Der Konflikt zwischen Ethik und Ästhetik in Tár und das Verhältnis von Kunst und Künstler*in

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Daniel
interpretiert
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Christiane
liest Gedichte

Eine Szenen-Analyse zum Film Tár und den Fragen, ob sich Kunst und Künstler*in trennen lassen und ob es legitim ist, Kunst aus ethischen Gründen abzulehnen

In einer Szene, die das Herzstück seines Films Tár darstellt, beschäftigt sich Regisseur und Drehbuchautor mit den Fragen, ob sich Kunst und Künstler*in trennen lassen und, was mehr Gewicht hat: Ethik oder Ästhetik. Nebenbei ist die Szene ein Meisterstück in sophistischer Gesprächsführung. Ich habe mir die Argumente detailliert angeguckt: Eine philosophische Szenenanalyse.

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Szenen-Analyse von Tár

Heute mache ich mal was anderes. Ich bespreche zwei Themen: Der Konflikt zwischen Ethik und Ästhetik sowie das Verhältnis von Kunstwerk zu Künstler*in anhand einer Szenen-Analyse von Todd Fields Film Tár aus dem Jahr 2022 mit Cate Blanchett als Lydia Tár in der Hauptrolle.

Aber keine Sorge, ich mache keine Film-Analyse, sondern bleibe wieder philosophische Dilletante. Auch wenn eine filmische Analyse hier spannend wäre. Daher kurz ein paar Eckdaten:  Die Szene, um die ich mich kümmere, beginnt nach 25 Minuten Laufzeit des Films. Es handelt sich um einen mehr als 10 Minuten dauernden Longtake, es gibt also keine Schnitte, stattdessen ist es eine zusammenhängende Kamerafahrt. In der Szene gibt Lydia Tár eine Masterclass in der Musikschule Juilliard. Sowohl Cate Blanchett als auch die Kamera bewegen sich dabei sehr frei durch den Vorlesungssaal, führen ein Ballett auf. Zugleich sorgen Kamera-Einstellungen und Schauspiel von Cate Blanchett durchgehend dafür, dass ein Ungleichgewicht in den Machtverhältnissen zwischen Tár und dem Schüler Max auftritt. Hier wird kein Dialog auf Augenhöhe geführt, sondern Tár spielt bewusst ihre Macht aus, um diesen Wortwechsel zu gewinnen. Entsprechend sind die vielen Sophismen, also rhetorischen Tricks, um das Argument zu gewinnen, die Tár begeht, kein Versehen, das Regisseur und Drehbuchautor Todd Field unterlaufen ist, stattdessen hat er sie bewusst eingebaut, um etwas über Társ Charakter zu erzählen.

Dennoch spricht auch hie und da meines Erachtens der Autor aus den Seiten, dann weise ich explizit darauf hin. Springen wir in die Szene mit einer kleinen szenischen Einführung:

Die Szene beginnt mit Max im Vordergrund Tár steht im Hintergrund, doch in dem Moment, in dem wir ihn zum ersten Mal erblicken, unterbricht Tár schon sein Dirigieren. Sie tritt an ihn heran, legt ihm kurz die Hand auf dem Arm.

Die Herabwürdigung als rhetorisches Mittel

Als nächstes fragt sie ihn, warum er sich für die Musikschule Juilliard entschieden hat. Max entgegnet, dass es die beste Schule sei und Tár stellt dieses Motiv in Frage und damit auch schon ein bisschen, ob er überhaupt ein Recht hat, da zu sein. Sie kitzelt heraus, wer ihn inspiriert hat. Er antwortet: Sarah Chang. Chang ist eine amerikanische Violinistin mit koreanischen Eltern, sie ist eine der erfolgreichsten Violinistinnen der Welt. Max selbst ist auch Violinist.

Tár beginnt, das Stück herabzuwürdigen, das Max ausgesucht hat: Da er Violinist ist, war er wohl daran gewöhnt, einem Haufen Streicher dabei zuzuhören, die sich verhalten, als würden sie ihre Instrumente stimmen.

Die Herabwürdigung ist eine sophistische Technik, welche Tár in der gesamten Szene immer wieder anstelle von inhaltlichen Argumenten einsetzt. Sie macht das, um diskursive Hegemonie herzustellen. Die Herabwürdigung erfüllt einen doppelten Zweck. Sie erniedrigt ihren diskursiven Kontrahenten Max, hält ihn klein und lässt ihn so argumentativ nicht die Oberhand gewinnen. Zugleich findet die Auseinandersetzung vor einem Publikum statt und diesem Publikum wird signalisiert, wer hier die Hoheit hat.

Tár nennt das von Max ausgesuchte Stück „very au courant“. Was ein fancy Ausdruck dafür ist, dass es hip ist. Die Anweisungen der Komponistin in der Partitur lesen sich laut Tár wie „René Redzepis Rezept für Rentier“. René Redzepi ist ein dänischer Koch. Sein Restaurant wurde mehrfach als das beste der Welt ausgezeichnet. Mit diesem Satz würdigt Tár nicht nur die Komponistin herab, indem sie ihr den Status einer Musikerin abspricht, es ist auch die erste latent stereotype Bemerkung. Da Redzepi Däne ist, kocht er bestimmt Rentier.

Schließlich schickt sie Max mit einem ironischen „It is exciting to play new music“ von der Bühne. Damit bezieht sie sich auf Neue Musik, eine Strömung in der klassischen Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, die versucht, zu erweitern, was klanglich, harmonisch, melodisch und rhythmisch in klassischer Musik ausdrückbar ist. Tár lässt durchblicken, dass sie nichts davon hält.

Nun nimmt Tár die Studentin Olive Kerr dran, fragt, was sie von dem „was wir gerade gehört haben“ hält. Olive findet das Stück pretty awesome, es habe große atonale Spannung. Tár stimmt zu – was die Spannung anbelangt, nicht, was das ästhetische Urteil betrifft. Die Glückseligkeit „So genannter“ atonaler Musik könne man intellektuell betrachten oder darauf intellektuell masturbieren. Aber die wichtige Frage sei, was man dirigiert.

Wichtig ist an dieser Stelle, dass Tár noch nicht ein inhaltliches Argument gebracht hat, was schlecht sei an Neuer Musik. Ich glaube nicht, dass Ästhetik rein subjektiv ist, ich glaube durchaus, dass man sich inhaltlich streiten kann, was schön ist und was nicht. Aber dafür muss man Argumente bringen. Tár hat das bislang nicht gemacht. Stattdessen hat sie nur Sophismen benutzt, sprachliche Tricks, um die Musik herabzuwürdigen.

Die Trias Künstler*in – Interpret*in – Rezipient*in

Tár spricht weiter und bringt jetzt erstmals ein Inhaltliches Argument. Gute Musik muss zwei Fragen beantworten: Was ist ihr Effekt? Und was macht sie mit mir? Sie wendet sich wieder Max zu und fragt: Max, was denkst du?

Max beruft sich auf die Komponistin des Stückes, das er dirigiert hat, selbst: Anna Thorvaldsdottir. Anna Thorvaldsdottir ist eine mehrfach ausgezeichnete isländische Komponistin, die mit renommierten Orchestern in der ganzen Welt gearbeitet hat. Laut Max sagt sie, dass sie von Form und Struktur der Landschaft beeinflusst wurde, in der sie aufwuchs.

Max hat hier seinerseits einen Sophismus eingesetzt: Namedropping. Er beantwortet die Frage von Tár nicht, sondern glaubt, wenn die Komponistin das gesagt habe, dann muss es ja stimmen. Zugleich schränkt er das wieder ein mit: Er sei nicht sicher, ob sich das auf „those actual sounds“ bezieht. Max macht das aber nicht aus einer Position der Stärke heraus sondern aus der Position der Unsicherheit.

Hier wird zum ersten Mal die Frage aufgemacht, wer eigentlich das Sagen hat, wie ein künstlerisches Werk zu verstehen ist: der*die Autor*in oder der*die Rezipient*in. Diese Frage ist eine von zwei, die die weitere Szene bestimmen werden.

