Harry Potter und der Schock am Ende

Ein halbes Jahr ist vorbei und das bedeutet natürlich: Es ist Potter-Time!

Wicked!

Hier noch einmal kurz erklärt, was das ist … Ich lese meiner Tochter (jetzt ist sie 8) jedes halbe Jahr einen Potter-Band vor, damit sie mitwachsen kann, schließlich werden die Geschichten zusehends gruseliger. Und dieser Teil hat auch gezeigt, dass unser Vorgehen keine schlechte Idee war, aber der Reihe nach … Nachdem wir den Band gelesen haben, erzähle ich dann euch, wie es für mich war und was mir aufgefallen ist. Bisher machte ich das schon zu:

  1. Harry Potter und die Löcher im Plott
  2. Kommissar Potter ermittelt
  3. Harry Potter und die gruseligste Nebensache der Welt

Und jetzt also auch zu Harry Potter und der Schock am Ende aka. Harry Potter und der Feuerkelch. Und ich sage euch: Puuh, war das ein Schock. Ach ja, allen, die in den letzten 15 Jahren mit der Aufzucht von knallrümpfigen Krötern beschäftigt waren, sei gesagt, dass ich Spoilern werde.
I don't care

Jedenfalls habe ich auf der Rückfahrt aus unserem Sommerurlaub fast die ganze Zeit Potter vorgelesen. Das war einerseits sehr gut, denn wir hatten eine Panne und waren dadurch ewig unterwegs. Die Zeit wurde uns aber durch die spannende Entwicklung im Buch verkürzt. Andererseits habe ich mich dann am Ende über mich selbst geärgert. Denn zu dem Zeitpunkt, als der Trimagische Pokal sich als Portschlüssel herausstellt, war es in unserer Welt schon weit nach neun Uhr und meine Tochter entsprechend übermüdet.

Da hätte ich aufhören sollen, zu lesen, denn ich wusste ja, was folgt. Aber fast alle im Auto bettelten mich schier an, jetzt wäre es doch so spannend, jetzt könne ich doch nicht aufhören. Also habe ich weitergelesen und kurz darauf hauchte es rechts von mir entsetzt: „Cedric ist tot?!“.

crying

Der Schock saß tief und ich konnte meine Tochter nicht trösten, da wir mittlerweile zu Hause angekommen waren und ich das Auto ausräumen musste, denn es gehörte dem Opa und der wollte noch weiterfahren, um in sein eigenes Bett zu kommen. Die Dame war – falls Sie sich wundern – gerade damit beschäftigt, mit unserer anderen Tochter (1) zu verhandeln, da diese nicht amüsiert darüber war, dass wir so dreist ihren Schlaf unterbrochen hatten, um sie aus dem bequemen Autositz in dieses total überbewertete Bett zu bringen.

Aber keine Sorge: Nachdem ich unsere drölfzig Taschen und Koffer hochgetragen hatte, hatte ich mit meiner Tochter (8) noch ein langes Gespräch über Höhen und Tiefen in Büchern, warum Autoren liebgewonnene Charaktere sterben lassen und dass es voll in Ordnung ist, dass einem das sehr traurig macht. Sie schlief in der Nacht noch gut, nach ein paar Tagen Abstand hörte sie sich auch gerne noch den Schluss des Buches an und jetzt freut sie sich schon auf Band fünf, bei dem ich schlauer vorgehen werde …

Drei Erzählstränge

Aber jetzt erst einmal der Reihe nach! Wie gewohnt, will ich den Potter in all seinen dreckigen kleinen Details hier zerrupfen.

„Madam Pomfrey wird ganz entzückt sein“, sagte Professor Sprout und stöpselte die letzte Flasche mit einem Korken zu. „Ein hervorragendes Mittel gegen die hartnäckigeren Formen der Akne, dieser Bubotubler-Eiter. Sollte einige von euch, die ihre Pickel loswerden wollen, von Verzweiflungstaten abhalten.“

Potter ist nun endgültig kein Kind mehr und das merkt man in allen drei Erzählsträngen, die das Buch bereithält (unzählige Nebenhandlungen nicht mitgerechnet). Der erste Strang ist die Coming-of-Age-Geschichte, hier keimt zaghaft die Liebe auf, es geht um Idole und Kindheitstraumata. Keine Frage, die Pubertät ist da.

„Hier wurde ein kraftvoller magischer Gegenstand ausgetrickst!“, sagte Moody. „Ein ungewöhnlich starker Verwechslungszauber war nötig, damit dieser Kelch vergisst, dass nur drei Schulen am Tunier teilnehmen … Ich vermute, dass Potters Name für eine vierte Schule eingeworfen wurde, denn dann galt er als deren einziger Kandidat …“

Der zweite Strang ist ein fantastisch ausgetüftelter Whodunit, mit unzähligen Hinweisen zur Lösung, einem Red Herring in Form von Ludo Bagman und einem kunstvoll eingewobenen Nebenplott rund um Rita Kimmkorn. Das Ganze ist so komplex, dass du schon eine gewisse geistige Reife brauchst, um da noch durchzusteigen – nix für Kinder.

„Da hast du es, Harry!“, rief Ron durch den Trubel. „Du warst überhaupt nicht blöde – du hast moralisches Rückgrat bewiesen!“

Der dritte Strang ist nicht der Durmstrang sondern das eigentliche Abenteuer. Und das ist leider das Schlechteste seit dem ersten Teil. Allerdings ist es auch viel düsterer als alle drei Bände zuvor und damit sind wir eben auch einen Schritt aus dem Kinderbuch hinaus getreten.

Das Abenteuer

Diese Düsternis zeigt sich schon auf den ersten Seiten: Die obligatorische Dursley-Comic-Relief-Episode lässt zunächst noch auf sich warten, an ihrer statt sind wir bei keinem geringeren als „Du weißt schon wem“ und das Buch braucht nur 20 Seiten, da haben wir auch schon den ersten Toten.

Avada Kedavra

Rowling hält den Wechsel zwischen albernen Slapstick-Einlagen und ernsten Passagen während des ganzen Buches über aufrecht. Hierbei gefällt mir besonders gut, dass sie die Dichotomie zwischen den guten Zauberern und den Schwarzmagiern aufhebt, indem sie der früher noch hell strahlenden Zaubererwelt nun einige Schrammen verpasst: Mit den Hauselfen und den Riesen wird etabliert, dass das offizielle Regime auch seine rassistischen Ressentiments hat und der Schritt zur „Reinblüterlehre“ nicht so groß ist, wie es offiziell immer hieß. Zudem wird am Beispiel von Crouch Sr. gezeigt, dass man auch gegen den dunklen Lord sein kann und trotzdem moralisch nicht astrein.

Insgesamt werden auch die Dimensionen der Geschichte größer, es geht nicht mehr nur um den kleinen Harry, seine toten Eltern und den Schulalltag, stattdessen wird hier eine Geschichte mit Auswirkungen auf die ganze Zaubererwelt erzählt, was sehr schön mit der Quidditch-Weltmeisterschaft zu Beginn symbolisiert wird und damit, dass wir nun auch von anderen Zaubererschulen erfahren.

Rowling führt unzählige neue Elemente ein. Manche ganz explizit, wie die Todesser, die Auroren, das Dunkle Mal (sowohl am Himmel als auch am Arm), die unverzeihlichen Flüche inklusive der wichtigen Information, dass man sich gegen Avada Kedavra nicht verteidigen kann. Wir erfahren mehr Backstory zu Neville, Hagrid und vor allem Snape, dessen Mysterium weiter angeteasert wird, so erfahren wir, dass er Todesser war, ihn aber irgendetwas dazu veranlasste die Seiten zu wechseln, etwas, wegen dessen Dumbledore ihm bedingungslos vertraut.

Und warum … warum … war Dumbledore so überzeugt, dass Snape auf seiner Seite war?

Dann gibt es Aspekte, die uns J. K. Rowling uns vermeintlich erklärt, von denen wir aber in späteren Bänden erfahren, dass sie nur die Spitze des Eisbergs sind, so Harrys Narbe,  Harrys Zauberstab und seine Verbindung über beide zu Voldemort, die Geschichte von Voldemorts Eltern oder das Denkarium.

Bei diesen Worten erinnerte sich Harry, als wäre es in einem früheren Leben gewesen, an den Duellierklub in Hogwarts, den er vor zwei Jahren für kurze Zeit besucht hatte … alles, was er dort gelernt hatte, war der Entwaffnungszauber, Expelliarmus … Und selbst wenn es ihm gelingen sollte, Voldemort den Zauberstab zu entreißen, was würde es ihm nützen …?

Schließlich gibt es dann noch Aspekte der Geschichte, die Rowling nur so lapidar streift, dass sie dir leicht entgehen können, wie der der Zauber, der auf dem Haus der Dursleys liegt, Aberforth Dumbledore oder dass Albus Dumbledore einmal einen Patronus als Boten einsetzt.

„Was ich war – nicht einmal ich selbst weiß es … Ich, der ich weiter als alle anderen gegangen bin auf dem Weg, der zur Unsterblichkeit führt.“

Man merkt viel mehr noch als bei den Bänden zuvor, dass Rowling hier dabei ist, etwas wirklich großes zu erschaffen. Folgerichtig leitet sie die Handlung von Band 5 gewissermaßen schon ein, indem sie am Ende Fudge sich weigern lässt, die Rückkehr von Voldemort zu akzeptieren.

Aber Moment mal: Ich hatte doch gesagt, dass dieser Teil des Buches eher schlecht ist … Tja, das Dumme ist, dass Rowling das alles auf dem Rücken eines eher dämlichen Sporttuniers austrägt und obendrein der ganze Plan von Crouch Jr., – um Harry Voldemort zuzuführen – hanebüchend ist. Ich meine: Die Wahrscheinlichkeit war doch verschwindend gering, dass dieser überkomplexe Plan, sich als Moody zu verkleiden, um Harry ein Jahr lang durch ein saugefährliches Turnier zu lotsen, an dessen Ende er nicht bloß – wider aller Vernunft – überlebt haben muss, sondern auch den Hauptpreis gewinnen muss, damit er zu Voldemort gelangt. Wie wäre es stattdessen gewesen, sich Harry zum Beispiel einfach zu schnappen, während er durch Hogsmeade schlendert? Pfff … Nein, das ist nicht das Niveau, das ich von Rowling erwarte, damit ist sie wieder zurück beim Hindernisparkour aus dem ersten Band.

Der Whodunit

„Oh, wenn es eins gibt, das ich hasse“, murmelte er, mehr zu sich selbst als zu Harry gewandt, und sein magisches Auge fixierte die linke untere Ecke der Karte, dann ist es ein Todesser, der entkommen ist und frei herumläuft …“

Großartig ist hingegen der Whodunit, also die Klärung der Frage, wer denn eigentlich Harry ins Turnier geschmuggelt hat. Rowling wedelt quasi die ganze Zeit mit Hinweisen unter unserer Nase herum, die wir nicht verstehen, die sich aber am Ende zu einem perfekten Puzzle zusammensetzen. Das beginnt mit dem Portschlüssel, der am Anfang als Chekhov’s Gun eingeführt wird, einfach als die nächste bescheuerte Art und Weise, wie Zauberer reisen und der sich am Ende als essentiell herausstellt.

Dann stößt sie uns immer wieder, ganz unauffällig auf das Verschwinden von Bertha Jorkins, und lässt den vermeintlichen Moody erklären, dass sein Spickoskop angeblich kaputt ist, obwohl sie den gleichen Trick schon im dritten Band verwendet hat! Besonders elegant sind einerseits die Karte des Rumtreibers, auf der Harry Barty Crouch in Snapes Büro sieht und sie uns dabei einen entscheidenden Hinweis gibt, mit dem sie zugleich einen falschen Verdacht auf Snape lenkt. Anderseits lässt sie dann Harry ins Denkarium blicken und dort erfahren, dass es noch einen Barty Crouch Jr. gibt, und zugleich lenkt sie davon ab, indem sie enthüllt, dass Ludo Bagman für Voldemort spioniert hat – Bagman, den sie schon die ganze Zeit mit verdächtigem Verhalten als Red Herring aufgebaut hat.

Der Geniestreich ist aber, dass sie den falschen Moody die ganze Zeit sich selbst enthüllen lässt, ohne dass wir es bemerken. Das beginnt mit dem vermeintlich paranoiden Überfallsverdacht auf ihn zu Beginn des Buches, geht mit dem omnipräsenten Flachmann weiter, über die schon erwähnten Hinweise des Spickoskops und der Karte bis hin zu Moodys ungewöhnlich passendem Auftauchen im Verbotenen Wald kurz nachdem Crouch Sr. angegriffen wurde.

