Platons Schriftkritik

Zum Schluss meiner Platon-Reihe setze ich mich nach der Sprachphilosophie einem verwandten Thema auseinander: Platons Schriftkritik. Wie immer könnt ihr das als Video sehen oder den darunter stehenden Text lesen.

Medientheorie und Technikphilosophie

Muss ich eigens betonen, wie einflussreich Platons Schriftkritik war? Einerseits war sie die erste Medientheorie überhaupt und somit grundlegend für diesen Zweig von Philosophie und Kulturwissenschaften im 20. Jahrhundert. Andererseits war es auch das erste Stück Technikphilosophie. Und unter diesem Gesichtspunkt finde ich die Schriftkritik besonders spannend, da viele Argumente, die heutzutage von kulturpessimistischen Technikkritikern vorgebracht werden, sich bereits in diesem 2.300 Jahre alten kulturpessimistischen Text finden. Wenn früher alles besser war, wie kommt es dann eigentlich, dass wir seit Platon so große Fortschritte gemacht haben? Ach haben wir ja gar nicht. Zumindest im Feld der Technikphilosophie. ?

Anyway: Die spannenden Textstellen zu Platons Schriftkritik finden wir im Dialog Phaidros und im siebten Brief, einem der wenigen Texte Platons, der kein Dialog ist, sondern eben ein Brief. Schauen wir uns doch mal die Argumente an!

Vergesslich machende Technik

Platons erstes Einwand gegen die Schrift lautet, dass sie vergesslich macht. Wenn man sich immer alles aufschreibt, dann verlernt man, es sich zu merken. Das ist zunächst einmal fraglos richtig: Früher wurde etwa die Illias von Homer mündlich überliefert, deshalb ist sie in einem Versmaß abgefasst, damit der Barde sie  sich leichter merken kann. Irgendwann hat sie irgendjemand aufgeschrieben. Heute lernt sie kaum noch jemand auswendig, wir lesen sie einfach nach.

Die entscheidende Frage ist allerdings: Ist das wirklich schlimm? Ist das ein Verlust? Beispielsweise sind die Gedächtniskapazitäten eines Barden beschränkt, was heißt, er kann sich ein, zwei, vielleicht auch drei oder vier Epen merken, aber dann wird es irgendwann eng.

Mir aber stehen etliche tausend Bücher zur Verfügung, wenn ich in die Frankfurter Stadtbibliothek gehe (vom Internet will ich gar nicht erst anfangen). Und die Zeit, die ich früher für das Auswendiglernen aufbringen musste, kann ich heute mit Sinnvollerem verbringen: Zum Beispiel YouTube-Videos über Platon machen.

Jedenfalls kam das gleiche Argument wieder, als sich Navis anfingen, durchzusetzen. Niemand kann mehr Karten lesen! Die Menschen verlieren ihren Orientierungssinn! Und derlei mehr wurde gesagt. Das ist das gleiche Argument wie bei der Schrift: Navis sind schlecht fürs Gedächtnis. Die Frage, die wir uns stellen sollten, lautet: Ist das wirklich so schlimm? Wird nicht stattdessen eine Kulturtechnik schlichtweg von einer anderen abgelöst?

Schundliteratur und die Möglichkeit zu Rückfragen

Das nächste Argument von Platon lautet, dass Menschen sich einbilden, sich Wissen anzulesen, dass dies aber nicht der Fall ist, da sie nicht wissen können, ob das, was in den Texten steht, auch wirklich wahr ist. Die Schrift könne echtes Wissen nicht vermitteln, das könne nur die Dialektik.

Hierbei handelt es sich um das Schundliteratur-Argument, das wahrscheinlich gegen so ziemlich jedes neue Medium, insbesondere gegen Comics, das Fernsehen, das Internet, Computerspiele, Blogs, Social Media und YouTube vorgebracht wurde. Im ersten Jahrzehnt ihrer Existenz musste die Wikipedia sich immer wieder gegen den Vorwurf wehren, sie sei gar kein echtes Lexikon, „denn da kann ja jeder reinschreiben“. Ich will gar nicht bestreiten, dass man die Inhalte der Wikipedia mit mehr als einem Gran Skepsis lesen sollte, doch diese Medienkompetenz sollten wir nicht nur dem Onlinenachschlagewerk entgegenbringen, sondern genauso jedem gedruckten Werk. Jedenfalls wird die Existenzberechtigung der Wikipedia heute – im Jahr 2019 – kaum noch in Frage gestellt, auch das ist ein Muster, das ich in der Technikskepsis seit der Schrift immer wieder wiederholt: Erst wird etwas Neues als gefährlich attackiert, sobald das Medium dann etwas älter geworden ist, stellt es niemand mehr in Frage.

Platons nächstes Argument ist im Kern wieder zutreffend: Einem Text kann man keine Rückfragen stellen. Das ist in der Tat ein Vorteil von gesprochener Sprache, die mit der unmittelbaren Nähe und Zeitgleichheit zusammenhängt. Daher sagen heute Medientheoretiker auch, dass Medien wie WhatsApp, Facebook oder Twitter, wo Nachfragen möglich ist, gewissermaßen Mischformen aus oraler und literaler Kommunikation sind. Denn sie haben neben dieser Eigenschaft der gesprochenen Sprache auch Aspekte der Schrift, in denen diese der gesprochenen Sprache überlegen ist: Raum und Zeit lassen sich überbrücken. Orale und geschriebene Sprache sind verschiedene Medien mit verschiedenen Existenzbedingungen, aber auch mit verschiedenen Vor- und Nachteilen.

Verantwortung und schriftliche Debatten

Platon klagt die Schrift außerdem an, weil sie zu jedermann redet, zu denen, die damit umgehen können, wie zu jenen, die es nicht können. Dieses Verantwortungsargument haben wir im Zusammenhang mit dem Internet oft gehört: Netzsperrenbefürworter und Kritiker von Wikileaks oder Whistleblowern wie Chelsea Manning und Edward Snowden bringen es immer wieder hervor: Nicht jeder Inhalt ist für jedes Augenpaar geeignet. Gegen die Nachrichtenseite Netzpolitik.org wurde deshalb wegen Landesverrats ermittelt.

Sicher ist an dem Argument etwas dran: Kinder sollten nicht zu früh Gewalt oder Pornos sehen und Bauanleitungen für Atombomben sollten auch besser unter Verschluss gehalten werden. Aber wenn man die Geheimhaltung und den Verschluss von Informationen zur Norm und nicht zur Ausnahme macht, dann ist das eine ziemlich elitäre und antidemokratische Forderung. Aber das braucht uns bei Platon ja nicht zu wundern. Lest einfach noch einmal, was ich zum platonischen Staat geschrieben habe.

