, wenn wir etwa sagen: „Roter Zorn stieg in ihr auf!“

Der Witz ist, dass wir jetzt nicht nur das Wort „Rot“ übertragen, sondern – wie ich bereits schrieb – das gesamte Symbolsystem in dem es sich befindet. Der Einfachheit halber nenne ich das jetzt einfach mal die Assoziationen, die wir mit „Rot“ verbinden. Zum Beispiel: Wärme, Hitze, Feuer, Rotes Kreuz, aber auch Liebe, Erotik und so weiter.

Und wegen der Übertragung all dieser Assoziationen sind Metaphern etwas sehr nützliches und allgegenwärtiges, da sie uns ermöglichen, die Welt neu zu strukturieren und so Verbindungen zu erkennen, die uns bislang verborgen blieben.

Warum ich das alles schreibe? Nun, weil die Metapher und wie sie funktioniert offensichtlich nicht allen bekannt ist. Zumindest schrieb Krautreporter Rico Grimm kürzlich:

Wer oder was ist ein Nazi?

Ein Nazi ist ein Nationalsozialist. Der Nationalsozialismus (NS), angeführt von Adolf Hitler, hörte mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges offiziell auf zu existieren. Wer auch nach dem Krieg nationalsozialistischen Ideen treu blieb, war ein Altnazi. Immer weniger Menschen haben heute die NS-Zeit noch selbst erlebt, deswegen gibt es auch immer weniger (Alt-)Nazis. Wenn Sie heute also jemanden hören, der einen anderen als „Nazi“ beschimpft, ist die Wahrscheinlichkeit sehr, sehr hoch, dass er Unsinn redet. Wenn Sie diese Bezeichnung auf Facebook lesen, beträgt die Unsinns-Wahrscheinlichkeit fast 100 Prozent, denn wie viele 80- bis 90-Jährige kennen Sie, die die Plattform nutzen – und dort auch kommentieren?

Offensichtlich kann sich Rico Grimm gar nicht vorstellen, dass es eine andere Verwendung als die buchstäbliche für „Nazi“ gibt. Ich frage mich, welche möglicherweise nützlichen Assoziationen ihm dabei wohl verborgen bleiben …

Alle bekloppt geworden!

Mein Wochenrückblick

Was für eine Woche in diesem Land! Was gerade abgeht, ist kaum noch zu ertragen, es macht mich nur noch traurig. Doch statt zu weinen will ich die Woche mit euch zusammenlachen:

Samstag

Ein SPD-Ortsverein wollte dann auch mal gegen Flüchtlinge demonstrieren.

Während der SWR (glaube ich) die AfD nicht in die Talkrunden zur Landtagswahl einladen will,  behauptete ein 13 jähriges Mädchen von einem Migranten vergewaltigt zu sein. Es stellte sich zwar sehr schnell heraus, dass diese Geschichte frei erfunden war, aber das ist ja noch lange kein Grund, nicht zu demonstrieren.

Ach ja, und Freiburg will Flüchtlinge nicht mehr in Discos lassen.

Sonntag

… kam raus, wer die AfD wirklich wählt:

Ergänzender Hinweis dazu:

https://twitter.com/lightsneeze/status/691174264918118400

Jedenfalls fällt AfD-Wählern diese Wahl sicher nicht schwer:

Dienstag

Der Anglizismus des Jahres 2015 wurde gewählt. Gewonnen hat „Refugees Welcome“.

Derweil kommentierte die Partei die Pläne der AfD.

Außerdem kamen lauter Meldungen von neu gegründeten Bürgerwehren.

Donnerstag

Eine christliche Kita entließ ihren syrischen Mitarbeiter auf Elternwunsch hin.

Freitag

Die CSU will gerade jeden und seinen Onkel zu einem sicheren Herkunftsland erklären, damit wir bloß keine Flüchtlinge mehr aufnehmen müssen.

Und zum krönenden Abschluss werfen „Besorgte Bürger“ mit verfickten Handgranaten(!!!) auf Flüchtlingsunterkünfte. Aber wenn man den „Besorgten Bürgern“ glauben darf, dann wurde gar nicht geworfen.

Zum Abschluss habe ich für euch mal im Archiv gewühlt:

 

12 von 12 im Januar 2016

Auch im Januar habe ich mich wieder an dieser Blogparade beteiligt und 12 Fotos von meinem 12. Tag des Monats gemacht. Los geht’s:

Wenn wir morgens um 6:45 Uhr aufstehen, ist es noch immer dunkel. Ich mag den Winter deswegen nicht so sehr, aber wenn sich so schöne Wolkenspiele bei Sonnenaufgang zeigen, dann ist das auch okay:

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Jetzt blogge ich doch tatsächlich übers Wetter! Aber dass es seit zwei Wochen mehr oder weniger am Stück regnet, nervt mich ungemein. Als ich meine Tochter (1) zur Krippe brachte, war zum Glück eine kurze Regenpause, sodass sich dieser schöne Anblick bot.
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Ich bin derzeit arbeitslos, was eher so :-/ ist. Wenn ihr eine Stelle in Frankfurt für mich habt, nur her damit. 😉 Zwischen all den Bewerbungen blieb mir da gestern aber auch noch Zeit für einen kurzen Nachruf auf David Bowie.