Ich meine: Hallo! In dem ganz oben von mir wiedergegebenen Zitat lässt sie den falschen Moody buchstäblich erzählen, wie er Harrys Namen in den Feuerkelch geschmuggelt hat! Daran hatte ich einen diebischen Spaß und nur ganz leicht wurde er dadurch getrübt, dass Crouch Jr. wohl Method-Actor ist und etwas zu sehr in der Rolle des Moodys aufgeht. Zumindest macht es wenig Sinn, dass er Malfoy in ein Frettchen verwandelt und gar keinen, dass er Harry sogar beibringt, sich gegen den Cruciatus-Fluch zu wehren!

Applaus!

Pubertät

es war erstaunlich, wie viele Mädchen auf einmal Hogwarts bevölkerten; bisher war ihm das noch nicht so richtig aufgefallen. Mädchen, die in den Gängen kicherten und tuschelten, Mädchen, die lachten und kreischten, wenn Jungen an ihnen vorbeigingen, Mädchen, die ganz aufgeregt Zettel verglichen, auf denen stand, was sie am Weihnachtsabend tragen wollten …

Der Coming-of-Age-Strang ist auch toll! Gut, die Dreierclique streitet schon wieder … Erst Harry und Ron und dann Ron und Hermine, das nervte ja schon im dritten Band. Außerdem wandert Harry einmal mehr durch Täler und über Höhen der Beliebtheit. Aber insgesamt ist alles super und mein persönlicher Höhepunkt ist der Moment, in dem Ron versucht Ginny mit Harry für den Ball zu verkuppeln und Ginny absagen muss, weil sie schon Neville zugesagt hat. Da ist sie nach vier Jahren der Unerreichbarkeit der Erfüllung ihrer Träume soooo nah und dann das! Neville!!
Ginny!

Nitpicking

Aber meine Harry-Potter-Rezension wäre nicht vollständig ohne mein obligatorisches Nitpicking. Hier kommen 10 total unwichtige Kleinigkeiten, die mich tierisch nerven:

1. Diese Uhr der Weasleys, die immer die Position von jedem Familienmitglied anzeigt. Das ist nicht nur ein Datenschutzdesaster, obendrein auch noch total unpraktikabel! Es ist eine Analoguhr, die somit eine begrenzte Anzahl an Anzeigemöglichkeiten für eine unbegrenzte Anzahl an Situationen hat. Zum Beispiel: Wenn Bill im Fuchsbau ist, zeigt sie „zu Hause“ an. Aber was zeigt sie, wenn er in seiner Wohnung in Ägypten ist …
2. A propos: Warum wird da eigentlich so ein Geschiss drum gemacht, dass Bill und Charly im Ausland leben. Es ist ja nicht gerade so, als würde es Zauberern an Möglichkeiten mangeln, schnell von A nach B zu gelangen …
3. Zauberer/innen sind altmodisch, soviel habe ich verstanden. Aber Pergament und Federn? Echt jetzt? Wie viele Tiere werden wohl gehäutet, damit die Schüler in Hogwarts genug Schreibmaterial haben? Und ich weiß: Füller sind Muggelkram, aber mindestens einmal pro Buch geht ein Tintenfass prominent kaputt, vielleicht wären Füller doch eine gute Idee. Zauberer/innen haben ja auch kein Problem mit Schuhen, zum Beispiel …
4. Erwähnte ich schon einmal, dass Slytherin ein echtes Image-Problem hat? Ernsthaft – jemand sollte denen mal eine gute PR-Agentur vermitteln.
5. Hagrids Unterricht suckt! Aber das lässt Rowling Hermine wenigstens mal ansprechen …
6. Hagrid verfüttert Drachenleber an seine knallrümpfigen Kröter. Ernsthaft? Drachenleber? Und wir kritisieren Japan für das bisschen Walfang!
7. Ich zitiere:

„Dobby ist zwei lange Jahre durch das Land gereist, Sir, und hat versucht Arbeit zu finden“, quiekte Dobby. „Aber Dobby hat keine Arbeit gefunden, Sir, weil Dobby jetzt bezahlt erden will!“

WTF?!?! ICH WÜRDE JEDEN PREIS FÜR EINEN HAUSELFEN ZAHLEN, DU IGNORANTES ZAUBERERPACK, DU!!!

Dumbledore

8. Hogwarts ist im Winter zugig. Wenn sie doch bloß ein Mittel dagegen hätten … Soetwas wie … ach ja: Zauberei!
9. Hermine erhält eine Briefbombe mit Säure gefüllt, nachdem Rita Kimmkorn schlecht über sie geschrieben hat. Versteht mich bitt nicht falsch: Die Szene ist großartig! Eine wunderbare Metapher für Boulevard-Presse und Rassismus (Hermine wird als Muggel beschimpft). Aber Hermine unternimmt … genau: nichts! Das war ein Anschlag auf ihre Gesundheit wenn nicht gar auf ihr Leben! Es muss doch eine Zauberpolizei geben, die mit einem praktischen „Deus ex Machina“-Spruch den Täter schnappen kann! Ich meine: Es gibt in dieser Welt sogar Zaubersprüche, damit sich dir die Nasenhaare locken!
10. Warum folgen die Todesser Voldemort? Okay, er hat diese ganze Rassenlehre und so. Aber es ist ja nicht so, als wäre er dafür essentiell wichtig. Das reine Blut ließe sich ja auch ohne ihn, der einen Muggelvater hat, propagieren. Auf der anderen Seite ist er NIE nett zu seinen Todessern. Er macht nie irgendetwas für sie. Im Gegenteil: Er betont immer und immer wieder, dass es ihm eigentlich nur darum geht, unsterblich zu werden. Also, warum zur Hölle suchen sich die Todesser nicht einen anderen Boss?!

Wir sehen uns in einem halben Jahr 😉

 

Applaus

Sokrates – Der Gamechanger – Teil 1: Der Prozess

Endlich geht es weiter mit meiner YouTube-Reihe zur Geschichte der Philosophie. Aber ich habe euch nur deshalb so lange warten lassen, weil ich gleich drei Folgen vorbereitet habe. Für alle, die lieber lesen, als Filme, die eigentlich nur Dia-Shows sind, zu gucken, gibt es unten wieder das Transkript sowie Literaturtipps und die Angaben zu den Bildquellen. Viel Spaß!

Über Sokrates gibt es so viel zu erzählen, dass ich das ganze in drei Teile aufteilen werde: Erst ab dem zweiten Teil werde ich euch von der eigentlichen Philosophie von Sokrates erzählen. Aber – halt – bitte skippt dieses Video nicht, denn hier und heute wird es spannend. In meiner ersten Folge zu Sokrates wird es um einen Kriminalfall gehen. Denn Sokrates wurde im Jahr 399 v. Chr. zum Tode durch den Schierlingsbecher verurteilt. Die Anklage lautete: Dass er die Existenz der Götter geleugnet haben soll, die schwächere Rede zur stärkeren gemacht und obendrein auch noch die Jugend verdorben haben soll. Und wie es dazu kam und ob da vielleicht sogar noch mehr hinter dieser Anklage steckte, davon erzähle ich euch heute.

Teaser Philosophie

Doch bevor ich mit dem Thriller beginne, möchte ich euch noch kurz erklären. Warum dieser Sokrates und sein Tod überhaupt relevant sind. Denn die Frage liegt ja nicht fern, warum wir uns für den Tod eines einzigen Mannes vor 2.400 Jahren interessieren sollten.

Dafür müsst ihr folgendes wissen: In der Geschichte der Philosophie gibt es verschiedene Zeitwenden, in denen die alten Fragen als nicht länger relevant betrachtet wurden und sich der Mainstream der Philosophie stattdessen neuen Fragestellungen zuwandte. Berühmt sind etwa die Kantische Wende oder der Linguistic Turn. Aber eine erste solche Wenden leitete eben Sokrates ein, weswegen wir sie auch „Die Sokratische Wende“ nennen können.

Cicero, der Typ, mit dessen langweiligen Texten ihr alle im Lateinunterricht belästigt wurdet, sagte dazu mal: „Sokrates hat als erster die Philosophie vom Himmel heruntergerufen, sie in den Städten angesiedelt, sie sogar in die Häuser hineingeführt und sie gezwungen, nach dem Leben, den Sitten und dem Guten und Schlechten zu forschen.“ Mit dieser Aussage hatte er zwar nicht ganz Recht, aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden … Doch er hatte eben auch nicht ganz unrecht.

Es gibt viele Aspekte an Sokrates’ Philosophie, die beachtenswert sind, doch der wichtigste Aspekt ist nicht das Was sondern das Wie. Denn Sokrates betrachtete den Dialog als das wichtigste philosophische Instrument. Er glaubte, dass wir die Wahrheit ™ oder das Wissen um die Wahrheit alle bereits in uns tragen, und dass sie nur ans Tageslicht gebracht werden muss. Er selbst betrachtete sich als jemanden, der durch geschicktes Fragen dabei hilft, dieses Wissen ans Licht zu bringen und diese Technik nannte er „Mäeutik“, die Hebammenkunst. Da er dem Dialog solche Bedeutung beimaß, hat er selbst auch nie etwas aufgeschrieben, sondern stets nur mündlich philosophiert.

Ähm, Moment mal? Wenn er nie etwas aufgeschrieben hat, woher wissen wir dann, worin seine philosophische Lehre bestand und welche Methoden er verwendete? Das ist eine der spannenden Fragen, die es zu klären gilt. Mögt ihr mir also folgen ins fünfte Jahrhundert vor Christi Geburt auf den Spuren eines der berühmtesten Kriminalfälle der Geschichte?

Sokrates‘ Leben

Wie kennen Sokrates‘ Lebensdaten, da wir wissen, dass er im Jahr 399 v. Chr. zum Tode verurteilt wurde. Und sein berühmtester Schüler Platon berichtet, dass er zu diesem Zeitpunkt 70 Jahre alt gewesen sein soll. Dieser Platon sollte später übrigens zum vielleicht größten Philosophen aller Zeiten werden, aber – ihr ahnt es schon – das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden.

Sokrates war der Sohn eines Bildhauers und einer Hebamme. Moment da war doch was? Ach ja: Ich sagte eben, dass er seine philosophische Methode mit der Hebammenkunst verglich. Wie er da wohl drauf kam? Und auch die Metapher des Bildhauers, der die Skulptur vom überflüssigen Stein befreit, benutzte Sokrates manchmal wohl für die Philosophie. Sokrates war phänomenal hässlich, was deshalb erwähnenswert ist, da unter seinen Zeitgenossen der Aberglaube vorherrschte, dass man von der äußeren Schönheit auf die innere schließen kann. Und dieser abstoßende kleine Mann sollte die Griechen eines besseren belehren.

Wir wissen, dass Sokrates eine gute Schulbildung genoss, was aber nicht ungewöhnlich war für einen Bürger Athens. Er lernte Lesen und Schreiben, Gymnastik, Musikerziehung, Geometrie und Astronomie. Nicht zuletzt gehörte es zum Standardrepertoire eines gebildeten Griechens, dass er sich mit den Werken der großen Dichter auseinandersetzte, allen voran Homer. Und die Kritik an Homer und anderer Dichter blieb auch eines von Sokrates‘ philosophischen Betätigungsfelder. Allerdings war dies keine Literaturkritik im heutigen Sinne, denn die Griechen lasen Homer noch viel mehr wie ein Geschichtswerk.

Wir wissen außerdem, dass Sokrates während des Peloponnesischen Kriegs an mehreren militärischen Einsätzen beteiligt war. Er soll an der Belagerung von Potidaia 431–429 v. Chr. genauso teilgenommen haben, wie an den Schlachten von Delion 424 v. Chr. und Amphipolis 422 v. Chr. Sein Rang war der eines Hopliten, eines Kämpfers in der Phallanx. Dieser Information können wir auch entnehmen, dass Sokrates nicht ganz arm gewesen sein kann, den ein Hoplit musste seine schwere Ausrüstung selbst beschaffen. Sokrates hat sich wohl einigen Ruhm erworben bei den Schlachten. So berichteten der Feldherr Laches und der Sokrates-Schüler Alkibiades, dass der Philosoph Kälte, Hunger und sonstige Entbehrungen ertragen konnte. Und aus der Schlacht von Delion, in der die Athener verloren, soll er nicht wie viele andere Hals über Kopf geflohen sein, sondern ging „gemessenen Schrittes, jederzeit bereit, sich zu verteidigen“.

