Die Freiheit unserer Kinder

Beim letzten WRINT Realitätsabgleich rantete Holgi gegen die Eltern von heute, die ihren Kindern keine Bewegungsfreiheit mehr lassen. Das hatte ich schon fast wieder vergessen, da spülte mir Twitter als Nachtisch eine Grafik in die Timeline, in der man sieht, wie sich der Aktionsradius von Kindern innerhalb von vier Generationen verkleinert hat. Das ganze basiert auf EINER Stichprobe, ist also nicht gerade aussagekräftig, aber nehmen wir das einfach mal als Ausgangsbasis … Ist es wirklich so, dass wir unsere Kinder überbeschützen? War früher alles besser? Waren wir „in allem schon mal weiter“, wie Holgi sagte? Oder gibt es vielleicht Gründe, unsere Kindern nicht mehr herumstreunern zu lassen wie früher? Gründe, die vielleicht gar nicht so doof und so helikopterelterlich sind?

Kind auf Wiese. Bild von mir.
Kind auf Wiese. Bild von mir.

Am Anfang war die Anekdote

In meiner Erinnerung hatte ich enorm viel Bewegungsfreiheit in meiner Kindheit. Ich bin allein zur Schule gegangen, zu meinen Freunden, ins Kino, zum Spielen in den Wald, ins Freibad und ich bin mit dem Fahrrad in den Nachbarort gefahren. Ich bin ganze Wochenenden lang herumgetromert und nur zum Essen und Schlafen heimgekommen, ich habe Pfennige von Zügen auf Bahnschienen plätten lassen und einmal bin ich sogar einen Nachmittag nackt durch den Ort gelaufen, weil ich Robinson Crusoe spielte – fragt mich bitte nicht, warum Robinson Crusoe unbedingt nackt sein musste …

Aus dieser Aufzählung lässt sich aber vor allem eines erkennen: Wie wir unsere eigene Kindheit verklären. Denn ich habe  nicht den blassesten Schimmer, wie alt ich bei den jeweiligen Erinnerungen war, ob meine Eltern wirklich nicht wussten, wo ich war (denn ich habe auch Erinnerungen, in denen ich Ärger aus genau diesem Grund bekam) und vor allem war ich klein, weswegen mir die Welt viel größer vorkam. Ich habe mir mal den Spaß gemacht, meine erinnerten Strecken nachzumessen:

  • Zu meinem besten Freund = 600 Meter
  • Ins Kino = 800 Meter
  • Zur Schule  = 850 Meter
  • In den Wald = 1 Kilometer
  • Ins Freibad = 1,9 Kilometer

Bewegungsfreiheit vs. persönliche Freiheit

Das sind jetzt alles nicht gerade Marathonstrecken, besonders wenn ich sie mit denen meiner Tochter (7) vergleiche. Aber dazu später, denn zuvor noch etwas anderes: Wie man der Anekdote entnehmen kann, bin ich auf dem Land aufgewachsen, doch heute lebe ich in der Stadt. Und das ist kein Zufall. Ich bin nicht hier gelandet, weil es der Job diktierte oder ähnliches, sondern weil ich das Landleben gehasst habe! Der Bewegungsfreiheit stand dort nämlich eine persönliche Unfreiheit gegenüber, erzeugt durch gedachte Schubladen, in die du gesteckt wurdest, erzeugt von Nachbarn, die sich Mäuler zerreißen und von der Hordenmoral, wo jeder jede kennt und alles verurteilt, das anders ist!
Das wollte ich für meine Kinder nie und daher bin ich in die Stadt gezogen, wo sie vor den Schubladen in Nischen flüchten können, wo alles bunter ist, wo ich israelische, türkische, arabische, persische, spanische, ukrainische und italienische Freunde und Bekannte habe. Wo du den Menschen aus dem Weg gehen kannst, die dich verurteilen, wenn du als Frau eine Frau oder als Mann einen Mann liebst genau wie jenen, die sich schon an der falschen Frisur oder den falschen Klamotten stören. Ist dafür weniger Bewegungsfreiheit nicht ein geringer Preis?

Die Wege meiner Tochter

Aber nicht zu schnell. Machen wir zunächst die Gegenprobe: Meine Tochter (7) geht alleine zur Schule (850 Meter), von der Schule zum Hort (1,2 Kilometer), vom Hort nach Hause (650 Meter). Das ist doch gar kein so großer Unterschied … Es wirkt nur kleiner, weil ich jetzt größer bin und weil Frankfurt größer ist. Ich will auch nicht verschweigen, dass sie nicht überall alleine hin darf: Wir bringen sie zum Gesangsunterricht (obwohl der nur 300 Meter entfernt ist) weil der abends stattfindet und wir nicht wollen, dass sie im Winter alleine durchs Dunkel läuft. Morgens ist es zwar auch dunkel, aber da sind hunderte Kinder unterwegs. Abends nicht. Und wir bringen sie zum Capoeira, weil das eine typische Frankfurter Strecke von 4,7 Kilometern ist.

Die Freiheit der Kinder

Jetzt könntet ihr natürlich sagen: „Ja du, du machst das so, aber andere nicht!“ Und wisst ihr was? Ihr habt recht. Wenn ich meine Tochter (7) mal zur Schule bringe, dann sehe ich da auch immer Autokolonnen vorfahren, aber woher soll ich denn wissen, welchen Schulweg deren Kinder haben? Denn dass meine Tochter sich so frei bewegen kann, liegt an unserer recht ungewöhnlichen Wohnsituation. Wir wohnen in einer ziemlich ruhigen Ecke im Frankfurter Gallus.

Kleine Abschweifung: Das Gallus

Das Gallus hat zwar einen sehr schlechten Ruf in Frankfurt, aber der ist ziemlich ungerechtfertigt. Erstens kommt der daher, dass das Viertel ans Bahnhofsviertel grenzt, das in Frankfurt das Rotlichtviertel ist. Und daher treiben sich in Bahnhofsnähe auch eine ganze Reihe Junkies rum. Zweitens ist die S-Bahnstation „Galluswarte“ ein verlauster Straßenköter, der an seiner eigenen Kotze zu ersticken droht. Dort ist es unsäglich laut, schmutzig und bevölkert mit Alkoholikern. Drittens war das Gallus wohl in den 90ern mal ein sozialer Brennpunkt, aber seit damals hat die Stadt sehr viel Kohle ins Viertel gepumpt und ein problematischer Güterbahnhof ist verschwunden. Aber vor allem viertens: Das Gallus ist groß. Es hat über 30.000 Einwohner und damit mehr als doppelt so viel wie die Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin. Und in diesem großen Bezirk wohnen wir eben in einer familiengerecht ruhigen Ecke.

Aber ich schweife ab. Worauf ich eigentlich hinaus wollte, war, dass wir zuvor in Sachsenhausen direkt am Südbahnhof gewohnt haben. Und ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich da meiner Tochter die gleiche Freiheit gelassen hätte: Dort fuhren Busse, Trams, S-, U-Bahnen und Züge ab und an. Dort hetzten morgens die gestressten Pendler zum Bahnhof oder weg von ihm. Da blockierten Autos immer wieder den Bürgersteig, sodass man auf die vierspurige Straße ausweichen musste. Da war es mit anderen Worten verdammt quirlig. Und da soll ich eine Siebenjährige rumlaufen lassen, die die meiste Zeit des Tages ihren Träumen und Gedankenwelten nachhängt? Ich weiß nicht …

Das Wohl der Kinder

Jetzt komme ich nämlich zum letzten Akt. Ich glaube, ich hätte das nicht getan, denn ich will das beste für meine Kinder und ich glaube, damit bin ich nicht allein. So geht es vielen, wenn nicht gar den meisten Eltern. Ich denke, das beste für seine Kinder zu wollen, ist normal. Und ich glaube, das war es auch früher schon, aber die Lebensumstände waren andere.