Tár begeht den nächsten Sophismus, indem sie gar nicht auf Max Argument – so schwach er es auch selbst gemacht hat – eingeht, sondern nur kommentiert mit „Very Punkt Kontrapunkt“ (Deutsch im Film). Ein Kontrapunkt ist eine Gegenstimme zu einer Stimme in einer Komposition. Tár kommentiert also nur Max‘ eigene Performance, seine Unsicherheit und damit verbundene Unfähigkeit sein Argument vorzutragen. Sie demonstriert erneut, dass sie in einer Position der Macht ist.

Die Intention von Anna Thorvaldsdottirs Komposition sei vage, wenn man das überhaupt sagen könne. Erneut wird hier das Thema gestreift. Fragt euch selbst: Müsst ihr die Intention einer Musikerin kennen, die sie bei der Komposition hatte, um das Stück gut zu finden? Wenn die Intention der Komponistin vage sei, wie solle man als Dirigentin dann eine überhaupt eine Position dazu einnehmen können, fragt Tár rhetorisch.

Hier bringt sie ein weiteres Element in der Beziehung zwischen Autor*in und Rezipient*in ins Spiel. Denn Musik ist eine zweiphasige Kunst. Musik wird komponiert und dann (insbesondere klassische Musik) von anderen Menschen aufgeführt. Bei der Frage, was sie bedeutet, haben also Autor*in, Interpret*in und Rezipient*in ein Wörtchen mitzureden.

Tár räumt ein, dass es Zeiten geben kann, in denen man keine andere Wahl hat. Wenn man vor einem Orchester steht und so tun muss, als gäbe es diese unsichtbaren Strukturen. Aber sie betet die Studierenden an, dass sie sich die Peinlichkeit sparen sollen, ein Auto ohne Motor zu verkaufen.

Oh, boy! Das ist spannend. Denn Tár offenbart hier ein unglaublich altmodisches Kunst-Verständnis. Und mit alt meine ich nicht „OK, Boomer!“-alt sondern mindestens 100 Jahre alt und offen gesagt in der Ästhetik auch gar nicht mehr ernst zu nehmen. Sie sagt, dass ALLES, was zählt, die Frage ist: „Was hat sich der Autor dabei gedacht?“. Das ist schlicht falsch, insbesondere da sie von „unsichtbaren Strukturen“ spricht. Das scheint ein klarer Verweis auf den Strukturalismus zu sein, wonach die Bedeutung eines Kunstwerks sich nicht aus der Intention des*der Künstler*in ergibt (die BTW per Definition unsichtbar ist), sondern durch die Position des einzelnen Symbols im Symbolsystem. Durch die Strukturen, zu denen es in Beziehung und Kontrast steht.

Aber vor allem: Diese Strukturen sind gerade bei klassischer Musik nicht unsichtbar. Sie stehen auf dem fucking Notenblatt. Man kann Symbolsysteme auf einem Spektrum von komplett analog (Malerei) bist komplett digital anordnen. Und die Partitur ist komplett digital. Sie ist ein Code. Eine ein-eindeutige Zuordnungsvorschrift. Noten lassen sich in Töne transkribieren, und Töne in Noten ohne Informationsverlust. Tár tut so, als gäbe es diesen Code nicht, als gäbe es nur die Autorenintention. Bei der wir uns wieder fragen müssen: Wie gelangt die denn vom Kopf des Autors in unseren? Es kann nur einen Weg geben: Mit einem Symbolsystem, wie es zum Beispiel die Partitur ist.

Damit will ich nicht sagen, dass sich das gleiche Musikstück nicht verschieden interpretieren lässt, so, wie Tár es uns in Kürze zeigen wird. Aber die Interpretation liegt bei der Trias Künstler*in – Interpret*in – Rezipient*in eben in der Mittelposition, bei der Interpretin. Mit anderen Worten, genau das ist Társ fucking Job: Dem Auto einen Motor bauen.

Nun sei die Zeit, Musik zu dirigieren, die wirklich etwas von dir verlangt, sagt Tár. Musik, die jede*r kennt, aber anders hören wird, wenn die Studierenden sie für das Publikum interpretieren.

Das ist also das zentrale Verständnis von Tár als Dirigentin. Es ist eine konservative Position, aber nicht unerhört. Sie hat hier ihren zentralen Wert dargelegt, worauf es ihr als Dirigentin ankommt. Den müssen wir nicht teilen, aber da sie in dieser Szene als Lehrerin auftritt, ist das genau die Art von Wegweiserin, die wir uns wünschen. Schauen wir, wie sie fortfährt.

Ethik und Ästhetik: Wie schlimm war Johann Sebastian Bach?

Als nächstes fragt Tár: Warum nicht eine Kyrie? Kyrie eleison bedeutet „Herr erbarme dich!“ und ist der Beginn einer christlichen Litanei, also eines traditionellen, im Wechselgesang vorgetragenen Gebetes. Es gibt diverse klassische Stücke, die diese Litanei vertonen. Schon ziemlich random, warum Tár ausgerechnet das vorschlägt. Das ist eigentlich ein klassischer Whataboutism.

Ein Whataboutism ist ein Sophismus, bei dem ich vom Thema ablenke. Statt einen Punkt auszudiskutieren. Hier die Frage: Was sind die Qualitäten von Anna Thorvaldsdottirs Komposition. Statt das zu diskutieren, fragt Tár: Ja, okay. But what about Bach?

Und genau das brauchte das Drehbuch, denn Tár fragt Max, warum er nicht Bachs H-Moll-Messe erwählt hat. Weirdly specific.

Max: antwortet: „I’m not really into Bach.“ Tár quittiert das mit Unglauben.

Zur Einordnung: Da Tár faktisch kein inhaltliches Argument gebracht hat, das gegen Anna Thorvaldsdottir spricht, war alles, was sie bisher gesagt hatte, nichts anderes als „I’m not really into Anna Thorvaldsdottir.“ Sie hat bislang noch kein Argument vorgelegt, warum Bach Thorvaldsdottir überlegen ist. Sie setzt das einfach kontrafaktisch voraus.

Tár fragt als nächstes, ob Max das Schweitzer-Buch gelesen habe. Albert Schweitzer war ein deutsch-französischer Arzt, Philosoph, evangelischer Theologe, Organist, Musikwissenschaftler und Pazifist und hat ein Buch über Bach geschrieben. Max hat es nicht gelesen. Tár sagt, er sollte, es sei ein wichtiger Text.

Rhetorisch war das wieder der Sophismus des Namedroppings. Wenn Albert Schweitzer dachte, dass Bach gut war, dann muss es Max jawohl auch anerkennen. Und den verdoppelt Tár jetzt auch, indem sie sagt: Antonia Brico dachte auch, dass das Schweitzer-Buch ein wichtiger Text sei.

Die Quelle, die per Name-Dropping belegen soll, dass Bach gut ist, wir jetzt ihrerseits per Namedropping mit Relevanz versehen. Womit ich nicht sage, dass das Buch von Albert Schweitzer nicht tatsächlich gut ist, aber Tár liefert halt wieder keine inhaltlichen Argumente. Ihr geht es nur darum, die Oberhand in der Diskussion zu behalten.

Brico war eine amerikanische Dirigentin und wie wir von Tár erfahren, besuchte sie Albert Schweitzer in Afrika. Das stimmt, sie tat das wohl sogar mehrfach. Allerdings weiß ich nicht recht, ob das nur wegen seines Buches über Bach war. Denn sie kannte Schweitzer schon seit ihrer Kindheit und war mit ihm befreundet. Allerdings war Schweitzer Organist und als Brico ihn als Kind spielen hörte, motivierte sie das, mit dem Klavierspielen zu beginnen. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass Brico und Schweitzer sich in Afrika über Bach unterhielten.

Aber, dass sie den berühmten Arzt nur wegen des Buches besuchte, ist der nächste Sophismus von Tár, mit dem sie die Schüler*innen manipuliert: Der Fehlschluss der Akzidenz. Das Buch war sicher nur nebensächlich für die Besuche von Antonia Brico und bildete nicht ihr Wesen.

Tár meint, irgendwo habe sie ein Bild von Brico mit Tropenhelm. Ich bin mir nicht sicher ob das nur ein Blümchen ist, um ihre Anekdote auszuschmücken oder ob es den nächste Wortwechsel der Szene schon einleiten soll, der das zweite zentrale Thema der Szene setzt. Der Tropenhelm ist ein vielfach kritisiertes Symbol des Kolonialismus und Albert Schweitzer war berühmt dafür, ihn oft getragen zu haben, sein Denkmal in Weimar trägt ebenfalls einen Tropenhelm und ist nicht zuletzt deshalb kontrovers diskutiert worden.