Als nächstes will Platon aber nicht bloß die Leser vor der Schrift schützen, sondern auch die Schrift vor den Lesern. Oder wahrscheinlich eher den Autor vor den Lesern. Platon sagt: Die Schrift kann auf Widerworte nicht reagieren. Das ist ausgemachter Unsinn und kann nur von jemanden stammen, für den das Medium nagelneu war. Es gibt unzählige schriftliche Debatten in der Geschichte. Schon mit Aristoteles, Platons Schüler beginnen sie. Denn Aristoteles wehrte  sich oft schriftlich gegen Platons Argumente. Die Schüler der Akademie, die Platoniker, antworteten dann in ihren Schriften wieder auf die Aristoteliker.

E- und U-Kultur sowie Qualitätsmedien

Platon behauptet auch, dass Schrift nur eine Spielerei ist, im Gegensatz zur Rede, die echtes Wissen vermittelt. Die ganze Debatte um E- und U-Kultur, also dass es gute Kultur zur Erbauung und schlechte nur zur Unterhaltung gibt, basiert auf einem solchen Argument, dass es Medien von höherer und niederer Qualität gibt. Computer mussten sich lange gegen den konservativen Vorwurf wehren, dass sie nur zum Spielen da sind, das Internet existiert nur für Pornos und Smartphones braucht sowieso kein Mensch. Oh, Moment ich habe gerade eine neue Whatsapp-Nachricht bekommen …

Zu guter Letzt findet Platon es natürlich auch schändlich, wenn Unwissende sich erdreisten, zu schreiben. Die nervige Debatte in den 00er-Jahren, als sich selbsternannte Qualitätsmedien über Blogs aufregten, gehört genauso in diese Tradition wie der heutige Hohn, der von manchen Bloggern oder Podcastern YouTubern entgegengebracht wird. Notiz für mich: Das muss ich anders formulieren, wenn ich es im Blog zweitverwerte. 😉

Platons ungeschriebene Lehre

Natürlich fällt jedem der Widerspruch sofort auf, dass Platon seine Schriftkritik aufgeschrieben hat. Dieses widersprüchliche Verhalten stützte viele Platon-Forscher in ihrer These, dass es neben den Dialogen auch eine ungeschriebene Lehre mit der eigentlichen Philosophie Platon geben müsse. Aber dass wir nur über diese ungeschriebene Lehre spekulieren können, die Dialoge hingegen 2.300 Jahre später noch immer lesen, zeigt auch, wie blind Platon gegenüber den Vorzügen der Schrift war. Denn sie ist dauerhaft im Gegensatz zum gesprochenen Wort. Erst die Schrift und die Möglichkeit die Erkenntnisse vergangener Generationen nachlesen zu können, machten Wissenschaft und Hochkulturen möglich. Von Bernhard von Chartres stammt der Ausspruch, dass wir auf den Schultern von Riesen stehen und nur deshalb weiter blicken können. Eigentlich stehen wir aber nicht auf ihren Schultern sondern auf ihrem Bücherstapel und keine unserer heutigen Erfindungen oder Entdeckungen wären möglich gewesen, wenn wir uns nicht unglaublich viel Wissen hätten anlesen können.

Jemand hätte daher Platon den Rat geben sollen, der jedem Kulturpessimisten nahezulegen ist: Warte erst einmal ab und schau dir das neue Medium oder die neueste Erfindung mal eine Weile an, vielleicht ist sie gar nicht so dumm, sondern bringt uns voran.

12 von 12 im September 2017

Das war mein 12. September 2017.

Morgentrunk

Um 6:30 ging es los. Während die Dame im Bad ist, gibt es für meine Tochter (3) Milch und für mich Kaffee. Das hat den schönen Vorteil, dasss das Erwachen ganz friedlich ist. Während „aufstehen!“ zu apokalyptischen Wutausbrüchen führen kann, führt „Millch!“ nur dazu, dass sich die Körperposition der Kleinen um 90° ändert. Am Ende der Flasche sind ihre Augen dann auch weit genug geöffnet, sodass sie den Tag beginnen und ich ihre große Schwester wecken kann.

Frühmorgens am Main

Ja, wie solll ich euch das schonend beibringen? Der Sommer ist vorbei.

Am 12. September war es aber zumindest morgens noch trocken und da die kühlen Temperaturen die Fahrradtouristen verscheuchen, war es am Main nicht nur schön sondern auch schön leer.

Frühschicht

Ich mache beruflich „was mit Social Media“. Und einer aus unserem Team fängt immer schon um 8 Uhr an, zu arbeiten, um die Lage vor allem auf Facebook zu checken und den Hof zu fegen. Damit der Rest des Teams um 9 Uhr ohne böse Überraschungen mit seiner Arbeit anfangen kann. Wir nennen das etwas staatstragend „Frühschicht“. Gestern hatte ich die Frühschicht inne.

Mittagspause

Auf dem Weg zu dem Platz am Osthafen, auf dem ich meine Pausen verbringe, solange es das Wetter noch zulässt, kam ich an den Überresten dieser ehemaligen Industriearchitektur vorbei.

Noch 24 Tage

… Dann findet das diesjährige Capoeira-Event von meiner Gruppe Aruanda Frankfurt statt. Um in Form zu kommen und die Vorfreude zu steigern, haben wir die Challenge #tododia gegründet. Es gilt, jeden Tag Capoeira zu trainieren, immmer drei Bewegungen. Diese Woche waren es Ginga, Role und Au. Diesen Handstand (Bananeira) habe ich nur für die Show noch dazugepackt. 😉

Feierabend

Früh mit der Arbeit anfangen, heißt auch: Früh Feierabend.

Einkaufen

Die Kleinste und ich gingen dann noch zum Supermarkt, um den Wocheneinkauf zu erledigen.

Als wir wieder auskamen wurden wir von einem Regenschauer überrascht, der seinesgleichen sucht …

Tja, der Sommer ist vorbei. Ich sag es ja. Es wird Herbst.

Podcasten

Als die Kinder im Bett lagen, haben die Dame und ich die neueste Folge des Spätfilms aufgenommen. Es ging um Notorious von Alfred Hitchcock. Merlin hat uns dazu einen  Einspieler vorbereitet, auf den ihr euch freuen könnt, sobald ich die Folge fertig geschnitten habe.

Schlafenszeit

Kurz hatte ich noch überlegt, eine Folge Last Week Tonight zu sehen. Für die fünf unter euch, die die Show noch nicht kennen: Es ist eine tolle Kombination aus Comedy und politischem Magazin. Absolute Sehempfehlung. Aber gestern nicht mehr für mich: Der Schlaf übermannte mich.

Waffen töten keine Menschen, oder?