Ich glaube nicht, dass unsere Welt gefährlicher geworden ist, hier habe ich zumindest einen Artikel gefunden, der das Gegenteil sagt. Sicher haben wir heute mehr Verkehr als fürher, und vielleicht wird auch jeder Kindesentführung oder „Familientragödie“ mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Aber ich glaube nicht, dass das der wesentliche Unterschied ist. Ich glaube am meisten hat sich die Zahl der Kinder verändert.

Denn, haben unsere Eltern und Großeltern ihren Kindern mehr Freiheiten gelassen, weil sie im tiefsten Inneren davon überzeugt waren, dass das wichtig und richtig ist? Oder war es nicht vielleicht so, dass eine Mutter von 3,4 oder 5 Kindern, deren Mann den ganzen Tag malochen geht, es einfach nicht leisten konnte, ein Kind zum Sportunterricht zu fahren? Weil dann vier andere Kinder kein Essen, keine saubere Wäsche, keine Hausaufgabenkontrolle bekommen hätten? War es nicht vielleicht das beste für die Kinder, zuhause zu bleiben?

Und heute muss die gleiche zur Verfügung stehende Zeit eben oft nur auf ein oder zwei Kinder verteilt werden. Zugleich gibt es auch mehr Väter – so wie ich –, die sich an der Kindererziehung beteiligen. Vorausgesetzt, dass Eltern schon immer das beste für ihre Kinder wollten, war vielleicht früher einfach das beste zuhause zu bleiben, sich um die Kinder zu kümmern, von denen ich weiß, dass sie jetzt meine Hilfe brauchen und jene Kinder streunern zu lassen, denen ich zutrauen kann, dass sie wieder nach Hause finden. Heute hingegen bringe ich meinen Kindern nicht mehr Aufmerksam entgegen, ich muss diese Aufmerksamkeit nur weniger verteilen. Ist es da nicht vernünftig, mein Kind zu fahren, zu begleiten und zu beschützen, wenn ich davon ausgehe, dass ich das beste für ebendieses Kind will? Klar kann ich das übertreiben und zum Helikopter werden. Aber wir sollten auch nicht ins andere Extrem verfallen und „die Eltern von heute“ verurteilen, die so viel Angst haben, nur weil früher bekanntlich alles besser war …

Das glaubt einem doch niemand!

Ich fuhr gestern so mit meinem Fahrrad durch diese schöne Stadt am Main. Ich kam von der Arbeit, zu der ich mangels guter Öffi-Anbindung auch zu dieser Jahreszeit tagtäglich mit dem Rad fahre. Ich fuhr also gestern so vor mich hin – dumdidumdidumdidum – und hörte meinen Podcast. Also nicht meinen Podcast, so selbstverliebt bin ja nichteinmal ich, sondern irgendeinen Podcast. Ich war auch schon in unserem schönen Viertel, dem Gallus, und nicht mehr allzu weit von meiner eigenen Haustür entfernt.

Wax Museum Plus (6344811177).jpg von Miguel Mendez. Lizenz: CC BY 2.0. Bearbeitung von mir.
Wax Museum Plus (6344811177).jpg von Miguel Mendez. Lizenz: CC BY 2.0. Bearbeitung von mir.

Da wanderte mein Blick gen Himmel, während ich den lieblichen Stimmen irgendwelcher Podcaster/innen lauschte. Meine müden Augen erblickten eine Krähe, die einen Zweig trug. Und ich denk noch so bei mir: „Mensch, der Zweig hat aber eine beachtliche Größe verglichen mit dieser Krähe …“ Da lässt Corvus frugilegus mit einem Mal den Zweig fallen und ich blicke ihm nach.

Der Zweig landet direkt auf dem Kopf eines Fußgängers, der sich wutentbrannt umdrehte und … mich auf meinem Fahrrad sieht! Ich nur so: „ICH WAR DAS NICHT! EHRLICH, DAS WAR DER VOGEL!“ – der sich natürlich mittlerweile aus dem Staub gemacht hatte …

Nun, was soll ich sagen. Ich habe die Pedale in die Hand genommen (bildlich gesprochen), denn was ich da gerade diesem Mann gegenüber behauptet hatte, das glaubt einem doch niemand!

Fragezeicheninduzierte Weltbildverzerrung

Meine Tochter (7) hat Die Drei Fragezeichen für sich entdeckt. Vor einiger Zeit, als sie mich fragte, ob sie auf meinem Computer ein Hörspiel hören darf (ich habe ein paar „Sicherungskopien“ von Kinderhörspielen auf der Platte), dachte ich mir, jetzt ist sie bereit für den Superpapergei. Und ich hatte recht…

drei Fragezeichen total verdreht
drei Fragezeichen total verdreht

Ich war als Kind selbst ein großer Fan der Telefonlawine aus Rocky Beach und liebte es, wenn Morton den Rolls Royce vorfuhr. Als jüngstes von drei Kindern habe ich in Sachen Hörspiele die Bibibloxbergbenjaminblümchenphase direkt übersprungen und hörte im Zimmer meiner Geschwister Die Drei ???, Fünf Freunde oder TKKG.

Fünf Freunde wirken heute auf mich sehr altbacken und TKKG ist erschreckend reaktionär: Alle Bösewichte sind Ausländer, tätowiert oder Kiffer und sobald es gefährlich wird, muss Gabi nach hause, weil „das nichts für Mädchen ist“. Folgerichtig blieben nur Die Drei ??? um ein Stück meiner Kindheit zu vererben. Fairerweise muss man sagen, dass bei den Fragezeichen auch schon mal rassistisches Profiling betrieben, diskriminierende Sprache verwendet und der Bechdel-Test nur selten bestanden wird. Aber insgesamt bleiben das schöne Geschichten und Sachen, die mir nicht gefallen, kann ich meiner Tochter erklären.

Was mir allerdings aufgefallen ist: Meine Tochter (7) legt mittlerweile ein Verhalten an den Tag, das ich nur zu gut aus meiner Kindheit kenne und das ein eindeutiges Zeichen von Fragezeichen-Weltverklärung ist. Um diese zu erläutern, muss ich ein wenig weiter ausholen und Ihnen, werte Leserinnen und Leser, ein paar Fakten zur Lage unserer Wohnung und zu ihrem Interieur zukommen lassen. Aber keine Sorge, dies wird nicht zu einem Lifestyle-Blog mutieren…

Also, unser Esstisch ist so ein Modell zum Selberzusammeschrauben mit nordeuropäischem Namen, wir werden ihn der Einfachheit halber „Günther“ nennen. Günther steht an einem schönen, großen Fenster, das fast die gesamte Südwand unseres Wohnzimmer ziert. Jene Südwand ist Teil des dritten Stocks eines Altbaus mitsamt Hochparterre. Jener altehrwürdige Bau steht nun wiederum in einer kleinen Straße in einem der eher günstigeren Viertel der großen Stadt Frankfurt (kleiner Scherz: es gibt keine Günstigen Viertel in Frankfurt, nur Offenbach und das wäre nun wirklich gar zu doll). Jedenfalls ist jenseits dieser kleinen Straße – unglaublich aber wahr – eine noch unbebaute Fläche Brachland, die aus unerklärlichen Gründen von zwei Nilgänsen als Heimat angesehen wird: Es ist nicht schön, aber es ist ihres… Jenseits dieser Freifläche wiederum ist eine der größeren Einfallsstraßen Frankfurts mit zwei Autospuren auf jeder Fahrbahn und Tramlinien stadtein- und auswärts.

