Ein Buch auf Reisen…

Ich habe – um hier mal ein bisschen Platz zu schaffen – zum ersten Mal ein Buch mit Bookcrossing.com auf Reisen geschickt. Ich bin gespannt, was daraus wird.

Es war Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel

Nicht gerade mein Liebligsbuch, manchmal etwas langatmig, aber für jeden, der Verschwörungstheroien mag, durchaus spannend…

Mehr Infos gibt es bei Bookcrossing.

Quer durch – mein Roadtrip

Da ich gerade einfach keine Zeit finde zum Schreiben, habe ich mal wieder einen alten Text von mir herausgekramt. Den habe ich einst für einen Wettbewerb geschrieben. Ich habe nicht gewonnen oder bin auch nur irgendwie in die engere Wahl gekommen. Dass er aber trotzdem eines der besten Stücke ist, die ich je geschrieben habe, sagt wohl viel über mein Talent aus, was?

Der Text stammt von 2003, was meine Einwürfe zum Einwegpfand, zu den Staatsfinanzen und zur „Verschandelung der Landschaft“ verständlicher macht. Viel Spaß…

Quer durch

Wenn du mit vier wildfremden Menschen in einem viel zu kleinen Toyota mit Stufenheck einmal quer durch die Republik fährst, stellen sich dir eine Reihe merkwürdiger Fragen: Wer bist du? Woher kommst du? Wie bist du hierher gekommen? Und warum, zum Geier, musst ausgerechnet du hinten in der Mitte sitzen?

Beim Autofahren aus dem Fenster blicken
Der Blick nach vorne

Ich hatte 14 Tage in der Hauptstadt verbracht, in jener einzigen Metropole dieser Republik. Doch irgendwann muss jeder mal den Gang nach Canossa oder vielmehr zurück in die Provinz antreten. Jetzt befand ich mich also auf dem Rückweg in die westlichste Stadt des Landes.

Wie an jedemTag in den letzten zwei Wochen bin ich auch an jenem Sonntag bereits breit und eine wohl kultivierte Abschiedsmelancholie macht sich in mir breit, als ich die S-Bahn Richtung Ostbahnhof betrete. Wir reden kaum und wenn, dann meist belanglosen Quatsch. Alles in allem benehmen wir uns wie von Grönemeyer klischeetisierte Männer: Emotionen unterdrücken, vernebeln, ausblenden. Am Ostbahnhof schleppe ich meine viel zu schwere Tasche zum Taxistand.

Zehn Minuten müssen wir warten, bis meine Mitfahrgelegenheit.de sich zu erkennen gibt. Den ganzen Weg hierher hatte ich gehofft, dass noch jemand mitfährt. Diese Hoffnung sollte sich bald in Ihr Gegenteil verkehren. Dann tritt er auf den Plan: Seinen Namen habe ich im Gegenteil zu seiner E-Mail-Adresse (Toyotafan1984@hastenichgesehn.de) bereits wieder vergessen, na ja, macht nichts, sowieso nur ein „portionierter Freund“. Er ist ganz in schwarz gekleidet, mit seifenblasig verspiegelter Radfahrerbrille und auf dem Kopf trägt er einen gescheiterter Blondierversuch. Möglicherweise ist das typische Orange sogar gewollt.

Seine erste Frage: „Redest du viel?“

Freut mich auch ihn kennen zu lernen: „Kommt drauf an, warum?“

Er könne schließlich nicht Zeitunglesen während der Fahrt. Das Grinsen in den Gesichtern meiner Freunde, die mindestens genauso breit wie ich sind, wächst zusehends. Als wir zum Auto kommen, stehen dort zwei andere Mitfahrer, beides Zecken, gut. Ich lade meine Tasche ins Auto und unternehme noch einen letzten verzweifelten Versuch an mein Buch zu kommen. Doch unter dem skeptischen Blick des offensiv kommunikativen Fahrer muss ich einsehen, dass ich nur noch an das nicht mehr ganz so gelbe Reclambüchlein komme. Statt französischer Gesellschaftskritik soll ich mich nun mit Sprachhandlungen abspeisen lassen… Nun gut.

Nun warten wir noch auf den vierten (!) Mitfahrer und meine Freunde verabschieden sich. Der Fahrer verlangt noch vor erbrachter Leistung, bezahlt zu werden.

Auf: „Wollen wir jetzt das mit dem Geld machen?!“

Entgegne ich noch mal: „waren das 22 Euro?“

Es sind noch immer 22, trotz vier Mitfahrern in einem viel zu kleinen Wagen. Dann kommt der vierte Mitfahrer, der sich als Mitfahrerin entpuppt. Eine kleine, durchaus attraktive Mitfahrerin mit dunklem Teint und kurzen schwarzen Locken.

Als gerade die Rangelei um die besten Plätze (hinten) losgehen soll, erweise ich mich als Spielverderber indem ich, nur halbherzig mit „zu wenig Schlaf“ rechtfertigend, mich hinten (immerhin) in der Mitte niederlasse. Die vergiftete Antwort: „Wir haben alle wenig geschlafen!“ ignoriere ich und schließlich wird Mitfahrerin Fünf nach vorne geschoben, trotz verhaltener Proteste. Sie darf nun den Fahrer wach halten, aber nichts zu essen mehr einkaufen. Der Fahrer will das „unterwegs“ machen. Die kleine weibliche Zecke, die typisch rheinisch redet, aber – wie ich später erfahre – ursprünglich aus Bayern kommt, versteht meinen Vermittlungsversuch nicht und alle quetschen sich zur gleichen Tür rein wie ich. Ich muss durchrutschen und die Wahlkölnerin mittig sitzen. Pech für sie.

Die Sonne steht schon tief, der Sommer ist vorbei, als wir den Weg nach Westen einschlagen. Pflichtbewusst erkunde ich mich smalltalktechnisch, ob mit vielen Staus zu rechnen ist. Die Antworten widersprechen sich, aber alle sind sich ganz sicher bei der ihren, denn sie fahren ja öfter um diese Zeit diese Strecke. Als ich dann, während wir noch durch die Hauptstadt kurven, die sich im weichen Altweiber-Sonnenlicht von ihrer schönsten Seite zeigt, die angestoßene Konversation über Verkehrsregularitäten vertiefen möchte und noch mal nachfrage, wo denn mit Staus zu rechnen ist, mich dabei noch dahingehend oute, dass ich nicht einmal weiß, dass wir nicht durch Dortmund fahren sondern daran vorbei und die Antwort des Fahrers nicht nur vorhersehbar, sondern auch Wortkarg ausfällt, betrachte ich meine kommunikative Pflicht als erledigt. Ich lehne mich zurück, schließe meine Augen so weit, dass das Sonnenlicht durch meine Wimpern in seine Spektralfarben zerlegt wird und chille. Die anderen sollen durchaus den Eindruck haben, ich schlafe. Um meine Absichten schließlich unmissverständlich mitzuteilen, verschränke ich noch demonstrativ meine Arme vor der Brust und vermeide Blickkontakt. Man kann schließlich nicht nicht kommunizieren.

Die Stadtautobahn ist nach einer Dreiviertelstunde erreicht. Der Fahrer hat seine Beifahrerin schon konservatorisch gefangen genommen mit der obligatorischen Frage: „Und was machst du so in…“ Sie arbeite in der Medienstadt aber als Sozialpädagogin in Krisenfamilien. Kurze Inhaltsangabe ihres Berufsalltag folgt genau wie das ebenso obligatorische: „Und Du?“.

Er arbeitet bei Toyota in der Fertigung von Motoren für Formel-1-Boliden. Als was, sagt er nicht, nur dass er Mathematik studiert habe, was man ihm – mit Verlaub – nicht ansieht. Da bin ich oberflächlich, sicher. Wir nähern uns unaufhaltsam Magdeburg, die Börde langweilt mich: flaches Land, soweit das Auge reicht. Ich freue mich schon auf Westfalen. Konstant auf der linken Spur fahrend spricht der Mathematiker fasziniert von der „akribischen Arbeit“, den „immensen Kosten“ und dem „ungeheuren Zeitaufwand“. Ich stehe vor der schwierigen Entscheidung ob ich mal einen Blick auf den Tacho werfen soll oder nicht. Der Nachteil: ich müsste meine Defensivhaltung aufgeben. Die mittige Wahlkölnerin ist eingeschlafen. Sie ist ein wenig stämmig, nicht dick, aber hat sich für die Linksneigung entschieden. Das bedeutet, dass sie ihr Gewicht immer so lange auf mir lasten lässt, bis ihr Kopf nach vorne kippt und sie zuckend wieder Haltung annimmt. Mein rechtes Bein schwitz, da es mangels Platz gegen das ihre gepresst ist.