In der siebten Klasse hatten wir im Klassenzimmer hinter der Tafel eine große Leinwand sowie eine kleine Projektorkabine an der hinteren Wand. Erstaunlicherweise kann ich mich aber nicht erinnern, dass darauf je ein Film gezeigt wurde. Wenn wir Filme im Unterricht sahen, dann auf einem Röhrenfernseher, der auf einem eigenen Wagen durchs Schulgebäude gerollt wurde. Aber ich schweife ab…

Zum Leinwandensemble gehörte nämlich auch ein langer Zeigestab aus Fiberglas. Und dieser Zeigestab geriet bald ins Fadenkreuz unserer Klassenkonferenz. Der Stab wurde nämlich im jugendlichen Überschwang von den wilderen Jungs und Mädchen manchmal dazu benutzt, jemand anderen zu schlagen. Im Spiel war da keine böse Absicht dahinter, einfach nur Unbedachtheit. Jetzt ist so ein Fiberglasstab allerdings elastisch und bei einem etwa 1,50 Meter langen, schwingenden Stab ist der Schmerz des Schlages schon nicht ohne, auch wenn der Angreifer gar nicht so fest zuschlagen wollte.

Auf einer Klassenkonferenz jedenfalls sprach sich die Mehrheit dafür aus, den Stab in die Projektorkabine zu sperren, damit er nicht mehr als Waffe benutzt werden könnte. Ich war dagegen. Ich konnte nicht nachvollziehen, dass wir in der Klassengemeinschaft anscheinend zwar zu dem Konsens kommen konnten, dass das Schlagen mit dem Stab scheiße ist, wir uns aber nicht darauf einigen konnten, es einfach zu lassen. Als ginge eine magische Kraft von diesem Gegenstand aus, die den Träger zwingt, ihn als Waffe zu gebrauchen. Quasi ein tolkienscher Herrscherstab.

Bis heute vertrete ich die extrem liberale Position, dass Probleme im menschlichen Miteinander durch Kommunikation und nicht durch Verbote gelöst werden sollten. So ließ mich ein Update von Watchever unlängst entscheiden, ob ich eine maximale Fernsehdauer für meine Tochter (7) einstellen wolle. Ich entschied mich dagegen, übrigens wie gegen die Option in der Fritzbox jugendgefährdende Webseiten automatisch zu blockieren. Es wäre bequem für mich, per Knopfdruck meiner Tochter diese Verbote auszusprechen, hingegen wähle ich den komplizierten Weg, mit ihr zu diskutieren, warum sie nicht noch eine Folge von „Barbar, der Elefant“ sehen darf und den komplizierten Weg, ihr zu erklären, wie sie sich im Internet bewegen muss, ohne ungewollt auf Pornos oder gar Gewalt zu stoßen.

Allerdings ist diese Position nicht nur unbequemer, sie ist auch nicht ganz unproblematisch. Es ist – meine Überschrift deutete es an – der Slogan der amerikanischen Waffenlobby: Waffen töten keine Menschen, Menschen töten Menschen. Allein, alle Statistiken sagen das Gegenteil. In Europa haben wir viel strengere Waffengesetze und mit ihnen viel weniger Morde. Nun denke ich trotzdem, dass die amerikanische Waffenlobby mit ihrem Slogan im Grunde Recht hat. Allerdings ist ihre Lösung: dem Bad Guy mit einer Knarre einen Good Guy mit einer Knarre entgegenzusetzen, falsch. Die Probleme der amerikanischen Gesellschaft mit Gewalt haben so komplexe Ursachen (soziale Ungleichheit, mangelnde Bildung, Tradition, Sozialisation), dass letztlich wohl nur ein Verbot hier helfen kann. Auch wenn es den USA sicher gut tun würde, die Ursachen und nicht die Mittel zum Zweck zu bekämpfen.

Warum schreibst du das alles, Privatsprache?

Weil Caspar Clemens Mierau Tor verbieten will„, könnte ich sagen, tue ich aber nicht. Stattdessen sage ich: Leitmedium hat den Finger in einer dreckige, eitrige Wunde gelegt und bohrt darin herum. Und das kann er ziemlich gut. Was ist die Wunde in meiner Metapher? Wir haben in der Netzgemeinde ein Problem mit Hatern, mit der Kommentarkultur oder ganz generell mit unseren Umgangsformen.

Kleine Abschweifung: Ich lehne es – ähnlich wie Das Nuf – ab, in diesem Kontext von "Trollen" zu sprechen, da ich finde, dass das Wort Täter verniedlicht. Ein Troll ist jemand, der oder die in einer politischen Diskussion ein Katzenbild postet beziehungsweise der oder die in einem Supportforum jemanden rickrolled. Menschen, die andere Menschen systematisch fertigmachen, die Frauen mit Vergewaltigung drohen oder intime Details des Privatlebens ihrer Opponenten veröffentlichen, sind keine Trolle sondern soziopatische Arschlöcher oder eben Hater.

Aber was genau hat Mierau denn nun gesagt? Er hat darauf hingewiesen, dass der Anonymisierungsdienst Tor von Hatern genutzt werden kann, um sich – etwa im Falle einer Morddrohung – vor der Strafverfolgung zu verbergen. In den Kommentaren des Leitmediums wird noch darauf hingewiesen, dass Tor und ähnliche Anonymisierungsdienste noch zu ganz anderen Straftaten verwendet werden. Das berühmtesten Beispiel ist sicherlich Silk Road, eine Art ebay (auch) für schwere Drogen und sogar ekelige Sachen wie Auftragsmord. Ein Ort, den du tunlichst nur anonym aufsuchen solltest. Also ist ein Verbot von Tor eine logische Sache, wie der Verbot von Waffen, oder? Nun, es ist ein typischer Fall von Liberty Valence (Englisch für Valenz oder Wertigkeit der Freiheit).

Screenshot: The Man Who Shot Liberty Valance
Screenshot: The Man Who Shot Liberty Valance. Copyright: Paramount. Hier als Blueray bei Amazon*.

Noch eine kleine Abschweifung: Im Jahr 1962 drehte John Ford mit "Der Mann der Liberty Valance erschoss" ein Schlusskapitel zum Western. Ein großartiger Film, der schon mit epischen Vorausdeutungen wie der Eisenbahn und dem Automobil beginnt und damit endet, dass John Wayne an Altersschwäche stirbt. John Wayne! Im Bett! Ohne Schuhe! Im Film wird verhandelt, dass die Zeit der Outlaws vorbei ist und die Epoche der Anwälte und Politiker beginnt. Und es wird darauf verwiesen, dass mit der aufkommenden Sicherheit vor Gangstern eben auch ein Stück Freiheit dahin geht und kein Westernheld mehr am Ende in den Sonnenuntergang reitet. Freiheit ist eben ambivalent, verstehta?!

Freiheit und Sicherheit sind zwei widerstreitende Werte. Du kannst den einen nicht im gleichen Maße wie den anderen haben. Sie müssen stets in Balance gehalten werden. Absolute Freiheit ist Anarchie. Und das ist letztlich nur ein Naturzustand ohne Leviathan, in dem das Recht des Stärkeren gilt. Auf der anderen Seite pervertiert absolute Sicherheit zu Staatssicherheit und damit zum Totalitarismus. Denn wenn alles geregelt ist, brauchst du auch eine totale Überwachung um die Einhaltung dieser Regeln zu gewährleisten und drakonische Strafen, um Regelübertritte zu verhindern.