Auf jener Straße lässt sich nun von unserem Günther aus immer allerlei Treiben beäugen. Mitunter noch unerklärlicher als das selbstgewählte Heim der Nilgänse ist zum Beispiel, dass immer wieder alte Menschen mit Gehhilfen glaube, sie könnten trockenen Fußes alle sechs Spuren dieser Straße abseits einer Ampel überqueren. Ein mit Stock bewaffneter Alter fährt, oder besser: läuft, gar einen revolutionären Kurs, indem er prinzipiell nicht auf Trottoires geht sondern immer auf der Straße. Obwohl er alle fünf bis acht Schritte eine Verschnaufpause einlegen muss, da ihn gehen so sehr anstrengt! Doch zurück zu meiner Tochter (7)… Diese meinte neulich beim Abendessen (Es gab „Probier mal, das schmeckt dir bestimmt“ – leider mag meine Tochter (7) das nicht): „Da ist ein Mann ganz schwarz angezogen, das ist bestimmt ein Dieb.“

Diese Äußerung versetzte mir einen Flashback als wäre das Drehbuch meines Lebens „von den Machern von Lost“ ™. Denn mir wurde unmittelbar klar, dass meiner Tochter der fragezeicheninduzierten Weltbildverzerrung anheim gefallen war. Und ebenjenes Schicksal teilte ich meinerzeit als Kind. Damals wollte ich auch Detektiv werden! Leider hatte ich das Pech in einem mittelhessischen Kaff, das sich mit viel Wohlwollen die Einwohnerzahl auf 12.000 Seelen schöntrinkt zu wohnen, und nicht erstens in Amerika und zweitens in einem Hörspiel. Ich dachte mir jedenfalls damals, dass das Detektivgewerbe doch wohl leicht zu ergreifen sei, schließlich stolpern Justus, Peter und Bob auch ständig in die kuriosesten Fälle hinein. Ungezählte Nachmittage lang cruiste ich auf meinem Fahrrad durch die Kleinstadt auf der Suche nach einem Verbrechen, aber nicht eine flammende Spur und nicht ein tanzender Teufel wollte sich mir offenbaren. So musste ich auf die nicht schmerzhafte aber langweilige Tour lernen, dass die echte Welt sich vor allem durch einen Mangel an Gespensterschlössern und schreienden Weckern auszeichnet. Eine Erkenntnis, die meiner Tochter (7) nun auch bevorstehen wird…

Auch wenn der Autor ein anderer ist, so haben die Tocos in der Sache eben doch Recht:

Ein Loblied auf meine Nachbarn

Ich möchte mal eine Menschengattung loben, die sonst meist Schimpf und Tadel erntet: Die Nachbarn. Denn die Nachbarn in unserer neuen Wohnung sind einfach super. Da ich, werte Leser, in Bezug auf Nachbarn ein gebranntes Kind bin, freue ich mich umso mehr über die hiesige Hausgemeinschaft.

Das Leiden der anderen

Mein Leid mit den Nachbarn vergangener Tage und Wohnungen fing 2005 an, als ich mit zwei Kommilitoninnen eine WG geründete. Fairerweise muss ich zugestehen, dass die Nachbarn auch unter uns litten, denn wir hatten nicht bloß einen Kicker-Tisch und eine Freude an Partys bis in die frühen Morgenstunden; nein, wir hatten vor allem eine große Wohnung in unmittelbarer Nähe der Pontstraße, Aachens Partymeile Nummer 1. Sodass mehrmals wöchentlich bei uns vorgeglüht wurde.

Dennoch war es eher Saruman-Style, dass zwei unserer damaligen Nachbarn gleich eine Abmahnung durch unseren Vermieter bewirkten, bevor sie uns auf ihre Bedürfnisse ansprachen und dass in der Abmahnung Dinge wie „permanentes Hämmern und Sägen“ oder „Zu lautes Türenschließen“ beklagt wurden. Die Krönung war, dass ich eines Tages, einen Eimer Wasser über den Kopf bekam, weil sich ein Nachbar daran störte, dass ich im Garten grillte. Welcher Nachbar das war, konnte ich leider nicht feststellen, weil der heldenhafte Kämpfer für saubere Luft das Fenster geschlossen hatte, bevor die Schwerkraft sich daran erinnert hatte, was sie mit Wasser macht und auch auf meine – sagen wir mal – nicht ganz so freundlichen Aufforderungen, sich erkennen zu geben, nicht reagierte.

High Noon an der Mülltonne

Die nächste Wohnung war meine erste gemeinsame mit der Dame und auch dort standen wir mit den Nachbarn auf größerem Kriegsfuß als Bushido mit Toleranz. So hatte ich eine unschöne Begegnung der dritten Art mit dem Hausdrachen, einer Rentnerin, deren Lebensinhalt im Verbotsschilderaufhängen im Treppenhaus und in der ordentlichen Mülltrennung bestand. Wir trafen uns an einem stickigen Sonntag zu High Noon an den Mülltonnen und sie forderte mich auf, meinen Papiermüll gleichmäßig auf alle vier Papiermülltonnen zu verteilen.

Ich so: „Warum?“
Sie so: „Warum was?“
Ich so: „Warum soll ich meinen Müll auf alle Mülltonnen verteilen? Ist es nicht sinnvoller, erst eine Mülltonne voll zu machen und sich dann liebevoll der nächsten Tonne zuzuwenden?“
Sie so: „Nein, der Papiermüll muss gleichmäßig verteilt werden.“
Ich so: „Aber warum?“
Sie so: „Darum!“
Ich so (lachend): „Sorry, aber ‚darum‘ verliert mit dem Abschluss der vierten Klasse seinen Status als Argument.“

Leider war der Hausdrache nicht das einzige Ärgernis in diesem Haus. Als instantane Abstrafung für meine eigenen Lärmbelästigungen nur kurz zuvor setzte der Allmächtige den „Lutscher“ in die Wohnung über uns. Lutscher, den wir aufgrund einer vagen phonetischen Ähnlichkeit zu seinem Vornamen so nannten, war ein alleinstehender Herr in den Vierzigern. Lutscher konnte nicht viel für die Leiden, die er uns bereitete, denn zu seinem eher dickhäutigen Auftreten kam hinzu, dass dies nun wirklich das hellhörigste Haus war, in dem ich je gelebt habe. So wachten wir morgens auf, wenn Lutscher den Radiowecker singend begleitete und „Like a Virgin“ oder „blinded by the light“ intonierte.