Der unsichtbare Dritte macht sich unleserliche Notizen in ein abgegriffenes Heft. Ansonsten ist er still, mischt sich nicht ins Gespräch zwischen dem links fahrenden Mathematiker und der kleinen Pädagogin, das mittlerweile ein echter Dialog geworden ist. Nachdem der linksfahrende Mathematiker erzählt hatte, dass es ihn eigentlich nach Japan gezogen habe, aber da nichts zu machen sei und man als Europäer in dem Land sowieso keine Chance hat, stieß die Pädagogin ein Gespräch über die japanische Kultur an. Jetzt exemplifiziert sie anhand der Asiaten, mit denen sie während des Studiums zusammen gewohnt habe, die arrogante Verschlossenheit in deren Kultur. Der links fahrende Mathematiker meint sich da besser auszukennen und ermahnt sie, nicht alle Asiaten in einen Topf zu werfen (womit er sicher recht hat). Chinesen seien Europäern gegenüber mehr aufgeschlossen als Japaner(n). Die seinem Idiom zu verdankende Doppeldeutigkeit löst er nicht auf und ich frage nicht nach. Die Pädagogin geht ein bisschen in Deckung mit dem Einwand: „Ich kann nur aus meinen eigenen Erfahrungen schließen. Und das sind die Erfahrungen die ich gemacht habe.“ Super: eine Vollblut-Empiristin.

Die Art und Weise, wie sie das sagt, lässt darauf schließen, dass die kleine Pädagogin den Satz oft bringt, wahrscheinlich beruflich. Jetzt agitiert der links fahrende Mathematiker zaghaft gegen Türken, denen er nicht die Fähigkeit einräumt, sich in die Deutsche Gesellschaft eingliedern zu können. Doch die kleine Pädagogin mit dunklem Teint gibt sich als Türkin zu erkennen und die beiden scheinen sich stillschweigend auf Unentschieden zu einigen.

Während wir uns Hannover nähern, nutzt die mittige Wahlkölnerin die eingetretene Stille um sich beim rechtssitzenden unsichtbaren Dritten über ihr verschwitztes linkes Bein zu beschweren, das dauerhaften Kontakt mit dem meinen hat. Er beschwichtigt, dafür könne keiner von uns was. Sehe ich ähnlich, würde allerdings noch anhängen: „Außer dem Fahrer!“.

Die Wahlkölnerin verlangt nun nach einer Pinkelpause, doch der Mathematiker vertröstet sie, während er konstant links fährt: „Ich will erst an Hannover vorbei! Noch ’ne halbe Stunde.“ Die Zeit bis zur ersten und letzten Rast nutzt die Pädagogin um über Verdienst, im Sinne von Einkommen und Verdienst, im Sinne von Wertschätzung zu sinnieren. Ihrer Meinung nach korreliert beides und ihr geringes Einkommen führt sie auf mangelnden Respekt des Staates gegenüber ihrer Kaste zurück. Vielleicht hat sie da recht, vielleicht auch nicht, schließlich ist der Staat pleite…

Als wir auf den Rasthof abbiegen, steht die Sonne bereits dicht über dem Horizont. Die Wirkung der Droge ist nur noch eine schwache Ahnung und meine Synapsen schreien nach Nikotin, während mein Mund vor Trockenheit schmerzt. Also erst mal rein in die Raststätte, doch die verschiedenen Erfrischungsgetränke sind allesamt mit Einwegpfand beladen, den ich nie wieder sehen würde. Ich entscheide mich schließlich für Kakao ohne Pfand. Die Flasche unter den Arm geklemmt, verlasse ich Zigarette drehend die Raststätte und überlege, ob das im Netz annoncierte „Nichtraucher“ sich lediglich auf den Konsum im Wagen bezog, oder ob ich mich durch meine Sucht zur Weiterfahrt disqualifiziere. Doch als ich zum Wagen komme, steht dort der unsichtbare Dritte und raucht ebenfalls das Kraut. Die Pädagogin erfährt auf Nachfrage, dass der stille Raucher ebenfalls Pädagoge ist: in der Erwachsenenbildung. Sie nutzt diesen glücklichen Zufall um noch einmal die Diskussion ums Gehalt anzuschneiden. Die Wahlkölnerin kommt und raucht ebenfalls. Als der Fahrer kommt, freut er sich kurz über die Strecke die wir bereits hinter uns haben und will gleich „das nächste Stück in Angriff nehmen“.

Die Sitzplatzdiskussion beginnt erneut, jedoch in Variation: Jetzt wollen beide Frauen vorne sitzen. Die energischere Wahlkölnerin setzt sich durch und ich mich auf Bitten der Pädagogin in die Mitte. Ich spiele kurz mit dem Gedanken, das letzte Tageslicht zu nutzen und doch noch zu lesen, entscheide mich aber dagegen. Die Pädagogin sitzt jetzt links von mir und erkundigt sich nach meiner Lektüre. Ich schmeiße ihr ein paar Brocken hin und sie bestätigt mir, dass es sie nicht wirklich interessiert. Im Gegensatz zum Fahrer, der zwar konstant links, aber wie ich jetzt sehen kann, nur 140 fährt. Das hat auch zur Folge, dass im Laufe des Abends hinter uns der ein oder andere Porsche oder Mercedes die Lichthupe betätigt oder schlicht rechts überholt.
Der Fahrer meint noch, nachdem er sich über die Sprechakttheorie erkundigt und mein Studienfach erfragt hat, was ich denn damit machen will…

…Nein, welch’ kreative Frage, hab ich ja noch nie gehört…

Ich spiele kurz mit dem Gedanken, meine Standardantwort auf die Standardfrage zu geben: „Ist doch klar – ich werde UN-Generalsekretär!“ Doch eine kurze, erneute Musterung sagt mir, dass er das missverstehen könnte – also ernst nehmen. Und ich versuche ja noch immer, mich bei sämtlichen Dialogen wie Sokrates’ Gesprächspartner bei Platon zu verhalten. Also antworte ich wahrheitsgemäß: „Schreiben.“ Da wir unterwegs in die Medienstadt sind, ist fast garantiert, dass eine solche Antwort unkommentiert bleibt – bleibt sie auch. Danke.

Endlich Westfalen! Gerade noch rechtzeitig fahren wir durch die Pforte. Die Sonne küsst bereits die Rücken, Grate und Hänge des Hügellandes. Jetzt ist es nicht mehr weit in den Pott. Nachts fährt es sich gut von Dortmund zur Medienstadt – wenn links und rechts große Lichterseen kommen und gehen.

Und bin ich erst mal dort, in der Medienstadt, dann muss ich nur noch eine Stunde Zug fahren. Allein, in Ruhe durchs Rheinland, wieder flach so weit das Auge reicht, aber es reicht ja – Gott sei dank – nicht weit in der Nacht. Der letzte Höhepunkt wird dann jener überdimensionale Schaufelbagger, der sich im Flutlicht durch die Landschaft gräbt. Bald darauf, kurz vor dem Ziel, kommen dann noch ein paar Windräder: so viel zur Verschandelung der Landschaft. Aber das ist eine andere Geschichte…

 

Ich bin raus.

Abschließendes Vokabular

„Alle Menschen tragen ein Sortiment von Wörtern mit sich herum, das sie zur Rechtfertigung ihrer Handlungen, Überzeugungen und ihres Lebens einsetzen. Es sind Wörter, in denen wir das Lob unserer Freunde, die Verachtung für unsere Feinde, unsere Zukunftspläne, unsere innersten Selbstzweifel und unsere kühnsten Hoffnungen formulieren. Mit diesen Wörtern erzählen wir, manchmal vorausgreifend und manchmal rückwärtsgewandt, unsere Lebensgeschichte. Ich werde sie das ‚abschließende Vokabular‘ einer Person nennen.“

Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Suhrkamp. Frankfurt am Main 1992. S. 127.

 

Durch die deutschen Feuilletons fegt ein Sturm

Oder, um die Metapher perfekt zu machen: durch deutsche Feuilletons fegt der Besen der kleinen Hexe. Der Thienemann Verlag hat angekündigt, dass er in der Neuauflage des Kinderbuchs „Die kleine Hexe“ von Otfried Preußler auf das Wort „Negerlein“ verzichten werde. Dies geschah im Übrigen mit Einverständnis des Autors. Dennoch ist die Aufregung groß. Die Schlagzeilen bilden ein Spektrum zwischen „Modernisierte Klassiker“ (taz), über „Die ‚bösen Wörter‘ von Otfried Preußler“, (Berliner Zeitung) und „Wir wollen vorlesen und nichts erklären müssen“ (FAZ) bis hin zu „Die kleine Hexenjagd“ (Die Zeit). Die Front verläuft zwischen dem Wunsch überkommenen Rassismus hinter uns zu lassen und der Angst vor Zensur.

