Platons Liniengleichnis

Nach der ungeplant langen Pause geht es hier weiter mit Platons Gleichnissen. Nach dem Sonnengleichnis kommt nun das Liniengleichnis. Wir finden viel Metaphysik aber noch immer nicht das Gute. Wie gehabt könnt ihr euch das ganze als Video ansehen oder darunter das Transkript lesen. Am Ende des Artikels gibt es dann noch Quellenangaben.

Die Vorgeschichte in etwa fünf Sätzen

Beim letzten Mal erzählte ich, dass Platon im Dialog „Der Staat“ Sokrates mit ein paar Typen die Frage diskutieren lässt, was Gerechtigkeit ist. Über diese Frage kommen sie zur nächsten Frage, was einen gerechten Staat ausmacht. Platon hatte Sokrates darlegen lassen, dass in einem gerechten Staat die Philosophen herrschen sollen, obwohl sie auf den ersten Blick total plemplem wirken. Denn Philosophen streben nicht nach Macht sondern suchen nach dem Guten. Was das Gute schließlich ist, versuchte Platon mit dem Sonnengleichnis zu umschreiben. Im Sonnengleichnis stellt er das Gute als die Ursache für Erkenntnis dar. Mich hatte das beim letzten Mal nicht sonderlich überzeugt, denn Platon begründet das weder, noch beantwortet es die Frage, was es bedeutet, gut zu sein.

Das Lininegleichnis

Aber natürlich ist Platon nicht der Trottel, als den ich ihn dargestellt habe. Daher lautet sein Motto: Nach dem Gleichnis ist vor dem Gleichnis. Er fährt mit dem Liniengleichnis fort. Allerdings hatte Platon vielleicht schon das eine oder andere Glas Rotwein zuviel intus, als er das Liniengleichnis niederschrieb, denn mittlerweile hat er anscheinend komplett vergessen, dass es ihm eigentlich um das Gute ging.

Lehnt euch mal entspannt zurück und stellt euch eine Linie vor. Links von dieser Linie liegt die Welt, rechts von der Linie liegt unsere Erkenntnis. Diese Linie unterteilen wir jetzt in vier Abschnitte. Im untersten Abschnitt der Linie liegen in der Welt die Bilder, Spiegelungen und Schatten und auf der Seite der Erkenntnis das Vermuten. Etwas darüber liegen auf der Seite der Welt die wahrnehmbaren Gegenstände, auf der Seite der Erkenntnis hingegen das Glauben. Im nächsten Abschnitt liegen jetzt auf Seiten der Welt die mathematischen Gegenstände und auf Seiten der Erkenntnis das voraussetzungsvolle Denken. Im obersten Abschnitt schließlich finden wir bei der Welt die Ideen und bei der Erkenntnis das voraussetzungsfreie Denken.

Die beiden spannendsten Aspekte des Liniengleichnis’ sind für mich das voraussetzungsreiche- und das voraussetzungsfreie Denken. Voraussetzungsreiches Denken oder Verstand, wie oft gesagt wird, ist zum Beispiel das Betreiben von Mathematik, die auf Axiomen aufbaut und in der Geometrie als Hilfsmittel auf sinnlich erfahrbare Figuren zurückgreift.

Was ist ein Axiom?

An dieser Stelle sollte ich mal wieder einen philosophischen Grundbegriff erklären, nämlich den des Axioms. Axiome sind – so behauptet es zumindest mein kleinen philosophischen Wörterbuch – „grundlegende Sätze, die selbst nicht beweisbar sind, sondern die unhintergehbare Basis für andere Sätze oder Folgerungen bilden“. Zum Beispiel gibt es in der Mathematik das berühmt gewordene Parallelaxiom, das da lautet:

„Ist a eine Gerade und P ein nicht auf a liegender Punkt, so gibt es in der Ebene, in der a und P liegen, genau eine Gerade durch P, die a nicht schneidet, nämlich die Parallele.“

Dieses Axiom ist berühmt, weil Mathematiker und Philosophen sich nicht damit abfinden wollten, dass dieser Satz sich nicht beweisen lässt und es immer wieder versuchten. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts gelang es sowohl Nikolai Lobatschewski als auch János Bolyai zu beweisen, dass sich das Parallelaxiom nicht beweisen lässt, weil man es nicht aus anderen Axiomen herleiten kann. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden.