Leider hatte Lutscher eine Vorliebe für Kriegsfilme, die im Surroundsound dann durch unser Schlafzimmer dröhnten und mindestens einmal ist er vor dem Fernseher eingeschlafen, sodass ich während der ganzen Nacht immer wieder hochschreckte, sobald der Pro7-Jingle ertönte, der die nächste Werbepause ankündigte. Doch Lutscher war auch kein Unschuldslamm, so ließ er mehrmals täglich Dinge zu Boden fallen, bei denen es sich akustisch nur um Hanteln handeln konnte. Außerdem hat er einmal unser Bad unter Wasser gesetzt, weil er glaubte, eine verstopfte Badewanne am besten dadurch zu befreien, dass er hunderte Liter Wasser laufen lässt. Wasser, das sich dann eben andere Wege suchte…

Doch damit noch nicht genug: Außerdem gab es in dem Haus noch ein junges Pärchen, das wir politisch höchst unkorrekt „die Inder“ nannten. Die Inder stritten sich nicht nur immer sehr lautstark, sie hatten auch oft Besuch, mit dem sie bis in die frühen Morgenstunden feierten, um dann anschließend die Luftmatratze mit einem alten Blasebalg aufzupumpen der klang wie ein asthmakranker Brontosaurus. Einmal, als sie nachts begannen Staub zu saugen, ging ich dann doch mal hoch und klingelte. Durch die Milchglastür ihrer Wohnung konnte ich Frau Inder im Flur erstarren sehen, als die Klingel ertönte. Doch anstatt die Tür zu öffnen, löschte sie nur das Licht. Woraufhin ich lachend umkehrte und ihr noch durch das dünne Glas mitteilte, dass das Licht mich jetzt nicht gerade gestört habe.

Aber in dem Haus gab es auch tolle Nachbarn. Da war der verpeilte Frederick, der sich ständig irgendetwas von uns ausleihen musste, weil er es nicht hatte: Mehl, Butter, Möbel … Der unser Tochter zum ersten Geburtstag einen Bademantel schenkte, der ihr jetzt mit sechs Jahren dann doch mal passte … Und der schon mal vergaß, dass seine Scheidungstochter an diesem Wochenende bei ihm sein sollte, sodass die Teenagerin eben zwei Stunden bei uns rumhing, bevo Frederick nach hause kam. Da war Bastian, der hartnäckig freundlich sich immer wieder zu ihm oder sich zu uns einlud, und der mir das Ziegenproblem erklärte. Da war der LotRi-Nachbar, der an unserer DVD-Sammlung erkannte, dass wir „auch LotRi-Fans“ (Lord of the Rings) waren und uns daraufhin ein ziemlich cooles Die-Zwei-Türme-Poster schenkte. Und es gab den „Immer Grillen“-Nachbarn, der halt einfach immer grillte und uns auch immer gerne dazu einlud. Aber unter Lutscher zu wohnen, verdarb uns letzten Endes doch den Spaß.

Kloschüsseln und Rasenmäher

Als unsere Nerven nicht bloß wegen Lutscher, sondern auch wegen unserer kleinen Tochter schließlich zu dünn wurden, zogen wir um. Leider kamen wir nicht vom Regen in die Traufe sondern direkt in die Jauche-Grube. Die Miete in unserer letzten Aachener Wohnung war so verdächtig niedrig, dass sie uns Warnung genug hätte sein sollen.
In dem Haus wohnten vier Parteien und eine war schlimmer als die andere. Ganz unten wohnte eine Familie von Snobs, die jedes Mal ins Treppenhaus stürmte, wenn man die Haustür nicht vorsichtig genug schloss. Gut, dafür hatte ich noch Verständnis nach unseren jüngsten Erlebnissen. Aber eines Tages, als meine Tochter mitten in der Trotzphase einen Wutanfall hatte, weil ich neben dem Wocheneinkauf und dem Laufrad nicht auch noch sie die Treppe hochtragen wollte, stürmte Frau Snob aus ihrer Wohnungstür und geiferte, dass sie ja Verständnis für Kindererziehung habe, aber bitte nicht im Treppenhaus!
Im zweiten Stock wohnte der Messi. Nicht der Lionel, sondern der Sammler. Und ich sage das nicht, wie man das mal scherzhaft zu jemanden sagt, der oder die etwas unordentlich ist. Ich nenne Messi jemanden, mit dem ich ein halbes Jahr diskutieren musste, bis er unseren Kellerraum von seinem Kram befreite. Seine Sachen standen bei uns im Kellerraum, weil sein Keller bis unters Dach vollgepackt war. Nachdem er seinen Krempel aus unseren Raum geräumt hatte, legten die Dame und ich dort die dickste Plastikfolie aus, die wir für Geld kaufen konnten, weil die untersten Schichten des Krempels schon so sehr verwest waren, dass wie sie nicht vollständig vom Boden loslösen konnten – Sie bildeten eine untrennbare Einheit. Der Messi hatte zum Beispiel drei Kloschüsseln im Keller stehen und vier Rasenmäher – in einem Haus ohne Garten. Man kann ja nie wissen, wofür man die noch gebrauchen kann …
Doch am schlimmsten war die Familie über uns. Eine Familie mit einen schizophrenen erwachsenen Sohn, der leider keinen Bock hatte, seine Medikamente zu nehmen oder gar zur Therapie zu gehen sondern der ein ernstes Drogenproblem hatte. Ich will da nicht in die Details gehen aber es gab unschöne Szenen und phasenweise hatte ich richtig Angst. Besonders als ich ein halbes Jahr vor der Dame und meiner Tochter nach Frankfurt zog, um dort einen Job anzutreten.

The Return of the Hausdrachen

In Frankfurt wohnte ich höchst illegal zur Untermiete in einer Genossenschaftswohnung für einen Appel und ein Ei. Mein illegitimer Status machte es äußerst unangenehm, dass ich bald schon dem dortigen Hausdrachen, beziehungsweise dem Hausdrachen-Rentner-Paar bekannt war und anscheinend als Quelle allen Übels identifiziert wurde. Dabei befolgte ich brav alle Ge- und Verbote, damit ich nicht aufflog. Dennoch waren die Drachen ganz offensichtlich der Meinung, ich würde meine Tetrapacks nicht sorgfältig genug falten, da die gelben Tonnen immer überquollen. Jedenfalls teilten sie mir das eines Abends mit, als sie vor meiner Wohnungstür standen.
Es müssen dann wohl doch andere Nachbarn an der schändlich unsachgemäßen Müllbeseitigung beteilligt gewesen sein, jedenfalls versiegelten die Hausdrachen eines Tages kurzer Hand die gelben Tonnen mit Panzerklebeband und hingen im Treppenhaus Warnschilder auf, dass die Müllentsorgung nur noch Samstags zu bestimmten Uhrzeiten und unter ihren qualifizierten Blicken möglich sein werde. Dieser Mülldiktatur bereitete dann allerdings der Genossenschaftsvorstand schnell ein Ende. Woraufhin die Hausdrachen sich neuen Aufgabenfeldern zuwenden mussten…
Eines Abends saß ich auf dem Balkon und telefonierte mit der Dame im fernen Aachen. Als plötzlich eine nicht ganz so liebliche Stimme vom Nachbarbalkon herüberklang: „RAUCHEN SIE DA?!“