Warum ist der Streit so heftig? Sind wir tief in unserem Herzen Rassisten, die es sich gemütlich im Taka-Tuka-Land eingerichtet haben und uns vor der Moderne fürchten? Oder kämpfen wir in Helms Klamm gegen den Untergang des Abendlandes, den uns die Armeen der Zensur in unseren Klassikern bereiten?

 

Wohl Kant gelesen, oder was?

Mit abschließendem Vokabular hat Richard Rorty einen Terminus gefunden, der sehr passend den Aufbau unseres Weltbildes beschreibt. Den Löwenanteil unserer Werte und Normen tragen wir nicht in Theorien mit uns herum, sondern in Vokabeln. Begriffe wie „geistiges Eigentum“, „soziale Gerechtigkeit“ aber auch „Liebe“ sind für uns mit einem Kaleidoskop von Bedeutungen aufgeladen, die unsere Sicht auf die Welt konstruieren. Einige dieser abschließenden Vokabeln sind sehr flexible Worthülsen wie „Freiheit“ die sich im Fluss der öffentlichen Debatte ständig wandeln, je nachdem ob ich gerade über Waffenbesitz oder Mohammed-Karikaturen sprechen. Andere Vokabeln sind hart wie der Felsen um den der Fluss strömt. Wie „Mutterliebe“.

Worauf Rorty hinaus will, ist, dass wir alle eine Vorstellung von „Demokratie“ haben, viele von uns „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ noch einordnen können, aber die wenigsten wissen, was in den anderen 145 Paragraphen des Grundgesetzes steht. Genauso verhält es sich mit dem „kategorischen Imperativ“, „Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem anderen zu“ und der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten oder in der aktuellen Debatte beliebt „Neusprech“, „Big Brother is watching you“ und Orwells 1984.

Das Problem mit unseren abschließenden Vokabularen ist jetzt aber, dass wir sie in den seltensten Fällen hinterfragen, dass die einzelnen Begriffe nicht nur eine klar abgegrenzte Bedeutung tragen und dass wir eine ganze Menge Ballast mit ihnen herumtragen, von dem wir nicht einmal wissen, dass er da ist. Jedem von uns wird das sofort klar, wenn wir die in ihrer Wortbedeutung anscheinend unverfängliche Phrase „Arbeit macht frei“ betrachten. Der Ballast, den sie mitschleppt, hat sich tief in unser kollektives Gedächtnis gegraben, sodass wir sie nicht unbefangen verwenden können. Doch diesen Ballast tragen eben sehr viele, wenn nicht alle unserer abschließenden Vokabeln mit sich.

Wenn wir dann mal einen Schritt zurücktreten und einen Blick auf unser abschließendes Vokabular werfen, geschieht dies – wenn ihr nicht gerade Philosophen oder Psychotherapeuten seid – in der Regel, weil uns eine Debatte von außen aufgedrängt wurde. Und dieses Hinterfragen meines abschließenden Vokabulars ist, das verdeutlicht Rorty, eine brutale Sache. Ein Weltbild ist nichts, was wir wechseln können wie einen Anzug. Ein Weltbild, unsere Sicht auf die Welt, ist ein Teil von uns, etwas was mich als Persönlichkeit formt, mich zu dem macht, was ich bin. Erlebnisse wie Glaubens- oder Sinnkrisen sind die Folge von nicht länger aufrechtzuerhaltenden Weltbildern. Und, um es noch einmal ganz deutlich zu sagen,: unser abschließendes Vokabular ist das Fundament, auf dem unser Weltbild erbaut ist.

 

„Klassiker“, „Rassismus“ und „Zensur“

Das ist der Grund, warum die aktuelle Debatte um die kleine Hexe so hitzig geführt wird. Und das spannende daran ist, dass „Neger“ nicht einmal zu unserem abschließenden Vokabular gehört. dieses Wort wurde längst von der Zeit davon gespült. Nein, die abschließenden Vokabeln, die in der Debatte neu verhandelt werden, sind „Klassiker“, „Rassismus“ und „Zensur“. Und das erklärt natürlich die Heftigkeit die sich besonders in den Kommentaren unter den Artikeln austobt. Denn, sich die Frage zu stellen, ob man ein Rassist ist, weil man „Die kleine Hexe“ all die Jahre unkritisch vorgelesen hat ist natürlich eine genauso heftige Erschütterung wie der Vorwurf, man zensiere und ausgerechnet noch einen Klassiker, obwohl man doch eigentlich nur eine Gruppe unserer Gesellschaft umarmen und nicht länger vom Genuss dieses Buches ausschließen wollte.

Und noch etwas: es ist gut, dass wir diese Debatte führen und auch die Leidenschaft darin ist wichtig. Streit ist nicht immer etwas schlechtes, wie es uns abschließende Vokabeln wie „Fraktionsdisziplin“ glauben machen wollen. Gerade in diesem Land haben wir eine traurige Tradition die eben sowohl Rassismus als auch Zensur miteinschloss und deshalb sollten wir diese Debatte führen und uns nicht leichtfertig auf die eine oder andere Seite schlagen.

Literatur:

Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Umsonst im Internet (gemeinfrei) oder als Reclam. Stuttgart 1986. Bei Amazon.

George Orwel: 1984. (Ist in Australien bereits gemeinfrei, werde ich aber aus rechtlichen Gründen nicht verlinken) 33. Auflage. Ulltein. Berlin 2009. Bei Amazon.

Otfried Preußler: Die kleine Hexe. 65. Auflage. Thienemann.Stuttgart 2005.

Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Suhrkamp. Frankfurt am Main 1992.

 

Der Exklusionsfehlschluss

Zwischen den Jahren kochte rund um den 29C3 mal wieder die netzfeministische Debatte hoch. Und wie bereits in der Vergangenheit, eignet sich diese Debatte – jedenfalls macht es auf mich den Eindruck – hervorragend dazu, um falsche Argumentationsstrukturen aufzuzeigen.

Ich habe diesem Fehlschluss den Namen „Exklusionsfehlschluss“ verliehen, es kann aber durchaus sein, dass das Phänomen unter einem anderen Namen bereits bekannt ist. Getreu nach John Austin:

„Die Erscheinung, um die es geht, ist sehr weit verbreitet und liegt offen zutage; hier und da müssen andere sie bemerkt haben. Aber ich habe noch niemanden gefunden, der sich richtig darum gekümmert hätte.“

Der Exklusionsfehlschluss besagt Folgendes: Wenn du nicht Teil einer Sache/Institution/Gemeinschaft bist, dann darfst du auch nicht für oder gegen diese Sache Partei ergreifen.

In der feministischen Debatte erscheint dieser Fehlschluss – wie so oft – nur implizit, indem sich gerne lustig gemacht wird, über Männer, die für den Feminismus Partei ergreifen. Die Argumente dagegen sind zumeist folgender Art: „Die (männlichen Feministen) hoffen doch nur, dass sie, wenn sie für die Frauen eintreten, auch mal eine ins Bett kriegen“. Abgedroschen wie dieses Klischee ist, so ist es doch nicht totzukriegen. Zuletzt begegnete es mir hier, in der sonst ziemlich guten Folge von „Wer Redet Ist Nicht Tot“ mit Malte Welding.

Wenn ich dieses Argument seziere, finde ich zwischen seiner Leber und Niere eben den oben angeführten Schluss:

Wenn du keine Frau bist, dann darfst du nicht für den Feminismus Partei ergreifen.

Ich wette, zumindest ein Teil derjenigen, die gerne Witze über männliche Feministen machen, würden schon jetzt, wenn sie den nackten Kern ihres Spottes sehen, dem nicht mehr zustimmen. Und doch steckt genau dieser Schluss hinter jeder Kritik an männlichen Feministen, der nicht über die Tatsache hinausgeht, dass jemand Feminist und Mann ist.

Schauen wir uns diesen Satz als nächstes mal genauer an. Zwei Dinge erscheinen mir an ihm bemerkenswert.

1. Zunächst ist es ein Konditional: Wenn du keine Frau bist, dann darfst du nicht für den Feminismus Partei ergreifen.

2. Ferner haben wir hier mal wieder diese vertrackte Situation, dass wir einen faktischen Vordersatz haben und normativen Folgesatz: Wenn du keine Frau bist, dann darfst du nicht für den Feminismus Partei ergreifen.