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Ehrlich gesagt, habe ich dann die 12 von 12 total vergessen und erst am späten Nachmittag fiel mir das wieder ein. Meine Tochter (8) ist beim Essen gerade in einer strickten Pfannkuchen- und Spaghetti-Phase, was das Kochen etwas schwierig gestaltet, besonders da Tochter (1) fast alles aber keine Pfannkuchen mag. Wir versuchen uns abzuwechseln mit Gerichten, die uns Erwachsenen schmecken und bei denen meine Tochter dann Brot isst und solchen, die ihr schmecken. Außerdem versuchen wir die beiden Optionen, die sie uns lässt, zu variieren. Daher gab es gestern Waffeln.
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Ein weiteres Problem beim Abendessen ist, dass meine Tochter (1) mittlerweile herausgefunden hat, wie sie aus ihrem Kinderstuhl aufstehen kann. Weswegen sie das Essen irgendwann – meist sehr abrupt – abbricht. Aber mit Puppe auf Papas Schoß gesellt sie sich dann doch noch einmal zu uns, was mir die Gelegenheit gab, ein Foto von ihrem wirklich saucoolen Batman-Pullie zu machen.

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Im Winter geben wir unserem Kind mal ausnahmsweise kein Heroin, auch wenn es so aussieht. Stattdessen gibt es Vitamin D, bis wieder genug Sonne scheint, damit die Haut das selbst produzieren kann.

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Dann habe ich da noch ein Projekt auf YouTube, wo ich über Philosophie quatsche und für das ich gerade meine Platon-Staffel vorbereite. Da die Dame heute ausging, hatten wir besonders früh gegessen und bevor ich die Kinder ins Bett bringen musste, hatte ich noch etwas Zeit. Da sich beide Kinder gerade selbst amüsierten, habe ich noch ein wenig in diesem Buch von Walter Bröcker gelesen. Das Buch kann ich nur empfehlen, es hat mir schon im Studium treue Dienste geleistet und ist eine exzellente Interpretationshilfe.

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Tochter (1) bekam dann noch den traditionellen Schlummertrunk …

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… bevor es ins Bett ging.

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Nachdem die Kleine eingeschlafen war, las ich der Großen noch Harry Potter vor. Wir sind beide große Fans und haben schon vier Bände durch (ich berichtete), nun schlagen wir uns gerade mit der teuflischen Professorin Umbridge herum! Doch als das Kapitel zu Ende war, war dann auch die zweite Schlafenszeit des Tages angesagt.

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Schließlich machte ich es mir auf dem Sofa gemütlich, und verbrachte meinen Abend allein ;-( damit Terminator Genysis (oder Genisys?) zu sehen. So fand ich ihn. Dazu gab es alkoholfreien Äppler, Wasser und Orange.

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Schließlich ging es auch für mich ins Bett. Ich notiere mir seit, über 10 Jahren alle Bücher, die ich gelesen habe. Nachdem ich 2014 so wenig wie noch nie gelesen habe (also Bücher, im Internet hingegen jede Menge), war ich geradezu schockiert und nahm mir vor, wieder jeden Abend vor dem Schlafengehen zu lesen. Das hat ganz wunderbar funktioniert und auch 2016 halte ich an dieser Gewohnheit fest. Herta Müllers Buch Atemschaukel ist übrigens fantastisch. Es spielt in einem russischen Arbeitslager, aber der triste Handlungsrahmen wird durch die wunderbare Sprache von Müller sehr schön kontrastiert.

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Ca. 30 Minuten nachdem ich das Buch beiseite gelegt hatte, musste ich übrigens wieder aufstehen, da meine Tochter (1) fand, sie habe nun genug geschlafen.