Nun hat sich seit 2001 die Balance in der Gesellschaft immer mehr in Richtung Sicherheit verschoben. In der gleichen Zeit jedoch wurde das Internet zum Massenmedium und hat sich seinen freiheitlichen Charakter noch weitgehend bewahrt. Und in diesem Spannungsfeld steht nun Mieraus Gedankenspiel zu einer Reglementierung von Tor. Er selbst spricht auch den Dual Use von Tor an, ohne jedoch auszusprechen, worin denn die zweite Seite besteht. Das möchte ich gerne nachholen: Im Schatten der Totalüberwachung durch Geheimdienste ist ein Mittel, um sich vor dieser zu schützen, vielleicht keine so schlechte Idee. Zwar weist CCM richtig darauf hin, dass die NSA keine Vergewaltigungsdruhungen verschickt und auch unsere Demokratie macht einen recht stabilen Eindruck, aber wir sollten nie vergessen, dass die zukünftige Geschichte noch nicht geschrieben ist, dass es keine Regeln oder Gesetze im Weltgeschehen gibt, aus denen abzuleiten wäre, dass unser Rechtsstaat auch morgen noch da ist: Improbable things happen. Vielleicht sehen wir uns in Kürze schon wieder mit einem Totalitarismus konfrontiert, der obendrein auch noch eine perfekte Überwachungsinfrastruktur vorfinden wird. Wollen wir da wirklich unsere Mittel zur Abwehr aus der Hand geben? Zudem gibt es auf dieser Welt schon heute viele totalitäre Regime, in denen Dissidenten, Widerstandskämpferinnen oder sogar komplette Zivilgesellschaften auf die Nutzung von Tor angewiesen sind, da sie ansonsten in Lebensgefahr sind.

Ich will hier nicht die psychische Unversehrtheit der einen gegen die physische der anderen aufwiegen, sondern den guten Usecase von Tor ausformulieren. Abschließend möchte ich zu bedenken geben, dass ich nicht glaube, dass ein Verbot oder eine Reglementierung von Tor einen gewünschten Effekt auf den Anstand der Hater hätte. Wäre es so, dann müsste das in seinen Klarnamenzwängen gefangene Facebook ein Hort der glücklichen Einhörner sein, doch auch dort sind Hass, Bedrohungen und psychische Gewalt an der Tagesordnung. Genauso wenig glaube ich, dass sich Menschen, wie der erst kürzlich von der FAZ portraitierte Uwe Ostertag überhaupt für Tor interessieren. Sie predigen ihre menschenverachtenden Botschaften auch trotz langer Features inklusive Klarnamennennungen.

Ich glaube auch im Fall der Hater ist die Antwort kein Knopf zum Abschalten und kein Projektorraum zum Wegsperren, sondern der komplizierte Weg der Kommunikation. Wir müssen die aufklären und überzeugen, dass wir einen anderen Umgangston im Netz brauchen, die mit sich reden lassen und wir müssen denen die Plattformen und die Toleranz vorenthalten, die lernresistent sind. Das ist schwer! Das ist nichts, was sich von heute auf morgen ändern wird! Das ist nervenaufreibend! Aber das ist möglich!

Gesellschaftliche Änderungen sind schon früher eingetreten und sie werden sich auch in Zukunft erkämpfen lassen…

Meine Mediennutzung in der Revision

Vor zwei Jahren schrieb ich an dieses Stelle nieder, wie ich wann welche Medien nutze. Seitdem hat sich einiges verändert, sodass es Zeit ist für eine Revision.

Höhlenmalereien in der Cueva de las Manos, Río Pinturas, Argentinien
Höhlenmalereien in der Cueva de las Manos, Río Pinturas, Argentinien. Fotograf: Reinhard Jahn. Angebliche Lizenz: CC-BY-SA-2.0-DE.

Noch vor zwei Jahren las ich jeden Morgen die Zeitung in Form der FR App. Das habe ich mittlerweile fast komplett eingestellt. Wir haben zwar die FR App noch abonniert und die Dame liest sie auch noch täglich, aber ich fast gar nicht mehr. An die Stelle der FR App ist mein Feedreader getreten, in dem ich zur Zeit um die 70 Blogs und andere Quellen abonniert habe und den ich morgens meist als erstes öffne. Halt, stimmt gar nicht. Eigentlich checke ich erst Mails, Twitter-Interaktionen und Statusmeldungen auf Facebook. Aber neue Infos kommen dann über den Feedreader. Meine Lieblingsblogs sind derzeit wirres.net, Frau Haessy schreibt (ehemals Orbis Caudiae) und die Existential Comics.

Twitter kommt bei mir von allen Sozialen Netzwerken noch immer am häufigsten zum Einsatz, wann immer sich die Gelegenheit ergibt. Facebook nutze ich fast ausschließlich um mit Offlinern zu kommunizieren. Mein Facebooknewsfeed ist atemberaubend langweilig, was meines Erachtens daran liegt, dass FBs Algorithmus kaputt ist. Alle 2-3 Tage schaue ich mal bei App.net rein, da ich dort aber nur den Kostenlosaccount habe, folge ich auch nur 40 Menschen und alles ist sehr gemächlich. Ansonsten habe ich noch Accounts bei Google+ (was ich gar nicht nutze) und Tumblr (was ich gerne mehr nutzen würde, aber keinen Zugang finde), Ask.fm (wo mir nie jemand Fragen stellt) und Instagram, wo ich etwa einmal in der Woche reingucke.

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"Papyrus". Licensed under Public domain via Wikimedia Commons.

Zum Kindergarten fahren wir mit der S-Bahn, da wir innerhalb Frankfurts umgezogen sind. Auf der Hinfahrt lesen wir dann meist gemeinsam ein Buch, zurzeit Der kleine Ritter Trenk* von Kirsten Boie. Wenn ich das Buch vergessen habe, erzähle ich ihr den Herrn der Ringe* nach (schon zum zweiten Mal). Auf der Rückfahrt habe ich es mir zur Angewohnheit gemacht, meinen Podcast Spätfilm vorzubereiten, indem ich unzählige Artikel über den jeweiligen Film lese, den die Dame und ich als nächstes besprechen. Die Artikel recherchiere ich zunächst, dann speichere ich sie in Pocket und meine Notizen mache ich mit Evernote. In Evernote speichere ich auch alle Blogpostideen und -entwürfe.