Wie hängt das mit Tár zusammen? Nun, sie kehrt zu Bach zurück und fragt Max: Hast du denn schon einmal Bach gespielt oder dirigiert?

Max entgegnet: als eine bipoc pangender Person mache Bachs misogynes Leben es ihm unmöglich, seine Musik ernstzunehmen.

Bipoc steht für Black, Indigenous, and People of Color. Und Pangender bedeutet, dass Max sich nicht ins binäre Geschlechterschema einordnet, sondern seine Geschlechtsidentität sowohl traditionell als männlich als auch traditionell als weiblich klassifizierte Elemente umfasst.

Es ist schon auffällig, dass Todd Field hier die Geschlechtsidentität „Pangender“ gewählt hat. Versteht mich nicht falsch, ich unterstütze euer Recht auf das Ausleben eurer Geschlechtsidentität, wenn ihr euch als Pangender identifiziert. Gut für euch! Aber es ist – denke ich – fair, zu sagen, dass diese Geschlechtsidentität relativ selten ist. Das meine ich, damit, wenn ich sage: Es ist auffällig, dass Todd Field sich ausgerechnet für sie entschieden hat und nicht für geläufigere Identitäten wie Trans- Non-Binary oder Genderfluid. Denn – wie wir gleich im weiteren Verlauf der Szene sehen werden – geht es ihm nicht um die Repräsentation einer im Film unterrepräsentierten Geschlechtsidentität. Max‘ Geschlechtsidentität spielt nur noch ein einziges Mal in ein paar Minuten eine Rollen und da wird sie GEGEN ihn eingesetzt. Ich sehe hier einen alten weißen Cis-Mann, der sagt: Ah, ja, diese crazy Kids von heute, was die sich alles ausdenken! Ich glaube, wir hören unverhohlen den Autor aus Társ nächstem Satz sprechen:

„Come on. What do you mean by that.“

Aber bevor wir darauf eingehen, lasst uns noch über den Pudel sprechen!

Denn hier sind wir auf des Pudels Kern gestoßen. Max ist nicht bereit, die Kunst vom Künstler zu trennen. Seine These lautet, dass Bach misogyn war und er daher nicht bereit ist, ihn zu spielen. Damit hat Max etwas gemacht, was Tár uns bisher vorenthalten hat: Er hat ein inhaltliches Argument geliefert. Allerdings ist es ein ethisches Argument und kein ästhetisches. Wir stehen also vor zwei Fragen: 1. Ist das Argument stichhaltig? War Bach wirklich so schlimm, dass wir ihn nicht mehr spielen sollten? Und 2. Wann ist es legitim, Kunst aus ethischen Gründen abzulehnen?

Tár entgegnet: Come on. What do you mean by that. Schenken wir ihr höflich glauben, dann ist das eine Bitte an Max, seine These weiter auszuführen. Finde ich gut.

Max: Hat er nicht ungefähr 20 Kinder gezeugt?

Tár: Ja, das ist dokumentiert. Zusammen mit einer beachtlichen Menge an Musik.

Tár zweifelt also nicht die These an, dass Bach viele Kinder gezeugt hat. Maxens Schlussfolgerung, dass er deshalb misogyn war und damit meine Frage 1 (Ist das Argument stichhaltig?), wird nicht weiter thematisiert. Und auch in dieser Entscheidung, das einfach so stehen zu lassen, sehe ich wieder Todd Field vor mir, der die Augen über die woken Gen-Zler verdreht und sagt: „Come on. What do you mean by that?“ Aber diese Worte hat er ja selbst Max in den Mund gelegt und damit dessen Argument so schlecht gemacht.

Viele Kinder zu haben, ist kein Indikator für Misogynie. Dafür müssen wir uns nur einmal überlegen, wie lang die Begründungskette sein muss, um die These, dass Bach misogyn war, mit dem Indiz, dass er viele Kinder hatte, zu untermauern:

  1. Bach hatte 20 Kinder.
  2. Wenn ein Mann 20 Kinder zeugt, dann bedeutet das, dass eine (oder mehrere) Frauen diese 20 Kinder austragen mussten.
  3. Mit Blick auf Bachs beruflichen Erfolg und die Zeit, in der er lebte, ist es nicht unplausibel, dass er seinen beiden Frauen den Großteil der Care-Arbeit überließ.
  4. Ferner müssen wir als stützende These zusätzlich annehmen, dass die beiden Frauen selbst keine intrinsische Motivation hatten, so viele Kinder zu bekommen.
  5. Außerdem müssen wir ausschließen, dass bei der Familienplanung die hohe Kindersterblichkeit eine Rolle spielten, denn nur 10 der 20 Kinder erreichten das Erwachsenenalter.

Selbst wenn wir alle diese Thesen annehmen, ist es noch immer ein wackeliger Schluss, Bach nicht bloß sexistisch, also nicht an Frauenrechten interessiert, zu bezeichnen, sondern explizit als misogyn, also frauenhassend.

Auch hier wieder: Ich habe wenig Ahnung von Bach und will ihn nicht verteidigen. Aber „Weil Bach hatte 20 Kinder zeugte, deshalb war er misogyn“ ist kein logischer Schluss. Es ist noch nicht einmal ein plausibler Schluss, wenn wir Ockhams Rasiermesser bedenken, wonach eine Schlussfolge umso wackeliger ist, umso mehr Hypothesen sie hat. 5 teilweise sehr komplexe Hypothesen, machen die Schlussfolgerung sehr angreifbar.

Ich möchte auch nicht zu viel über Todd Fields Motivation spekulieren, wenn ich das anspreche. Denn es reicht vollkommen, zu sagen, dass es seinen Film schlechter macht, wenn er unsere Frage 2 (Wann ist es legitim, Kunst aus ethischen Gründen abzulehnen?) anhand so eines schwachen Falls bespricht. Es wirkt leider so, als wüsste er nicht genau, worüber er schreibt, wenn er das als Paradebeispiel für die woken Kids von heute annimmt. Denn, wenn ich mir tatsächliche Diskussionen, wie etwa die Debatte, ob Kant rassistisch war und wir seine Texte deshalb noch lesen sollten, betrachte, dann ist die Argumentation für das Canceln von Kant wesentlich stärker. Und es gehört zu einer guten Debatte und zu einem guten Film, der sich mit diesen Debatten auseinandersetzt, dass ich in hermeneutischem Wohlwollen das stärkstmögliche Argument meines Gegenübers annehme und mich damit auseinandersetze. Was Todd Field hier macht, ist ein Strohmann-Argument. Er legt der Gen Z Worte in den Mund, die so klingen, als könnte sie sie äußern. Aber bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass das nicht der Fall ist.

Na, ja. Lasst uns mal weiterschauen. Denn da steckt noch mehr drin.

Kann man die Kunst vom Künstler trennen?

Tár erwidert Max, dass ihr unklar ist, was Bachs Skillz im Ehebett mit der H-Moll-Messe zu tun haben. Ich folge ihr in dem Argument, aus den eben dargelegten Gründen, dass das eine nichts mit dem anderen zu tun hat. Aber worauf sie eigentlich hinaus will, ist die These, dass man die Kunst vom Künstler trennen soll.

Das ist eine der am heißesten diskutierten Fragen an der Schnittstelle zwischen Ästhetik und Ethik in der aktuellen Popkultur. Sie hier umfassend zu besprechen, würde den Rahmen sprengen dieser sowieso schon ausufernden Besprechung. Aber ich möchte hier mal ein paar Eckpfeiler einschlagen, warum die Frage so heiß diskutiert wird und warum sie so schwer zu beantworten ist.

Es hängt damit zusammen, dass wir hier einerseits ein Dilemma haben und andererseits so viele – auch intime – Lebensbereiche berührt werden.

Das Dilemma am Grunde der Frage ist: Was ist wichtiger: Ethik oder Ästhetik? Hier wie bei jedem Dilemma ist essentiell, dass sich diese Frage nicht ohne negative Konsequenzen beantworten lässt. Wenn du dich immer für Ethik entscheidest, droht unsere Welt zu verarmen. Denn wo ziehst du die Grenze? Wie schlecht muss ein*e Künstler*in sein, damit wir ihre oder seine Werke nicht mehr rezipieren dürfen? Es liegt im Wesen der Menschen, dass wir nicht nur gut handeln, dass wir böse, dumme, gemeine Dinge tun. Wie viel moralisch Schlechtes reicht, damit ein Kunstwerk zum Tabu wird? Und welche Moral legen wir an? Meine Werte unterscheiden sich von deinen!