¯\_(ツ)_/¯

Flüchtlinge sind Vergewaltiger

Flüchtlinge sind Vergewaltiger. Und sie wurden vergewaltigt. Flüchtlinge sind Kriminelle. Und sie sind gesetzestreue Menschen. Flüchtlinge sind Sexisten. Und sie sind Femininsten. Flüchtlinge sind gewalttätig, sie sind friedlich, Islamisten, radikale Atheisten, fundamentalistische Christen, nullachtfuffzehn Moslems, Christen, Juden, Hindus, Buddhisten, Agnostiker. Flüchtlinge sind Straftäter und hochmoralisch, sozialkritisch, Spießer, sie zeigen Zivilcourage und schauen lieber in die andere Richtung. Flüchtlinge sind links, rechts, kleinkariert, großspurig, sogar CSU-Fans, oder links-grün-versiffte Gutmenschen. Flüchtlinge sind Rassisten und Humanisten, sie sind schön und hässlich, arm und reich, sie schaffen das und sind an den Grenzen der Belastbarkeit, sie lieben Star Wars und finden das zu kindisch, sie trinken Mate und sie glauben, dass das neumodische Hipsterkacke ist. Flüchtlinge haben den Koran gelesen und 50 Shades of Grey. Flüchtlinge sind böse und gut oder halt einfach normal.

Denn Flüchtlinge sind Menschen.

Wir nehmen Geflüchtete nicht auf, weil es ausnahmslos gute Menschen sind. Sondern weil sie vor Krieg und Leid fliehen und wir glauben, dass die Würde des Menschen das höchste Prinzip unserer Gesellschaft ist, der erste Satz unserer Verfassung. Der Witz an diesem Grundrecht ist, dass du es auch dann nicht verlieren kannst, wenn du ein Arschloch bist. Das nennen wir ein „unveräußerliches Menschenrecht“. Außerdem folgen aus diesem ersten Prinzip alle anderen Leitsätze unserer Gesellschaft, wie eben der sechzehnte Satz, dass jeder Mensch ein Recht auf Asyl hat, auch wenn er ein Arschloch ist! Es leitet sich auch der fünfte Satz ab, dass jeder Mensch seine Meinung frei äußern darf, auch wenn er ein Arschloch ist.

Es ist auch überhaupt kein Problem, anzusprechen, dass es kriminelle Flüchtlinge gibt. Das ist durch den fünften Grundsatz ausdrücklich erlaubt. Aber wichtig ist dabei, dass ihr es belasst beim „es gibt“. Das ist eine sogenannte Existenzaussage: Es existieren kriminelle Flüchtlinge. Das stimmt ganz unzweifelhaft.

Was aber nicht okay ist, ist daraus den Schluss zu ziehen, dass alle Flüchtlinge kriminell sind. Denn das verstößt gegen den dritten Grundsatz unserer Gesellschaft. Ferner ist das genau die Definition von Rassismus: Aus der unzweifelhaften Tatsache, dass es böse Flüchtlinge gibt zu folgern, dass alle Flüchtlinge böse sind. Und alle unsere Grundsätze sind 1949 geschrieben worden, weil wir Deutschen gerade für das schlimmste rassistische Regime der Geschichte verantwortlich waren und das nie wieder passieren sollte! Außerdem ist die Aussage, dass alle Flüchtlinge böse oder Kriminielle sind, schlichtweg falsch.

Nicht alle Füchtlinge sind Kriminelle, Sexisten, gewalttätig, Islamisten, Straftäter, Vergewaltiger, Rassisten oder böse.

Alle Flüchtlinge sind Menschen.

Buchkritik: Der Marsianer

Ich habe Der Marsianer* gelesen und muss leider sagen, ich bin nicht so begeistert wie ihr. 

Der Mars (Symbolbild)
Der Mars (Symbolbild)

Ich verstehe die Grundfaszination: Der Wissenschaftskram ist interessant und der Plott ist spannend konstruiert. Andy Weir schafft es wiederholt fast schon wie Hitchcock Spannung dadurch aufzubauen, dass er uns Informationen gibt, sodass wir dem Protagonisten gegenüber einen Wissensvorsprung haben.

Aber – ein dickes, fettes ‚Aber‘ mit Streuseln obendrauf – das Konzept, den Roman als Briefroman zu schreiben, in Form von Logbucheinträgen und Nachrichten an die NASA, geht von vorne bis hinten nicht auf: Mark Watney muss zwangsläufig den ganzen NASA- und Wissenschaftskram für Laien erklären, aber das ist total unglaubwürdig. Für den Protagonisten ist das doch alles selbstverständlich, er würde in seinem Tagebuch niemals erklären, wie die Technik funktioniert, mit der er tagtäglich hantiert. Er rechtfertigt das ganz am Anfang damit, dass er ja nicht wissen kann, wer das Tagebuch findet. Es bleibt trotzdem unglaubwürdig. Was glaubt er denn, wer es findet? AUF DEM MARS!!!

Mit fortschreitendem Buch kommt dann das Problem hinzu, dass Weir Actionszenen nicht nur nacherzählen will, sondern direkt beschreiben, damit wir nicht wissen, ob Mark überlebt. Das führt aber dazu, dass du als Leser jedesmal, wenn plötzlich der Wechsel zum allwissenden Erzähler kommt, weißt, dass Marks Plan nicht aufgehen wird.