Ich so: „Guten Abend.“
Hausdrache so: „RAUCHEN SIE?“
Ich so: „Ja, in der Tat. Warum?“
Hausdrache so: „SCHMEISSEN SIE IMMER DIE KIPPEN IN DEN HOF?“
Ich so: „Gewiss nicht, werte Dame, ich bin im Besitz eines Aschenbechers.“
Hausdrache so: „WEIL DA LIEGEN IMMER KIPPEN IM HOF, DIE MUSS MEIN MANN DANN WEGFEGEN!“
Ich so: „Das bedauere ich, aber ich benutze – wie gesagt – einen Aschenbecher…“
Hausdrache so (die Balkontür schließend): „ABER NET IN DEN HOF WERFE!“

Schon ein wenig hämisch freute ich mich auf den Tag, an dem ich die Zwischenmiete beenden würde und die Hausdrachen feststellen mussten, dass wohl doch jemand anders der Quell des Übels sein musste…

Hampelmann im Hof

Meine Probezeit ging und mit ihr auch meine Zwischenmiete. Und nur 15 Wohnungsbesichtigungen später hatten wir eine habwegs bezahlbare Bleibe in Frankfurt gefunden. Zunächst schien alles ganz okay: Die Wohnung hatte eine hervorragende Lage mitten in Sachsenhausen, dafür war der Altbau in keinem sonderlich guten Zustand. Aber das hatte zum einen gewissen Charme und zum anderen den schönen Nebeneffekt, dass das von viel höheren Gebäuden umgebene kleine Haus perfekt vom Flug- und Straßenlärm abgeschirmt war, sodass es eine kleine Ruhepause mitten in der großen Stadt war.

Auch die Nachbarn waren allesamt sehr nett: Außer uns wohnten nur Polen in dem Haus, die auf tagsüber auf dem Bau arbeiteten und abends im Hof saßen uns davon träumten genug Geld verdient zu haben, um wieder in ihre alte Heimat zurückzukehren. Sie waren eine sehr nette Runde, aber natürlich gab es auch einen Haken: Der Vermieter wohnte im Nebenhaus.

Wenn ich euch einen Rat geben darf: Zieht nie in eine Wohnung, in der euer Vermieter euer Nachbar ist. Zumal in unserem Fall der Vermieter noch nicht einmal einen Job hatte, sondern von der Miete seiner drei Häuser leben konnte. Doch anstatt seine freie Zeit in die Pflege seiner Immobilien zu stecken, kam er lieber auf dumme Ideen: Eines Tages hingen mal wieder die allseits beliebten Verbotsschilder im Hof: Sämtliche Fahrräder sollten binnen 24 Stunden aus selbigen verschwinden, oder sie würden vom Schrotthändler abgeholt. Wir versuchten noch zwei Mal mit dem Vermieter zu reden, da wir unsererseits so manchen Mangel am Haus bisher ignoriert oder nur zaghaft angesprochen hatten: Man will ja nicht die gute Nachbarschaft verderben. Doch der Mann war es nicht gewohnt, dass man ihm widersprach und sah erst recht nicht ein, dass auf seinem Grundstück Recht und Gesetz gelten sollten. Also fingen wir an Briefe zu schreiben, Reparaturen einzufordern, Fristen zu setzen, die Miete zu kürzen. Vor einem Jahr zogen wir aus und vor wenigen Wochen, zwei Gerichtsprozesse später, haben wir erst den Rest unserer Kaution bekommen…

Die gute Seite der Nachbarschaft

Ihr fragt euch bestimmt schon, ob die Überschrift dieses Blogposts Satire war, aber jetzt kommt das Happy End. Versprochen!
Nun leben wir also seit knapp einem Jahr in diesem neuen Haus im (übrigens vollkommen zu Unrecht) verrufenen Frankfurter Gallus. Und alles ist anders. Seit ich hier wohne, musste ich noch nicht ein Paket von der Post holen, weil sich immer irgendein Nachbar fand, der es für uns annahm. Schon als wir einzogen, parkte ich mein Auto mal im Hof, um Kisten auszuladen, obwohl andere Nachbarn Miete für das Parken im Hof bezahlen müssen. Als dann ein solcher Nachbar mit seinem Auto kam, versicherte ich, dass ich gleich wieder weg bin, ich müsse nur noch schnell die eine Kiste hochtragen. Seine Antwort: „Machen Sie ruhig! Wenn man Kisten tragen muss, dann muss man Kisten tragen…“

Doch jetzt hatte meine Tochter (jetzt 7) Kindergeburtstag und ich war skeptisch, als die Dame Deko im Treppenhaus und an der Haustür anbrachte. Als gebranntes Kind rechnete ich wieder mit Verbotsschildern und Briefen vom Vermieter. Umso gerührter war ich, als wir dann am nächsten Morgen dies vor unserer Tür fanden:

geburtstagsgruesse
Geburtstagsgrüße

Frankfurt in Bildern #1 – Viele Dörfer

Ich mache sehr viele Fotos von Frankfurt und es ist eigentlich schade, dass die nur auf meiner Festplatte vergilben. Daher möchte ich eine kleine Fotoserie starten und euch meinen Blick auf Frankfurt zeigen. Die Bilder sind keine große Kunst, sondern nur meine Sichtweise. Ich stelle sie unter die Lizenz: CC BY 3.0 DE. Könnta mit machen, was ihr wollt, solange ihr meinen Namen nennt.

Babylon am Horizont
Babylon am Horizont

 

Das ist das Bild von Frankfurt, das der Rest der Republik hat. Die Türme der Banken, hier von Westen aus gesehen, stehen stellvertretend für die komplette Stadt. Aber die Frankfurter Rundschau schrieb mal: Frankfurt ist ein Dorf, oder besser, viele Dörfer.

Einfach nur Seckbach
Einfach nur Seckbach

Eine dieser Dörfer finden wir im Nordosten der Stadt: Seckbach. Ein verschlafenes Nest vor dessen Toren sogar die U-Bahn endet.

Schweizer Skylineblick
Schweizer Skylineblick

Und zu solchen idyllischen Flecken wie Seckbach bildet dann das großstädtische Zentrum den harten Kontrast. Wie hier von der Schweizer Straße in Sachsenhausen aus gesehen.

Von der Moderne vergessen
Von der Moderne vergessen

Aber gerade in Sachsenhausen finden sich dann zwischen den Bausünden des 20. Jahrhunderts und den Bürgerlichen Statussymbolen des 19. Jahrhunderts ein paar von der Moderne vergessene Schätze.

Downtown Mainhätten
Downtown Mainhätten

Auf der anderen Seite versucht auch das Bankenviertel rund um die Alte Oper sich einen neoklassizistischen Anstrich zu geben.

Versteckt
Versteckt

In Rödelheim, das uns ja bereits gut bekannt ist, hingegen wird klassische Architektur fast schon versteckt.

Die zwei Türme
Die zwei Türme

Der Main prägt Frankfurt sehr. Nördlich seiner Wasser liegt „Hibbedebach“ hier mit der neuen Europäischen Zentralbank im Bau, südlich des „Bachs“ liegt dann entsprechend „Dribbedebach“.

Hessischer Sandstein
Hessischer Sandstein

Der größte Stadtteil in Dribbedebach ist Sachsenhausen. Und in Sachsenhausen finden sich noch viele dieser typisch hessischen Sandsteinbauten. Für mich, als gebürtigen Hessen, bedeuten diese Häuser mit ihrem beigen Putz, der von rotem Sandstein eingefasst ist, dass ich zuhause bin.