Aber ein Dilemma wäre kein Dilemma, wenn nicht auch die andere Option, die strikte Trennung von Kunst und Künstler*in negative Konsequenzen hätte. Diese entspringen daraus, dass in unserer Welt Popkultur einen so hohen Stellenwert hat und mit Erfolg in der Kunst auch Macht einhergeht. Sollten wir Harvey Weinstein seinen jahrzehntelangen Missbrauch durchgehen lassen, weil so viele geile Filme von Miramax produziert wurden? Wenn J. K. Rowling öffentlich gegen trans Menschen agitiert, steigt das Risiko, dass trans Menschen zu Opfern von transfeindlicher Gewalt werden. Und jedes Mal wenn Roman Polanski einen Filmpreis erhält, führt dass dazu, dass die Frauen, die er vergewaltigt hat, sein Gesicht in den Medien sehen müssen – mit anderen Worten: Es führt zu Leid.

Das ist das Spannungsfeld, in dem diese große Frage sich befindet und deshalb ist es nicht möglich, sich klar und widerspruchsfrei für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Hinzu kommt, dass Kunst uns prägt und zugleich ein riesiges Geschäft ist. Entsprechend Fragen der Identität, des Erwachsenwerdens, der Macht und viele weitere Themenkomplexe hier mit hineinstrahlen.

Doch folgen wir weiter Tár in ihrer Argumentation:

The Soul selects her own Society

Tár sagt: Sure, Alright, whatever. Das ist deine Wahl.

Womit sie ihren vorgetäuschten Wunsch nach Verständnis schon wieder ad acta gelegt hat. Dann sagt Tár: After all a soul selects her own society.

Damit zitiert sie Emily Dickinsons Gedicht „The Soul selects her own society“.

Dickinson schreibt:

The Soul selects her own Society-

Then shuts the Door-

To her divine Majority-

Present no more-

Unmoved-she notes the Chariot-pausing

At her low Gate-

Unmoved-and Emperor be kneeling

Upon her Mat-

I’ve known her-from an ample nation-

Choose One-

Then-close the Valves of her attention-

Like Stone

Für Dickinson ist das ein Wert. Die Seele sucht sich eine Person aus, mit der sie etwas zu tun haben möchte. Der Rest der Welt muss draußen bleiben. Dickinson schreibt, dass die Seele nichts anderes braucht, als diese eine Gleichgesinnte, da mögen Streitwagen vor ihren Toren halten oder Imperatoren niederknien, die Seele bleibt ungerührt davon, hat sie ihre Wahl nach der besten Gesellschaft doch bereits getroffen. Dickinson fordert die gemeinsame Isolation und plädiert für das Schließen der Ventile, die die  Außenwelt aussperren.

Was Dickinson mit dem Prädikat göttlich belegt, wendet Tár ins Negative, versteht es nicht als ein Loblied auf das autonome Ich, das losgelöst von der Welt entscheiden kann, womit es sich umgibt, sondern sieht das Schließen der Ventile der Aufmerksamkeit als einen Verlust an.

Diesen kurzen Abschnitt in Társ quasi-monologischen Dialog mag ich sehr. Mit zwei Zeilen aus einem Gedicht, hat sie uns beide Lesarten zu ebenjenem Gedicht von Emily Dickinson hingeworfen. Denn ich kann sowohl einen Wert in der selbst geschaffenen Filterblase sehen – es ist ein Safe Space – als auch einen Verlust – es ist eine Echokammer, die nur meine eigene Stimme verstärkt und verhindert, dass ich für neue Einflüsse offenbleibe.

Doch, indem Tár das nur implizit andeutet mit einer Referenz, die man erst einmal verstehen muss, hat sie  in einem performativen Widerspruch selbst die Tore geschlossen. Sie will gar nicht, dass alle sie verstehen. Sie will sich über die Kretins erheben und damit macht sie genau das, was sie im nächsten Abschnitt wieder kritisiert:

Das Slippery-Slope-Argument

Viele Symphonieorchester würden sich heutzutage als Silos aufspielen, die entscheiden, was akzeptabel ist und was nicht. Sie sähen es als ihr imperiales Recht an, für dir Kretins zu kuratieren. Daher läge ein Gewinn darin, Maxens „Allergie“ zu untersuchen – slippery as it is.

Mit „Slippery as it is“, spielt Tár darauf an, dass sie ein Slippery-Slope-Argument macht. Das Argument besagt, dass man, wenn man einen bestimmten Schritt getan hat, auf eine schiefe und glatte Ebene gerät und nicht mehr anhalten kann. Im Grunde ist es das Argument, welches ich oben schon expliziert habe: Wenn du ein Kunstwerk, verbannst, da sein*e Schaffer*in etwas moralisch Schlechtes getan hat, gerätst du in Gefahr, alle Kunstwerke zu verbannen, da Menschen keine engelsgleichen Wesen sind und moralische Fehltritte in unserer Natur liegen. Wir bräuchten keine Ethik als Lehre von Gut und Böse, wenn es nicht den Menschen inhärent wäre, auch böse zu handeln.

Zugleich spricht Tár aber Max auch jedwede Legitimität ab, indem sie seine Haltung als „Allergie“ diskreditiert, also als krankhaftes Symptom. Sie leugnet damit, dass das von mir angesprochene Dilemma existiert – natürlich wieder einmal ohne Argument, sondern nur durch das sophistische Mittel der Herabwürdigung.

Gibt es Kunst die ihre*n Schaffer*in übersteigt?

Társ Examinierung von Maxens Allergie besteht in der Frage:

Kann klassische Musik, geschrieben von einem Haufen hetero, österreichisch-deutschen, zur Kirche gehenden weißen Typen für uns erhaben sein? Sowohl individuell als auch kollektiv? Und wer, wenn sie fragen darf, entscheidet das?

Das ist eine sehr gute Frage! Ich weiß, dass Pablo Picasso mit Sicherheit sehr misogyn war, er hatte eine Affäre mit der minderjährigen Francoise Gilot, erkannte die mit ihr gezeugten Kinder nicht an, erniedrigte sie so sehr, dass sie ihn verließ und überschüttete sie anschließend mit Hass.  Als Gilot  später mit Luc Simon verheiratet war, sorgte Picasso dafür, dass sie sich scheiden ließ, in der Annahme, Picasso werde sie heiraten, um so die Kinder anzuerkennen, nur um dann zu erfahren, dass der 72-jährige Picasso schon längst wieder mit der 27-Jährigen Jacqueline Roque verheiratet war. Alles Dinge, die ich zutiefst verachte.

Dennoch empfinde ich das Gefühl er Erhabenheit, wenn ich vor einem seiner Bilder stehe und kann mich des Genie-Kultes nicht entziehen, wenn ich an die Meisterleistung denke, die Zentralperspektive abzuschaffen.

Verurteilst du mich dafür? Mit welchem Recht entscheidest du, dass ich als Individuum oder wir als Gesellschaft dieses Gefühl der Erhabenheit nicht empfinden dürfen? Was ist dein Argument? Und wie löst du das von mir beschrieben Dilemma zwischen Ästhetik und Ethik auf. Doch vor allem, und am perfidesten: Wenn ich sage: Ich respektiere, dass du Picasso aus ethischen Gründen ablehnst, du mir aber nicht zugestehst, dass ich Bilder von Picasso dennoch toll finde, wer von uns beiden ist dann moralischer?

Ich kann ich diese Fragen nicht beantworten. Das macht eben ein Dilemma aus und umso toller finde ich, das Tár sie hier aufwirft.

Eher Rhetorisch fragt Tár als nächstes: Was ist mit Beethoven? Mag Max ihn? Denn sie, Tár als U-Haul-Lesbe ist nicht so sicher, was „Old Ludwig“ betrifft.