Das nächste Problem ist, dass wirklich jeder einzelne Charakter in diesem Buch ein verdammtes Klischee ist: So findet natürlich der weltfremde Asberger-Nerd die Lösung, wie Mark zu retten ist. Natürlich trinkt der Deutsche schon zum Frühstück Bier und natürlich sind die Chinesen höflich, technisch auf hohem Niveau, haben aber ihre Kommandozentrale komplett von der NASA kopiert. Aber am meisten hat mich die Kommandantin Lewis genervt. Sie ist ein Star-Trek-Captain par excellence, die nichts unversucht ließ, um Mark zu retten und den Mars erst verließ, als es ganz doll wirklich auf jeden Fall nicht anders ging. Ich persönlich hätte ja eine moralische Grauzone spannender gefunden, aber geschenkt, es ist nicht mein Buch. Was nervt, ist, dass nachdem diese Geschichte erzählt wurde, dennoch jedesmal, wenn Lewis im Roman auftaucht, noch einmal erwähnt werden muss, dass sie aber mal sowas von überhaupt keine Schuld daran hat, dass Mark auf dem Mars gestrandet ist. Wenn ich so etwas lese, fühle ich mich als Leser nicht ernst genommen. Darf ich mir auch eigene Meinungen bilden? Nein? Oh.

Aber richtig sauer gemacht hat mich ein fettes Plottloch. Mark findet eine Möglichkeit mit der NASA zu kommunizieren, aber sie ist sehr fehleranfällig und mühsam. Wir lesen Transkripte der übermittelten Nachrichten und diese müssen mühselig entziffert werden. Doch dann schickt ihm die NASA auf diesem Weg ein Stück Code, das er in seinen Computer eingeben soll und danach können sie besser kommunizieren. Das klappt. Auf Anhieb … ? … ?! WHAT THE FUCK?!?! Vorher konnte er nicht ein Wort fehlerfrei transkribieren, aber ausgerechnet beim Code funktioniert das? Jede, die auch nur mal eine CSS-Datei editiert hat, weiß, dass ein Fehler reicht und nichts funktioniert. Ein Code ist eine eineindeutige Zurordnungsvorschrift, jedes einzelne Zeichen ist bedeutungstragend.

Gut, man könnte jetzt sagen, das war nur eine Auslassung, die ganzen Korrekturdurchläufe wurden einfach nicht erzählt. Das lasse ich aber nicht gelten bei einem Roman, der über Dutzende von Seiten erzählt, wie sein Protagonist aus der eigenen Scheiße Ackerboden macht!

Nein, ich war milde enttäuscht vom Marsianer.

 

*Hinterhältiger Affiliate-Link: Wenn ihr das Buch kauft, bekomme ich eine winzige Provision und freue mich.

Die weihnachtliche Matriarchin

Fünf Weihnachtsfeste – Nummer 4 von 5 – Weihnachten in den 2010ern

Sie war eine Matriarchin. Ihr Mann war lange tot und sie lebte allein in dem 50er-Jahre-Haus, in dem seit 50 Jahren sich nichts mehr verändert hatte, in einer Stadt im Harz, die seit 50 Jahren im Niedergang begriffen war. Im düsteren Flur ihres düsteren Hauses hing an einem fransigen Schlüsselband ein längst verblichener Mitgliedsausweis irgendeines CDU-Parteitags.

Die Dame, also meine Dame, hatte Weihnachten wie in ihrer Kindheit feiern wollen. Daher waren wir mit unserer Tochter, ihr Bruder mit seinem Sohn und der Großvater zur Urgroßmutter in den Harz gefahren. Nur die geschiedene Mutter der Familie blieb fern und mit ihr auch jegliche Illusion, die Kindheitserinnerung der Dame wieder aufleben zu lassen.

Das Wochenende war eigentlich ganz gut angegangen. Okay, ehrlich gesagt hatte es eher so mittelgut begonnen: Wir wurden vom ungezogensten Hund, den ich je kennenlernen durfte, begrüßt, indem er gefühlte fünf Stunden an uns hochsprang und dabei so laut bellte, dass jede Unterhaltung unmöglich war. Abends musste die Matriarchin unbedingt ihre Rosamunde-Pilcher-Verfilmung gucken. Dies tat sie in einer solchen Lautstärke, dass eine Unterhaltung für uns andere wiederum unmöglich war. Aber sonst lief es ganz gut.

Doch am Morgen des Heiligen Abends kam meine Tochter weinend ins Gästezimmer. Die Uroma habe ihr wehgetan, sie sogar geschlagen! Nach unserem ersten Schock bekamen wir irgendwann heraus, dass die Matriarchin ihre Urenkelin wohl auf Alte-Menschen-Art hatte auf die Wange tätscheln wollen und dass die Gischt-durchtriebenen Finger sich dabei wohl in der Stärke vertan hatten.