 

2. habe ich mich bereits früher gewidmet. Zusammengefasst: Aus einem Zustand, der ist kann niemals automatisch ein Zustand folgen, der sein sollte. Wir müssen uns immer die Frage stellen: „Wollen wir so leben?“

1. hat eine knackige Pointe. Formal betrachtet ist nämlich ein Konditional immer dann wahr, wenn der Folgesatz wahr ist und dann falsch, wenn ebenjener Folgesatz falsch ist. Dabei ist der Vordersatz so egal wie der katholischen Kirche wissenschaftliche Kriterien bei der Aufklärung von Missbrauchsskandalen.

Was heißt das für uns? Kurz gesprochen, dass wir nur prüfen müssen, ob der Satz „Du darfst nicht für den Feminismus Partei ergreifen“ wahr ist. Womit wir natürlich wieder zurückgeworfen werden auf unseren Sein-Sollen-Fehlschluss, denn ein normativer, ein ethischer Satz kann ja nicht wahr sein, sondern nur beantwortet werden mit „Wollen wir so leben?“

Die Antwort auf diese Frage ist nun schon so banal, dass sie fast langweilig ist: natürlich gehört die Redefreiheit zu einem der höchsten Güter unserer Gesellschaft, weswegen wir niemandem einfach so das Wort verbieten würden, oder? Zumindest kommen die Redefreiheitsapologeten immer dann aus ihren Löchern gekrochen, wenn sie die freie Rede mal wieder durch den Islam bedroht sehen.

Auf mich scheint es so, als liege der Kritik an männlichen Feministen gerade das Eingeständnis zugrunde, dass es eine unterschiedliche Verteilung von Privilegien zwischen Frauen und Männern gibt, ferner, dass dies für Männer wünschenswert ist und ein Mann folglich schön blöd, wenn er sich selbst seiner Rechte beschneiden will.

Ich persönlich finde diese Haltung schlichtweg kleingeistig und dies lässt sich am besten zeigen, indem wir den Exklusionsfehlschluss auf andere Bezugnahmegebiete anwenden.

 

Dem Argument:

Wenn du keine Frau bist, dann darfst du nicht für den Feminismus Partei ergreifen.

Liegt die gleiche Struktur zugrunde wie den folgenden Argumenten:

Wenn du nicht schwarz bist, dann darfst du nicht gegen Rassismus sein.

Wenn du kein Moslem bist, dann darfst du keine Kritik am Islam äußern.

Wenn du kein Hartzer bist, dann darfst du das Arbeitslosengeld II nicht schlecht finden.

Wenn du kein Bayernfan bist, dann darfst du die Bayern nicht doof finden.

Wenn du nicht in der NPD bist, dann darfst du nicht über ihr Verbot nachdenken.

Wenn du keine Kinder hast, dann darfst du keine Kritik an Kindesmissbrauch äußern.

Und wenn ihr diesen Schlüssen allesamt zustimmt, solltet ihr euch Gedanken machen, ob ihr wirklich in der richtigen Gesellschaft lebt.

 

Ich bin raus

 

Literatur: John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words). 2. Bibliograpisch ergänzte Ausgabe. Reclam. Stuttgart 2002.

Der Kater

Meine Tochter (5) bat mich, mal was über den Kater in dieses Internet zu schreiben. Also tue ich ihr doch diesen Gefallen und liefere hier mal etwas von dem berühmt-berüchtigten Cat-Content.

Beute gemacht. Foto von Daniel Brockmeier. Lizenz: CC0.
Beute gemacht. Foto von Daniel Brockmeier. Lizenz: CC0.

Gewiss, das ist leichter gesagt als getan. Denn um der Wahrheit die Ehre zu geben: der Kater ist unglaublich langweilig. Er ist weder ein süßes kleines Kätzchen noch in irgendeinem Sinne eine Lolcat.

Laut der Papiere aus dem Tierheim soll er jetzt neun Jahre alt sein. Meine Schwester, ihres Zeichens Tierärztin, schätzt ihn hingegen auf mindestens 25 3/4. Das Bemerkenswerteste am Kater ist wahrscheinlich seine Bodenhaftung. Als er 2010 zu uns kam, baute die Dame ihm eine fantastische Kletterwelt. Diese bestückten wir mit Leckerlis, damit er auch initiales Interesse zeigen würde. Er tat dies nicht. Er schaute den Kletterbaum nicht mit dem Arsch an. Genausowenig interessiert ihn irgendein Möbelstück unserer Wohnung außer Bett und Sofa.

Ich habe vor dem Kater schon vier Katzen besessen (nicht gleichzeitig zum Glück) und jede sprang wenigstens gelegentlich mal irgendwo drauf, um zu checken, was da so zu sehen ist. Der Kater nicht. Er steht, er geht, er sitzt (im Winter vorzugsweise mit dem Gesicht direkt vor dem Heizkörper) hauptsächlich liegt er, aber wenn es sich irgendwie vermeiden lässt, springt er nicht. Sogar die dicke Katze meiner Eltern, die im Winter nicht vier Pfotenspuren im Schnee hinterließ sondern die Schleifspur ihres Bauches, sprang von Zeit zu Zeit auf ein Möbelstück, etwa um die Butter oder das Spanferkel zu fressen. Der Kater nicht. Nie.

Das Leben des Katers ist hauptsächlich geprägt durch schlafen. Und er schnarcht. Er schnarcht so laut, dass ich den Fernseher lauter stellen muss, um Dialoge zu verstehen. Allerdings hat er eine geheime Superkraft. Der Kater kann laut schnarchend auf dem Sofa im Wohnzimmer liegen, wenn ich die Küche betrete, wird er automatisch neben seinen Futternapf gebeamt und fängt an zu plärren. Und das ist die einzig wahre Bezeichnung dafür. Der Kater macht nicht „Miau“, nicht „Mauz“ sondern „Pläääääääär!“. Dieses Verhalten: Herrchen betritt die Küche, Kater muss also um Fressen betteln, hat er so verinnerlicht, dass er gelegentlich sogar plärrt, obwohl sein Napf gefüllt ist.

Manchmal, aber nur ganz manchmal packt ihn morgens um fünf – und dies kann ausschließlich morgens um fünf passieren – der Rappel, die Erinnerung an eine lang vergangene Jugend, und er fängt an 13,5 Minuten lang durch die Wohnung zu sprinten und dabei zu grölen, als wäre er ein Hells Angel der die Route 66 befährt. Anschließend legt er sich wieder zu uns in Bett und schnarcht. Bis mein Wecker klingelt und ich die Küche betrete…

In Memoriam: Die Kassette

Am 07.12.12 ging über Twitter, dass Sony die Produktion von Kassettenspielern einstellt. Ich weiß nicht, ob Sony der letzte Produzent der Magnetbandabspielgeräte war, aber als Manufaktur des legendären Walkmans löste diese Nachricht natürlich einen allgemeinen Abgesang aus, dem ich mich hier anschließen möchte.

 

Sony Walkman: It's Alive!. Bild von Mike Licht, NotionsCapital.com. Lizenz: CC BY 2.0.
Sony Walkman: It’s Alive!. Bild von Mike Licht, NotionsCapital.com. Lizenz: CC BY 2.0.

 

Die Kassette trat im Oktober des Jahres 1991 in mein Leben. Nun, das ist natürlich nicht ganz richtig, meine Kindheit war geprägt von unzähligen TKKG-, „Drei Fragezeichen“- und Alf-Bändern. Aber in ihrer eigentlichen Bestimmungsform ließ die Kassette mich bis ins Jahr 1991 unbehelligt: dem Mixtape.

 

Dann trat sie aber um so krachender, nachhaltiger und prägender auf. Ich kann mich an das Datum noch so gut erinnern, da ich diese meine erste Kassette noch irgendwo hier habe, wenn ich sie auch nicht finden kann. Es ist der ‚Jaakko Mix 91‘. Die Mutter meines Schulfreundes hatte sich die Mühe gemacht, den eingeladenen Kindern als Abschiedsgeschenk nicht länger Gummibärchen, Luftballons oder billiges Plastikspielzeug mitzugeben, sondern eben ein Mixtape. Noch heute verbeuge ich mich im Respekt, wenn ich bedenke, dass sie das gleiche Tape erst zusammenstellen und dann noch ca. 10 Mal überspielen musste. Denn, liebe Postmagnetbandgeneration, ‚copy & paste‘ war nicht möglich bei der guten alten Kassette. Stattdessen musste man mit chirurgischer Präzision die Klaviatur der oftmals schwer zu drückenden Tasten ‚Play‘, ‚Record‘ und ‚Pause‘ beherrschen und dann live dabei sein, während das Band seine 30-45 Minuten Seitenlänge abspielte.