Sokrates‘ Entbehrungsfähigkeit zeigte sich auch in seinem restlichen Leben. So soll er im Winter wie im Sommer barfuß unterwegs gewesen sein. Ferner soll er auch seinen Job hingeschmissen haben (er war wie sein Vater Bildhauer), um sich ganz der Philosophie zu widmen. Das ist aber weniger heroisch als es jetzt klingt sondern eher ein Arschloch-Move, denn er hatte Frau und Kinder. In „bester“ frauenfeindlicher Tradition ist uns aber Sokrates‘ Frau Xanthippe nur als sein zänkisches Weib in Erinnerung geblieben und nicht als die Person, die eine Familie durchbringen musste, während ihr Mann auf dem Athener Marktplatz rumstand und mit anderen über Ethik quatschte.

Dieser über Ethik quatschende Typ hatte übrigens auch noch die Eigenschaft manchmal wie erstarrt stehenzubleiben und nachzudenken. Es gibt eine Anekdote, in der er während des Krieges den ganzen Tag so rumstand und die Jonier abends ihre Betten neben ihm aufschlugen, aus Neugier, wann er denn aus seinem tranceartigen Zustand wieder erwachen würde. Sokrates habe noch die ganze Nacht reglos dagestanden und als die Sonne aufging, habe er sein Morgengebet gesprochen und sei dann kommentarlos abmarschiert.

Der Prozess

Doch es wird langsam mal Zeit, uns dem Prozess zu widmen. Denn dieser Prozess ist so etwas wie der Gründungsmythos der Philosophie.

Wie bereits gesagt: Sokrates wurde im Jahr 399 v. Chr. angeklagt, die Jugend zu verderben, die schwächere Rede zur stärkeren zur machen und die Götter zu leugnen, stattdessen solle er neumodische Dämonen predigen. Wie kam es zu dieser Anklage? Schauen wir uns doch zunächst einmal die Ausgangslage an:

Ich sagte beim letzten Mal ja noch, dass die Athener cool waren mit gotteslästerlichem Zeug. Das stimmte auch, mehr oder weniger. Allerdings nur bis zum Jahr 432 v. Chr. Da setzten sich die Konservativen durch, denen das zu weit ging mit diesen neumodischen, radikalen und verlotterten Philosophen, die so komisches Zeug behaupteten, wie dass die Sonne ein glühender Stein sei. Und es wurde ein Gesetz gegen Gottlosigkeit erlassen.

Dann hatte ich ja schon erwähnt, dass Krieg herrschte. Von 431 v. Chr. bis 404 v. Chr. fand der Peleponesische Krieg statt. Und doof für Athen war, dass es am Ende gegen Sparta verlor. Athen war zu jenem Zeit eine Demokratie und das war den Spartanern ein Dorn im Auge. Ich meine: Puuh! Kann man sich was schlechteres vorstellen, als das Volk regieren zu lassen? Daher machten die Spartaner dem Spuk ein Ende und setzten „Dreißig Tyrannen“ ein, die jetzt erst einmal richtig aufräumen sollten in diesem Saustall. Doch bereits ein Jahr später, 404 v. Chr. gelingt es den Athenern, die Demokratie wieder zu reinstallieren und 399 v. Chr. schließlich wird Sokrates angeklagt.

Die Anklage

Die Anklage lautete, wie gesagt: Sokrates verderbe die Jugend, sei ein Worteverdreher und sei gottlos. Was ist da dran? Wenn wir der Darstellung von Platon in der Apologie des Sokrates glauben, dann gar nichts. Anderererseits … Der Anklagepunkt vom Verderben der Jugend ist nicht ganz von der Hand zu weisen, wenn man bedenkt, dass gleich drei Schüler des Sokrates antidemokratische Tendenzen zeigten: Alkibiades betrieb erst auf Seiten Athens Kriegstreiberei und wechselte dann mal eben flugs auf die Seite von Sparta, um gegen Athen Krieg zu führen. Kritias gehörte den dreißig Tyrannen an und auch Platon hasste die Demokratie und schrieb später mit dem Dialog „Der Staat“ gewissermaßen die Bibel der Feinde der offenen Gesellschaft.

Sokrates verglich die Politik gerne mit anderen Berufen und meinte, so wie man zum Schuhflicken einen ausgebildeten Schuster brauche, so brauche man zur Staatslenkung auch ausgebildete Staatsmänner und nicht vom Volk gewählte. So plausibel das im ersten Moment klingt, so problematisch ist diese Lehre, die später von Platon ausgebaut wurde. Denn zwar ist da etwas dran: Sicher sollte nur jemand Bundeskanzlerin werden, die auch weiß, wie man Gesetzesentwürfe formal richtig in den Bundestag einbringt. Aber andererseits geht diese Einstellung davon aus, dass es nur eine Art von Wissen gibt. Aber das ist nicht der Fall, denn Politik ist zunächst einmal Ethik: Hinter den allermeisten politischen Entscheidungen steht die Frage, wie wir leben wollen. Und bei der Antwort auf diese Frage gibt es kein richtig oder falsch im gleichen Sinne wie bei der Frage, ob 2 + 2 = 4 ergibt. Wie Sokrates dazu stand, das erzähle ich, wie gesagt, in den nächsten Folgen.

Aber fairerweise muss ich noch erzählen, dass Sokrates aus genau den gleichen Gründen aus denen er die Demokratie kritisierte auch ein Kritiker der 30 Tyrannen war, die er für genauso unqualifiziert hielt wie das Volk. Er soll sich sogar einmal offen einem Befehl der 30 widersetzt haben. Er sollte zusammen mit anderen einen Demokraten verhaften, doch statt dies zu tun ging Sokrates einfach nach Hause und nur der Sturz der Tyrannei ersparte Sokrates wohl einen noch früheren Tod.

Doch zurück zur Anklage: der zweite Vorwurf war, Sokrates würde die schwächere Rede zur stärkeren machen. Dazu muss ich etwas weiter ausholen. Es gibt eine vorsokratische philosophische Strömung, die „die Sophistik“ genannt wird. Und Sophisten lehrten unter anderem auch Rhetorik. Das war nützlich, da es in Athen keine Anwälte gab, sondern man sich vor Gericht genau wie Sokrates selbst verteidigen musste. Mit den richtigen winkeladvokatischen Kniffen und Tricks konnte man da seinen Kopf aus der Schlinge ziehen, oder in den Worten der unterlegenen Ankläger: Die schwächere Rede zur stärkeren machen. Von seinen Zeitgenossen wurde Sokrates zu den Sophisten gezählt wie uns das Theaterstück die Wolken berichtet, in dem Sokrates als Sophist eine große Rolle spielt. Und wir wissen auch, dass er unterrichtete, wenngleich er sich anders als die Sophisten nicht dafür bezahlen ließ.

Schließlich ist da noch der Vorwurf der Gottlosigkeit, auch mit dem scheint es im wahrsten Sinne des Wortes nicht allzu weit her zu sein. Zwar legte Sokrates während seines Prozesses in einer sehr sophistischen Argumentation dar, dass er nicht zugleich die Götter leugnen könne und neuartige Dämonen predigen, da jeder wisse dass Dämonen die Kinder der Götter sind. Nachdem dann aber das Todesurteil feststand, offenbarte er uns in seinen Abschlussworten seinen wahren Glauben: Der stets kritische Sokrates war Agnostiker, also nicht sicher, ob es Götter bzw. ein Leben nach dem Tod gibt oder nicht.

Ein Schauprozess

Also ist alles klar? Sokrates was schuldig im Sinne der Anklage? Nun … Der Punkt ist, dass Sokrates vielleicht formal die Anklagepunkte erfüllte, aber dass diese Anklagepunkte zugleich nur vorgeschoben waren. Denn in Wirklichkeit war Sokrates ein Pain in the Ass, eine echte Nervensäge, die Athener Oberschicht wollte ihn loswerden und suchte einen Grund dafür. Es spricht sogar einiges dafür, dass sie Sokrates gar nicht umbringen wollten, sondern sich mit seiner Verbannung oder einem Versprechen, dass er in Zukunft das Maul hält, zufrieden gegeben hätten: Denn der Prozess hatte zwei Phasen: Im Ersten Teil wurde Sokrates Schuld festgestellt und zwar äußerst knapp: Von 501 Richtern stimmten 281 für schuldig und 220 für unschuldig. Im zweiten Teil der Verhandlung ging es um die Festlegung des Strafmaßes und die Kläger plädierten für die Todesstrafe. Doch mit reuigen Worten und einem Versprechen sich zu bessern, hätte Sokrates bestimmt den Kopf aus der Schlinge ziehen können, oder … äh … den Schierling aus dem Becher. Aber Sokrates plädierte, dass die Strafe für ihn, entweder die Speisung im Prytaneion sein solle. Das war im damaligen Athen eine besondere Ehre und kam der heutigen Ehrenbürgerwürde gleich. Oder man solle ihm eine Geldstrafe von 30 Minen auferlegen. Das war wohl ein so lächerlich niedriger Betrag, dass Sokrates gewusst haben muss, dass die Richter ihn nicht akzeptieren würden.

Außerdem machte er klipp und klar, dass er gar nicht daran denke, in Zukunft nicht mehr seine nervigen Fragen zu stellen. Das führte dazu, dass am Ende sogar 361 Richter für seinen Tod stimmten. Also sogar noch einmal 80, die zuvor noch für unschuldig plädiert hatten. Wir können davon ausgehen, dass Sokrates bewusst war, dass sein Plädoyer auf die Todesstrafe hinauslief. Aber sich vom Tod freizukaufen, empfand er wohl als Eingeständnis seiner Schuld.

Doch selbst nach seiner Verurteilung zum Tode sah es nicht so aus, als wollten die Athener ihn wirklich hinrichten. Zunächst wurde die Hinrichtung aus religiösen Gründen verzögert und dann ermöglichten Verbündete Sokrates sogar noch die Flucht, aber Sokrates lehnte dies aus ethischen Gründen ab. Seiner Auffassung von Gerechtigkeit nach, wäre es Willkür gewesen, sich der Strafe zu entziehen und wenn die Athener der Meinung waren, dass das Urteil ungerecht sei, dann müssten sie die Gesetze ändern. So trank er den Schierlingsbecher und wurde zum ersten Märtyrer der Philosophie.

Aber warum waren die Athener so genervt von Sokrates? Das und noch vieles mehr, wie zum Beispiel die Frage, woher wir eigentlich von Sokrates wissen, wenn er nie etwas aufgeschrieben hat, das klären wir beim nächsten mal …

Literatur

Weitere Literaturangaben gibt es bei den nächsten beiden Teilen.

Bilderquellen

Alle Bilder, die ich verwendet habe und die nicht hier auftauchen, sind entweder gemeinfrei oder stammen von mir persönlich. Alle Angaben in chronologischer Reihenfolge.

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Sie sind Flüchtlinge

Täglich erreichen uns Zahlen, wie viele tausend Flüchtlinge wieder in Deutschland angekommen sind. Und ein paar dumme Menschen reagieren darauf mit Angst und Anschlägen auf die Schwächsten der Schwachen. Ich kann nur erahnen, was es heißt, meine Heimat zu verlassen, weil Krieg und Not mich vertreiben. Und es ist allzu einfach, nach unten zu treten, solange Flüchtlinge nur Zahlen sind, die uns Angst machen. Aber Vertriebene sind Menschen mit Gesichtern und Geschichten. Und die Flucht vor Krieg, Leid und Verfolgung ist auch kein neues Phänomen sondern existiert so lange, wie es Menschen gibt. Aus der Idee heraus, dem anonymen Flüchtling statt einer Zahl ein Gesicht zu geben, habe ich mal in die Geschichte geblickt und will euch die Gesichter und Geschichten von 25 berühmten Vertriebenen zeigen.

René Descartes wanderte 1629 in die Niederlande aus

Frans Hals - Portret van René Descartes
1596 – 1650

Der französische Philosoph René Descartes ist der Begründer der neuzeitlichen Philosophie. Sein „Ich denke, also bin ich“ kennt wahrscheinlich fast jeder. Mit seiner Methode des radikalen Zweifels überwandt er das starre und vom Christentum dogmatisierte Skelett der mittelalterlichen Philosophie, wo man sich nur so Fragen stellen durfte, wie „Woraus bestehen wohl die Flügel von Engeln?“. Jedenfalls war dieser radikale Skeptizismus seinem Heimatland Frankreich zu radikal, daher musste Descartes in die Niederlande gehen.