Ich dachte mir, dass das kleine Missverständnis sich doch bestimmt aus der Welt räumen ließe, nahm meine Tochter bei der Hand und ging ins angestaubte Wohnzimmer. Ich sagte der Uroma, dass sie meiner Tochter wehgetan habe und dass ich mir sicher sei, dass sie das nicht beabsichtigt habe und dass sie dies doch meiner Tochter sagen solle und sich entschuldigen möge für die verursachten Schmerzen, damit kein Schatten auf der Beziehung über Generationen hinweg liege. Bewusst formulierte ich butterweich, damit sie nicht glaube, ich mache ihr den Vorwurf der Kindesmisshandlung.

Doch mit dem, was dann folgte, hatte ich wirklich nicht gerechnet. Die Matriarchin fuhr aus der Haut. Aber so etwas von! Sie lasse sich diese Anschuldigung nicht gefallen, was mir denn einfiel so mit ihr zu reden, sie in ihrem eigenen Haus zu kritisieren und überhaupt solle meine Tochter sich nicht so anstellen, sprach sie und rauschte aus dem Zimmer. Ich war einfach nur sprachlos.

Den Rest des Tages wichen die Matriarchin und ich uns aus und sprachen kaum miteinander. Nach unserer „Auseinandersetzung“ – ich traue mich fast nicht das so zu nennen, denn was da geschehen war, war so bizarr und ihr Ausbruch so aus dem Nichts gekommen – war sie erst einmal aus dem Haus gerauscht und hatte sich Zigaretten gekauft. Nun sahen wir sie meist griesgrämig guckend auf der Terrasse sitzen und rauchen.

Doch bevor mein Konflikt mit der Matriarchin die nächste Brennstufe erreichte, geschah noch etwas anderes, nicht weniger bizarres an diesem Weihnachtsfest. Die Dame, meine Tochter und ich gingen vor der Bescherung noch zum Kindergottesdienst. Wir bekamen einen Platz in der ersten Reihe mit einer hervorragenden Sicht auf das weniger hervorragende Spektakel. Kurz bevor das Krippenspiel und mit ihm die Christmesse beginnen sollten, rauschte ein Mann in mittleren Jahren mit langem Mantel durch den Mittelgang, kniete vor dem Altar nieder und begann inbrünstig zu beten. Wir dachten zunächst, das sei Teil der nun kommenden Inszenierung. Doch dann kam die Pfarrerin der protestantischen Gemeinde und begann mit dem Mann zu sprechen. Sie versuchte ihn vom Boden aufzuhelfen und an den Rand zu geleiten, damit die Kinder ihre Show abziehen konnten. Indes sah der Mann gar nicht ein, zu gehen. Stattdessen verstärkte er mit jedem Versuch der Pfarrerin, ihn hinwegzukomplementieren die Lautstärke seiner von Herzen kommenden Gebete. Rasch sprangen zwei Bauern mit breiten Kreuzen und roten Gesichtern der Pfarrerin bei und zerrten den nunmehr schreiend Betenden aus der Kirche. Ich habe wirklich noch nie eine so unchristliche Aktion an Weihnachten gesehen. Wobei ich ehrlich zugebe, dass ich nicht weiß, was ein angemessenes Verhalten gewesen wäre. Es war bizarr.

Als wir wieder im Haus der Matriarchin eintrafen, sollte eigentlich die Bescherung beginnen. Doch stattdessen zitierte mich die Matriarchin in die Küche. Sie schloss die Tür. Dann begann sie eine Rede herunterzurasseln, die sie sich offensichtlich vorher zurecht gelegt hatte – wahrscheinlich während sie zornig rauchend auf der Terrasse saß. In vielfacher Ausführung legte sie mir zornig dar, dass es mir an Respekt mangele, dass ich mich unter ihrem Dach befinde und dass sie so nicht mit sich reden lasse. Einmal wagte ich, nachzufragen, was ich eigentlich gesagt habe, dass sie dermaßen entsetzte. Doch sie schleuderte mir nur entgegen, dass sie darüber nicht diskutiere und wiederholte alle ihre Vorwürfe ein Dezibel lauter.

In dem Moment resignierte ich, schaltete ab, ließ die alte Frau reden und bemitleidete sie nur noch dafür, dass ihre starren Regeln von Ehre und Respekt, von denen der Stuck des 19. Jahrhunderts abbröckelte, gerade dafür sorgten, dass sie in den wenigen ihr noch bleibenden Jahren ihre Urenkelin nie wieder sehen würde. Denn ein Haus, in dem man mir den Mund verbot ohne mir überhaupt zu sagen, warum, würde ich und mit mir meine Tochter sicher nie wieder betreten.