Die neue EZB halbfertig
Die neue EZB halbfertig

Kontrastiert wird der Sandstein dann aber von den Stahl und Glas Exessen der Banken. Ständig wird ein neuer Turm gebaut, wie hier die Europäische Zentralbank im Ostend.

Neues wird hochgezogen
Neues wird hochgezogen

Seit ich 2010 nach Frankfurt gezogen bin, wurde die Skyline um drei Türme ergänzt, ein vierter wird gerade hochgezogen und unzählige weitere sind geplant.

Dornröschenschloss in Höchst
Dornröschenschloss in Höchst

Dass Frankfurt schon immer die Tendenz hatte, hoch hinaus zu bauen, sieht man allerdings in Höchst, ganz im Westen der Stadt, wo sich am Mainufer ein kleines Märchenschloss findet.

Die Skyline eingerahmt
Die Skyline eingerahmt

Die Türme sind aber nie allzuweit weg, man sieht sie immer irgendwo hervorblitzen wie hier am Uni Campus Westend.

Hinterhofsandstein
Hinterhofsandstein

Während man die alten Häuser oft in Hinterhöfen suchen muss, wie dieses hier mitten im Zentrum.

Making up the Prachtallee as we go along
Making up the Prachtallee as we go along

Im Westen zieht Frankfurt gerade das neue Europaviertel hoch und mit ihm eine standesgemäße Prachtallee, man will sich ja schließlich nicht hinter Paris verstecken müssen.

Belegte Brote
Belegte Brote

Während im äußersten Osten, in Fechenheim die Uhren etwas langsamer ticken, aber dafür auch alles ein wenig herzlicher zu sein scheint.

Der Bach im Abendsonnenschein
Der Bach im Abendsonnenschein

Die Frankfurter geben nicht nur ihren Stadtteilen sonderbare Namen, sondern auch vielen Hochhäusern. So ist der Runde Turm dort…

Westhafen
Westhafen

Das „Gerippte“. Ein Geripptes ist eigentlich ein Apfelweinglas mit traditionellem Muster und der grünlich schimmernde Turm hat eben ein solches, wenn man ihn aus der Nähe sieht.

Soll und Haben
Soll und Haben

Natürlich haben die Türme auch immer irgendwelche hochtrabenden Namen, aber der Frankfurter an sich nennt sie eben nicht bei diesen. So sagt er zum Beispiel zu den beiden Türmen der Deutschen Bank „Soll und Haben„.

We die it our way in Höchst
We did it our way in Höchst

Und dennoch findet man immer wieder dörfliche Ecken, wie hier in Höchst.

 

Das war der erste Streich meiner kleinen Frankfurter Bilderreihe und der zweite folgt… äh … irgendwann demnächst halt.

Der Rödelheimer Scheißekrieg

Als ich ein kleiner Junge war, war die Welt noch einfach. Ich hatte die Wahl zwischen drei Fernsehprogrammen, im Radio die Wahl zwischen HR3 und FFH (natürlich wählte ich HR3), beim Frühstück die Wahl zwischen Frosties und Smacks und im deutschen Hip-Hop jene zwischen den Fantastischen Vier und dem Rödelheim Hartreim Projekt. Klar gab es noch andere SprechgesängerInnen in jenem sagenumwobenen „Underground“. Aber für mich, der damals fleißig seinen Landpomeranzen zur Schule trug, war der Untergrund in etwa so verfügbar wie für Madonna ein Altern in Würde.

Also blieben entweder die Fantas mit ihren lustigen Frisuren, Klamotten und Liedtexten. Die, mit schwäbischen Herzblut, Kommerz machten, der aber ganz unschwäbisch selbstironisch war. Oder man konnte sich für RHP entscheiden, das zwar nicht weniger kommerziell war, aber es „real gekeept“ hatte, was immer das bedeuten mag…

Diese Hartreimer nun kamen aus der leibhaftigen Inkarnation Babylons: Frankfurt am Main. Und in diesem Molloch hausten sie in der schlimmsten aller Hoods – so suggerierten sie: in Rödelheim. In diesem Rödelheim brannten nachts die Mülltonnen, dort hüpften die gepimpten Rides durch das Township und die Gangs bekriegten sich. Rödelheim war der Inbegriff eines Ghettos!

Nun trifft es sich zufällig, dass ich heute, gut 20 Jahre später, in diesem verruchten Teil Frankfurts arbeite. Doch zu meiner großen Verwunderung habe ich in dem Jahr, in dem ich jetzt täglich nach Rödelheim pendele, nicht eine brennende Mülltonne gesehen. Verglichen mit Frankfurts Hochglanzfassaden mag der einfache Mittelstand, der hier wohnt, etwas angekratzt wirken, aber statt Ghettoblastern findet man hier gepflegte Vorgärten, abgegrenzt durch penibel beschnittene Buxbaumhecken. Die schlimmsten Verbrechen, die hier geschehen, sind Anwohner, die gegen die Fahrtrichtung parken oder Fischreiher von der nahem Nidda, die Goldfische aus Gartenteichen mopsen.

Und dennoch herrscht im hartgereimten Rödelheim ein Krieg: Der Rödelheimer Scheißekrieg! Diesen fechten tagtäglich zwei Nachbarn auf einem kleinen Fußweg zwischen Nidda und einer lauschigen Einfamilienhaussiedlung aus. Nachbar 1 (wir wollen ihn der Einfachheit halber „Moses“ nennen) führt hier täglich seinen Hund zum stadtteilbegrenzenden Fluss. Und der kleine Wauwau wurde irgendwie dazu konditioniert, anzunehmen, besagter Fußweg wäre seine Toilette. Dies wiederum ärgert Nachbar 2 (Wir wollen ihn „Herrn Beck“ nennen) maßlos.

Zu Moses‘ Gunsten muss gesagt werden, dass der Weg breit genug ist,  um den Haufen auszuweichen und dass die Stadtreinigung gute Dienste leistet, sodass die Passage regelmäßig gereinigt wird. Aber Herr Beck ist wohl der Meinung, Moses solle „seine“ Scheiße selbst wegräumen. Um Moses in diesem Vorhaben zu bestärken, steckte Herr Beck eines Morgens ein kleines, schwarzes Tütchen, zum Zwecke der Fäkalentfernung in eine Masche des den Weg südlich begrenzenden Drahtzauns. Anscheinend war das Tütchen nicht auffällig genug oder Herrn Becks Intention blieb Moses unklar, denn der Hundebesitzer mit dem Biblischen Namensvetter kehrte sich weiterhin einen Scheiß um nämlichen seines Hundes.

Dies veranlasste Herrn Beck erstmals zu drastischeren Schritten: als ich eines schönen Morgens mit meinem Fahrrad auf dem Weg zur Arbeit um die Ecke bog, sah ich den Zaun gespickt mit einer Unzahl an schwarzen Tüten. Ein eindeutiges Statement des Herrn Beck. Aber, oh je, Moses nahm das Omen entweder nicht wahr oder fühlte sich gegängelt, denn er änderte sein respektive das Verhalten seines Hundes nicht.