Heinrich Heine wanderte 1831 nach Frankreich aus

Heinrich-heine 1
1797 – 1856
Heinrich Heine war einer der wichtigsten Schriftsteller und Dichter des 19. Jahrhunderts. Die Wikipedia sagt, er habe die Romantik „überwunden“. Ich hoffe, das passiert mir nie! Jedenfalls war Heine eine ziemlich linke Socke, die sich stets über die Preußen lustig machte, die damals in seiner Heimat, dem Rheinland, das Sagen hatten. Das brachte ihm viel Ärger ein und seine Werke wurden zensiert, weshalb Heine nach Paris auswandern musste, um dort ungehindert weiter veröffentlichen zu können. Wie sehr er darunter gelitten hat, von seiner Familie getrennt zu sein, berichten seine Gedichte aus der Zeit, zum Beispiel die Nachtgedanken.

Kurt Tucholsky wanderte 1929 nach Schweden aus

TucholskyParis1928
1890 – 1935
Tucholsky ist eine der tragischsten Flüchtlingsgeschichten rund um Nazideutschland. Denn der satirische Schriftsteller hat während der Weimarer Republik immer massiv mit der Feder gegen die Nazis gekämpft. Er hat stets versucht, die Deutschen aufzurütteln und ihnen klarzumachen, auf welche Katastrophe sie da zusteuern. In Deutschland wurde er dafür immer wieder von den Nazis angegriffen. Das hielt er 1929 nicht mehr aus und ging nach Schweden. Der unter starken Depressionen leidende Schriftsteller verstummte schließlich ganz, als alles einzutreten begann, wovor er gewarnt hatte. Bis heute ist nicht klar, ob er sich das Leben genommen hat, oder die Überdosis Schlaftabletten ein Unfall waren. Das war der letzte Eintrag in seinem Tagebuch:
Tucholskys letzter Tagebucheintrag

 

Marlene Dietrich wanderte 1930 in die USA aus

Bundesarchiv Bild 102-14627, Marlene Dietrich
1901 – 1992
Die Dietrich war wahrscheinlich der größte Star des deutschen Kinos. Und ursprünglich ging sie aus Karrieregründen nach Hollywood und war gar nicht politisch verfolgt. Daher versuchten die Nazis sogar, sie für ihre Propaganda-Maschine zurückzugewinnen. Doch da hatten sie aufs falsche Pferd gesetzt. Zu viele Freunde und Kolleginnen aus Deutschland hatten vor den Barbaren fliehen müssen. Daher legte sie 1939 die deutsche Staatsbürgerschaft ab und unterstützte seitdem die US-Armee beim Kampf gegen Deutschland. Als sie 1960 erstmals nach Deutschland zurückkehrte, wurde sie dafür als Vaterlandsverräterin beschimpft. Wie nett!

Albert Einstein wanderte 1932 in die USA aus

Albert Einstein in later years
1879 – 1955
Der vielleicht wichtigste Physiker der Geschichte war seit 1932 eigentlich nur vorübergehend in den USA, als 1933 die Nazis die Herrschaft antraten. Als Jude war Einstein der Rückweg versagt, seine Werke wurden Opfer der Bücherverbrennung (Klar, diese Relativitätstheorie war ja auch voll antideutsch!!!111einself), er wurde ausgebürgert und aus dem Pazifisten Einstein wurde ein Befürworter der Atombombe. Traurig.

Bertolt Brecht floh 1933 über Frankreich, Dänemark, Schweden und Finnland in die USA

Bertolt-Brecht
1898 – 1956
Dass der alte Bert Brecht auch so eine linke Socke war, brauche ich ja niemandem zu erzählen. Aber wusstet ihr auch, dass ab 1930 die paramilitärischen Nazitruppen begannen, seine Theateraufführungen zu stören? 1933 gab Brecht auf und floh nach Frankreich. Von dort ging es noch weiter nach Dänemark. Doch als der Krieg ausbrach, fühlte er sich dort auch nicht mehr sicher und ging 1939 nach Schweden und 1940 nach Finnland. Bis es ihm endlich 1941 gelang einen Ozean zwischen sich und seine Verfolger zu bringen und er in die USA floh.

Billy Wilder floh 1933 über Frankreich in die USA

Billy Wilder - Kamerablick - Boulevard der Stars cropped
1906 -2002
Billy Wilder hat so Klassiker geschaffen wie Manche mögen’s heiß und Zeugin der Anklage. Das berühmteste Bild von Marilyn Monroe (das mit dem Rock) geht auf sein Konto. Wilder war österreichischer Jude. Und als die Nazis 1933 von den Deutschen an die Macht gewählt wurden arbeitete er in Berlin, was ja eines der wichtigsten Filmproduktionszentren der 1920er gewesen war. Wilder ahnte, was ihn erwartete und packte seine Koffer. Zunächst ging es nach Paris und 1934 dann in die USA, wo er seine Weltkarriere erst richtig durchstartete.

Hannah Arendt floh 1933 über Tschechien, Italien, die Schweiz, Frankreich und Portugal in die USA

1906 – 1975 (Es gab kein legales Bild)
Hannah Arendt ist wahrscheinlich die wichtigste politische Philosophin des 20. Jahrhunderts. Mit ihrer Berichterstattung vom Eichmann-Prozess hat sie zudem einen der wichtigsten Beiträge zur Aufarbeitung des Holocausts geschrieben. Und sie hatte die vielleicht dramatischste Flucht aller hier versammelten. Die Nazis trieben sie quasi vor sich her und zwischenzeitlich war sie sogar in einem Internierungslager in Frankreich gefangen. Doch ihr gelang die Flucht und über Portugal erreichte sie schließlich den sicheren Hafen in den USA.

Thomas Mann wanderte 1933 über die Schweiz in die USA aus

Thomas Mann 1929
1875 – 1955
Der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann hatte auch schon vor der sogenannten „Machtergreifung“ der Nazis vor einem NS-Regime gewarnt. Zwar blieben seine Bücher von der Bücherverbrennung verschont, nicht aber die seines Bruders und seines Sohnes. Daher ging die Familie Mann 1933 erst in die Schweiz und von dort 1939 in die USA. Auch von den USA aus kämpfte er mit seinen Mitteln gegen die Nazis, indem er Reden einsprach, die auf Schallplatte aufgezeichnet und dann von der BBC nach Deutschland hinein ausgestrahlt wurden. In diesen Reden versuchte Mann die Deutschen von ihrem Irrsinn zu überzeugen. Wie wir wissen, leider vergeblich.

Willy Brandt wurde 1934 erst nach Norwegen und später nach Schweden vertrieben

Bundesarchiv B 145 Bild-F057884-0009, Willy Brandt
1913 – 1992
Der spätere Bundeskanzler und Friedensnobelpreisträger war in der Weimarer Republik erst SPD und dann SAPD-Mittglied gewesen und hatte auch zunächst in Deutschland und ab 1934 dann von Norwegen aus versucht einen Widerstand gegen die Nazis zu organisieren. Als die Nazis 1940 Norwegen besetzten, geriet Brandt in Kriegsgefangenschaft. Da die Wehrmacht aber nicht erkannte, wen sie da festgenommen hatten, konnte er entkommen und nach Schweden fliehen.

Theodor W. Adorno floh 1934 über Großbritannien in die USA

Adorno
1903 – 1969
Adorno ist einer der wichtigsten Soziologen des 20. Jahrhunderts. Er war Mitbegründer der kritischen Theorie und verhalf der Frankfurter Uni mit der Frankfurter Schule zu Weltruhm. Da er einen jüdischen Vater hatte, wurde er zum Teil des großen deutschen Braindrains und da die Briten nicht erkannten, welches Juwel ihnen da zugewandert war, ging es für Adorno 1938 weiter in die USA.

Karl Popper wanderte 1937 nach Neuseeland aus

Karl Popper2
1902 -1994
Noch so eine Hausnummer des Soziologie ist Karl Popper. Mit dem Falsifikationsprinzip geht die wahrscheinlich wichtigste Erkenntnis der Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts auf ihn zurück. Außerdem war er immer leidenschaftlicher Demokrat und hat mit der „Offenen Gesellschaft und ihre Feinde“ so etwas wie die Bibel der Demokratie geschrieben – absolut lesenswert. Als Demokrat und Kind jüdischer Eltern erkannte der Österreicher 1937, dass der „Anschluss“ Österreichs an NS-Deutschland bevorstand und folgte einem Ruf nach Christchurch, Neuseeland.

Ludwig Wittgenstein wanderte 1938 nach Großbritannien aus

LudwigWittgenstein
1889 – 1951
Wittgenstein gehört wahrscheinlich zu den fünf größten Philosophen des 20. Jahrhunderts, wenn nicht gar aller Zeiten. Er hat einige der wichtigsten Erkenntnisse der formalen Logik und der Sprachphilosophie errungen und ist einer der Hauptvertreter des Linguistic Turns. Im ersten Weltkrieg hatte der olle Ludwig noch für Österreich gekämpft, doch als Jude wurde er dann 1938 während einer Irland-Reise vom „Anschluss“ Österreichs an Deutschland überrascht und zog es vor, nach Großbritannien auszuwandern. Während des zweiten Weltkriegs hielt er es nicht aus, als Philosophieprofessor zu arbeiten, während andere gegen die Nazis kämpften und arbeitete freiwillig als Pfleger in einem Hospital.

Sigmund Freud wurde 1938 nach Großbritannien vertrieben

Sigmund Freud Anciano
1856 -1939
Der nächste österreichische Jude, der unter der Anexion Österreichs zu leiden hatte, war Sigmund Freud. Freuds Lehre ist zwar umstritten, dennoch ist er fraglos der Urvater der Psychologie. Bereits 1933 wurden seine Bücher verbrannt, als 1938 die Nazis in Österreich an die Macht kamen, bekam Freud regelmäßig Besuch von der Gestapo. Zum Glück gelang es ihm, nach Großbritannien zu gelangen. Doch dort starb er nur ein Jahr später an Krebs.

Günter Grass geriet 1945 in Kriegsgefangenschaft und wanderte 1947 dann in die BRD ein

Nl-HaNA 2.24.01.05 932-1798 Günter Grass
1927 – 2015
Die CDU/CSU unterscheidet ja gerne zwischen Flüchtlingen und Vertriebenen. Ich nicht. Der Literaturnobelpreisträger Günter Grass war jung und dumm, als er 1943 der Wehrmacht und 1944 der SS beitrat. 1945 geriet er in amerikanische Kriegsgefangenschaft, aus der er 1947 entlassen wurde. Da seine alte Heimat Danzig nun in Polen lag, wo er als Nazi nicht länger erwünscht war, zog er nach Düsseldorf. Später wurde Grass Sozialdemokrat und linkspolitischer Autor. Auch wenn er im Greisenalter einige zweifelhafte Anwandlungen hatte.

Charlie Chaplin wurde 1952 die Wiedereinreise in die USA verwehrt, er wanderte in die Schweiz ein

Charlie Chaplin
1889 – 1977
Okay, es ist an der Zeit, den zweiten Weltkrieg hinter uns zu lassen und uns dem kalten Krieg zuzuwenden. DER Charlie Chaplin wurde dessen erstes berühmtes Opfer. Denn er wurde wegen seiner linken Gesinnung im Rahmen der Kommunistenhetze in den USA verfolgt. Und als der in den USA lebende Brite 1952 auf einer Reise auf die Insel war, verweigerten die USA ihrem größten Hollywoodstar die Wiedereinreise und Chaplin musste in die Schweiz ins Exil gehen.

Dieter Hallervorden wanderte 1958 in die BRD aus

Hallervorden
* 1935
Der Kabarettist Hallervorden war DDR-Bürger. Doch als die Einschränkungen der Meinungsfreiheit immer größer wurden, sah er sich nicht mehr in der Lage, seiner Profession nachzugehen. Daher machte er rüber …

Der (14.) Dalai Lama floh 1959 nach Indien

Dalai Lama at Syracuse University 01
*1935
Wer der Dalai Lama ist, brauche ich nicht zu erklären, oder? Das geistige Vorbild von (tibetischen) Buddhisten und Poesiealbumsschreibern halt … 1950 wurde sein Heimatland von China anektiert. Die kommunistischen Chinesen hatten so ihre Probleme mit den religiösen Tibetern und behandelten sie entsprechend schlecht. Daher brach 1959 ein Aufstand der Tibeter aus, der von China niedergeschlagen wurde und in dessen Zuge der Dalai Lama fliehen musste.