Krebs zu Weihnachten

Fünf Weihnachtsfeste – Nummer 3 von 5 – Weihnachten in den 2000ern

Krebs. Fuck. Da saß ich nun am 23.12. allein in meiner Wohnung in Aachen, draußen wirbelten die Schneeflocken – es würde zum ersten Mal seit Jahren weiße Weihnachten geben – und meine Mutter hatte mir eben am Telefon verkündet, dass mein Vater Krebs hatte und noch am nächsten Tag, am heiligen Abend operiert werden musste.

Die ganze Familie wusste es schon lange. Nur mir hatten sie es nicht gesagt. Ich war Mitte 20, wohnte 400 Kilometer entfernt in meiner eigenen Wohnung, wusch meine Wäsche selbst, studierte und jobbte nebenher und dennoch sah meine Mutter in mir noch immer das Nesthäkchen der Familie, das es vor bösen Nachrichten zu beschützen galt, weswegen sie mich vor dieser Hiobsbotschaft hatte verschonen wollen. Erst, als es nicht mehr ging – da ich am nächsten Tag in den Zug steigen würde, um in mein Mittelhessisches Kaff zu fahren – da rief sie an und berichtete mir, dass ich morgen meinen Vater nicht oder wenn, dann nur auf der Intensivstation sehen werde.

Es war ein hartes Jahr am Ende einer Reihe harter Jahre für mich gewesen. Ich war nach dem Zivildienst nach Aachen gezogen. Alleine. Ich war zum ersten Mal seit dem Kindergarten nicht mehr mit meinen beiden besten Freunden zusammen. Wir waren auf alle drei Schulen gemeinsam gegangen und hatten sogar den Zivildienst an der gleichen Sonderschule gemacht. Doch dann war Schluss. Wenn man, wie wir 16 Jahre lang durch Kindheit und Pubertät hindurch befreundet ist, dann ist die Freundschaft mal dicker und mal dünner. Aber die beiden nicht länger quasi täglich zu sehen, war eine merkwürdige Erfahrung.  C. war für ein Jahr nach Australien gegangen und M. wie die Hälfte unseres Abi-Jahrgangs nach Berlin.

Mich zog es nach Aachen. Na ja, eher trieb es mich dorthin – Odysseus-Style. Natürlich hatte ich mich auch in Berlin um einen Studienplatz beworben. Mit meinem Abischnitt von 1,7 sollte das ja kein Problem sein. Ja, Pustekuchen! Ich wurde zum Nebenfach Philosophie zugelassen und solle beim Immatrikulieren einfach mal schauen, was sonst noch so frei sei. So machten es die anderen. Na vielen Dank. Leipzig sagte ab, in Hamburg und Aachen kam ich auf die Nachrückerlisten.

Nur aus Freiburg bekam ich eine Zusage. Ich also ab in den Süden gefahren, um mich zu immatrikulieren und eine Wohnung zu suchen. Dass ich für die Dauer meiner Wohnungssuche keinen Platz in einer Jugendherberge, kein Zimmer und keine Pension in der Innenstadt fand, machte mich stutzig. Ich musste mir ein Zimmer in einem Kaff im Speckgürtel der Stadt suchen, da alles in der Innenstadt zu teuer oder ausgebucht war.

Wie sich herausstellte, war der Wohnungsmarkt noch schlimmer  als der für Touristen. Es gelang mir schlichtweg nicht, eine Wohnung zu finden, die ich mir halbwegs leisten konnte. Später erfuhr ich von einer ehemaligen Klassenkameradin, dass es ihr ähnlich ergangen war, sie sich in einem Schwarzwaldkaff eingemietet hatte, täglich nach Freiburg pendelte und die Augen offenhielt, bis sie ein WG-Zimmer fand.

Ich zögerte und haderte. Doch als eines Tages eine Zusage aus Aachen reinflatterte, ließ ich Freiburg sausen und landete schließlich im äußersten Westen der Republik, im Dreiländereck. Jedem Politiker, der gerade wieder davon faselt, die Grenzen zu schließen, sollte man mal einen Trip nach Aachen empfehlen und ihm zeigen, wie Europa wirklich geht. Die Vorstellung dort die Grenzen dichtzumachen ist einfach nur absurd.

Jedenfalls war der Neustart für mich schwer. Ganz allein in dieser Stadt. Ich wohnte im verrufenen Aachener Ostviertel in einer Mischung aus WG und Apartment – Wir teilten uns das Bad, aber die einzelnen Zimmer hatten quasi Wohnungstüren und Küchenzeilen. Warum auch immer … Meine Vermieterin kümmerte sich kaum um die Wohnung, alles war am verfallen. Zwei der fünf Zimmer standen leer, weil es reinregnete. Zwei weitere wurden von meinem einzigen Mitbewohner in Beschlag genommen, der ein übler Messi war und auch den Rest der Wohnung mit seinem Zeug vollstellte, von dem er die Hälfte daließ, als er nach einem halben Jahr oder so auszog.