 

 

Ich war 1991 recht spät dran, viele meiner Freunde hatten sich schon 1989 auf dem ‚Wind of Change‘ tragen lassen und zwar in Richtung David Hasselhoff. ‚Looking for Freedom‘, ‚Crazy for you‘ und ‚Limbo Dance‘ waren die Hymnen unserer Präpubertät, immer wieder durchsetzt von den größten Klassikern der EAV. Nur war mein Elternhaus der klassischen Musik verfallen, sodass bei uns andächtig der ‚Zauberflöte‘ gelauscht wurde und nur aus dem Zimmer meines Bruders Depeche Mode drang, wozu ich aber bis heute noch keinen Zugang gefunden habe.

 

Der ‚Jaakko Mix 1991‘ jedenfalls glänzte durch Hammerhits von Dr. Alban, Seal und Roxette, um nur einige zu nennen. Ach, Roxette… Roxette hatte neben Bon Jovi und Brian Adams den größten Einfluss auf meine ersten Schritte ins Universum der Popmusik (Über schreckliche Euro-Dance-Vergehen zwischen ‚Mr. Vain‘ und ‚No Limit‘ breite ich hier den Mantel des Schweigens). So war auch die erste und – soweit ich mich erinnere – einzige Kassette, die ich mir je gekauft habe, von Roxette. Denn die Kassette war nicht zum kaufen geschaffen. Oder doch: man kaufte Leerkassetten um diese dann mit den Schätzen seiner Freunde zu füllen. Oder mit solchen aus dem Radio. Ach ja, das Radio: die Qual der Liveaufnahme. Drei bis fünf Minuten lang vor Angst schwitzen, ob denn der Moderator am Ende des Songs reinquatscht oder fast noch schlimmer: in ein anderes Lied überblendet. So war auch schnell klar, wo ich mich jeden Donnerstagabend einzufinden hatte: vor dem Apparat, wenn die hr3-Hitparade lief, der Garant dafür, dass Lieder ausgespielt und nicht vorzeitig unterbrochen wurden. Dort erfuhr ich, dass Meat Loaf alles für die Liebe tun würde außer „DAS“! – Was ich natürlich nicht verstand (Es geht da um Sex, oder?). Und dass Lauryn Hill von Worten sanft getötet wurde, während ihr Wycleff Jean noch dicke Beats unterschob.

 

Die Kassette hatte einen langen und langsamen Niedergang in meinem Leben. Zunächst sah alles prächtig für sie aus: der einfache Spieler wurde durch ein Doppelkassettendeck ersetzt, was die unsägliche Radioliveaunahme epochal vereinfache:. Erst die ganze Sendung aufnehmen und dann zurechtschneiden. Der Walkman – der echte(!) von Sony(!!) – fand seinen Weg zu mir und bescherte mir zahlreiche Wiedergaben von „Love is all around me“, mein Bruder zog aus und hinterließ mir seine Kassettensammlung sodass sich mein musikalischer Horizont über das Programm der Formatradios hinaus erweitern konnte. Schließlich kaufte ich mir vom Ersparten sogar einen Player, der Schnick Schnack beherrschte wie zum nächsten Lied vorspulen und Repeat-A-B. ‚Father and Son‘, ‚Sie ist weg‘ und ‚In The Ghetto‘ konnten so in Endlosschleifen laufen.

 

 

Doch der CD-Player machte auch vor mir nicht halt: Weihnachten 1993 schon bekam ich den ersten geschenkt zusammen mit einer David-Hasselhoff-CD, ach Elten, vier Jahre zu spät! „Das Gegenteil von gut ist gut gemeint“ (Kettcar). Ende der 90er kam dann noch die Minidisc hinzu. Mein Bruder hatte mich zwar gewarnt, dass sie sich nicht durchsetzen werde, aber ich konnte mich der Fusion aus Tape und CD nicht entziehen. Und ich bin noch heute der Meinung, dass sie hätte groß werden können, wenn das Janusköpfige Haus Sony nicht Elektronikkonzern und Musiklabel in einem gewesen wäre und als letzteres einen Kampf gegen die Windmühle der mp3 geführt hätte.

 

Einen kurzen zweiten Frühling erlebte die Kassette bei mir noch einmal um die Jahrtausendwende, als ich für mein erstes Auto ein gebrauchtes Kassettendeck erwarb und einbaute. Alte Tapes wurden mit neuen Stücken überspielt, zumeist mit deutschem Hip Hop zwischen Freundeskreis und den Beginnern. Ich weiß noch, wie sich eine Klassenkameradin kurz vor dem Abi meinen Wagen lieh und mir etwas verstört die Schlüssel wieder aushändigte, weil am Ende eines Tapes ein alter Track von Marc Oh wieder hervorgespäht hatte.

 

Doch dann kamen das Internet, das Studium, der Indie und die MP3 und es war aus mit dem Tape. Einmal bäumte sich die Kassette noch auf, als ich 2003 so sehr in die Breite gewachsen war, dass ich zu Joggen anfing und meinen alten Walkman wieder hervorkramte. Leider war es ein kurzes Vergnügen, der Gute ging in die ewigen Jagdgründe ein und ich musste im Elektronikmarkt feststellen, dass MP3-Player mittlerweile günstiger waren als ein neuer Walkman.

 


Nirvana — Smells Like Teen Spirit – MyVideo

 

Die Kassetten habe ich freilich aufgehoben aus reiner Nostalgie. 2006 habe ich auf dem Flohmarkt sogar noch einmal einen Kassettenplayer gekauft. Der steht jetzt im Zimmer meiner Tochter. Und wird nie benutzt. Aber irgendwann! Eines Tages hole ich die Kiste mit den Tapes noch einmal hervor und werde noch ein letztes Mal ‚Smells Like Teen Spirit‘ vom verrauschten Tape hören in unheiliger Kombination mit ‚November Rain‘ und gefolgt von ‚I can’t dance’…

 

Ich bin raus.

Ins Internet schreiben

Ich habe die Perspektiefe – den Blog der Privatsprache – hierhin ausgegliedert. Warum? Na ja, wie man leicht sieht, bin ich doch zu WordPress zurückgekehrt. Die Domain läuft mit typo3, doch nachdem ich in den vergangenen Wochen vergeblich daran gebastelt habe, die Kommentar-Funktion zum Laufen zu bringen, und obendrein steht mein E-Book-Blog im Suchmaschinenranking mittlerweile besser da als die Domain – was zwar einerseits am Thema aber andererseits sicher auch am saubereren Code liegt.

Dennoch bin ich nicht ganz bereit, mein typo3-Experiment aufzugeben, denn ich sehe durchaus, dass typo3 wesentlich leistungsfähiger ist als WordPress, wenn es nur nicht so kompliziert wäre…

2011 bin ich zu typo3 gekommen, wie das kam, möchte ich kurz berichten. 2005 zog ich in eine WG und konnte mir erstmals DSL leisten. Damals begann meine Textproduktion im Internet. Wir hatten im Freundeskreis ein erstes Blog bei Twoday. Das viel länger lief, als ich es in Erinnerung hatte, die letzten Posts sind von 2010. Allerdings war mir dieses Blog schnell zu unflexibel. Daraufhin landete ich zuerst in einer ganz anderen Ecke: ich trieb mich zwischen 2005 und 2008 sehr viel in Foren rum und schrieb dort meine Texte. Das war auch der Grund, warum ich lange keinen Zugang zu sozialen Netzwerken fand. Denn nachdem ich mich – wie alle – bei StudiVZ angemeldet hatte, fand ich das alles viel zu statisch. Es ging da nur um Selbstdarstellung und es fanden quasi keine Dialoge statt. Jeder aktualisierte nur seine Profile und gründete Gruppen mit doofen Namen, aber wenn ich mal versuchte, etwas in die Gruppen zu schreiben, blieb schlichtweg das Feedback aus. Während man in einem Forum auf eine einfache Frage binnen Minunten zwar keine Antwort aber mindestens fünf Beschimpfungen und 13 Spamkommentare erhielt.

2010 startete ich dann mein nächstes Blog-Experiment. Damals bereits unter dem Namen Perspektiefe. Ich plante über die kognitive Entwicklung von Kindern zu promovieren, weshalb ich diesen Themenkomplex aufgriff. Allerdings wollte ich auch so etwas wie ein Online-Enzyklopädie mit dem Timestream und dem p.Lex (mittlerweile offline; 28.11.13 -db) zum Thema schaffen und nicht „nur“ bloggen. Und für genau diesen Zweck war und ist mir WordPress nicht flexibel genug, das funktioniert mit typo3 einfach besser.