Daher ging Herr Beck nun schon einen Schritt weiter: Zusätzlich zur Deko aus schwarzen  Plastiktütchen fand ich eines Morgens solche Plastikbeutel auch in leuchtendem Orange am Zaun stecken. Anscheinend hatte Herr Beck angenommen, alles sei nur auf eine Sehschwäche von Moses zurückzuführen. Doch die Tage strichen ins Land, ohne dass Moses auf die Idee kam, von der orangenen Hilfe Gebrauch zu machen. So kam es, dass Herr Beck im Jahre 2014 des Herrn Gebrauch machte von seiner ultimativen Waffe im Rödelheimer Scheißekrieg. Ein Mittel aus längst vergangenen Tagen, das sich aber auch im Internet wieder großer Beliebtheit erfreut: Herr Beck unterstrich sein verzweifeltes Interesse an sauberen Gehwegen durch einen öffentlichen Pranger!

Eines Morgens griff Herr Beck zu einem Stück Kreide in seiner präferierten Farbe Orange, ließ sich nicht stören und zog gewissermaßen einen Bannkreis um eine der „Tretminen“. Diesen Bannkreis wiederum versah Herr Beck mit einer Quellenangabe: „Moses P.“*.

Doch der Regen verwischte die Kreide schon alsbald, als wären es Tränen im, nun ja, äh… Regen… Und der Hund von Moses nutzte die Gelegenheit, sein frisch durchgespültes Klo einmal mehr mit seinen Ausscheidungen zu beglücken.

Ich bin raus!

* Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.

Der inkompetenteste Barmann der Welt

Ich war mal wieder aus. Draußen in der Welt, nach Sonnenuntergang. Schafft man ja eher selten, wenn man ein betreuungsbedürftiges Kind zuhause hat. Zumal wenn Semesterferien sind, oder wie ich es nenne: Babysitterwinter.

Die Dame und ich waren auf einem Konzert. Nun gut, ich gestehe: Es war kein richtiges Konzert, sondern ein Kinderkonzert. Und, ja, meine Tochter (6) war auch mit dabei. Beziehungsweise: Wegen ihr waren wir überhaupt da. Aber da es ein „Taschenlampenkonzert“ war, auf dem Erwachsene wie Kinder sich wie Glühwürmchen auf Speed gebärden, deswegen war ich mal wieder nach Sonnenuntergang draußen.

Als das erste Lied erklang, wusste ich aber gleich, dass es ein Fehler war. Also suchte ich das Weite und verließ schleunigst den Bereich vor der Bühne, um mich dem Getränkestand zuzuwenden. Vor dem Konzert hatte der Veranstalter froh verkündet, dass alle Einnahmen dieses Standes an irgendeine halbbaumwollene Kinderorganisation gespendet werden sollten. Dieses Schicksal wollte ich natürlich auch meinem müden Euro nicht vorenthalten.

Ich also hin zum Getränkestand. Während ich dort so in der Schlange stand, bemerkte ich einige Erstaunlichkeiten, deren Bedeutung mir erst später klar werden sollten…

Barmann (mutmaßlich inkompetent): Das waren ein Bier und eine Cola?
Trinker: Ja.
Barmann: Das macht dann 10 Euro, glaube ich.
Trinker: Da steht aber 3 Euro pro Getränk.
Barmann: Ja, aber da kommt noch Pfand drauf.
Trinker: Ach so, ich hab hier noch einen leeren Becher.

Der Barmann nimmt 10 Euro und den Becher vom Kunden entgegen und legt ersteres in die Kasse und stellt zweiteres irgendwo hinter den Tresen.

Barmann (sich wieder zum Kunden drehend): Das waren ein Bier und ein Wasser?
Trinker: und eine Cola!
Barmann: Dann reicht aber das Geld nicht.
Trinker: Wieso, Sie haben doch eben gesagt: 3 Euro pro Getränk und 2 Euro Pfand.
Barmann: Ja aber ein Bier, eine Cola und ein Wasser…
Trinker: Nein – Ein Bier und eine Cola. Kein Wasser!
Barmann: Ach so!

Der Barmann händigt dem Kunden seine Getränke aus und gibt ihm Kleingeld zurück. Erstaunlich viel Kleingeld…

Barmann (wahrscheinlich inkompetent): Stimmt das so?
Trinker: Ja, ja…

Dann ist der nächste Kunde dran. Er möchte nur den Pfand für seine drei Becher. Der Kellner händigt ihm diesen aus. 6 Euro in 50 Cent Stücken.

Trinker: Muss das sein mit dem ganzen Kleingeld? Da liegt doch ein 5-Euro-Schein in der Kasse?
Barmann(sicherlich inkompetent): Ja, ne. Geht nicht anders, das ist das Wechselgeld, das ist abgezählt.

Sauer zieht der Trinker von dannen mit einem Beutel voller klimpernder Münzen. Dann bin ich an der Reihe.

Ich: Zwei Bier, bitte.
Barmann: 10 Euro bitte.

Ich drücke ihm 20 Euro in die Hand. Der Barmann dreht sich um und legt den Zwanni in die Kasse. Dann steht er da, über die Kasse gebeugt und rührt sich nicht mehr. Nach gefühlten 45 Minuten dreht er sich wieder um.

Barmann(mit großer Sicherheit inkompetent): Waren das ein Bier und eine Cola?
Ich: Nein, zwei Bier.

Der Barmann stellt mir zwei Bier hin und macht sich daran den nächsten Kunden zu bedienen.

Ich: ‚Tschuldigung. Ich bekomme noch Geld raus.
Barmann: Das habe ich Ihnen doch schon gegeben!
Ich: Nein, Sie haben mich nur gefragt, was ich bestellt habe.
Barmann: Aber dann habe ich Ihnen den Rest von Ihrem Zehner gegeben.
Ich: Ich habe Ihnen einen Zwanziger gegeben.
Kellner: Und ich habe Ihnen vier Euro rausgegeben.
Ich: Das war zwei Kunden vor mir. Das war bei dem schon falsch, aber ich bekomme sowieso 10 Euro raus und nicht vier.

der Barmann grummelt ein wenig, aber der Mob hinter mir grummelt ein wenig lauter, weswegen er sich geschlagen gibt und mir meinen 10er gibt. Nun könnten Sie, geneigter Leser, wohl meinen, dass durchaus ich es gewesen sein könnte, der sich geirrt hat. Abgesehen von den zwei Beobachtungen, die ich Ihnen vor meiner kleinen Episode schilderte, war der Abend aber noch nicht vorbei. Leider kann man ja, wenn man mit seinem Kind auf einem Konzert ist, auf dem ausschließlich Kindermusik läuft, nicht so viel Bier trinken, wie man eigentlich müsste, wenn man mit seinem Kind auf einem Konzert ist, auf dem ausschließlich Kindermusik läuft. Daher beschloss ich auf Wasser umzusteigen und machte mich darob wieder auf, mit dem oben beschriebenen Barmann zu interagieren.

Ich (dem Barmann meinen Becher entgegenstreckend): Ein Wasser bitte.
Barmann (definitiv inkompetent): den Pfand?
Ich: Nein, ich möchte bitte noch ein Wasser.
Barmann: Ach so. Hier haben Sie schon einmal den Pfand.

Ziemlich sinnbefreit drückt er mir für meinen Becher Zwei Euro in die Hand. In Fünfzig-Cent-Stücken.