Obwohl ich eine spätere gute Freundin, mit der ich in ein paar Jahren noch in eine WG ziehen sollte, schon in meiner ersten Woche an der Uni kennenlernte, brauchte ich insgesamt lange, um Freunde zu finden. Ich war einsam. Doch irgendwann ergab sich alles, wie sich immer alles ergibt. Doch als für mich schließlich alles rosig war, merkte ich, dass ich nicht das Zentrum des Universums war. Innerhalb meines Freundeskreises verliebte sic hder falsche Junge in die falsche falsche Mädchen, eine WG, die ein Anker dieser Clique war, zerbrach und ehe ich mich versah, waren drei Viertel meines Freundeskreises auch schon wieder aus Aachen verschwunden und das Gefühl der Einsamkeit stellte sich wieder ein.

Die Vorlesungszeit war in diesem Jahr ungewöhnlich lange gegangen und aus einem Grund, an den ich mich nicht mehr erinnere, konnte ich auch nicht den Ferris Bueller machen, sondern musste bis zum bitteren Ende auf den harten Holzbänken sitzen. Doch jetzt war das alles egal, waren meine eigenen Probleme und Sorgen plötzlich so nichtig und klein, als stammten sie aus einem Reinhard-Mey-Lied. Krebs. Mein Vater hatte Krebs.

Am 24. schulterte ich meinen Reiserucksack und fuhr mit der Bahn in mein mittelhessisches Kaff. Ich weiß noch, dass die Bahnfahrt aufgrund des anhaltenden Schneefalls das reinste Chaos war. Die Deutsche Bahn hielt sich an ihre Klassiker: Verspätungen, Zugausfälle und überfüllte Wagen. Von Köln an musste ich stehen und ständig drängten noch mehr Menschen in den Wagen, bis es so eng war, dass ein Autist in meiner Nähe einen Overload bekam. Stumm beobachtete ich, wie komisch die anderen Menschen reagierten. Manche waren angewidert, andere versuchten den jungen Mann zu beruhigen. Ich erinnere mich noch, dass mir auffiel, dass alle den Mann dutzten. Ein bisschen abnormes Verhalten und schon verliert man sein Anrecht auf das ‚Sie‘, dachte ich mir. Keine Ahnung, ob das stimmt oder nur schön klingt.

Als ich in meinem Elternhaus ankam, war die Stimmung gespannt, aber mit Blick auf die Umstände recht gut. Die Operation war gut gelaufen, meine Mutter hatte meinen Vater bereits besucht und am Nachmittag durften wir auch kurz auf die Intensivstation des Kreiskrankenhauses. Es war bereits dunkel, als wir drei Kinder nun alle Erwachsen durch den Schnee, den Berg hinauf stapften, auf dem das Krankenhaus meiner Geburtsstadt auch heute noch steht. Ich habe so gut wie keine Erinnerungen mehr an die Intensivstation. Obwohl ich dieses Krankenhaus kenne, selbst schon dort lag und auch oft andere besucht hatte, weiß ich nicht mehr, wo wir langgingen, was wir tun mussten, um uns von Keimen zu befreien und wie dicht wir an unseren Vater heran durften. Alles woran ich mich noch erinnere, ist der Anblick dieses Mannes, der immer meine Welt getragen hatte, der für alle meine Probleme Lösungen hatte und der mir mir immer alles hatte erklären können, das ich nicht verstand. Er war so klein. Er war so zerbrechlich.

Aber es ging ihm – wieder den Umständen entsprechend – gut, sodass meine Geschwister, meine Mutter und ich erlöst den Heiligabend begehen konnten. Mein Bruder holte uns eine Flasche Rotwein aus dem Weinkeller meines Vaters. Er suchte extra eine Flasche aus, von der es insgesamt drei gab. Natürlich war es die falsche und als mein Vater aus dem Krankenhaus entlassen wurde, klärte er uns auf, dass wir einen recht teuren Wein weggesoffen hatten, den er extra zum Einlagern und Reifenlassen oder was auch immer gekauft hatte.

Heute, mehr als ein Jahrzehnt später, geht es meinem Vater gut.

Ich verblogge meine Erinnerungen an fünf Weihnachtsfeste. Vielleicht interessiert euch auch, wie ich Weihnachten in den 90ern als Teenager oder in den 80ern als Kind erlebte.