Jetzt hat sich meine „Karriere“ *hüstel* aber in eine andere Richtung entwickelt und ich bin – vorerst – etwas von der kindlichen Entwicklung abgekommen und schreibe wieder vermehrt einfach meine Gedanken in dieses Internet, und das will ich schnell und ohne hohe technische Hürden machen. Daher bin ich wieder hier. Mit WordPress.

 

Ich bin raus.

Deiner Mutter ihre Geschichte!

 

Es war ein Tweet – wie so oft – der Stern.de-Redaktion – eher selten – der im Hause Privatsprache die Frage aufwarf, woher sie eigentlich stammen, die „Deine Mutter“-Witze. Artikuliert wurde die Frage von der Dame und zu ihrem Glück wusste meiner einer eine ausführlichere Antwort zu geben, als die Wikipedia, die sich weitgehend auf die frühesten Anfänge vermutlich in den 60er-Jahren auf US-amerikanischen Schulhöfen, das „Playing the dozens“ beschränkt.

Doch wie fand „Deine Mudder“ von amerikanischen Schulhöfen den Weg auf deutsche Facebookseiten, in deutsche Tweets und deutsche Redaktionen?

Ich habe mich ein wenig umgeschaut und die Erklärungen sind allesamt recht dürftig. Deshalb hier mein Versuch der Einordnung:

Gehen auch wir ein Stückchen zurück und wechseln dabei über den großen Teich auf den amerikanischen Kontinent, nähern uns den USA, der Stadt New York, dem Stadtteil Bronx. Wir befinden uns in den späten 70er und frühen 80er Jahren. Damals waren die Bronx wohl einer der am wenigsten attraktivsten Orte der westlichen Hemisphäre. Gangs bekämpften sich und Gewalt war allgegenwärtig. In dieser Zeit wurde eine neue Musik geboren, die sich schnell zu einer eigenen Kultur entwickelte: Hip Hop. Und um „Die Kinners von der Straße zu holen“ kamen die ersten Stars der Szene auf eine Idee, die sie „Battle“ nannten. Es waren Leute wie Grandmaster Flash und Afrika Bambaataa, die die ersten Battles veranstalteten. Die Idee war einfach und gut: statt mit Gewalt sollten Konflikte in Wettbewerben ausgetragen werden. DJs traten im Cutting und Backspinning gegeneinander an, B-Boys überboten sich im Breakdance und die ersten Rapper traten im Battle Rap gegeneinander an.

Diese letzte Disziplin, der Battle Rap geht nun seinerseits aus dem oben erwähnten „Playing the dozens“ hervor. Dabei geht es um eine testosteronschwangere Selbstbeweiräucherung bei zeitgleicher Herabwürdigung des Gegners. Leidlich bekannt wurde das Prinzip durch den Film 8 Mile. Nun ist es kein Geheimnis, dass Hip Hop oft und insbesondere Battle Rap hochgradig sexistisch sind. In seinen patriarchischen Strukturen wird der Mythos vom starken Mann gepflegt, der seinen Konkurrenten in allen Aspekten seiner Männlichkeit überlegen ist. Frauen hingegen sind „alles Bitches außer Muddi“.

 

 

In der Tat findet im Rap eine oft schon ödipal anmutende Beweihräucherung der eigenen Mutter statt. Und vor diesem Hintergrund wird im Spiel des Battle Raps, wo es ja gerade um nichts anderes geht, als den Gegner fertigzumachen eben der Diss seiner Mudder zum größtmöglichen, den man sich vorstellen kann.

Kleine Randnotiz: der oftmals wegen seiner Homophobie geschmähte Eminem hat durchaus seine Verdienste für den Hip Hop, indem er immer wieder die Traditionen und Rituale der Kultur durchschaute und ironisierte. So auch in seiner eigenen Hymne an die Mutter.

 


EMINEM – Cleaning out my closet von garyvanderlinden

Doch wie kam nun deine Mutter nach Deutschland?

In den 90ern fand Hip Hop seinen Weg endgültig in unsere Breitengrade und mit ihm all seine Codes und Symbole. Nun traf der Hip Hop, eine Kultur der afroamerikanischen Unterschicht in Deutschland auf eine reiche Gesellschaft und eine gebildete Mittelschicht, die sich seiner bediente aber ihn zugleich ironisierte — zumindest in der ersten und zweiten Generation kommerziell erfolgreicher Rapper Stuttgarter und Hamburger Prägung. Aus dem im amerikanischen Hip Hop allgegenwärtigen „Nigga“ wurde hamburgerisch eingefärbt „Digga“ und auch der „Deine Mudder“-Diss wurde mit weniger Feindseligkeit etabliert, als es im US-Rap noch der Fall gewesen war.

Und so kam es, dass „in Hamburg, zwischen Sam und Tocotronic“ Ende der 90er, Anfang der 2000er irgendwo sich wohl die ersten Sprüche an den Kopf geworfen wurden. Wie und wann das genau geschah kann ich nicht rekonstruieren, nur dass Fünf Sterne Deluxe daraus dann einen ihrer größten Hits formten.

 

Die Geburt des Mems

So wurde die Stilfigur auf einem Schlag prominent und fand sich in vielen deutschen Kinderzimmern wieder. Während der Hip Hop in Deutschland mit dem Boom um die Jahrtausendwende seine Ironie einbüßte und fortan auch hierzulande mehr und mehr das Harter-Mann-Image pflegte, wurde „deine Mudder“ konserviert. In der gleichen Zeit, in der aus den Kindern der Jahrtausendwende Leute wurden, etablierte sich in Deutschland auch ein neues Medium: dieses ominöse Internet.

Und spätestens seit dieses Internet ums Jahr 2005 herum durch den Boom von MySpace und den Verzeichnissen, die später von Twitter, Facebook und Google+ abgelöst wurden, zum „Web 2.0“ erklärt wurde, etablierte sich in diesem ein Spiel, das sich „Mem“ oder „Meme“ nannte.

Denn dieses Internet tendiert dazu, sich die komischsten Dinge einzuverleiben.

Seien es Katzen…

Unnamed Kitty - lolcats.com

 

…Mario Balotelli…


See more on Know Your Meme

 

… Kim Jong Il …


See more on Know Your Meme

 

…oder eben „Deine Mudder“. In  Mems werden sie weitergetragen und vervielfacht. Warum es nun ausgerechnet „Deine Mudder“-traf, kann ich nicht sagen, kann vielleicht keiner und wenn doch, dann nur her damit!

So jedenfalls kam deine Mutter von amerikanischen Schulhöfen in deinen Computer.

 

 

Ich bin raus.

Bekenntnis eines Fans

Ich bin Fußballfan und habe nicht das geringste Problem mit schwulen Fußballern. Ich finde das muss mal gesagt werden. Am besten laut und in aller Öffentlichkeit. Aber da die Medien den Fan lieber als Untermenschen darstellen, tue ich es halt. Jetzt und hier.

„Fußballfans sind Menschen, was immer uns die Medien weismachen wollen, […] Die meißten Fußballfans [haben] kein Vorstrafenregister, tragen keine Messer, urinieren nicht in Taschen oder veranstalten sonst irgendwelche von den Dingen, die man ihnen immer nachsagt.“
Nick Hornby: Fever Pitch

Spätestens seit dem anonymen Interview eines schwulen Fußballers geistert das Thema durch die Medien. Dabei wird ein Mythos beschworen, dass der Fußball die letzte harte Männerbastion ist und die bösen Fans das Outing eines Fußballers nicht zulassen würden.

Meine These lautet: Fußballfans werden vorgeschoben als Alibi für eine gesellschaftlich viel weiter verbreitete Homophobie. Letzte Woche hörte ich 10 Minuten eines Interviews mit Lothar Matthäus, in dem dieser ernsthaft sagte, Schwule sollten lieber mit Fußball aufhören als sich zu outen, weil ‚die Fans‘!

Feiernde Fußballfans des Dynamo Dresden. Urheber: Ulrich Häßler. Lizenz: CC-BY-SA-3.0-DE.
Feiernde Fußballfans des Dynamo Dresden. Urheber: Ulrich Häßler.
Lizenz: CC-BY-SA-3.0-DE.

Es passt einfach wunderbar ins Bild des unterentwickelten Proll, der volltrunken im Stadion der Gewalt frönt. Verbal wie physisch. Ich war schon oft im Stadion. Und wisst ihr was? Ich habe mich noch nie bedroht gefühlt. Das Schlimmste an Fangewalt, was ich bisher erlebt habe, war, als in Aachen sich die Fans von meiner Eintracht durch die Alemannen provoziert fühlten und heftig am Zaun wackelten. Sicher gibt es intelligenteres Verhalten, aber in Anbetracht der Tatsache, dass Nazis zehn Jahre mordend durch dieses Land zogen oder auch ’nur‘, dass Frankfurter Polizisten einen Afrodeutschen krankenhausreif schlugen, ist das bisschen Zaunwackeln jetzt nicht unbedingt die Ausgeburt menschlicher Niedertracht.