Kehren wir zurück zu Platon: Das voraussetzungslose Denken ist, im Gegensatz zum voraussetzungsvollen, jenes Denken, das nach den letzten Gründen, nach den Ideen fragt. Und das ist natürlich – da ist Platon unbescheiden – die Dialektik, also die dialogisch betriebene Philosophie.

Versteht mich nicht falsch, wenn ich sage, Platon hat hierbei zu tief ins Glas geschaut! Das soll den Gehalt dieser Sätze nicht leugnen, denn die haben es in sich. Das, was Platon hier darlegt, ist nicht weniger als die Eckdaten der schon erwähnte Ideenlehre. Und es steckt noch viel mehr im Liniengleichnis, etwa die Abbildtheorie, die noch tausende Jahre diskutiert werden wird und über die so manche unbedeutende Privatsprache ihre Magisterarbeit geschrieben hat. Die Unterscheidung von voraussetzungsfreiem und voraussetzungsreichem Denken war nicht weniger wirkungsvoll. So wurde zum Beispiel die analytische Philosophie im 19. Jahrhundert nicht zuletzt gegründet, um die Mathematik auf eine sichere Grundlage zu stellen – mit anderen Worten: vom voraussetzungsvollen zum voraussetzungsfeien Denken zu führen. Was Platon hier entlang dieser Linie in wenigen Sätzen entwirft, ist ein komplettes metaphysisches System. Kant braucht dafür mehr als 850 Seiten in der Kritik der reinen Vernunft.

Was ist Metaphysik?

Hier ist die nächste Erklärung für einen Grundbegriff der Philosophie fällig! Ich hatte ihn schon ein paar Mal erwähnt aber noch nicht erklärt: Metaphysik. Der Begriff geht auf Aristoteles zurück und der Legende nach ist er zufällig entstanden, da so einfach das Buch genannt wurde, das im Regal hinter Aristoteles‘ Buch über Physik stand. Wenn die Geschichte wahr ist, dann ist das ein wirklich ungewöhnlich großer Zufall. Denn der Begriff ist zugleich sehr passend für diese philosophische Disziplin. Aristoteles nannte die Metaphysik „die Lehre von den ersten Prinzipien oder Ursachen“. Die Metaphysik ist die Lehre von allem, was sich nicht in der physischen Welt beweisen lässt. So Fragen wie: „Warum gibt es die Welt?“, „Was war vor dem Urknall?“, „Was ist das Sein und was das Nichts?“ oder „Gibt es einen Gott?“ sind typische metaphysische Fragen. Wenn Platon also lehrt, dass es in der Welt quasi eine Hierarchie davon gibt, wie cool die verschiedenen Existenzmodi sind und die bei äußerst uncoolen Bildern, Spiegelungen und Schatten anfängt über semi-coole wahrnehmbare Gegenstände und schon ganz coole mathematische Gegenstände bis zu den extrem coolen Ideen reicht, dann ist das eine metaphysische Lehre. Und es erklärt nebenbei auch, warum man die platonische Akademie erst betreten durfte, wenn man Geometrie beherrschte. Denn in der Akademie ging es nur um die Ideen, um das voraussetzungsfeie Denken. Um dafür bereit zu sein, sollten die angehenden Philosophen schon die Linie entlanggeschritten sein.

Das fehlende Gute

Insgesamt ist das Liniengleichnis also enorm beeindruckend. Warum habe ich also behauptet, dass Platon besoffen war, als er es niederschrieb? Na, weil er uns eigentlich erzählen wollte, was das Gute ist! Aber alles, was ich euch erzählt habe, hat überhaupt nichts mit dem Guten zu tun!

Bei Platoninterpreten gibt es die weit verbreitete Theorie, dass Platon das Gute zum voraussetzungsfreien Denken zählt. Das ist schön und gut, aber das schreibt er hier erstens nicht, sondern deutet es allenfalls über den Kontext an und zweitens ersetzt er damit schon wieder nur eine begriffliche Seifenblase durch eine andere. Also lasst uns dieses Gleichnis einfach hinter uns lassen und an der Linie weiter entlanggehen. Dies allerdings erst in der nächsten Folge, wenn wir dann endlich zum berühmten Höhlengleichnis kommen und dort vielleicht erfahren, wie wir die drei Gleichnisse doch noch unter einen guten Hut bekommen.

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Literatur

Bilderquellen

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