Freddie Mercury floh 1946 nach Großbritannien

Freddie Mercury performing in New Haven, CT, November 1977
1946 – 1991
Wusstet ihr, dass der Sänger der Band Queen nicht bloß euch rocken oder Bicycle fahren wollte, sondern aus Sansibar stammte? 1946 kam es dort zur Revolution und seine Eltern flohen mit ihrem 17-jährigen Sohn vor dem Blutvergießen nach Großbritannien.

Isabel Allende floh 1975 nach Venezuela und lebt seit 1988 in den USA

Isabel Allende - 001
* 1942
Die chilenische Bestseller-Autorin Isabel Allende ist die Nichte des früheren chilenischen Präsidenten Salvador Allende. 1975, nach dem Putsch durch Augusto Pinochet und der Ermordung Salvador Allendes floh Isabel nach Venezuela. Seit 1988 lebt sie ausgerechnet in den USA, deren CIA tatkräftig an der Ermordung ihres Onkels mitgewirkt hat. Leben im Exil ist eben immer schwierig.

Nina Hagen wanderte 1976 nach Großbritannien aus und kam 1986 in die BRD

NINA HAGEN 1981
* 1955
Nina Hagen hatte zwar den Farbfilm vergessen, aber nicht, dass sie mit Wolf Biermann befreundet war. Als dieser von der DDR zwangsausgebürgert wurde, bekundete Hagen öffentlich Solidarität mit Biermann, was zu Repressionen gegen sie führte, weswegen sie 1976 nach Großbritannien auswandern musste. Ab 1986 beschied sie sich dann mit einem Leben in der BRD.

Bob Marley floh 1976 nach Großbritannien

Bob Marley emancipated from mental slavery 1
1945 – 1981
1976 wollte der Großmeister des Reggeas in Jamaika auf einem Friedenskonzert der sozialdemokratischen PNP auftreten. Zwei Tage vorher drangen Bewaffnete, mutmaßlich im Auftrag der rechtsradikalen Partei JLP in sein Haus ein und schossen auf ihn und seine Familie. Seine Frau und sein Manager wurden schwer verletzt. Marley selbst wurde leicht verletzt, ließ es sich trotz des Mordanschlags nicht nehmen, das Konzert zu geben und kehrte anschließend Jamaika den Rücken, um nach Großbritannien zu gehen. Trotz des Regens da!!!

M. I. A. floh 1986 nach Großbritannien

Flickr - moses namkung - M.I.A. 2
*1975
Kennt ihr die aus Sri Lanka stammende Sängerin M.I.A.? Nein? Dann solltet ihr sie kennenlernen, es lohnt sich. Die Tamilin wurde 1986 wegen eines Bürgerkriegs in ihrem Heimatland nach Großbritannien vertrieben.

Herta Müller floh 1987 nach Westberlin

Herta Müller 1
*1953
Die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller gehörte zur deutschen Minderheit in Rumänien. Nachdem sie lange mit Zensur zu kämpfen hatte, gelang ihr 1987 endlich die Ausreise nach Westberlin, wo sie seither leben und schreiben kann.

Edward Snowden floh 2013 über Hongkong nach Russland

Edward Snowden-2
*1983
Tja, kennt ihr alle, wah? 2013 verrät uns Edward Snowden, dass wir alle von der NSA überwacht werden. Dafür wird er von den USA politisch verfolgt und landet nach einer Flucht über Hongkong in Russland. Wo er sicher ein ähnliches Grummeln im Bauch haben wird, wie Isabel Allende in den USA.

Das war meine kleine, viel zu kurze Liste. Ihr alle kennt sicher noch mehr Gesichter von Flüchtlingen. Teilt sie mit uns!

Bilderquellen

  • Edward Snowden von Laura Poitras / Praxis Films [CC BY 3.0], via Wikimedia Commons
  • Herta Müller von Lesekreis (Own work) [CC0], via Wikimedia Commons
  • M.I.A. von Moses (M.I.A. 2) [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons
  • Bob Marley von Caspiax [Public domain], via Wikimedia Commons
  • Nina Hagen von Dirk Herbert (Dirk Herbert) [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons
  • Isabel Allende von Mutari (Own work) [Public domain], via Wikimedia Commons
  • Freddie Mercury von FreddieMercurySinging21978.jpg: Carl Lender derivative work: Lošmi (FreddieMercurySinging21978.jpg) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons
  • Dalai Lama von VOA [Public domain], via Wikimedia Commons
  • Dieter Hallervorden von Der Sascha (Own work) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons
  • Charlie Chaplin von P.D Jankens (Fred Chess) [Public domain or Public domain], via Wikimedia Commons
  • Günter Grass von Marcel Antonisse, Anefo [CC BY-SA 3.0 ], via Wikimedia Commons
  • Sigmund Freud von David Webb from Alicante, Spain (Sigmund Freud Uploaded by Viejo sabio) [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons
  • Ludwig Wittgenstein von phil.uu.nl [CC0], via Wikimedia Commons
  • Karl Popper von Lucinda Douglas-Menzies link [No restrictions], via Wikimedia Commons
  • Theodor W. Adorno von Jeremy J. Shapiro [CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons
  • Willy Brandt von Bundesarchiv, B 145 Bild-F057884-0009 / Engelbert Reineke / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de], via Wikimedia Commons
  • Thomas Mann von Nobel Foundation [Public domain], via Wikimedia Commons
  • Billy Wilder von Billy_Wilder_-_Kamerablick_-_Boulevard_der_Stars.jpg: Times derivative work: Johannes Vogel [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons
  • Bertold Brecht von Bundesarchiv, Bild 183-W0409-300 / Kolbe, Jörg / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de], via Wikimedia Commons
  • Albert Einstein von John D. Schiff [Public domain], via Wikimedia Commons
  • Marlene Dietrich von Bundesarchiv, Bild 102-14627 / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de], via Wikimedia Commons
  • Kurt Tucholsky von Sonja Thomassen (Sonja Thomassen) [GFDL 1.2], via Wikimedia Commons
  • Heinrich Heine von Sonja Thomassen (Sonja Thomassen) [GFDL 1.2], via Wikimedia Commons
  • René Descartes nach Frans Hals (1582/1583–1666) [Public domain], via Wikimedia Commons

Zur jeweiligen Wikimedia-Commons-Seite des Bildes kommt ihr mit einem Klick auf die Datei.

Andere für mich denken lassen

Ich habe hier ein paar philosophische Artikel in Pocket, die ich schon längere Zeit aufbewahre, um mal irgendetwas damit zu machen. Da mir selbst zurzeit nichts Schlaues dazu einfällt, mache ich halt eine Linkschleuder daraus. ¯\_(ツ)_/¯

Spache und Moral

Hier ein spannender Artikel über empirisch-philosophische Studien zum Zusammenhang von Moral und Sprache:

A brother, who’s using a condom, and his sister, who’s on birth control, decide to have sex. They enjoy it but keep it a secret and don’t do it again. Is their action morally wrong? If they’re both consenting adults and not hurting anyone, can one legitimately criticize their moral judgment?

Die These, die entwickelt wird, lautet, dass wir in unserer Muttersprache ethische Probleme eher emotional angehen und in einer Fremdsprache eher analytisch …

Still, if morally ambiguous scenarios are approached in a second language, that can nudge us toward making decisions consciously and rationally. Speaking in a second language, therefore, may be one of the most moral things you can do.

Metaphysik und so …

Dieser Artikel beginnt mit der Feststellung, dass die zeitgenössische Philosophie metaphysische Fragen hinter sich gelassen hat. Beziehungsweise versucht die Philosophie, metaphysische Probleme auf empirische Ursachen zurückzuführen. Hier noch einmal die Definition von Metaphysik aus der Wikipedia, für alle die den Begriff nicht auf den Schirm haben:

Metaphysische Systementwürfe behandeln in ihren klassischen Formen die zentralen Probleme der theoretischen Philosophie, nämlich die Beschreibung der Fundamente, Voraussetzungen, Ursachen oder „ersten Gründe“, der allgemeinsten Strukturen, Gesetzlichkeiten und Prinzipien sowie von Sinn und Zweck der gesamten Wirklichkeit bzw. allen Seins.

Allerdings scheint der Autor, Justin E. H. Smith, einen weitergefassten Metaphysik-Begriff zu haben, ähnlich dem des frühen Wittgenstein, wonach all das metaphysische Aussagen sind, was sich nicht empirisch beweisen lässt. Anyway … Smith sieht in dieser Abkehr und auf die derzeitige Konzentration der Philosophie auf kognitionswissenschaftliche Erklärungsansätze ein Problem, da dies ein zu einseitiges Bild vom Menschen zeichnet:

Cognitive science, and the philosophy influenced by it, has taken into account the richness I’ve been trying to evoke– that we are not just essentially thinking things, but also thinking things with, for example, a special evolved capacity to notice faces that appear in our natural landscape, and to have stronger reactions to them than to lumps of dirt. But cognitive science by itself is ill-equipped to draw out the full significance of the ineliminable features of human cognition that it registers and describes. Philosophers in other areas of specialization need to join the project.

Stattdessen plädiert er für eine Reintegration von anthropologischen Theorien in die zeitgenössische Philosophie …

Die Welt ist nicht so …

Noch ein schöner Artikel zu einer Studie, wie Sprache unsere Konzepte der Welt beeinflusst …

Wenn Berufe in einer geschlechtergerechten Sprache dargestellt werden (Nennung der männlichen und weiblichen Form, zum Beispiel „Ingenieurinnen und Ingenieure“ statt nur „Ingenieure“) schätzen Kinder typisch männliche Berufe als erreichbarer ein und trauen sich selbst eher zu, diese zu ergreifen.

Wissta bscheid!

Hass im Netz

…. ist ja ein nicht weggehendes Thema und ein Problem. Hier setzt sich der Sozipod damit ausseinander in Bezug auf den rassistischen Terror dieses Jahr, wie er im Netz repräsentiert wird und wie man damit umgehen sollte. Das gleiche Thema hat diese schöne YouTube-Reihe am Beispiel des Gamergates, ebenfalls mit dem Ziel, einen Ansatz zu finden, wie man dergleichen verhindern kann:

Wenn euch das gefallen hat, dann lasst es mich doch in den Kommentaren wissen, mein Pocket quillt über von weiteren Artikeln, die ich gerne mit euch teilen kann …

P.S.:

Der Urgrund der Philosophie

YEAH! PHILOSOPHY BITCH!

Ich habe mich mal an ein anderes Medium herangewagt. Das mit den bewegten Bildern:

Ich würde mich über euer Feedback freuen. Wenn ihr es nicht ganz schlecht fandet, werde ich noch mehr solche Videos produzieren. Gerne nehme ich dazu auch Wünsche entgegen. Alle, denen das da oben zu albern ist, finden hier noch einmal das Transkript:

Der Beginn der Philosophie

Wir können die Geburtsstunde der Philosophie ziemlich genau bestimmen. Die westliche Philosophie begann mit ein paar Typen, die wir heute die „Vorsokratiker“ nennen. Den Namen tragen sie folgerichtig, weil sie schon vor einem anderen Typen mit Namen „Sokrates“ philosophiert haben. Und dieser Sokrates sollte später dann eine ganz große Nummer werden, ein echter Game-Changer. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes mal erzählt werden.

Der erste Philosoph war mit ziemlicher Sicherheit ein gewisser Thales von Milet. Und dieser Thales hat einen Satz gesagt oder wahrscheinlich eher geschrieben, für den ihn heute die Philosophie-Profs noch immer abfeiern. Leider haben wir den Text nicht mehr, denn von den Texten der Vorsokratiker sind uns nur Fragmente und Zitate erhalten geblieben. In den Worten von Aristoteles (der auch so ein Superstar in der Philosophen-Community ist), lautet dieser entscheidende Satz so:

„Thales, der Begründer von solcher Art Philosophie, erklärt als den Urgrund das Wasser“

Aristoteles: Metaphysik I 3 983 b 6 ff.

O – kay … Aber was ist jetzt der Big Deal an diesem Satz? Ich meine Arnold Schwarzenegger hat mal gesagt:

„Ich werde mehr von meinen Vorstellungen gelenkt als von bewußtem Denken.“

Arnold Schwarzenegger

Aber ich bezweifle, dass wir uns in knapp 2.600 Jahren noch daran erinnern werden, obwohl die Worte von Arnie stammen!

Die Antwort auf die Frage, was so toll an Thales Satz ist, lautet: Er ist der erste Beleg von wissenschaftlich-logischem Denken. Dieser Satz von Thales ist die erste wissenschaftliche Hypothese überhaupt. Das ist eine ziemlich steile These, und ich werde sie auch gleich noch begründen, aber zunächst will ich noch einmal einen Schritt zurückgehen und ein paar Worte dazu verlieren, wer dieser Thales überhaupt war.