Der Ausdruck U-Haul-Lesbe bezieht sich auf ein Stereotyp lesbischer Kultur, wonach manche Lesben bereits nach dem zweiten Date zusammenziehen. U-Hauls sind amerikanische Umzugswagen vergleichbar mit dem Status, den der Mercedes Sprinter bei uns hat. Das ist eine epische Vorausdeutung auf Társ Charakter und ihre Affären, die uns im Laufe des Films enthüllt werden und die ich hier nicht vorwegnehmen möchte.

Auch wenn Tár sich nicht so sicher über Beethoven ist, tritt sie ihm dennoch von Angesicht zu Angesicht gegenüber und findet sich Nase an Nase mit seiner Bedeutung und Tragweite wieder. Mit seiner Unausweichlichkeit.

Da stecken wieder zwei Dinge drin. Zum einen bringt hier Tár sich als Interpretin in der Trias Komponist*in – Dirigent*in – Publikum wieder ins Spiel. Deutet an, dass sie ein Wörtchen mitzureden hat, gibt einen Hinweis darauf, wie wir die Kunst vom Künstler trennen können und deutet die nächste Phase der Szene an, auf die wir gleich eingehen werden. Denn zunächst gilt es noch die Frage zu elaborieren, bei der wir es uns nicht zu einfach machen sollten:

Kann es Kunstwerke geben, die so bedeutend sind, dass sie ihren Schaffer, egal wie problematisch er gewesen sein mag, übersteigen?

Nehmen wir Richard Wagner: Er war ein glühender Antisemit. Aber Wagner veränderte auch die klassische Musik. Sie war nach ihm nicht mehr die gleiche wie vorher, hatte sich maßgeblich weiterentwickelt. Wagner erfand (nicht im Alleingang aber maßgeblich) das Leitmotiv. Eine Technik, die in jeder zweiten Filmmusik heute vorkommt. Denkt an die Hobbits aus dem Herrn der Ringe! Hört ihr die Melodie? Und die von Luke Skywalker? Können wir sowas ignorieren? Sollen wir verbieten, dass Leitmotive in Filmkompositionen verwendet werden, weil ein Antisemit sie erfunden hat?

Es ist kompliziert.

Die Macht der Interpretin: Aneignung, Variation und Etikettierung

Tár bittet jedenfalls Max, sich neben sie ans Klavier zu setzen, um einen ähnlichen Blick auf Bach zu wagen. Sie spielt das Präludium C-Dur BWV 846 von Bach. Rhetorisch fragt sie Max, ob ihr Spiel des Stücks nicht filigran sei.

Nun zeigt Tár uns, was es heißt, dass eine Interpretin ein Stück sich aneignet und spielt das Präludium erst, als stamme es von einem Klavier-Schüler aus dem ersten Jahr, dann wie Schroeder, der für Lucy spielt. Schroeder ist der Pianist aus den Peanuts. Als nächstes spielt sie es im Stile von Glenn Gould, einem der berühmtesten Pianisten des 20. Jahrhunderts.

Erst durch diese Variationen gelange man, so Tár, ins Innere des Stücks, verstehe, was es wirklich ist: Eine Frage. Und eine Antwort. Die eine weitere Frage hervorruft. In Bach stecke Demut. Bach tue nicht so, als wäre er sich über irgendetwas sicher. Denn er weiß, dass es immer die Frage ist, die die Hörenden involviert. Es ist niemals die Antwort. Und die große Frage für Max sei: Was denke er?

Bevor wir uns Maxens Antwort anschauen und damit den nächsten Abschnitt des Gesprächs. Lasst uns kurz durchatmen: Hammer! Ich liebe diese 1,5 Minuten! Allein darüber ließe sich eine Dissertation schreiben! Skizzieren wir es grob:

Was macht Tár? Sie spielt Variationen. Variationen zeigen uns einerseits, welche Macht die Interpretin in der von mir vielbesungenen Trias hat. Zumindest bei zweiphasigen Künsten hat die Interpretin ebenjene Macht, die Kunst vom Künstler zu trennen. Sie kann sich ein Stück aneignen, es zum eigenen machen. Deshalb konnte Daniel Barenboim Wagner in Israel spielen. Nicht, weil er dessen Antisemitismus ignorierte, sondern weil er sich die Musik aneignete, die wunderbaren Klänge nicht den Menschenfeinden überließ, die sie als Banner nur allzu gerne vor sich hertragen. Barenboim entriss den Nazis – den alten wie den neuen – Wagner und sagte: Seht her! Ihr kriegt uns nicht tot. Ich spiele diese Musik. Das ist die Macht des Interprets, die dabei helfen kann, die Kunst vom Künstler zu trennen – zumindest bei zweiphasiger Kunst. Wenn wir Roland Barthes folgen, dann bei jeder Kunst, denn wir sind alle Interpreten.

Zugleich ist eine Variation aber nicht losgelöst vom Text, den sie interpretiert. Ich sagte ja: Der ist digital, die Noten sind immer gleich. Doch in der Art wie sie sie spielt, eignet sich die Interpretin die Partitur nicht nur an, sie hilft uns auch, sie zu verstehen. Jede Variation fügt dem Urtext etwas hinzu. Und dann zeigt uns Tár auch noch, wie sie das macht, indem sie sich dem Mittel der Etikettierung bedient. Musik denotiert im Normalfall nichts. Im Gegensatz zu Sprache oder Bildern steht sie nicht für konkrete Dinge in der Welt. Sie ist zunächst einmal gegenstandslos. Es gibt Ausnahmen, wie etwa das Skywalker-Theme, das so fest mit dem Ding „Luke Skywalker“ verbunden ist, dass es Luke repräsentiert. Oder die Nationalhymne, die für das Ding Bundesrepublik Deutschland steht. Aber das sind seltene Fälle. In der Regel denotiert Musik erst einmal nichts. Dennoch ist Musik nicht bedeutungslos, denn sie exemplifiziert. Das heißt, Musik besitzt Eigenschaften, auf die sie sich bezieht.

Das sind einerseits buchstäbliche Eigenschaften: Das Präludium ist in C-Dur, im 4/4.-Takt und noch vieles mehr. Aber das Stück exemplifiziert auch metaphorische Eigenschaften. Wichtig ist, dass das Stück diese Eigenschaften besitzen muss. Ein Stück in Moll kann nicht Freude zum Ausdruck bringen. Aber dennoch sind die Möglichkeiten der Interpretation nahezu grenzenlos. Wie können wir sie einschränken? Zum Beispiel, indem wir Etiketten benutzen. Und genau das macht Tár! Indem sie das Stück mit Frage, Antwort und Anschlussfrage etikettiert, können wir diese Eigenschaften plötzlich hören! Das Gleiche geschieht zum Beispiel mit Nikolai Rimski-Korsakows Hummelflug. Dadurch, dass das Stück den Namen Hummelflug trägt, können wir den Hummelflug hören.

Und schlau, wie Tár ist, benutzt sie Etikettierung sogleich auch dazu, unser Bild von Bach zu ändern. Wir hatten ihn bislang – mehr oder weniger erfolgreich – mit dem Etikett „misogyn“ verbunden. Tár bietet uns nun „Demut“ an. Und sofort hören wir die Demut in Bach! Das Etikett ist dabei sehr clever gewählt, denn ich weiß nicht viel über Bach, außer „irgendwas mit Kirche“, aber in diese Sphäre passt das Etikett „Demut“ ganz exzellent.

Was Tár gemacht hat, ist: Sie hat uns exemplifiziert, welche Macht sie als Interpretin hat. Sie hat dem Auto einen Motor gebaut oder eben die Kunst vom Künstler getrennt – nicht vollkommen, aber eben weit genug für eine Aneignung. Jetzt sagt mir bitte, dass das nicht geil ist!

Und so wie ich Todd Field vorhin kritisiert habe, muss ich ihn hier loben. Denn er macht jetzt etwas verdammt schlaues. Diese 1,5 Minuten sind das Herzstück der Szene und wir wollen alle „Fuck, ja!“ rufen, Banner mit dem Namen Tár drauf schwenken und Max dazu zwingen, Bach zu spielen. Doch selbst in diesem brillant argumentierten Moment lässt Todd Field Tár einen Sophismus reinstreuen, wie eine bittere Wacholderbeere: Tár begeht einen Widerspruch.

Sie sagt:  Bach tue nicht so, als wäre er sich über irgendetwas sicher. Nur, um sich sofort zu widersprechen, dass Bach sich sicher ist, dass es immer die Frage und niemals die Antwort ist, die den Hörenden involviert.