Auf dem Weg zur Arbeit, steige ich dann auf mein Rad um und höre Podcasts. Derzeit habe ich stolze 81 Podcasts in meinem Podcatcher, die Zahl wird sich aber wieder reduzieren, da ich kürzlich alle (außer den Strickcasts) Podcasts aus Nele Heises Liste „Frauen machen Podcasts“ abonniert habe und gerade wieder aussortiere (Da ist teilweise schon abgefahrener Trash dabei, was ich gut finde, denn jeder Podcast findet seine Hörerinnen, aber ich muss ja nicht alles hören…) Meine Lieblingspodcasts sind derzeit:

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"Girl listening to radio" by Franklin D. Roosevelt Library Public Domain Photographs. Licensed under Public domain via Wikimedia Commons.

anyca.st, einer dieser berühmten Laberpodcasts, Logbuch: Netzpolitik, dessen Name Programm ist, Second Unit, der Filme bespricht,Vorgedacht (über Philosophie) und Vorzeiten (über Geschichte) und zwanzichfuffzehn (über Fernsehserien). Neu entdeckt habe ich Ein Mops kam in die Küche, ein Labercast, bei dem ich neulich einen so großen Lachanfall bekam, als ich ihn abends zum Einschlafen hörte, dass die Dame sich ernsthaft beschwerte…

Meine Bibliotheksbesuche haben sich massiv reduziert und mit ihnen mein Konsum von Hörbüchern. Ich habe die Hunger Games Trilogie* (krasses Finale!) vor einiger Zeit beim Einschlafen gehört, aber sonst kaum etwas. Filme leihe ich gar nicht mehr aus, da ich mittlerweile Watchever abonniert habe, was etwa 80% meines Fernsehkonsums abdeckt. Gelegentlich leihe ich mal einen Film bei iTunes, aber bei unserem Apple TV* bricht allzu oft die Verbindung ab und entgegen der Vertragsregelung, habe ich dann keine Möglichkeit, den Film weiterzugucken, ohne ihn erneut zu bezahlen. -.-

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Deutsche Fotothek‎ [CC-BY-SA-3.0-de]

Der letzte Film, den ich sah, war Roland Emmerichs 2012 (absoluter Trash, aber ich hatte auch nichts anderes erwartet…). Ich gehöre auch zu diesen Serien-Binge-Watchern. Allein schaue ich noch einmal die Sopranos und zusammen mit der Dame Star Trek: Voyager. Echtes Fernsehen schaue ich eigentlich gar nicht mehr, einzige Ausnahme bildet hier Fußball. Außerdem habe ich mittlerweile etwa 45 YouTube-Kanäle abonniert, von denen ich am liebsten CinemaSins und John Oliver sehe.

Radio höre ich eigentlich gar nicht mehr und da wir unser Auto verkauft haben, bleiben mir meist auch die Kinderhörspiele erspart. Leider lese ich auch viel zu selten Bücher, da ich meist irgendwas in diesem Internet lese. Auf meinem Nachttisch liegt seit Ewigkeiten Poppers Die offene Gesellschaft und ihre Feinde*. Weil ich unbedingt wieder mehr Bücher lesen will, ist nun auch noch Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt, was mir sehr viel Spaß macht!

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"Gutenberg Bible". Licensed under CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons.

Nachrichten konsumiere ich unregelmäßig und meist über SpOn, FR Online (für Lokales) und Rivva. Hearthstone ist derzeit das Computerspiel meiner Wahl, wenn ich mal eine Viertelstunde zuviel Zeit habe. Musik höre ich derzeit auch eher wenig, mein letztes neues Album war AM von den Arctic Monkeys*. Soweit, so medial. Schalten Sie auch in zwei Jahren wieder ein…

 

*hinterhältige Affili-Links: Wenn ihr den Artikel kauft, bekomme ich eine winzige Provision und freue mich…

Hallo Facebook, das ist Flattr!

Hallo Facebook-Community, ich möchte euch heute mal erklären, was Flattr ist und warum ihr es benutzen solltet. Mir ist nämlich aufgefallen, dass Flattr zwar bei dieser sogenannten Netzgemeinde, die sich auf Twitter und/oder App.net rumtreibt, einigermaßen verbreitet ist. Aber ihr, liebe Facebook-Comunity, scheint Flattr überhaupt nicht zu nutzen. Und ich möchte euch mal kurz erklären, warum Flattr gut und wichtig ist und warum ihr es benutzen solltet.

Das ist Flattr:

Flattr this

Warum ist dieses Internet eigentlich so knorke?

Die erste Frage, die ihr euch stellen solltet, lautet: Warum ist dieses Internet eigentlich so knorke? Ich für meinen Teil beantworte die Frage gerne mit: Weil Jede alles zu jeder Zeit und auch noch umsonst finden kann. Und zwar wirklich alles! Willst du zum Beispiel die Information, was eigentlich die Postmoderne ist, schaust du kurz in die Wikipedia und – BAM! – schon weißt du es. Willst du wissen, warum Karla Kolumna keine gute Reporterin ist, schaust du kurz bei juna im netz vorbei und – Zack! – schon weißt du es. Willst du wissen, wie das Ohr aufgebaut ist, dann hörst du mal eben ™ den vier Stunden langen Podcast CRE206 und – BUMM! – schon weißt du es! Oder willst du einfach nur eine Katze einen Backflip machen sehen, dann schaust du dieses Video

und -SCHWUPP! – schon … äh … na, ja, hast du es halt gesehen…

Pöse, pöse Kostenloskultur!

Nun gibt es aber Menschen, die wollen das Internet, so wie es ist, kaputt machen. Sie wollen (auch hierzulande) die Netzneutralität kaputt machen,

Sie wollen Urheberrechtsverletzungen mittels Deep Packet Inspections auf die Spur kommen, sie wollen das Streamen von Serien und Spielfilmen verbieten und sie wollen Suchmaschinen mit einem Leistungsschutzrecht für Suchtreffer bezahlen lassen. All diese Maßnahmen begründen sie oft mit einem Kampfbegriff: Kostenloskultur.

Im Internet herrsche eine Kostenloskultur, jammern sie, eben weil jede alles zu jeder Zeit und auch noch umsonst finden kann. Und das müsse geändert werden. Daher soll der Zugang zu Informationen und Unterhaltung stärker reguliert werden und natürlich auch kostenpflichtig werden.

Flattr ist eine Antwort auf den Kampfbegriff der Kostenloskultur

Und jetzt komme ich endlich zu Flattr. Flattr ist eine Antwort auf den Kampfbegriff der Kostenloskultur. Denn Flattr beweist, dass wir hier im Internet keine egoistischen Arschlöcher sind, sondern dass wir es ernst meinen, wenn wir sagen, dass sie die alten Geschäftsmodelle der Musikindustrie, der Filmindustrie und der Verlage überholt haben. Denn Flattr ist eine Form von Micropayment, wie ihr es vielleicht aus euren Spiele-Apps kennt, wo ihr für 99 Cent oder so euch kleine Boni kaufen könnt. Aber Flattr ist noch besser! Denn weiterhin kann jede alles zu jeder Zeit und auch noch umsonst finden. Aber wenn euch etwas richtig gut gefällt, dann macht ihr das, was ihr schon von Facebook kennt. Ihr klickt auf einen Like-Button.