Zur Person von Thales

Thales lebte in einer Hafenstadt namens Milet. Das lag im damaligen Kleinasien, was die heutige Türkei ist. Mit Blick auf unsere heutige politische Lage eigentlich eine ganz spannender Funfact, dass die europäische Philosophie von einem Griechen aus der Türkei erfunden wurde …

Wie viele Philosophen war Thales ein Rundum-Gelehrter, der auf vielen Gebieten forschte. Beispielsweise kennen wir auch den Zeitraum, in dem er lebte, da er eine Sonnenfinsternis im Jahr 585 v. Chr. voraussagte. Allerdings war diese Voraussage ist für sich genommen noch nicht so super krass, denn Astronomie wurde schon lange, vor allem in Babylon betrieben und die Babylonier hatten auch schon lange herausgefunden, dass Sonnenfinsternisse sich in gewissen Zyklen wiederholen.

Spannender ist da schon, dass Thales auch ein ganz schön gewiefter Mathematiker gewesen sein muss. Auch das ist keine Seltenheit in der Philosophiegeschichte, die Art zu Denken bei Mathematik und Philosophie, ist eben verwandt. Zumindest solange man Heidegger nicht beachtet.

Es gibt die Anekdoten, dass Thales einerseits die Distanz zu einem Schiff errechnet haben soll, indem er es von zwei verschiedenen Landpunkten aus beobachtete. Außerdem soll er die Höhe einer Pyramide anhand der Länge ihres Schattens bestimmt haben. Und wir alle kennen ihn nicht zuletzt, weil wir in der Schule in Mathe den Satz des Thales lernen mussten.

„Konstruiert man ein Dreieck aus den beiden Endpunkten des Durchmessers eines Halbkreises (Thaleskreis) und einem weiteren Punkt dieses Halbkreises, so erhält man immer ein rechtwinkliges Dreieck.“

Thales von Milet

Übrigens soll auch dieses mathematische Gesetz sowohl den Babyloniern als auch den Ägyptern schon bekannt gewesen sein.

Dann gibt es noch zwei Anekdoten über Thales, die eher ins Reich der Propaganda gehören. Propaganda für Philosophie ist wohl die Geschichte, dass er von seinen Mitmenschen gedisst wurde, weil Philosophie eine brotlose Kunst sei. Aber Thales hat dann mithilfe der Sterne herausgefunden, dass es eine fette Olivenernte geben soll und hat alle Olivenpressen der Gegend gekauft, die er dann zu horrenden Preisen vermieten konnte und so schweinereich wurde. Wie gesagt: Bloße Propaganda, denn den Sternen ist die Olivenernte so schnuppe wie dein Horoskop und mit Philosophie hat das schon mal gleich gar nichts zu tun.

Die andere Anekdote ist Propaganda kontra Philosophen: So soll Thales mal von einer „Thrakischen Magd“ ausgelacht worden sein, weil er beim Sternebeobachten in einen Brunnen fiel. Das ist eine typische Geschichte vom „zerstreuten Professor“, wie wir sie auch heute noch erzählen und Thrakien war damals für die Griechen das, was für den Berliner Hipster heute Brandenburg ist, wodurch die Demütigung für Thales natürlich nur noch größer wird.

Warum die Griechen?

Kehren wir zur Frage zurück – What’s the big deal about:

„Thales, der Begründer von solcher Art Philosophie, erklärt als den Urgrund das Wasser“

Aristoteles: Metaphysik I 3 983 b 6 ff.

Die nächste kurze Antwort, die ich euch darauf geben möchte, lautet: Thales hat als erster den Ursprung der Welt nicht dadurch erklärt, dass irgendein Gott sie erschaffen hat. Doch auch jetzt noch belasse ich es erst einmal bei dem Teaser und beantworte die Frage indirekt, indem ich zunächst frage: Warum haben jetzt ausgerechnet die Griechen mit der Philosophie angefangen? Ihr müsst dabei bedenken, dass zu dem Zeitpunkt, als Thales lebte, die Ägypter schon krasse 3.500 Jahre lang eine Hochkultur hatten. Das sind noch mal locker 1.000 Jahre mehr als von Thales zu uns heute. Und dennoch hatte niemand in Ägypten jemals das Bedürfnis gehabt, anzuzweifeln, dass irgendein Gott die Erde erschaffen hat.

Diese Frage wurde früher oft mit dem „Griechischen Genius“ beantwortet. Eine Antwort, die nicht nur gefährlich ist, weil sie auf der „Europäer sind besser als andere“-Welle reitet, sondern auch mit ziemlicher Sicherheit falsch.

Was also war der Grund dafür, dass die Griechen nun plötzlich eine andere Antwort gaben auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest?

Einer der wichtigsten Gründe war sicherlich, dass es in Griechenland eine reiche Bürgerschicht gab: Alte, weiße Männer, die es sich leisten konnten, ihre Zeit mit Philosophie zu verschwenden, während Frauen und Sklaven für sie arbeiteten. Aber das kann noch nicht der einizige oder gar entscheidende Grund gewesen sein, den Aristokratien, die ihren Reichtum auf Sklaven aufbauten, gab es in der Antike zur Genüge. Aber Philosophie zunächst nur in Griechenland.

Nein, der wichtigste Grund für das Erwachen der Philosophie war wohl die Art und Weise, wie der griechische Staat und die griechische Gesellschaft damals aufgebaut waren. Ihr wisst das bestimmt: Es gab keinen starken Zentralstaat wie in Ägypten oder später in Rom. Stattdessen gab es jede Menge kleiner Stadtstaaten. Und dort gab es sehr repressive Stadtstaaten, so wie zum Beispiel Sparta, aber es gab auch andere, wie zum Beispiel Athen oder Milet, die ihren Bürgern (also den alten, weißen Männern) viele Freiheiten einräumten und die sich entsprechend auch nicht daran störten, wenn diese Bürger dann so gotteslästerliches Zeug von sich gaben.

Außerdem hatte dieses Stadtstaaten-Ding den Vorteil, dass du als aufsässiger Denker mal eben den Staat wechseln konntest, wenn das Kopfsteinpflaster unter deinen Füßen mal zu heiß wurde. Und diese Stadtstaaten-Struktur hatte noch weitere Vorteile. Dafür müssen wir uns ansehen, wie Griechenland aussieht: Griechenland ist bergig. Nicht ohne Grund sitzen die griechischen Götter auf einem Berg. Und die verschiedenen Stadtstaaten saßen zumeist, in fruchtbaren Tälern mit Meerzugang. Statt mühsam über die Berge zu kraxeln, bot es sich da an, mit dem Schiff zu fahren. So wurde Griechenland zu einer großen Seefahrernation und Seefahrt und Seehandel brachten viele kulturelle Einflüsse und andere Arten zu denken aus dem ganzen Mittelmeerraum – So etwas ist ein sehr fruchtbares Klima für innovatives Denken. Es ist kein Zufall, dass im gleichen Zeitraum in Griechenland auch die Geschichtsschreibung, die Mathematik und die Naturwissenschaften durch die Decke gingen.

Aber auch das war noch nicht alles: Es musste noch mehr hinzukommen, denn große Seefahrer waren zum Beispiel auch die Phönizier. Es mussten noch zwei Schäufelchen oder drei draufgelegt werden, damit die Griechen zu Philosophen werden konnten. Das erste Schäufelchen war dabei mit Sicherheit die griechische Sprache. Denn die hatte eine Tendenz zum Abstrahieren. So kann man im Griechischen ganz ähnlich wie im Deutschen ziemlich leicht aus den verschiedensten Worten Substantive machen. Und über den Sinn des Adjektives „wahr“ lässt sich eben nicht halb so gut spekulieren wie über den des sakralen Substantives „Wahrheit“.

Das zweite Schäufelchen war dann bestimmt die Alphabetschrift. Zwar hatte es Schriftsysteme schon lange vor den Griechen gegeben, aber keine der älteren Schriften war so vielseitig und leicht zu lernen gewesen, wie die griechische Alphabetschrift. So können wir heute mit Sicherheit sagen, dass die Mehrheit der griechischen Bürger (also der alten weißen Männer) lesen und schreiben konnte. Und das führte zu einigen spannenden Konsequenzen.

Eine dieser Konsequenzen war sicher, dass so Typen wie Hesiod und Homer anfingen die religiösen Mythen aufzuschreiben. Bis dahin waren diese Geschichten immer mündlich weitergegeben worden. Und ein mündlicher Vortrag hat die Eigenschaft und zugleich soziale Funktion, dass er angepasst werden kann. Wenn etwas aufgeschrieben wurde, dann steht es hingegen fest. Schwarz auf weiß. Jeder kann es hervorholen und mit der Welt vergleichen. Und möglicherweise ergeben sich einige Widersprüche zwischen dem, was in den Büchern über die Götter und die Welt steht und dem, was man selbst wahrnimmt. Fest steht zumindest, dass die Griechen nicht sehr hoch von ihren Göttern dachten. Wenn ihr Homer oder Hesiod lest, dann sind die Olympier ein ziemlich rüder Haufen.

Nun werfe man in diese Situation die schon erwähnte Seefahrt mit all ihren fremdartigen Einflüssen. Da war es kein Wunder, dass in Griechenland Sekten aus dem Boden schossen, die andere, neue Religionen versprachen. Die berühmtesten waren sicher der Dionysos-Kult und die daraus hervorgehenden Orphiker. Und in diesem Klima wirkt jemand wie Thales, der statt die einen Götter durch andere zu ersetzen, die Götter einfach durch ein abstraktes Prinzip wie Wasser ersetzt, vielleicht nicht ganz so überraschend. Und damit kommen wir nun endlich zur Beantwortung der Frage:

What’s the big deal?

Ich sagte schon, dass Thales mit seinem Spruch, dass der Urgrund der Welt Wasser ist, das logisch-wissenschaftliche Denken gewissermaßen erfunden hat. Außerdem sagte ich, dass er erstmals den Ursprung der Welt nicht mit Religion begründet hat. Aber das sind ja nun ersteinmal nichts weiter als Worthülsen. Was bedeutet das? Schauen wir uns den Schöpfungsmythos der Griechen doch einmal an: Da ist am Anfang das Chaos. Aber das ist nicht das, was wir heute darunter verstehen, auch wenn es gewisse Eigenschaften teilt. Stattdessen wurde dieses Chaos von den Griechen als ein denkendes, fühlendes Wesen gedacht, das dann folgerichtig auch ein Kind gebären kann: Gaia, die Erde. Auch Gaia ist wiederum beseelt. Wir nennen diese Art zu denken Animismus, dass also Dinge wie die Erde denken können, denen wir heute kein Bewusstsein zuschreiben. Dem gegenüber meint nun Thales, dass die Welt einfach aus Wasser entstanden ist. Ohne dass er Wasser irgendeine Seele oder ähnliches zuschreibt. Und diese Antwort unterschiedet sich auch zum Beispiel vom jüdisch-christlichen Schöpfungsmythos, in dem zwar die Erde nicht beseelt ist, aber von einem denkenden und fühlenden Gott geschaffen wurde.

Aber noch etwas ist anders zwischen Thales’ Antwort und jener der Religionen: Es handelt sich um eine Hypothese, die sich überprüfen lässt. Religion hingegen ist ein Dogma. Alle Fragen werden etwa im Christentum einfach mit „Es steht in der Bibel“ beantwortet. Das kann die Philosophie im besonderen und die Wissenschaft im Allgemeinen nicht. An die Stelle von „Steht in der Bibel“ muss nachdenken und beobachten treten. Natürlich geht aus Aristoteles Zitat nicht hervor, wie Thales seine Hypothese begründet hat, aber er hat damit eine Tradition begündet, in der eben dieses logische Begründungsspiel gespielt wird.

Schließlich ist noch ein dritter Aspekt an Thales Hypothese spannend. Denn er hat damit ein Frage gestellt, ein Thema eröffnet, dem wie in Philosophie, Physik und Biologie noch immer hinterherjagen. Eine der großen Fragen: Was ist das Prinzip oder der Ursprung der Welt, des Lebens etc.? Thales Antwort ist natürlich nicht sonderlich spannend oder auch nur kreativ. Ich sagte ja schon, dass er in einer Stadt lebte, die im höchsten Maße abhängig vom Meer war. Nein, Thales Hypothese war nicht ausgereift, aber sie regte zu weiterem Nachdenken an. Sie war eben der Urgrund der Philosophie.