Ausgehen am Heiligen Abend

Fünf Weihnachtsfeste – Nummer 2 von 5 – Weihnachten in den 1990ern

Weihnachten war und ist bei uns eine so streng familiäre Angelegenheit, als handele es sich bei uns um den Cast von Star-Wars-Filmen. Schon als Kind hatte ich Höllenqualen durchzustehen, weil meine Eltern nicht wollten, dass ich bereits am ersten Weihnachtsfeiertag meine neuen Schätzen meinen Freunden vorführte. Frühestens am zweiten Feiertag konnte ich einen zaghaften Versuch wagen, die familiäre Trutzburg zu durchbrechen und hinaus die Freiheit der mittelhessischen Kleinstadt und dann weiter zu meinen Freunden zu gelangen.

Schlimmer wurde das noch, als ich in die Pubertät kam und begann, abends wegzugehen. Meine Kumpels erzählten, wenn ich sie dann zwischen den Jahren endlich wiedersah, wie cool der Heiligabend gewesen war und ich hatte nur die familiäre Langeweile und bestensfalls noch eine Sichtung von Stirb Langsam im Spätprogramm zu bieten. In meinem mittelhessischen Kaff gab es die Tradition, dass sich nach der Bescherung und dem Essen die Dorfjugend in einer bestimmten Kneipe traf, um dort die heilige Nacht mit reichlich Alkohol ausklingen zu lassen. In diesem Kaff gab es auch nur 1,35 Kneipen, in die man unironisch gehen konnte und nicht auch noch Gefahr lief, einem Bekannten der eigenen Eltern oder gar Lehrer der städtischen Gesamtschule zu begegnen. Mir aber blieb Jahrelang diese eine Freude des heiligen Abends vorenthalten.

Es war ja auch längst nicht mehr so, dass Weihnachtsfeste bei uns noch immer die großen Familienereignisse waren. Mein sechs Jahre älterer Bruder war längst ausgezogen und hatte mittlerweile seine eigene Familie. Er kam nur noch am zweiten Weihnachtsfeiertag vorbei, sodass nur meine Schwester und ich mit Eltern und der Großma („das lohnt sich doch alles gar nicht mehr“) unterm Baum hockten, sofern meine Schwester nicht gerade bei einem ihrer Auslandsaufenthalte war.

Schließlich kam aber ein Weihnachtsfest, an dem ich aus meinem Leid fliehen konnte wie Kurt Russell aus New York, indem ich aus dem Leid eines meiner Freunde meinen Nutzen zog. Die Eltern jenes Freundes hatten sich gerade scheiden lassen. Einige Monate zuvor hatten wir uns beide noch darüber ausgetauscht, dass sowohl seine, als auch meine Eltern nun getrennte Schlafzimmer haben. „Ja, meine Mutter ist genervt davon, dass mein Vater immer schon vor fünf Uhr wach wird“, sagte ich. „Das soll angeblich auch deren Beziehung helfen“, sagte er. Meinen Eltern hat es anscheinend geholfen, zumindest sind sie noch heute ein Paar, seinen nicht …

Aus irgendeinem Grund, an den ich mich nicht mehr erinnern kann, war dieser Freund dann am Heiligabend komplett allein zu Hause. Das war meine Chance! Das alljährliche, christliche Besäufnis fand mal nicht in der Kneipe statt, sondern in einem 70er-Jahre-Einfamilienhaus in einer Straße mit Blumennamen. Das war meine Gelegenheit: Endlich konnte ich auch mal am heiligen Absacker teilhaben. Alles, was ich dazu tun musste, war, die Wahrheit ein kleines Bisschen zu strecken. So erzählte ich meiner Mutter, wie schlecht es meinem Freund ging – was sicher auch stimmte, wenngleich wir testosteronsprotzenden Teenager nicht im Traum daran dachten, uns das anmerken zu lassen. Doch als echte Freunde, erläuterte ich meiner Mutter, hatten wir beschlossen, dass wir ihn an diesem Abend nicht allein lassen dürfen. Daher wollten wir in kleiner Runde noch bei ihm zusammenkommen, um ihm in dieser schweren Zeit beizustehen. Dem konnte meine Mutter natürlich nichts entgegensetzen sodass ich nach Bescherung und Essen mich schließlich vom Acker machen durfte.

Wenn ich das so recht bedenke, dann war das eigentlich gar keine Lüge. Gut, die Runde war etwas größer als klein und ich verschwieg meiner Mutter auch, dass Alkohol und THC mindestens genauso für uns da waren wie unsere Freundschaft, aber im Grunde war es eine sehr christlich-weihnachtliche Angelegenheit. Ein Freund machte eine schwere Zeit durch und wir waren auf unsere Art und Weise für ihn da. So, wie das wahrscheinlich nur Teenager können.

Falls Ihr im Kontrast dazu die Geschichte eines Weihnachtsfests aus meiner Kindheit nachlesen wollt, dann werdet ihr hier fündig.