Sicher, auch ich kenne die Medienberichte über brutale Fans. Aber setzt das mal in Relation: da passiert alle paar Monate mal was. Demgegenüber gehen aber jede Woche mehrere Millionen Menschen in deutsche Stadien. Frankfurt hat nur 600.000 Einwohner und hier passiert täglich mehr.

Eine Situation, die ich bei meinem letzten Waldstadionbesuch erlebte:
Fan 1 sprizt versehentlich Fan 2 am Imbiss Ketchup vom Spender direkt auf die Schuhe.
Fan 1: Oh Mann, das tut mir jetzt leid.
Fan 2: Das ist überhaupt kein Problem.
Fan 1: Nein, ernsthaft, soll ich dir nicht Kohle für die Reinigung geben?
Fan 2: Quatsch, ist doch halb so schlimm, schönes Spiel noch!

Entspricht irgendwie nicht dem Klischee, oder?

Rassismus findet in deutschen Stadien nicht statt

Ich will nicht sagen, dass es gar keine Rassisten unter den Fans gibt. Es gibt Rassisten in deutschen Stadien im gleichen Ausmaß wie in der Gesellschaft. Ich habe hirnlose Sprüche im Stadion nicht öfter oder seltener erlebt wie auf der Straße, in der Bahn oder der Kneipe. Aber in der Organisation der Fans spielt Rassismus keine nennenswerte Rolle. Mir ist nicht ein rassistischer Fangesang bekannt. Warum sollte das mit Homosexuellen Spielern anders sein?

In Stammesmanier werden zwar Bayern die Lederhosen ausgezogen und Bremer in eigenwillige Relationen zu Fisch gesetzt, aber ausländische Spieler werden nicht kollektiv verunglimpft. Ich habe so gut wie nie Kritik unter Fußballfans gehört, dass unsere Nationalmannschaft unsere multikulturelle Gesellschaft widerspiegelt. Hingegen sind die YouTube-Kommentare voll von rassistischen Beschimpfungen. Unter Fans habe ich viel öfter die Meinung angetroffen, dass Boateng, Khedira und Co. seit ihrer Kindheit durch Vereine und DFB gefördert werden, warum sollten sie da nicht für Deutschland spielen? Das hört sich jetzt irgendwie beschissen gönnerhaft an, aber so ist es nicht gemeint, sondern eher so, dass Herrkunft keine Rolle spielt: Wer das Team voranbringt, ist willkommen.

Jugendliche Fußballfans von Rot-Weiß Erfurt. Urheber: Heinz Hirndorf. Lizenz: CC-BY-SA-3.0-DE.
Jugendliche Fußballfans von Rot-Weiß Erfurt. Urheber: Heinz Hirndorf.
Lizenz: CC-BY-SA-3.0-DE.

Fans interessiert, ob einer gut kicken kann

Dafür lieben wir ihn oder hassen ihn, wenn er für die anderen spielt. Ich glaube nicht, dass das bei einem schwulen Spieler soviel anders wäre. Ich will hier nichts beschönigen und kein Idealbild zeichnen, das nicht existiert. ein Homosexueller würde sicherlich im Stadion auch mal als ’schwule Sau‘ oder ähnliches beschimpft, aber ich bezweifle, dass es irgendeine Form von Kampagne gegen ihn geben würde, eben weil es dergleichen auch nicht gegen ausländische Spieler gibt.

Sicher war das nicht immer so, Rassismus war früher in Stadien weiter verbreitet als heute, es war ein langer Weg. Und sicher wird auch ein offen homosexueller Spieler nicht nur mit Flausch empfangen, sondern von den gegnerischen Fans angegangen werden. Aber ich glaube nicht, dass das so menschenverachtend ablaufen würde, wie es von den Medien dargestellt wird. Und ich bin mir sicher, dass wir ihn lieben würden, wenn er für unser Team spielt, für die Nationalmannschaft und wenn er vor allem gut spielt. Denn letztlich wollen wir nur guten Fußball sehen. Wir wollen tolle Spielzüge, ausgefeilte Taktik und fantastische Tore sehen. Was der Spieler dann in seiner Freizeit treibt, interessiert doch Bild, Bams und Glotze mehr als die Fans.

Mythos Männlichkeit

Kommen wir zum letzten Mythos: der Männlichkeit. Vielleicht ist es ein Schock für euch, aber ich kenne niemanden, der Messut Özil als Ausgeburt der Männlichkeit ansieht, genauso wenig wählen wir einen Phillip Lahm oder einen Marco Reuß zum männlichen Rollenbild des Jahres. Das ist Quatsch. Wir lieben Özil für seine Spielintelligenz, Lahm für seine Zerstörungskraft der gegnerischen Angriffe und Reuß für seine brillante Technik, nicht weil wir sie für besonders männlich halten, nicht weil sie heterosexuelle Ideale sind. Klar herrschen im Stadion nicht immer die sittlichsten Verhältnisse, aber es ist nicht so, dass da eine Horde Kerle auf den Rängen ihrer Männlichkeit frönt. Es geht in erster Linie um Fußball und in zweiter Linie um das Stadionerlebnis, um die Gesänge und das Gruppengefühl, um die Stimmung und auch um die Party. So wie man auch in oder vor Discos auf rassistische oder homophobe Trottel trifft, so kann dies auch im Stadion passieren, aber das sind nicht die Fans.

Ich kann und will einfach nicht glauben, dass ich als einziger so denke, dass ich eine total verzerrte Wahrnehmung habe und deshalb finde ich, liebe Leser, ist es an der Zeit für einen Aufstand der Anständigen. Das Aufstehen der toleranten Fans vermisse ich. Steht auf und sagt, dass ihr Fußballfans seid und dass euch die sexuelle Orientierung von Spielern einfach schnuppe ist! Zeigt mir und der Welt, dass ich nicht alleine bin. Schreibt auf eure Blogs, auf Facebook und Twitter, haut es mit Edding an die Wände und singt es in den Stadien. Das Bild, das die Medien von uns zeichnen ist falsch!

Ich bin Fan und habe kein Problem mit schwulen Spielern.

Das Rezeptionsverhalten intellektuell überreifer Großstädter

Ich schmökerte kürzlich in Christoph Kochs Medienspeisekarte, wo Menschen erzählen, welche Medien sie wie rezipieren. Und weil ich aufgrund meiner netzweiten Bedeutungslosigkeit wohl nie dazu eingeladen werde, ich zugleich aber mein eigenes CMS habe, dachte ich mir, ich schreib das selbst mal auf.

Arbeiter beim Lesen einer Zeitung. 1952. Urheber: Roger Rössing. Deutsche Fotothek. Lizenz: CC-BY-SA-3.0-DE.
Arbeiter beim Lesen einer Zeitung. 1952. Urheber: Roger Rössing. Deutsche Fotothek. Lizenz: CC-BY-SA-3.0-DE.

Morgens beginne ich meinen Tag meist mit der Lektüre in der App der Frankfurter Rundschau und damit zeigt sich auch gleich der gewaltige Medienwandel in meinem Haus, denn eine Zeitung habe ich abonniert, seit ich bei meinen Eltern auszog, ausgenommen nur die Zeit, da ich sie abbestellen musste, weil ein freundlicher Nachbar sie mir immer klaute. Doch seit einem halben Jahr bin ich auf die App der FR umgestiegen, ganz einfach, weil wir eine der Frankfurter Zeitungen haben wollten und das Abo der FR inklusive des Tablets genauso viel kostet wie das Abo der Printausgabe. Meine Tochter besteht immer auf eine ausführliche Präsentation der „Bilder des Tages“ am Frühstückstisch. In der Regel checke ich dann noch kurz, was „meine Barbaren“ so machen, ein Strategiespiel und zugleich das einzige Spiel auf dem Tablet, das mich bislang länger binden konnte. Anschließend nimmt die Dame das Brett mit zur Arbeit.

Bücherwand
Bücherwand

Während ich morgens auf meine Tochter warte – und ich muss viel warten: Anziehen, fertig Frühstücken, Badezimmerspaß und Weg zum Kindergarten absolviert sie in einer Seelenruhe, die ich mir nur wünschen kann – checke ich das erste Mal meine Twitter-Timeline, da zur früher Stunde meist noch nicht so viel los ist, lese ich also nach, was die Nachtschicht so schrieb. Dabei, wie überhaupt den ganzen Tag lang schiebe ich spannende Links in meine Systemübergreifende Später-Lese-App Pocket.