Flattr this

Nur dass dieser Button nicht blau ist, sondern grün. Und dass damit eine kleine Spende an den Verfasser des Blogposts, die YouTuberin, den Podcaster oder die Freundin auf Facebook fließt.

Dafür zahlt ihr einen kleinen Betrag auf euer Flattrkonto. Und zwar wirklich wenig! Das Mindestbudget liegt bei 2 Euro im Monat, das ist eine kleine Limo in der Kneipe. Ihr könnt also für den Preis einer kleinen Limo in der Kneipe dem ganzen Internet „Danke“ sagen!

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Von User:Squirrelsuper (Eigenes Werk) Lizenz: CC-BY-SA-3.0, via Wikimedia Commons

Übrigens ist Flattr auch kein Abo. Ihr bestimmt jerderzeit, ob ihr euer Konto auffüllen wollt oder nicht. Die 2 Euro werden dann auf alle eure Flattr-Klicks in dem Monat verteilt. Wenn ihr also zweimal flattrt, dann bekommen die Geflattrten entsprechend jeweils 1 Euro und wenn ihr 10 Mal flattrt, bekommt halt jede 20 Cent. Und wisst ihr was? Das ist total egal. Denn es geht erst einmal nicht so sehr um den Betrag, sondern um die Geste! Ihr zeigt einem Beitrag im Internet, dass er euch etwas wert ist. Der Flattr-Button ist dann quasi der Platin-Facebook-Daumen. Und wenn 10 Millionen Menschen diesen beiden charmanten jungen „Künstlern“ 10 Cent geflattrt hätten, dann wären sie jetzt Millionäre.

Eines noch zum Abschluss: Flattr ist nicht DIE EINE Lösung für das durchaus bestehende Problem, dass Bezahlung im Internet noch nicht so richtig funktioniert, aber zusammen mit Crowdfunding, Premiumaccounts, Micropayment, etc. kann sich eines Tages ein Regenbogen an Maßnahmen ergeben, der den Feinden des Internets den Wind aus den Segeln nimmt…

TAADAA!
Quelle: http://www.reactiongifs.com/. Lizenz: fragwürdig.

 

Also: Meldet euch doch gleich mal an

Der Selfie ist der Untergang des Abendlandes

Der Selfie ist der Untergang des Abendlandes. Zumindest wird er unter Kulturpessimisten derzeit als einer der heißesten Kandidaten gehandelt. Und die gerne alles zur eigenen Generation hochstilisierenden Jugendforscher handeln ihn als Symptom der „Generation NOW“. Er ist Zeugnis unserer stetig größer werdenden Selbstveliebtheit, bis uns eines Tages alle das Schicksal von Narziss ereilt. Es ist höchste Zeit diesem Phämomen auf die Spur zu kommen.

RobertCornelius

Robert Cornelius machte den ersten bekannten Selfie mit einer Kamera, via Wikimedia Commons. Lizenz: gemeinfrei.

Die Definition des Selfies

Der (oder auch das) Selfie [ˈsɛlfi] ist ein Selbstporträt, dass typischerweise mit einem Smartphone aufgenommen und ins Internet gestellt wurde. Ein häufiges Detail im Bild ist der Arm, der die Kamera hält. Eine Variante des Selfies ist der Spiegelselfie, auch “MySpace pic” genannt.
Es gibt Selfiesammlungen, mehr oder weniger ernstgemeinte Anleitungen für Selfies, Gadgets zum besseren Vollzug*, Regeln, was die schlimmsten Selfies sind und sogar der Urknall machte seinen eigenen Selfie.

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Michelangelo Caravaggio 065“ von Michelangelo Merisi da Caravaggio – The Yorck Project: 10.000 Meisterwerke der Malerei. DVD-ROM, 2002. ISBN 3936122202. Distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons.

Der Dimunitiv als Erfolgsrezept

Der Selfie kam nicht zuletzt deshalb zur unverhofften Popularität, weil das Oxford Dictionary ihn zum Wort des Jahres 2013 wählte. Die Verwendung von „Selfie“ im Englischen hatte binnen Jahresfrist um 17.000% zugenommen.

Die erste Verwendung von „Selfie“ ist bereits 2002 in einem australischen Forum belegt. Das Oxford Dictionary hält es für evident, dass das Wort in Australien geboren wurde, da das australische Englisch eine Vorliebe für die Bildung von Dimunitiven mit -ie hat. Der Dimunitiv hat dem Selfie auch bei seiner Verbreitung geholfen, so fährt das Oxford Dictionary fort, denn er verwandelte das in seiner Tendenz ja narzisstische Selbstporträt in etwas süßes, liebenswertes. Zur Popularität des Wortes trug ferner bei, dass es ab 2004 vermehrt als Hashtag auf Seiten wie Flickr verwendet wurde.

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Leonardo da Vinci – presumed self-portrait – WGA12798“ von Leonardo da VinciWeb Gallery of Art:   Image  Info about artwork. Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons.

Die eigentümliche Verschmelzung verschiedener Kulturtechniken

Doch der Erfolg des Selfies ist vor allem auf eine eigentümliche Verschmelzung von verschiedenen Techniken und Kulturtechniken zurückzuführen. Denn das Selbstporträt ist ja beileibe nichts neues. Schon seit der Antike war es unter Künstlern beliebt, sich selbst abzubilden. Berühmte historische „Selfies“ stammen von Leonardo da Vinci, Rembrandt oder van Gogh. Und die Analyse von Velázquez Las Meninas hat Generationen von Kunsthistorikern, -theoretikern und Philosophen beschäftigt. Doch der Prozess des gemalten Selbstporträts war langwierig.

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Rembrandt Harmensz. van Rijn 132“ von Rembrandt – 1. The Yorck Project: 10.000 Meisterwerke der Malerei. DVD-ROM, 2002. ISBN 3936122202. Distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. 2. gallerix.ru. Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons.

Drastisch verkürzt wurde er durch die Erfindung der Fotografie, die ihm aber zugleich das „Selbst-“ raubte. Es war nicht länger möglich sich selbst zu portraitieren, da es jemanden geben musste, der oder die durch den Sucher blickend das Ergebnis kontrollieren konnte. Die Erfindung von von Fernauslösern und Selbstauslösern brachte den Fotografen schließlich dem Selfie einen Schritt näher. Obwohl nun zwar das „Selbst-“ zurückgekehrt war, fehlte ihm aber zugleich noch die Beiläufigkeit. Ein Selbstportrait musste vor dem Schießen sorgfältig komponiert werden, damit die Fotografin noch schnell vor die Linse an eine markierte Stelle treten konnte, um später auf dem Bild zu erscheinen.

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VanGogh 1887 Selbstbildnis“ von Vincent van Gogh[1]. Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons.