Das ist ein logischer Fehler und zugleich zeigt der uns wieder einen Charakterzug von Tár auf. Denn sie war – von einigen rhetorischen Ausnahmen abgesehen – in dieser Szene nie in der bescheidenen Position der Fragenden. Sie wollte nie wirklich verstehen, was Max an Anna Thorvaldsdottir mag und genauso wenig, ob es ethische Gründe gibt, einen Komponisten abzulehnen. Stattdessen hatte sie immer gleich die Antworten parat.

Der Wechsel von Handlungsethik zum Essentialismus

Und genau darin ist sie Max sehr ähnlich, denn der hat keine Fragen, sondern sagt jetzt:

Sie spielen wirklich gut. Aber heutzutage sind weiße, männliche Cis-Komponisten nicht mein Ding. Cis bedeutet, dass man die sexuellen Organe des Gender hat, mit dem man sich identifiziert.

Das ist ein reines Geschmacksurteil. Oben sagte ich, dass ich nicht glaube, dass Kunst rein subjektiv ist. Tár hat eben fantastische Argumente gebracht, warum Bach gut ist, selbst, wenn er „nicht mein Ding“ ist. Doch Max zieht sich komplett auf den Subjektivismus zurück. Er bietet uns kein weiteres Argument an, sondern argumentiert nur damit, dass er es nicht mag. Dagegen kann niemand etwas sagen. Auf „Das ist nicht mein Ding“ mit „Doch!“ zu antworten ist eine Kategorien-Verwechslung, da ich einer anderen Person ihren Geschmack oder ihre Gefühle nicht vorschreiben kann. Aber eben darum ist es auch kein gültiger Zug in diesem Sprachspiel. Denn dann brauchen wir gar nicht mehr über Kunst zu sprechen, abgesehen von einem Daumen hoch oder Daumen runter wie im alten Rom.

Aber: Was wir hier hören, ist meines Erachtens wieder der Drehbuchautor, der einen perfiden kleinen Trick vollführt, der nur dazu dient, Társ großes Schlussargument vorzubereiten. Denn ursprünglich hatte Max auf der Basis von einer Handlung Bach abgelehnt: Bach sei misogyn. So schwach das Argument dafür auch war, so legitim ist die Position, Menschen für misogyne Handlungen abzulehnen. Doch hier argumentiert Max plötzlich essentialistisch. Er lehnt weiße, männliche Cis-Komponisten an sich ab. Das Prädikat „heutzutage“ ist in diesem Zusammenhang verräterisch. Denn so spricht doch kein Mensch. Ich lehne heutzutage Kartoffelpürree ab. Aber so schreibt ein alter Mann über die crazy Kids HEUTZUTAGE. Die Jugend von heute.

Das Snowflake-Argument

Társ Antwort: Sei nicht so eifrig dabei, dich verletzt zu fühlen.

Das wiederum ist das Schneeflocken-Argument. „Snowflake“ ist eine Beleidigung, die ihren Ursprung im Film Fight Club hat und zu einem rechten Kampfbegriff wurde. Als „Snowflake“ werden links-liberale Menschen von Rechten bezeichnet, mit der Intention, ihnen ein übertriebenes Gefühl der Einzigartigkeit, ein ungerechtfertigtes Anspruchsdenken, übermäßige Emotionen, leichte Kränkungen und die Unfähigkeit, mit anderen Meinungen umzugehen, zuzuschreiben. Das Ziel ist, den Diskurs so zu verschieben, dass nicht über Fragen der Gerechtigkeit gesprochen wird, sondern über die Rechtmäßigkeit von unterstellten Gefühlen, die Menschen haben, wenn man diskriminierende Positionen vertritt.

Es geht nicht darum, was Max fühlt, wenn er Bach hört. Es geht um Fragen der Macht. Weiße heterosexuelle CIS-Männer sind in dieser Welt an der Macht, seit wir Menschen angefangen haben, unsere Geschichte aufzuschreiben. Es ist eine berechtigte ethische Fragestellung: Ob diese Macht nicht mit anderen Bevölkerungsgruppen geteilt werden sollte.

Man kann das Argument führen – wie ich es hier mitunter getan habe –, dass die Frage, ob wir Bach spielen oder nicht, nichts daran ändert, wer an der Macht ist. Aber das hat nichts mit Max Gefühlen zu tun, und jeder Versuch, diese ethische Debatte darauf zu reduzieren ist der Sophismus der Diskursverschiebung.

Der Narzissmus der kleinen Differenzen

Tár fährt fort: Der Narzissmus der kleinen Differenzen führt zu den langweiligsten Konformitäten. Damit beruft sie sich auf  Sigmund Freud, der in Das Unbehagen in der Kultur schreibt, der Narzissmus der kleinen Differenzen sei „eine bequeme und relativ harmlose Befriedigung der Aggressionsneigung“. Missgunst unter ansonsten gleichgestellten Menschen sei nicht aufzuheben. Es erleichtere aber den gemeinschaftlichen Zusammenhalt, wenn die Aggression, statt nach innen, auf benachbarte, nahestehende Gemeinschaften gerichtet werde.

Tár unterstellt also Max, dass er in der gleichen Machtposition wie ein weißer heterosexueller CIS-Mann sei und nur aus Missgunst handele. Sorry, aber das ist einfach nur Bullshit. Tár kleidet hier ein Nicht-Argument in so pompöse Worte, dass es uns nicht auffallen soll.

Nichtdestotrotz steckt da ein winziger Wahrheits-Nugget drin. Ich beschäftige mich ja gerade mit Judith Butler und they stellt sich die Frage: Wenn wir unsere Geschlechtsidentitäten, unsere ethnischen Zugehörigkeiten, unsere sexuellen Orientierungen und unser körperlich-mentales Spektrum immer weiter ausdifferenzieren, wie schaffen wir es dann, die rassistisch CIS-hetero-normativen patriarchalen Machtstrukturen aufzubrechen? Und tatsächlich sehe ich in öffentlichen Debatten immer wieder, wie progressive Menschen sich in In-Fights verzetteln, weil die Volksfront von Judäa und die judäische Volksfront unterschiedliche Vorstellungen von progressiv haben, weshalb die Machtstruktur kalt lächelnd bestehen bleibt. Butler sagt – meinem Verständnis nach – betont eure kleinen Differenzen gerne im ersten Schritt, um euch im zweiten solidarisch zu zeigen.

Aber: Nichts, von dem, was Tár gesagt hat, zielt in die gleiche Kerbe, denn dann müsste sie sich mit Max solidarisieren und nicht mit den weißen Männern an der Macht.

Konnotierter Antisemitismus

Max räumt als Zeichen des Kompromisses ein: Ich vermute, Edgar Varèse ist okay. Ich mag Arcana. Edgar Varèse war ein in die USA immigrierter französischer Komponist des 20. Jahrhunderts. Arcana ist eine symphonische Dichtung für großes Orchester. Ich habe keine Ahnung, warum Max ausgerechnet Varèse okay findet. Da er in der Szene mittlerweile komplett eingeschüchtert ist, ist nicht verwunderlich, dass er keine Argumente liefert.

Aber ich höre hier auch mal wieder sehr stark die Blätter des Drehbuchs rascheln, denn Max kurzer Satz gilt nur als Stichwort für einen Redeschwall von Tár, der später im Film ihren Niedergang begründet.

Max müsse sich im Klaren sein, dass Edgar Varèse einmal berühmterweise gesagt habe: Jazz sei ein N-Wort-Produkt (im Film ausgesprochen), dass von den Juden ausgebeutet wurde. Das habe Jerry Goldsmith nicht daran gehindert, Varèse abzuzocken für seinen Planet-der-Affen-Score. Jerry Goldsmith war einer der berühmtesten Filmkomponisten aller Zeiten. Er war rumänisch-jüdischer Abstammung und hat sich von Edgar Varèse für seinen Planet-der-Affen-Score inspirieren lassen – ein alltäglicher Vorgang in der Musik, ich erwähnte ja auch bereits den Einfluss von Wagner. Dass Tár diesen Prozess der musikalischen Tradition als „Abzocke“ bezeichnet, bedient heftig ein antisemitisches Stereotyp vom kulturstehlenden Juden, das nicht zuletzt Wagner propagierte.