Quellen

Zur Recherche habe ich verwendet:

* Hinterhältiger Afiliate-Link: Wenn ihr das Buch kauft, bekomme ich eine winzige Provision und freue mich.

Bildquellen

Die Slides wurden erstellt mit dem Programm SketchBookExpress. Alle Quellenangaben in chronologischer Reihenfolge. Alle Bilder, für die keine Quelle angegeben wurde, stammen entweder von mir oder sind gemeinfrei.

Das Ende der Video-Kassette

Seit 40 Jahren werden VHS-Videokassetten produziert. Doch jetzt ist Schluss. Platinum, eine Marke, die uns Bandsalatpflückern ein wissendes Lächeln entlockt, hat angekündigt bis Ende des Jahres die letzten Exemplare abzuverkaufen. Nach der Kassette und Monkey Island muss ich also noch einen dritten Nachruf auf einen popkulturellen Wegbegleiter meiner Jugend verfassen.

Eine meiner letzten beiden Video-Kassetten. Bild von mir.
Eine meiner letzten beiden Video-Kassetten. Bild von mir.

Wie schon bei der Kassette, so kann ich auch beim Video noch erstaunlich genau sagen, wann es in mein Leben trat: Im November 1996. Ich war im September 16 geworden und damit endlich alt genug für einen Job neben der Schule. Entsprechend verschwendete ich keine Zeit, sondern fing in einem Schuhgeschäft in Gießen an zu arbeiten. Ein irrwitziges Unterfangen, denn Gießen liegt zwar nur 14 Km von meinem damaligen Wohnort Kaff entfernt, doch der Bus brauchte dafür eine geschlagene Drieviertelstunde und fuhr vor allem abends nur äußerst selten. Wenn ich nach Ladenschluss (damals noch um sieben Uhr) den Bus um Zehn nach Sieben verpasste, musste ich eine geschlagene Stunde warten, bis der nächste kam. Kein Wunder, dass ich anfing zu trampen. Beim Trampen habe ich durchaus kuriose Sachen erlebt, aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden.

Denn hier geht es um die Videokassette! Im November 96 kaufte ich mir also von meinem ersten Gehalt einen Videorecorder. Es war zwar „nur“ ein Orion (und kein hipper Sony), aber es war richtig heißer Scheiß! Der Recorder konnte beispielsweise Zweikanalton aufnehmen, was mich in den Genuss von Filmen im O-Ton brachte. Oder auch in den Genuss der Bildbeschreibung für Blinde, was ein nützliches Feature ist, wenn man nachts noch einen Film guckt und die Augen nicht mehr aufhalten kann. Wer braucht schon Bilder beim visuellen Medium Film? Der Videorecorder konnte außerdem mit Longplay aufnehmen. Dadurch passte auf eine Videokassette doppelt so viel Film. Und das in wirklich atemberaubend schlechter Qualität. Ein paar Jahre später wohnte ich in meiner ersten eigenen Wohnung in Gießen. Dort hatte ich nur eine Zimmerantenne und so schlechten Empfang, dass das Bild jedesmal aussetzte, wenn ich am Fernseher vorbei in die Küche ging. Das konnte ich noch Jahre später auf den alten Bändern erkennen.

Doch das wichtigste Feature meines Videorecorders war, dass er auch das amerikanische NTSC-Format abspielen konnte. Die meisten Videorecorder beherrschten nur das europäische PAL. Das öffnete mir die Türen zur Videosammlung eines Freundes mit einer großen Schwester in Amerika. Dazu muss ich noch erzählen, dass ich in einem kabellosem Dreikanal-Haushalt aufwuchs. Und wenn meine Freunde am Montag von Star Wars, Indiana Jones oder von einem Tom-Hanks-Streifen schwärmten (in meiner Erinnerung lief Tom Hanks ständig im Fernsehen, allerdings nur auf so sagenumwobenen Sendern wie SAT1 oder Pro7), konnte ich nur von Forsthaus Falkenau oder dem Landarzt berichten. Doch jetzt, mit dem Videorecorder konnte ich endlich in eine weitenfernte Galaxie, nach Inglewood oder in den Tempel des Todes reisen. Ich war auf der Flucht, wurde von Hooch vollgesabbert, verliebte mich vor Sonnenaufgang, kämpfte im Titty Twister oder barfuß gegen Terroristen und durchlebte den Murmeltiertag immer und immer wieder.

Besonders angetan hatte es mir Braveheart. Den habe ich so oft im O-Ton gesehen, dass ich Jahre später in Englisch mitsprechen konnte, als er mal auf Deutsch im Fernsehen lief. Meine Schwester schenkte mir dann zum nächsten Geburtstag einen Ausweis für die Videothek und damit war mein Glück komplett. Denn offiziell durfte man zwar erst ab 18 in die Videothek, aber solange man einen Ausweis vorzeigte, interessierte sich niemand für dein Alter und den Namen auf dem eingeschweißten Stück Papier las auch niemand.

Das Ende meines Videorecorders läutete absurderweise ein Handyvertrag ein. Was wir uns im Smartphone-Zeitalter gar nicht mehr vorstellen können: Anfang der 2000er-Jahre war der Handymarkt komplett gesättigt. Die Handys konnten damals halt nur telefonieren und SMS schreiben, aber der Akku hielt zwei Wochen und selbst nach zwei Jahren Vertragslaufzeit noch 1,5 Wochen. Mit anderen Worten: Es gab keinen Grund, sich ständig ein neues Handy zu kaufen. Daher fingen die Anbieter an, dir absurde Werbegeschenke zu deinem Handy dazuzupacken. Ich schloss damals einen Vertrag ab, zu dem ich nicht nur ein schickes Klapphandy bekam, sondern obendrein auch noch einen DVD-Player.

Anfangs durfte der alte Videorecorder noch eine Parallel-Existenz zum DVD-Player führen und ich nahm mit ihm Serienfolgen auf zum zeitsouveränen Anschauen. Doch bald standen in den Videotheken mehr DVDs als Videos und die Aachener Video-Insel hatte eine gute Auswahl an Serien. Die ließen sich dann bequem im O-Ton gucken, und das auch noch ohne bei Werbung vorspulen zu müssen. Spätestens 2003 oder 2004, als ich dann auch noch einen DVD-Brenner für meinen PC erhielt, staubte der Videorecorder nur noch ein. Mittlerweile sind auch DVDs und Blue-Rays gefährdete Spezies geworden, landauf, landab schließen die Videotheken und auch ich bin vom Filme-Jäger und -Sammler längst zur Domestizierung übergegangen und glücklicher Kunde von verschiedenen Video-Streaming-Diensten.

Aber vor ein paar Wochen ließ ich meine Videosammlung noch ein letztes Mal durch meine Hände wandern: Um sie in einer Tüte auf die Straße zu stellen – zum Verschenken. Und es hat gar nicht lange gedauert, da schnappte sich jemand die Tüte voller schwarzer Kassetten und ich hoffe, er oder sie hatte damit ein paar schöne Abende.

Zeitkapsel vom 1. Juli 2015

Von kämmenden Affen, Griechenland und Sandkästen

Mir ist eine schöne Idee gekommen, worüber ich schreiben kann. Die eine oder der andere meiner Leserinnen und Leser hat es vielleicht schon mitbekommen, ich habe zwei Töchter (7) und (0). Und als Vater gehört es ja zu meinem Job, den beiden die Welt zu erklären: Wie du feste Nahrung isst, wie du Müsli isst, ohne dass du anschließend duschen musst, dass es zwar okay ist, Altpapier zu zerrupfen, aber nicht okay, das mit Büchern zu tun und dass drei Minuten Zähneputzen schneller vorbei sind, als eine halbe Stunde Diskussion, warum du die Zähne putzen musst  etc. …

Aber das ist ja nur ein sehr kleiner Ausschnitt der Welt. Daneben gibt es noch die größere Welt mit der Euro-Krise, den Arbeitnehmerrechten, dem Internet, dem neuen James-Bond-Film usw. Ganz zu schweigen von der ganz großen Welt mit dem Urknall, den DNA-Strängen, der Wahrheit und dem ganzen Rest, von der wir gar nicht sagen können, ob wir sie jemals verstehen werden. Oder in den Worten von Douglas Adams:

„Es gibt eine Theorie, die besagt, wenn jemals irgendwer genau herausfindet, wozu das Universum da ist und warum es da ist, dann verschwindet es auf der Stelle und wird durch noch etwas Bizarreres und Unbegreiflicheres ersetzt. – Es gibt eine andere Theorie, nach der das schon passiert ist.“

Douglas Adams: Das Restaurant am Ende des Universums. Zitiert nach Wikiquote.

Und für diese Aspekte der Welt sind meine Töchter ja nun noch etwas zu klein. Daher möchte ich ihnen eine Zeitkapsel schicken. Ich habe vor regelmäßig unregelmäßig (wie ich mich kenne) ihnen einen Einblick zu schreiben, was uns Menschen derzeit bewegt. Und WordPress ermöglicht es mir ja, den Veröffentlichungszeitpunkt zu bestimmen. Daher werde ich den Artikel zweimal veröffentlichen: Einmal jetzt für euch und dann noch einmal in zwanzig Jahren für meine Töchter.

Warum ich das mache?

Ich war in den 80ern so alt wie es meine Töchter jetzt sind. Und natürlich kann ich mir historische Ereignisse wie den NATO-Doppelbeschluss, Tschernobyl, Terminator, Blade Runner, die Ärzte, Depeche Mode, den zweiten Afghanistankrieg, den ersten Golfkrieg oder den Mauerfall anlesen, -hören und -gucken. Ich kann auch meine Eltern fragen, was sie heute darüber denken. Vielleicht wissen sie sogar noch, was sie damals gedacht haben. Aber es wird immer erinnern sein, während ich jetzt erlebe. Und dieses Erleben möchte ich mit meinen Töchtern teilen.

Und im hier und jetzt ist das Schreib- und/oder Leseerlebnis spannend, da ich aktuelle Ereignisse ganz anders erklären muss, als wenn ich es für Zeitgenossen tun müsste.

Genug der Vorrede, hinein ins Vergnügen

Liebe M., liebe K.,

ich schreibe euch diesen Brief, um euch zu erklären, wie ich die Welt gesehen habe, als ihr noch klein wart. Ich kürze eure Namen übrigens ab, da ich euch selbst überlassen möchte, das Internet zu erobern. Vor kurzem hatte zwischen vielen Bloggerinnen und Bloggern ein Diskurs stattgefunden, ob und wie viel man seine Kinder ins Netz stellen darf. Ich persönlich finde es überhaupt nicht schlimm, (unverfängliche) Informationen und Bilder von Kindern zu veröffentlichen. Denn wir hier in den 10er-Jahren handeln gerade aus, wie wir leben wollen mit einem Bein in der digitalen Welt. Und da Kinder ein Teil der Welt sind, sollten sie auch im Digitalen vorkommen. Hier könnt ihr diese Debatte gut zusammengefasst nachlesen (ich bin gespannt, wie viele Links in 20 Jahren noch funktionieren). Doch ihr fragt euch bestimmt, warum ich dann trotzdem nicht eure Namen hier schreibe, oder? Nun, ich habe mir da viele Gedanken gemacht und mein Standpunkt ist folgender: Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, dieses Internet zu entdecken und langsam und unsicher, mit vielen Fehlern und Problemen aber auch irrwitziger Freude herauszufinden, was ich von mir ins Netz stelle und was nicht. Das möchte ich euch nicht wegnehmen. Ich möchte, dass ihr das selbst erleben dürft und ich wünsche euch viel Spaß dabei.

So, nun aber zum eigentlichen Thema: Was ist los in der Welt. Doch bevor ich gleich mit den deprimierenden Nachrichten einsteige, hier erst einmal ein GIF von einem Affen, der sich kämmen lässt:

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https://i.imgur.com/XUt7cJO.gifv (Direktlink)

Griechenland

Puh, gleich das erste Thema ist ein ganz schöner Brocken. Ich frage mich, wie die Wirtschaft bei euch in der Zukunft aussieht. Bei uns war sie jedenfalls ganz schön auf Kante genäht. Und 2007 brach das System in sich zusammen. In den USA hatten Banken zu viele Kredite an Menschen vergeben, die diese Kredite nicht zurückzahlen konnten. Die Banken hatten das getan, um kurzfristig ganz viel Geld zu verdienen, ohne daran zu denken, was in 5 oder 10 Jahren sein wird. Irgendwann war dann die Zahl der Menschen, die nicht mehr zahlen konnten, so groß, dass eine ganz große Bank (Lehman Brothers) pleite ging. Und weil sich auf dem Finanzmarkt jeder von jedem Geld leiht, standen plötzlich weltweit hunderte andere Banken vor der Pleite. Um das abzuwehren, pumpten die Staaten ganz viel Geld in diese Banken. Das führte dann aber dazu, dass andere Probleme zutage traten. Nämlich, dass unsere Staaten seit Jahrzehnten auf Pump leben und jährlich mehr Geld ausgeben, als sie einnehmen. Deutschland zum Beispiel hat seit den Sechzigern jedes Jahr Schulden gemacht. Und Deutschland ist kein Einzelfall sondern liegt voll im Trend.