Erst die Erfindung der Digitalkamera vollendete den Selfie (fast) schon. Denn nun konnten die Fotografierenden ihn mal eben mit ausgestreckten Arm vornehmen, und bekamen „Rapid Feedback“ mit einem Blick auf das Display. Doch damit ging freilich die Komposition flöten, die für den Selfie wichtiger ist, als so mancher Angry-Old-Feuilleton-Man glaubt. Daher ging der Selfie noch einmal einen Umweg, auf dem er sich eine weitere Komponente seines Wesens abholte: Über die Kombination aus Kamera und Badezimmerspiegel als “MySpace pic” gelangte er zur Webcam. Und die Webcam wurde zum Komplizen des Selfies, denn sie ermöglichte nicht bloß das Rapid Feedback, sondern löste auch ein Problem: den Avatar. Der Avatar ist die Repräsentation einer Person im Netz. Und mit dem Erfolg der sozialen Medien war er plötzlich allgegenwärtig. Ein entscheidender Schritt beim Anlegen eines Facebook-Profils ist, den Standard-Darth-Vader durch ein Bild auszutauschen, das mich selbst im digitalen Raum darstellt. Was liegt da näher als den Avatar an Ort und Stelle unter kontrollierten Bedingungen zu erstellen, zumal die Webcam am klassischen Desktop-PC in der Regel auf dem Bildschirm saß und somit eine leicht erhobene Position hatte, die die Schokoladenseite hervorkitzelte und zum Beispiel das ungeliebte Doppelkinn durch die leichte Hebung des Kopfes zum Verschwinden brachte: Der Selfie war geboren.
Velazquez-Meninas

Diego Rodríguez de Silva y Velázquez [Public domain], via Wikimedia Commons

Doch er war, wie jede Kulturtechnik in den Kinderschuhen noch sehr limitiert. Die Auflösung war oft eher määh und das immer gleiche Motiv langweilig. Gut, nun hat man beim Selfie natürlich nicht die allergrößte Variationsmöglichkeit, was das Motiv anbelangt. Neben Kleidung, Schminke und Frisur lässt sich vor allem eines verändern: der Hintergrund. So wurde der Selfie schließlich perfektioniert, als Smartphones mit Frontalkameras ausgestattet wurden. Nun war alles zusammengekommen, was zum Erfolg nötig war: Der Selfie ließ sich nebenbei machen und zugleich kontrollieren, durch die Mobilität des Handys ließ sich der Hintergrund variieren und die Internetanbindung ermöglichte den sofortigen Upload in das soziale Netz der Wahl. Schließlich kamen noch Instagram und seine zahlreichen Nachahmer, die in wenigen, einfachen Schritten der Fotografin ermöglichten, was zuvor einigen Expertinnen mit Lightroom und Photoshop vorbehalten war: die Bildnachbearbeitung.

Die Grenze des guten Geschmacks

Doch wie bei jeder neuen Kulturtechnik, so muss nun beim Selfie erst noch gesellschaftlich ausgehandelt werden, wann sein Einsatz okay ist und wann nicht. In den 90ern war es etwa noch nicht allen klar, dass Telefonieren im Kino ein no-go ist und der Anruf beendete auch allzu oft die Face-to-Face-Kommunikation abrupt. Genauso gehört es zu meiner eigenen Charakterschwäche (und der vieler anderer), dass ich allzuoft in der Gegenwart von Offlinern „mal eben“ ™ die Statusmeldungen auf meinem Telefon checke. Und eben so sind beim Selfie noch nicht Ort, Zeit und Gelegenheit für diesen geklärt.

Es wundert kaum, dass gerade Teenager oft die Grenze des guten Geschmacks übertreten, wenn es um den angemessenen Ort für einen Selfie geht. Sie haben gerade erst entdeckt, dass der eigene Körper spannend ist, zugleich verunsichert sie die Veränderung desselben, sodass sie nach Bestätigung unter anderem in Form von Likes und Shares suchen und sie haben eben noch wenig Lebenserfahrung, weshalb sie auf dumme Ideen kommen. So werden schon einmal AfterSexSelfies oder Selfies auf Beerdigungen gemacht. Gut, gegen letzteres scheint nicht einmal der amerikanische Präsident etwas zu haben, im Gegensatz zu seiner Frau.

Ralfies Selfie in Aachen
Ralfies Selfie in Aachen. Foto von mir. Lizenz: CC0.

In den USA wird gerade debattiert, wo der Selfie endet und wo die Kinderpornographie beginnt. Und natürlich interessieren sich auch die nach Terroristen suchenden Geheimdienste für den Selfie ohne Kleidung. Doch mehr als fragwürdig werden schließlich Spielarten des Selfies wie der Auschwitz-Selfie, der gerade erst wieder zu einem Aufschrei führte oder gar der Yolocaust (Ein Kompositum aus YOLO – You only live once – und Holocaust). Genauso wenig klar ist bislang, was der Selfie kann und will. Kann er beispielsweise auf die Gefahren von Brustkrebs aufmerksam machen? Klingt komisch, wurde aber so geäußert. Andererseits bereichert der Selfie die zumeist rein textbasierte Kommunikation durch das Bild mit seiner großen Informationsfülle und vermag so sogar den Schritt aus der Internetkommunikation hinaus ins Leben „away from keyboard“ (afk) zu gehen. Schließlich entdeckt manch einer auch ungeahnte Ähnlichkeiten.

Ralfies Selfie in Frankfurt
Ralfies Selfie in Frankfurt. Foto von mir. Lizenz: CC0.

Dadurch, dass der Selfie in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, hat sich natürlich auch schon ein Gegentrend gebildet, so werden Shelfies, Bilder von Bücherregalen zur Protestbewegung gegen den Selfie hochgejazzt, die dann wiederum als elitäres Bildungsbürgerabfeiern veruteilt werden.

Sozialpsychologische Funktion, Subgenre und die Dokumentation

Doch alles, was ich bislang hier getan habe, war reine Phänomenologie. Ich bin der Antwort auf die Frage noch nicht näher gekommen, ob der Selfie denn jetzt der narzisstische Untergang des Abendlandes ist. Interessant ist dabei, dass der Selfie zwar Ausdruck unserer Selbstrepräsentation ist und den Wunsch nach Bestätigung ausdrückt, aber deswegen noch nicht gleich narzisstisch sein muss. Es ist für die Ausbildung unseres „Ichs“ wichtig, uns durch die Augen anderer zu sehen. Der Selfie übernimmt dabei eine sozialpsychologische Funktion. Da sich unser Leben zu einem nicht unwesentlichen Teil in die digitale Sphäre verschoben hat, unterscheidet sich der Selfie gar nicht so sehr von unseren Bemühungen, uns für eine Party oder auch nur den Gang zur Arbeit herauszuputzen. Der Selfie ist gewissermaßen der Smoking oder das kleine Schwarze von Twitter und Facebook.

Mein Shelfie.
Mein Shelfie. Bild von mir. Lizenz: CC0.