Tár begeht diese Stereotypisierung allerdings nicht intentional, denn sie erkennt Goldsmiths Leistung als „perfekte Beleidigung“ an. Nichtsdestotrotz sind auch in Konnotationen transportierte Antisemitismen gefährlich und sollten unterlassen werden, da seit Jahrtausenden so Erzählungen fortgeschrieben werden, die immer wieder zu großem Leid für Jüd*innen geführt haben.

Diskriminierung und Norm

Tár fährt fort: Das Problem, wenn man sich als ultraschallgesteuerter epistemischer Dissident einschreibt (was auch immer das bedeuten mag, klingt halt geil, nicht wahr?), das Problem dabei sei: Wenn man Bachs Talent reduzieren könne auf sein Gender, Geburtsland, Religion, Sexualität und so weiter, dann geht das auch mit Maxens Talent. Eines Tages, Max, wenn du in die Welt hinausgehst, und du Gastdirigent eines größeren oder kleineren Orchesters bist, wirst du feststellen, dass die Musiker Beurteilungsblätter auf ihren Notenständern haben, mit denen sie dich beurteilen werden. Was wünschst du dir, welches Kriterium sie anlegen, wenn sie das machen? Dein Partiturlesen und deine Stabtechnik? Oder lieber etwas anderes?

Wow, hier kann ich nur noch Slow-Clapping einfügen. Geil oder? Ich habe einige feiernde Kommentare auf Social Media dazu gesehen. Und ich muss euch sagen, das ist wirklich absolut genialer Bullshit!

Denn Tár tut hier so, als hätte Max soeben Diskriminierung erfunden! Aber in Wirklichkeit werden schon heute alle anderen auf dieser Welt neben ihren Handlungen auch für ihre Hautfarbe, ihre Nationalität, ihr Gender, ihre Sexualität und ihre Religion bewertet. Alle außer weißen heterosexuellen christlichen CIS-Männern. Die nehmen wir immer als Norm an. Wir Normis müssen uns für nichts rechtfertigen außer für unser Talent. Bei allen anderen fließt das immer schon in die Bewertung mit ein.

Und – ich sagte es bereits –, das ganze Argument kann an dieser Stelle überhaupt nur geführt werden, weil Todd Field den perfiden Shift von Handlungsethik hin zum Essentialismus gemacht hat.

Wir sind ja ursprünglich von der – schwachen – These ausgegangen, dass Bach misogyn war. Er wurde also nicht einmal auf irgendeinen der von Tár nun aufgezählten Marker reduziert, sondern auf eine Handlung. Und anhand dieser und nicht anhand des Wesens von Menschen kann man den bereits beschriebenen Konflikt zwischen Ethik und Ästhetik austragen.

Zwei verwobene Argumente

Eine Schlusspointe hat Tár noch: Sie Will Maxens „Ding“, seine Kriterien berücksichtigen: Anna Thorvaldsdottir wurde in Island geboren und Anna sei auf eine Waldorf-Lehrer-Art-und-Weise eine superheiße junge Frau. Wie könne man irgendetwas davon mit Max zusammenbringen, fragt Tár. Und an dieser Stelle kapituliert Max und verlässt mit „You fucking bitch“ den Raum.

Was Tár hier macht, ist „den Narzissmus der kleinen Differenzen“ selbst auf Max anzuwenden. Aber sie benutzt ihn als Strohmann. Lasst uns, um das zu verstehen, noch einmal zum Anfang der Szene zurückkehren: Wie sind wir gestartet? Max ließ eine Komponistin spielen. Tár wollte von ihm, dass er stattdessen einen alten weißen Mann aufführt.

Das gesellschaftspolitische Argument, das Todd Field verhandelt, ist auf Seiten der Gen Z: Wir haben jetzt 5000 Jahre lang in unserer Kulturgeschichte nur die Kultur alter weißer Männer vorgeführt, lasst uns doch AUCH MAL die anderer Bevölkerungsgruppen präsentieren. In einem perfiden Trick machte Todd Field in der Mitte der Szene daraus: Man darf auf gar keinen Fall mehr irgendeinen alten weißen Mann eine Bühne bieten. Und das wurde am Ende von ihm unglaublich glorreich widerlegt, indem er die von Judith Butler geforderte Solidarität zwischen diskriminierten Gruppen aufgab, sie gegeneinander ausspielte und sich auf die Seite der alten weißen Männer schlug. Sorry. Dieser Teil der Diskussion war leider von vorne bis hinten nichts weiter als Schattenboxen eines Dudes, der den Kern des Arguments nicht verstanden hat.

Aber! Mit einem dicken Ausrufezeichen versehen! Clever verwoben damit war ein Diskussion über die Trennung von Kunst und Künstler mithilfe der Mittelstellung der Interpretin. Und diese Debatte war Zucker! Lasst und dafür noch Társ letzten Worten lauschen:

Tár ruft Max hinterher: Und du bist ein Roboter. Unglücklicherweise ist der Architekt deiner Seele Social Media. „You wanna dance the mask, you must service the composer.“ Der Spruch wird auch im Trailer verwendet, was auch immer er bedeuten mag. Man müsse sich als Dirigent sublimieren, sein Ego und seine Identität. Man müsse vor der Öffentlichkeit und Gott stehen und sich selbst auslöschen.

Und damit zeigt Lydia Tár am Ende noch einmal, dass sie ihre eigene Rolle, die sie uns in der Mitte der Szene mit den Variationen so wunderbar vor Augen führte, nicht verstanden hat. Denn der oder die Dirigent*in macht nichts weniger als sich selbst auszulöschen er oder sie eignet sich das Stück an und führt so einen Dialog mit diesem. Dass Tár das und ihre eigene Rolle nicht versteht, trägt im Laufe des Films zu ihrem Niedergang bei.

Wie finde ich Tár jetzt? Mein Urteil ähnelt dem, das Denis Scheck mal über die Bücher von Papst Benedikt 16. gesagt hat: Ich habe mich viel geärgert, aber das stets auf hohem Niveau. Und da ich keine Schneeflocke bin, wählt meine Seele trotz meines Narzissmus der kleinen Differenzen dennoch die göttliche Gesellschaft eines – nicht unproblematischen – aber dennoch sehr spannenden Filmes.

Philosophie-Videos:

Zur weiteren Recherche:

 

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Die Umdeutungen des Herrn Matussek – Eine Analyse

Ich habe keine Lust alten Menschen, die der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts nachtrauern, die Moral des 21. Jahrhunderts zu erklären. Deswegen halte ich mich meist fern von Artikeln, die Homosexualität „kritisch“ sehen oder traditionelle Werte oder Familienbilder heraufbeschwören wollen. Doch diesmal war es anders. Diesmal ließ mich die Überschrift von Matthias Matusseks Text in der Welt aufhorchen:

„Ich bin wohl homophob. Und das ist auch gut so“

Zu Herrn Matusseks Gunsten muss man einräumen, dass die Überschriften bei Zeitungen in der Regel von Redaktionen gemacht werden. Somit ist sie mutmaßlich nicht auf seinen Mist gewachsen, sondern wurde fremdgedüngt. Allerdings ist sie ein Zitat aus Matusseks Fließtext.

Aber was ist so erstaunlich an dieser Überschrift? Zunächst einmal ist dies ein direkter Diss gegen Herrn Wowereits Outing, der, als er Bürgermeister von Berlin wurde, die Worte sprach: „Ich bin schwul. Und das ist auch gut so.“. Die Welt gibt hier zu verstehen, dass sie Wowereit verabscheut und zwar nicht wegen seiner Politik sondern wegen seiner sexuellen Orientierung.

Die Deutungshoheit

Aber auch sprachanalytisch ist diese Überschrift bemerkenswert. Da ist zunächst einmal das kleine Wörtchen „wohl“, das die Aufgabe hat, sich vom Ausdruck „homophob“ zu distanzieren. Dies ist die Wortwahl der anderen, dabei, so wird impliziert, ist es normal, gegen Schwule und Lesben was auch immer zu haben.