Das führte ab 2009 dann zur sogenannten Eurokrise. Denn einige Staaten waren besonders verschuldet, allen voran Griechenland. Die Euro-Gruppe, also die europäischen Staaten, die den Euro als gemeinsame Währung haben, hatten Angst, dass eine Kettenreaktion von Pleiten einsetzt, wenn Griechenland erst einmal vor die Hunde gegangen ist. Daher lieh sie Griechenland Geld. Aber im Gegenzug legte sie Griechenland ein enormes Sparpaket auf. Griechenland muss seine Renten und andere Sozialausgaben massiv kürzen, es musste jede Menge Beamte entlassen und und und.

Das ganze Sparpaket folgte der Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus‚. Und viele – vor allem – Linke glauben, dass das ein Problem ist. Sie glauben, dass Griechenland sich zu Tode spart und lieber weiterhin etwas mehr Schulden machen sollte, damit es das Geld in die eigene Wirtschaft investieren kann und so langfristig reicher wird, um dann die Schulden bezahlen zu können.

Ich weiß übrigens nicht, was ich darüber denken soll. Der Investitionsansatz (auch Keynesianismus genannt) klingt logisch, allerdings macht Deutschland das – wie ich bereits schrieb – seit nunmehr mehr als 50 Jahren und mittlerweile muss der Bund satte 12% des Bundeshaushalts zur Schuldentilgung aufwenden. Das ist der zweitgrößte Posten im Etat. Zwar scheint derzeit alles darauf hinauszulaufen, dass Deutschland beginnen kann, die Schulden zurückzuzahlen, aber der deutschen Wirtschaft geht es auch gerade verdammt gut. Da Krisen im Kapitalismus zyklisch auftreten, wird die nächste bestimmt bald kommen und dann werden wieder neue Schulden dazu kommen. Wenn ich das zu Ende denke, ist die Strategie vielleicht nicht sehr viel vorausschauender als diejenige der Banken vor 2007.

Puh, das ist wirklich kompliziert, da die Weltwirtschaft ein sehr komplexes System ist, das niemand voll durchschaut. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass es im Augenblick den Menschen in Griechenland echt schlecht geht. Daher wählten sie auch im Januar dieses Jahres (2015) eine neue, linke Regierung. Und jetzt komme ich endlich zu dem Grund, warum ich das alles schreibe: In der vergangenen Woche musste sich Griechenland wieder Geld von der Euro-Gruppe leihen. Daraufhin verlangten die europäischen Staaten noch mehr Sparmaßnahmen.

Und die griechische Regierung meinte dann so: „Nope, jetzt reicht’s endgültig! Wir lassen in einem Referendum alle Griechen entscheiden, ob wir diese neuen Konditionen annehmen.“
Darauhin die Euro-Gruppe so: „Waaaas?! Alter, ihr wollt doch nur Zeit schinden, jetzt reicht’s uns, ihr bekommt kein Geld mehr.“

Und im Augenblick weiß keiner wie es weitergeht. Entweder gibt eine Seite nach, oder Griechenland erklärt den Staatsbankrott. Als weitere Option steht der sogenannte Grexit im Raum, dass Griechenland also aus dem Euro aussteigt und wieder eine eigene Währung bastelt. Das könnte dazu führen, dass Griechenland sich bei Banken zu günstigeren Konditionen Geld leihen kann als jetzt. Glaube ich zumindest, denn auch das durchsteige ich alles nicht komplett. Jedenfalls sind die Griechen voll in Panik und heben gerade all ihr Geld von der Bank ab. Damit die griechischen Banken nicht pleite gehen, werden sie jetzt zwangsgeschlossen. Und nebenbei gibt es noch so kuriosen Quatsch wie den Generalsekretär der NATO (also unseres Militärbündnisses, falls es das bei euch nicht mehr gibt), der meint, dass Griechenland zwar sparen soll, aber doch bitte nicht bei den Militärausgaben. Pfff …

Puh, ich merke, dass dieser Artikel durch die ganzen Erläuterungen schon jetzt länger ist, als geplant. Dabei wollte ich eigentlich auch über Islamismus, die Homo-Ehe, Ausländerfeindlichkeit in Deutschland, die Panorama-Freiheit, den Film „Mad Max Fury Road“ und Frankfurt schreiben. Das mache ich dann in den nächsten Tagen Wochen. Nur noch zwei Dinge: Wir leben derzeit in Frankfurt. Keine Ahnung, ob das in 20 Jahren noch der Fall sein wird. Und ich wollte euch Einblick in unser Frankfurt geben. Heute vom „Wikingerspielplatz“, auf dem wir am Sonntag waren:

Sonntag.

Ein von @privatsprache gepostetes Foto am

Bis bald

Euer Papa/Daniel

Beweis, dass die Homo-Ehe nicht die Heterosexualität diskriminieren wird

Heute teilte ich ein Zitat aus der FAZ auf Twitter, in dem der Autor doch tatsächlich behauptete, der „Gendermainstream“ sehe heterosexuellen Sex als Homophobie an. Nachdem ich das als „dummdreist“ bezeichnet hatte, kam auch noch ein Typ an und maulte rum, ich solle ihm erst einmal beweisen, dass die Homoehe nicht zur Diskriminierung der Heterosexualität führen werde.

Zunächst tat ich das als reine Unlogik ab, schließlich kann ich die Nichtexistenz von etwas nicht beweisen. Aber nach einem zweiten Gedanken kann ich das eigentlich doch beweisen. Und zwar mit einem Blick in die Geschichte:

Ab 1433 (in Braunschweig-Wolfenbüttel) bis 1833 (in Hannover) wurde die Leibeigenschaft in allen deutschen Staaten (Österreich 1848) abgeschafft. Überraschenderweise führte dies nicht zu einer Unterjochung der Grundbestizer.

1834 verbot das Britische Empire die Sklaverei. Davor waren in der Neuzeit vor allem Afrikaner versklavt worden. Überraschenderweise wurden anschließend keine Europäer versklavt.

1869 führte Wyoming als erster neuzeitlicher Staat das Frauenwahlrecht ein. Überraschenderweise führte dies nicht zur Abschaffung des Männerwahlrechts.

1955 weigerte sich Rosa Parks, ihren Sitz im Bus für einen Weißen zu räumen. Daraus entwickelte sich die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung, die zu einem Ende der Rassentrennung und zu gleichen Rechten für Afroamerikaner führte. Überraschanderweise wurden dadurch nicht die Rechte der weißen Bevölkerung eingeschränkt.

Seit 1957 wurde die Strafverfolgung Homosexueller in Ost- und Westdeutschland bis 1994 schrittweise zurückgenommen. Überraschenderweise führte es nicht zu einer Strafverfolgung Heterosexueller.

Die Freilassung Nelson Mandelas 1990 führte zum Ende der Apartheid in Südafrika. Überraschenderweise aber nicht zu einer Unterdrückung der weißen Minderheit.

2000 trat in Deutschland das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung in Kraft. Überraschenderweise führte es nicht zu vermehrter Gewalt von Kindern gegen ihre Eltern.

2015 sprach sich die irische Bevölkerung für die Gleichstellung der homosexuellen Ehe mit der heterosexuellen Ehe aus. Wird dies wohl zu einer Unterdrückung der Heterosexuellen führen …?

 

Q. E. D. ALTER!

Das Muttertagsgeschenk

Neulich waren wir in einem Drogeriemarkt, in dem ich nach einem neuen Aftershave suchte. Während die Dame mich bei diesem Unterfangen unterstützte, probierte unsere Tochter (7) einmal so ziemlich jeden Parfumspender aus und roch am Ende wie eine Filiale von Lush! Ein paar Tage später offenbarte meine Tochter mir dann ihre Pläne für den Muttertag:

Meine Tochter (7) so: „Ich male der Mama eine Karte zu Muttertag. Und in Werken bastele ich für meine Lehrerin zum Geburtstag eine Dose.“
Ich so: „Willst du für die Dame nicht auch etwas basteln?“
„Nein.“
„Ah … ha … Und warum nicht?“
„Weil ich ihr etwas kaufen will: Als wir da neulich im Drogeriemarkt das Parfum probiert haben, da hat sie bei dem letzten gesagt, es riecht gut.“
„Okay …“

Na ja, wir haben dann verabredet, dass ich sie am Donnerstag vorm Muttertag vom Hort abhole und wir gemeinsam das Parfum kaufen gehen. Sie hat es sogar noch im Laden an der Selbstbedienungseinpacktheke selbst eingepackt. Ich habe es dann in meinen Rucksack gesteckt und erst einmal vergessen.

Später chillten wir dann zusammen mit dem Baby und der Dame auf unserem Wohnzimmerboden um. Das ist ja auch ein merkwürdiges Phänomen, dass das Leben eine Etage nach unten absinkt sobald man ein krabbelndes Baby hat. Ich erwische mich sogar manchmal dabei, dass ich mich auf den Boden vor das Sofa und nicht auf das Sofa setze, selbst wenn das Baby gar nicht dabei ist. Wie auch immer … Wir hocken also alle auf dem Boden, als meine Tochter (7) mir auf einmal die Frage ins Ohr flüstert, wo denn das Geschenk ist. „Noch immer in meinem Rucksack“, erwidere ich.

Darauf geht sie „ganz unauffällig“ zu meinem Rucksack, stellt sich so, dass sie der Dame den Rücken zuwendet und holt das Geschenk aus meinem Rucksack. Nachdem sie es in Ihrem Zimmer versteckt hat, kommt sie mit so einem Probe-Pappstreifen aus dem Drogeriemarkt zurück hält ihn der Dame unter die Nase und sagt: „Riech mal! Riecht gut, oder?“

Das mit den Geheimnissen üben wir noch …

Wirklich crazy shit!

Gestern hatte ich ein kafkaeskes Erlebnis: Auf der Fahrt zur Arbeit hörte ich Logbuch Netzpolitik, in der natürlich die Vorratsdatenspeicherung ausführlich besprochen wurde. Unter anderem bezogen sich Tim Pritlove und Linus Neumann dabei auf diese Übersicht von Bundesjustizminister Heiko Maas:

Und gleich der erste Punkt hat es in sich. Denn was da so schön zusammen gefasst ist mit …

4 Wochen Speicherfrist für Mobiltelefone
Funkzelle, in der sich das Mobiltelefon befindet
Zeitpunkt des Aufenthalts in der Funkzelle

… bedeutet im Klartext nichts anderes, dass der Deutsche Staat in Zukunft ein Bewegungsprofil für die Gesamtbevölkerung haben wird. Sie. Werden. Von. Jedem. Einzelnen. Menschen. In. Diesem. Land. Zu. Jeder. Zeit. Wissen. Wo. Er. Sich. Aufhält! Das ist der feuchte Traum jedes kontrollsüchtigen „Law & Order“-Fans.

Doch das war noch nicht einmal der kafkaeske Teil meines gestrigen Tages. Der kam am Nachmittag. Direkt nach der Arbeit gingen wir nämlich als komplette Familie zu „FUN – Familie und Nachbarschaft“. Die Grundschule meiner Tochter (7) hatte uns eingeladen an diesem Programm der Stadt teilzunehmen. Und prinzipiell erschien mir die Idee, andere Eltern und Kinder aus unserem Viertel kennenzulernen, durchaus erstrebenswert. Das, was aber hinten rauskommt, wenn man diese Veranstaltung von Grundschullehrern und -lehrerinnen organisieren lässt, ähnelt dann eher einer schrägen Gruppentherapiesitzung. Wirklich crazy shit!

Aber auch das war noch nicht der kafkaeske Teil, der kommt jetzt: Denn einer der ersten Tagesordnungspunkte und noch ganz bodenständig, war unsere schriftliche Einverständniserklärung, dass die Lehrer und Lehrerinnen Fotos von uns und vor allem von unseren Kindern machen dürfen.

Wir leben also in einem Land, in dem der Staat Fotos für einwilligungspflichtig hält, aber Totalüberwachung des Aufenthaltsortes der absolut okay ist keiner zusätzlichen Legitimation bedarf …