Auch sollte nicht aus dem Blick verloren werden, dass der Selfie nur ein Subgenre von vielen verschiedenen Fotografiemotiven ist, die aufgrund der generellen Vervielfachung von Fotos durch den technischen Fortschritt ins Netz gespült werden. Früher machten wir eben nur 36 oder 72 Bilder im Urlaub und klebten anschließend die besten 20-30 ins Fotoalbum, das wir dann unseren Freunden zeigten. Ein Blick in die Dropbox verrät mir, dass ich im vergangenen Monat 194 Fotos gemacht habe, von denen gerade einmal 16(!) auf Instagram gelandet sind. Das mag vielleicht nicht repräsentativ sein, lässt mich aber überlegen, wie viele Selfies auf Festplatten verstauben ohne die Chance bekommen zu haben, vermeintlich narzisstischer Ausdruck zu werden.

Obendrein ist der Selfie nicht bloß Ausdruck unserer Selbstverliebtheit, er ist zudem auch der Wunsch, Momente des eigenen Lebens zu dokumentieren. „Pic or it didn’t happen“ ist der Ruf in den sozialen Netzen dafür. Amüsanterweise erscheint der Selfie bei anderen immer narzisstisch bei dir selbst aber dokumentarisch.

Und dennoch wäre es blauäugig zu glauben, dass uns die Allgegenwartheit der Selfies nicht auch verändert. An der Botschaft haftet eben immer auch die Spur des Mediums. Und der Like, das Herz und der Fav für ein Bild meiner selbst fühlt sich halt leider geil an. Wenn wir uns immer wieder kleine Belohnungsschübe holen können einfach nur dafür, wie wir sind, beziehungsweise wie wir uns inszeniert haben, dann wird dass natürlich auch Einfluss darauf haben, wie wir uns in Zukunft präsentieren.

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Buzz Aldrin EVA Selfie“ by Buzz Aldrin – Huffington Post article. Licensed under Public domain via Wikimedia Commons.

Und als letzten Punkt sollten wir auch nicht die Sensationsgier der Betrachter außer Acht lassen. Denn ein Selfie ist immer nur so spektakulär, wie ihn die anderen zu machen bereit sind. Findet er keine Beachtung, dann erhält der Selfer keine Belohnung und ganz behavioristisch sinkt dadurch für ihn der Anreiz weitere Selfies zu machen…

Was folgt nun aus all dem?

Ich denke, wir müssen den Untergang des Abendlandes leider ein weiteres Mal verschieben. Der Selfie an sich bietet eigentlich ziemlich wenig Grund, sich über ihn aufzuregen. Statt dessen sind es die noch nicht zu Ende ausgehandelten Werte und Verhaltensweisen rund um den Selfie, die der Kern des vermeintlichen Übels sind. Diese werden sich einschleifen. Natürlich wird es immer Grenzüberschreitungen und Geschmacklosigkeiten geben, so wie es bei jedem internationalen Fußballtunier Anflüge von Nationalismus gibt. Aber so lange das öffentliche Korrektiv bei Entgleisungen wie Yolocaust funktioniert, hat das Abendland noch eine Hand breit Wasser unterm Kiel.

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Ach Internet, du nervst mich gerade mal wieder ein kleines bisschen. Einfach weil du immer über das gleiche redest obwohl doch alles schon gesagt ist. Um dem Ganzen jetzt mal ein Ende zu setzten, präsentiere ich euch:

Die definitiv richtigen und letztgültigen Anworten für alle Debatten im Internet!

Copy und Paste dieses Blogposts sind explizit erlaubt. Versprich mir nur eines, Internet, sprich einfach in Zukunft über neue Themen und immer, wenn jemand mit einer dieser alten Diskussion ankommt, knallst du ihm die Antwort, die du hier findest, vor den Latz. Jetzt aber zu den Antworten:

Urheberrecht

Das Urheberrecht ist kaputt, wird aber nicht repariert werden. Du sharest keine Files oder streamst, wegen Meinungsfreiheit oder um Künstler zu unterstützen, selbst wenn du mir noch so viele Studien zeigst, die das eine oder andere beweisen oder widerlegen, sondern weil du Mukke, Spiele und Filme für umme haben willst. Wer wegen Filesharing abgemahnt wird, hat deswegen pech gehabt. Aber jeder, der abmahnt, ist ein Arschloch.

Privatsphäre

Gibt es im Internet nicht. Kannste scheiße finden oder geil, ist aber so und wird sich auch nicht ändern.

Überwachung

Ist scheiße, wird aber nicht weggehen. Überwachung wird die Demokratie kaputt machen und wir müssen sie dann anschließend wieder aufbauen.

Feminismus

Sexismus existiert und ist scheiße. Die Feministinnen haben recht und Maskulisten sind einfach nur lächerlich. Wir sollten uns alle bemühen, Sexismus zu überwinden und ihr, liebe Feministinnen, solltet uns immer wieder geduldig und freundlich erklären, wenn wir was falsch gemacht haben und open minded etwaige Gegenargumente anhören. Dennoch wird Sexismus nicht weggehen.

Homöopathie und andere Esotherik

Ja, ist albern. Aber wem es Spaß macht und wer es freiwillig macht, den sollte man es halt um Gottes Willen machen lassen.

Apple vs. Samsung

Apple baut die besseren Handys, aber 90% der Menschen können die sich halt nicht leisten. Und die Dinger von Samsung machen halt auch ihre Arbeit.

Print vs. Online

Print war geil und hatte ne geile Zeit. Aber Print wird sterben. Und ja, das wird die Qualität des Journalismus’ insgesamt etwas mindern, weil werbefinanzierte Plattformen eben hauptsächlich Massenkompatibles produzieren. Ist scheiße, aber lässt sich nicht ändern.

Piratenpartei

Ihr hattet gute Ideen. Ihr habt es verkackt. Danke fürs Mitspielen!

Religion vs. Atheismus

Man kann weder beweisen, dass Gott existiert, noch dass er das nicht tut. Auch nicht, ob er erlaubt, dass wir Alk trinken oder nicht. Daher soll jeder es mit der Religion so halten, wie es ihm Spaß macht, aber allen anderen nicht auf den Sack gehen.

Homosexualität

Homosexualität existiert, sie ist normal, niemand kann was dafür, niemand kann sie erlernen oder verlernen. Daher sollten Homosexuelle exakt die gleichen Rechte haben wie Heteros.

Star Wars

Die alte Trilogie ist besser als die neue und Star Wars VII wird definitiv die Erwartungen nicht erfüllen.

Facebook

Facebook ist noch schlechter als die neuen Star Wars Filme, aber es ist halt so wie damals die Dorfdisko: Alle sind da, deshalb gehst du auch hin.

Essensfotos und Selfies

99,9% sind scheiße oder langweilig, aber sie tun halt auch nicht weh, weshalb wir jetzt alle weiterscrollen können.

Für alles andere gilt:

 

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Danke für die Aufmerksamkeit.

Ich bin raus.