Dies wird gleich durch den zweiten Teil der Überschrift unterstrichen „Und das ist auch gut so“. Dies ist ein normativer Satz, der daherkommt wie ein faktischer. Man kann diesen Satz umformulieren in „Und das sollte auch so sein“. Durch das „sollte“ sieht man, dass jemand hier seine moralischen Vorstellungen zum Ausdruck bringt und Moral ist immer diskutabel. Sie steht nicht fest sondern ist das Ergebnis der konsensualen Antwort auf die Frage „wie wollen wir leben?“. Aber auf diese Frage wollen Matussek und die Welt sich gar nicht erst einlassen (genauso wenig wie Wowereit seinerzeit), daher tauscht er das normative „sollte“ gegen das faktische „ist“. Er macht aus dem Werturteil ein Konstativa, eine Aussage über die Welt. Er versucht so, die Deutungshoheit zu bekommen. Wir sollen gar nicht erst auf die Idee kommen, dass Homophobie etwas Schlechtes ist.

Schattenboxen und Nazikeule

Auch im folgenden Abstrakt des Artikels stecken zwei schöne Sophismen:

„Wer nicht begeistert über Schwule spricht, ist gleich ein Schwulenhasser. Mittlerweile hat Homophobie dem Antisemitismus als schlimmste ideologische Sünde den Rang streitig gemacht“

Der erste Satz ist eine rhetorische Figur, die ich „Schattenboxen“ nennen möchte. Matussek und die Welt versuchen hier ihren Gegnern etwas in den Mund zu legen, was diese gar nicht gesagt haben. Aus der Forderung, die Realität zu akzeptieren, dass es verschiedene sexuale Orientierungen gibt, die natürlich vorkommen und die wir deshalb gesellschaftlich als normal anerkennen sollten, macht Matussek eine Begeisterung. Er versucht hier seine Leser an der Hand zu nehmen und zu der Überzeugung zu führen, dass diese Toleranten fordern, jeder müsse gleichgeseschlechtlichen Sex anstreben, ob das nun seinen sexuellen Vorlieben entspricht oder nicht.

Gefolgt wird dieses Argument von der Nazikeule. Ethiken sind nicht letztbegründbar, weswegen wir in ethischen Diskussionen als mahnendes Beispiel oft auf den Worst Case referieren. Das war zweifellos der Holocaust. Matussek weiß, dass er sich in diese Gefahr begibt, wenn er für Diskriminierung eintritt, deswegen versucht er Gegenargumenten sofort den Wind aus den Segeln zu nehmen: Er sagt, ich weiß, dass ihr mich gleich einen Nazi nennen werdet, aber dann seit ihr nicht besser als jene Menschen, die immer gleich „Antisemitismus“ schreien, also nicht ernst zu nehmen. Das ist aus vielerei Gründen ein garstiges Argument, aber vor allem weil es implizit zum Ausdruck bringt, dass nicht nur Homophobie, sondern auch Antisemitismus voll okay seien…

Das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen: Matussek sagt, das man jetzt nicht mehr bloß Juden nicht hassen darf, sondern auch noch Homosexuelle!

Man wird doch wohl noch sagen dürfen

Nachdem Herr Matussek nun also den Rahmen abgesteckt hat, kann er uns als nächstes direkt ansprechen, indem er uns eine Anekdote erzählt. Um sich dennoch in Sicherheit zu wiegen, ist das, was er nun erzählt, vorsichtshalber „einem Freund“ passiert. Dieser erlebte nämlich unter widrigen Umständen

„weit nach Mitternacht, die Selbstkontrolle schwand zusehends“

einen Moment der Klarheit. Indem ihm entfuhr, als in Maischbergers viel erwähnter Sendung vom Ideal der Vater-Mutter-Kind-Familie die Rede war, demnächst dürfe man wohl auch nicht mehr in Gegenwart eines Rollstuhlfahrers von einem Wanderurlaub erzählen.

Eingebettet in die Anekdote fährt hier Mattusek mit seiner Strategie aus der Überschrift fort, indem er versucht normative Sätze in faktische umzudeuten. Denn bei Maischberger geht es ja um ein Ideal, also die Frage, wie etwas sein sollte. Hingegen handelt die Urlaubs-Anekdote von Fakten, dort wird kein Werturteil gefällt, nicht vorgeschrieben, dass alle Menschen nur noch wandern dürfen (eine Horrorvorstellung für mich!), sondern lediglich dargestellt, wie etwas war: der Urlaub eines einzigen Menschen. Der Grund, warum Matussek diesen Haken schlägt, ist, dass er auf die beliebte „Man wird doch wohl noch sagen dürfen“-Argumentation hinaus will. Die er dann in den folgenden Absätzen rund um Spanien, die Kirche und die Bibel weiter ausführt. Der Abschnitt ist ansonsten wenig spannend, er argumentiert ein bisschen biologistisch von der natürlichen Ordnung der Dinge (Ob er sich der Ironie bewusst ist, dass das Ding, auf dem er diese Sätze schreibt, so ziemlich das Unnatürlichste ist, was man sich denken kann: der Computer?) – alles ziemlich egal und rhetorisch schwach.

Ein Unrecht mit einem anderen rechtfertigen

Rhetorisch spannend wird es erst wieder hier:

„Von allen autokratischen Fehlleistungen Putins gilt seine Kampagne gegen Homosexuelle als die allerniederträchtigste, egal, wen er sonst so ins Gefängnis steckt.“

Hier versucht er zunächst einmal wieder das Schattenboxen: Niemand hat jemals behauptet, dass Homosexuellendiskriminierung schlimm, alles andere aber egal ist. Aber was Matussek hier darüber hinaus tut, ist spannend: Er versucht ein Unrecht mit einem anderen Unrecht zu rechtfertigen. Aber das ist nicht zulässig. Du kannst in einer Ethik nicht so argumentieren, dass es okay ist, zu rauben, weil andere morden. Das eine legitimiert das  andere schlichtweg nicht, so sehr ich mich auch winde. Genauso wenig legitimieren Putins sonstige „autokratische Fehlleistungen“ die Diskriminierung von Homosexuellen.

Um uns dennoch mit diesem falschen Argument einzulullen, bettet Matussek es gleich wieder in eine Anekdote ein von seinen Nachbarn, die jetzt wegen der Homosexuellen kein Olympia gucken. Diese Deppen! Schließlich gucken wir alle doch die Spiele, also müssen seine Nachbarn ja irren! Und wir können beruhigt die Fernbedienung in der Hand behalten, weil der liebe Herr M. gesagt hat, dass das okay ist.

Umdeutung der Rollen

Der folgende Absatz glänzt vor allem durch Hohn und Spott:

„Homosexualität, Bisexualität, Transsexualität, alles völlig normaaaal. Alles wurscht.“

Das ist eine Strategie, die auch im Kindergarten meiner Tochter sehr beliebt ist. Wenn jemand etwas sagt, auf das ich nichts erwidern kann, dann mache ich mich eben mit Nonsense über das gesagte lustig-schmustig! Der Grund für diese Strategie, liegt darin, dass Matussek versucht sich und seinesgleichen in die Opferrolle zu schmuggeln, wie Stefan Niggemeier unlängst vorzüglich darlegte. Was fällt denn diesen unverschämten Toleranten ein, dass sie meine Intoleranz nicht tolerieren? Und dass wir die Intoleranten gefälligst tolerieren müssen, wird auch dem letzten klar, wenn wir ein bisschen Stalinismus-Rhetorik verwenden:

„Sie zielte ab auf eine innere Bejahung, auf den umerzogenen NEUEN MENSCHEN.“

Namedropping

Als nächstes führt Matussek das Namedropping ein: Max Weber mochte S&M ohne das an die große Glocke zu hängen, also haben Schwule und Lesben auch zu schweigen. Und die großen Philosophen Robert Spaemann und Aristoteles haben auch schon aus einem Sein ein Sollen gemacht, indem sie homosexuelle Liebe als defizitär ansahen, weil sie keine Kinder zeugen könne. Dann muss es ja stimmen, oder?

Nachdem sich Matussek noch einmal mit ironischer Selbstbezichtigung versucht, gegen Kritik abzusichern, endet er damit, ein letztes Mal sich auf die natürlich Ordnung zu berufen und damit von einem Sein auf ein Sollen zu schließen. Der Sein-Sollen-Fehlschluss aber ist ein logischer Fehler, das sollte jemand der Aristoteles zitiert schon wissen. Wenn ihr wissen wollt, warum, könnt ihr es hier nachlesen.

Ich bin raus.