Nachdem ich meine Tochter im Kindergarten abgegeben habe, höre ich seit geraumer Zeit bei eintönigen Tätigkeiten wie Einkaufen Podcasts. Ich habe sehr viele mir mal mit der Zufallsfunktion meiner Podcastapp abonniert und bin noch immer am ausmisten. Was ich regelmäßig und gerne höre ist: Erlebte Geschichte von WDR5, das WDR5-Zeitzeichen, ARD-Radiofeatures (also Reportagen), CRE, wir.müssen reden, Hoaxilla und Braincast. Ach ja, und seit kurzem auch Medienradio.

Danach setze ich mich zuhause an meinen PC und produziere erst einmal selbst anstatt zu rezipieren. Erst am Nachmittag, wenn die Dame von der Arbeit kommt, beginnt die Rezeption wieder. Dann lese ich auf dem Tablet die spannendsten Artikel, die ich in Pocket geschoben habe, checke wieder die Timeline und meine Barbaren.

In der Druckerei
In der Druckerei

Regelmäßig gehe ich mit meiner Tochter und der Dame in die Bibliothek, allerdings leihe ich für mich dort nur Hörbücher oder Filme aus, jedoch tonnenweise Bücher für meine Tochter. Das letzte Hörbuch, das ich mir lieh und hörte war von Sebastian Haffner: Anmerkungen zu Hitler. Brillant! So wie Haffner überhaupt immer. Der letzte aus der Bibliothek geliehene Film, den ich sah, war Martin Scorseses „Shutter Island“. Äußerst beklemmend aber genauso gut.

Radio höre ich ausschließlich zum Kochen und da ausschließlich hr info, weil ich Radiomusik nicht leiden kann. Leider ist hr info im 20-Minuten-Rhytmus sehr schnell getaktet, sodass ich beim Kochen jede Nachricht ungefähr drei Mal höre und mich zurücksehne nach der Qualität von WDR5. Wenn ich Auto fahre, was selten vorkommt, höre ich nur dann Radio, wenn ich alleine fahre, was noch seltener vorkommt. In der Regel fahre ich, wenn überhaupt, mit meiner Tochter im Wagen und dann müssen wir Kinderhörspiele und -bücher hören oder die Fahrt wird sehr anstrengend. Dabei habe ich gelernt, dass Benjamin Blümchen grenzdebil ist, Bibi Bloxberg hingegen durchaus lustig. Dass aber nach wie vor nichts über Astrid Lindgren geht.

Wenn ich alleine Bahn fahre, was ich öfter beruflich mache, lese ich meist Romane, seltener Sachbücher und das zumeist noch immer auf Papier. Auch wenn ich die elektronischen Bücher selbst mache. Zwar finde ich Bücher sehr dekorativ, aber natürlich mag ich auch E-Books sehr gerne, dass ich sie unterwegs nicht lese, hat den einfachen Grund, dass in meinem Haushalt nur ein Tablet vorhanden ist, welches die Dame – wie oben geschrieben – tagsüber nutzt. Allerdings werde ich nicht drum herum kommen, mir demnächst mal ein ganze Sammlung von verschiedenen E-Readern anzulegen, da die Darstellung von E-Books leider noch so stark variiert wie bei den Browsern in den 90ern und ich derzeit ja keinen Arbeitgeber habe, auf dessen Devices ich zurückgreifen könnte. Der letzte Roman, den ich las, respektive lese, denn ich quäle mich noch immer durch, ist einer aus der „Eis und Feuer“-Reihe von George R. R. Martin. Ich finde ihn schlecht, aber ich kann noch schlechter mitten in Romanen aufhören, ich muss sie immer zu Ende lesen, das ist meine persönliche Geißelung. Das letzte Sachbuch, das ich las, war „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ von Michael Tomasello. Ein Superbuch, unbedingt lesen!

Wenn ich meine Tochter ins Bett bringe, lese ich ihr vor. Mal sucht sie das Buch aus, mal ich. Obwohl sie erst fünf ist, lesen wir schon Bücher für wesentlich ältere Kinder, da sie ein Talent dafür hat (hört sich komisch an, ist aber so) und am liebsten, den ganzen Tag nur vorgelesen bekommen möchte. Zur Zeit lesen wir ‚Alice im Wunderland‚.

Abends schaue ich öfter Filme oder Serien. Spiele oft Brettspiele und sehr selten Computerspiele. Letzteres finde ich schade, weil es wirklich großartige Computerspiele gibt, wenngleich die meisten in Sachen Storytelling Nachhilfe bei meiner fünfjährigen Tochter nehmen sollten. Aber ich habe kaum Zeit zum spielen und noch weniger Geduld. Vor wenigen Wochen habe ich mir Diablo 3 gekauft, weil ich in die ersten beiden Teile vernarrt war, es aber bislang kaum gespielt.

Neulich in der Bücherei
Neulich in der Bücherei

Ich habe eine große DVD-Sammlung und schaue Filme, wenn sie gut sind auch gerne öfter. Auch Serien sind in meinem Besitz. Ich habe erst sehr selten einen Spielfilm über maxdome oder iTunes ausgeliehen und noch nie gekauft, da ich das bisher noch sehr teuer und wenig komfortabel finde. Serien schaue ich manchmal im Stream. Dort zeige ich dann das Verhalten, das Filesharer immer als Apologie für sich behaupten. Ich gucke Serien anfangs online, wenn sie gut sind, kaufe ich sie auf DVD. Denn ich will sie dann auch besitzen. Ich fileshare darüber hinaus nicht. Nie. Ich habe es – wie wahrscheinlich jeder – früher manchmal gemacht, aber nie im großen Stil. Ich weiß noch wie ich ums Jahr 2000 herum im Kino „The Hurricane“ sah, das gleichnamige Lied von Bob Dylan unglaublich toll fand und es haben wollte. Sofort. Ich habe es dann mit meinem 56k Modem die halbe Nacht von Napster runtergeladen und es war dadurch viel teurer als es auf CD gewesen wäre. Aber das war mir egal, ich hätte auch online Geld dafür bezahlt, nur gab es damals die Möglichkeit noch nicht. Irgendwann habe ich für mich beschlossen, dass ich Filesharing nicht mag. Ich glaube, als ich mal ein Lied von Adam Green haben wollte und im Torrent nur das gesamte Lebenswerk angeboten wurde. Ich will nicht jedes Lied von einem Künstler klauen. Wenn ich ihn gut finde, will ich ihn auch unterstützen. Ich kaufe manchmal einzelne Lieder bei iTunes und Sonderangebote bei anderen Anbietern.

Das letzte Album, das ich erwarb, war Blunderbuss von Jack White. Als Download bei Amazon, was ebenfalls äußerst unkomfortabel war. In der Regel kaufe ich noch immer CDs. Die importiere ich zuhause zwar gleich in iTunes und höre sie hauptsächlich auf dem Handy beim Joggen oder Fahrradfahren und überhaupt immer, wenn es geht. Aber die CDs hebe ich gewissermaßen als Backup auf. Ich tausche Musik auch mit Freunden auf USB-Stick oder CD gebrannt, so wie ich früher Mixtapes getauscht habe. Die Dame und ich machen uns auch oft gegenseitig Playlists mit Liedern, die wir zur Zeit gut finden.

Ich lese oft Blogs, aber keinen regelmäßig, sondern allesamt aus meiner Twittertimeline heraus empfohlen. Wer mein Lieblingstwitterer ist, kann ich nicht sagen, das wechselt ständig. Kann man irgendwo sehen, wen man am häufigsten favorisiert hat? Ich bin maximal 10 Minuten am Tag auf Facebook und nur um dort Links zu verbreiten und kurz zu gucken, ob einer meiner Offlinefreunde mich angeschrieben hat. Andere Soziale Netzwerke nutze ich nicht, auch wenn ich noch den ein oder anderen Account habe. Ich lese regelmäßig SpOn (wer nicht?), SZ.de und FR online, seltener die Onlineauftritte von Zeit, TAZ und FAZ. Die Seiten des Springerverlags meide ich wie der Teufel das Weihwasser und bin sehr sauer, wenn jemand auf Twitter einen Bildlink postet ohne diesen als solchen zu kennzeichnen. Okay, als die Welt einen meiner Tweets abgedruckt hat, war ich dann doch auf ihrer Seite. Ich Opportunist. Ansonsten schaue ich noch regelmäßig die Spotschau auf Kress.

Das dürfte es gewesen sein. So sieht mein Rezeptionsverhalten aus. Und deines? Das fände ich spannend, zu erfahren. Schreib es doch in deinen Blog und sag mir bescheid, dann verlinke ich es hier. Oder du haust es in die Kommentare…