Barmann (Mit meinem Wasser): Das macht drei Euro plus zwei Euro Pfand.

Ich drücke ihm breit grinsend seine fünfzig Cent Stücke wieder in die Hand und lege noch die entsprechenden Münzen drauf. Erst auf dem Weg zurück zu meiner Familie bemerke ich, dass die durchsichtige Flüssigkeit nicht Wasser sondern Sprite ist…

Ich sah den inkompetentesten Barmann der Welt noch ein letztes Mal. Als ich meinen Becher zurückgeben wollte, konnte er mir die 2 Euro nicht rausgeben. Er hatte kein Kleingeld mehr. Also nahm ich meinen Becher mit meiner Familie mit und zog vondannen. Überlegend, ob der Veranstalter vielleicht auch das Gehalt für den Barmann irgendeinem guten Zweck gespendet hatte…

Der Akkordeonspieler am Dornbusch

Nördlich der Innenstadt von Frankfurt liegt der Stadtteil Dornbusch. Obwohl er einen biblischen Namen hat, ist dieser etymologisch wohl eher auf das ehemals ortsansäßige Gewächs zurückzuführen. Den Frankfurtern ist der Dornbusch fast ausschließlich ein Begriff, „desterwegen, weil da der HR is“. Manche kennen vielleicht noch den Sinaiipark mit seinem naturbelassenem Dickicht, aber das war es dann schon, was hier irgendwie erwähnenswert wäre.

Am Dornbusch
Typische Kachelästhetik mit Kindergartenkunst am Dornbusch. Lizenz: CC0.

Fast, denn der Frankfurter Dornbusch hat eine U-Bahn-Station, die sich auf den ersten Blick kaum von vielen anderen U-Bahn-Stationen dieser schönen Stadt unterscheidet. Obwohl die U-Bahn in diesem, wie in vielen anderen Teilen Frankfurts unsinnigerweise oberirdisch verläuft, mithin also eher eine O-Bahn ist, muss jeder, der die stählerne Raupe verlassen will, durch eine Unterführung. Denn die Schienen liegen inmitten der vierspurigen Eschersheimer Landstraße, die den Stadtteil von Süd nach Nord durchschneidet wie Aragorn die Kehle eines Orks.

Die Unterführung weist eine triste Kachelästhetik auf. Irgendwann in den 60ern oder 70ern kam wohl irgendein Frankfurter Beamter  auf die glorreiche Idee, dass sich U-Bahnhöfe viel leichter reinigen lassen, wenn man sie komplett kachelt. Dass das ganze dann wirkt, als befände man sich in der Pathologie mithin Drunkene noch dazu animiert, ihr Innerstes nach Außen zu kehren, kam ihm offensichtlich nicht in den Sinn. Die Kacheln am Dornbusch sind noch „aufgehübscht“ durch eine Art Kindergartenkunst, mit der wahrscheinlich irgendjemand mal sehr viel Geld verdient hat. Am nördlichen Ende der Passage weist noch ein Überlebensgroßes Foto darauf hin, dass Anne Frank am Dornbusch geboren wurde.

So weit, so trostlos. Und doch hat der Dornbusch etwas besonderes. Etwas, das ihn einzigartig macht unter all den U-Bahnhöfen dieser Stadt. Wenn man die Unterführung durchschreitet, hört man unweigerlich und zu jeder Tages- und Nachtzeit „I’m sailing“ oder „Let it be“ durch den Tunnel schallen. In den verzerrten Harmonien eines Akkordeons. Das Akkodeon an sich ist für mich das minderwertigste aller Instrumente. Es ist schlichtweg nicht möglich, irgendetwas irgendwie auf dem Akkordeon zu spielen, sodass es sich gut anhört. Das Akkordeon ist quasi der Dieter Bohlen unter den Musikinstrumenten und Akkordeonspieler stehen in der Rangliste der Straßenkünstler nur knapp über den Pantomimen, was bedeutet, dass sie uns eigentlich Geld zahlen müssten dafür, dass sie uns ungefragt die Ohren bluten lassen.

Am Dornbusch aber ist das anders. Nicht das Akkordeonspiel. Gott bewahre! Die von Pfadfindergruppen und Mittelstufenmusikunterricht schon lange zur Volkstümelei verstümmelten Popstückchen zwischen den Beatles und Bob Dylan schallen derart schräg durch die Unterführung, dass sogar noch das gestrige Essen in deinen Innereien wieder zu grummeln beginnt. Aber es ist der Spieler, der den Unterschied macht…

Es ist ein langer, gerader Tunnel unterm Dornbusch und betrittst du ihn, so erblickt dich der Akkordeonspieler und er blickt dir direkt in die Augen. Er nimmt dich mit seinen Augen gefangen. Und lächelt. Er lächelt, als stünde er nur zum Lächeln dort unten. Er lächelt dich an, als wärest du sein alter Freund, der endlich nach viel zu langer Reise zurückgekehrt ist: „Da bist du ja. Wie ist es dir ergangen? Schön dich zu sehen…“ Ich kann nicht am Akkordeonspieler am Dornbusch vorbeigehen, ohne ihm ein paar Münzen in seinen Instrumentenkoffer zu werfen. Aber auch all den hektischen Pendlern, die keine Zeit haben oder die einfach nur vor Scham ob der zutage liegenden Vermögensunterschiede das Haupt gesenkt halten, schenkt er dieses Lächeln, wenn sie nur kurz – ganz verstohlen – aufblicken: Hallo, wie geht’s dir? Schön dich zu sehen…

Im Englischen gibt es einen schönen Ausdruck, der sich nicht verlustfrei übersetzen lässt: Der Akkordeonspieler am Dornbusch made my day. Jedesmal.

Ich bin raus.

Was ist Heimat?

Vor ein paar Jahren schrieb ich diesen Text, als wir im Freundeskreis einen kleinen Wettbewerb hatten. Jeder sollte einen Text über seine Heimat schreiben. Lest selbst.

Ich könnte jetzt so Dinge schreiben wie: die Wetterau ist der schönste Fleck der Welt, die Natur ist spektakulär und die Menschen sind unglaublich cool. Aber das wäre alles Blödsinn. Die Wetterau ist spektakulär unspektakulär, aber sie ist mein Zuhause, meine Heimat.

Was macht sie dazu? Nur die Tatsache, dass dort mein Elternhaus steht? Ja und nein. Es sind bestimmt nicht die Menschen, denn mittlerweile wohnen mehr mir liebe Menschen im Rest des Landes als dort, in meiner Heimat.

Was diesen Landstrich zu meiner Heimat macht, sind die Erinnerungen. Das Gefühl der Vertrautheit. Es ist nicht bloß so, dass ich dort jeden Baum und jeden Stein kenne. Nein, jeder Baum und jeder Stein hat dort seine eigene Geschichte für mich. Vor kurzem war ich dort unterwegs. Direkt hinter dem Haus meiner Eltern beginnen Wald und Flur. Und als ich meinen Weg lief und zu meiner Rechten eine Wiese aus dem grünen Meer auftauchte, eine Wiese mit brusthohem Gras, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, sie zu durchqueren so schnell mich meine Füße trugen. Erst während ich schon lief, fiel mir die Geschichte jener Wiese wieder ein. Eine eben spektakulär unspektakuläre Geschichte. Ich habe auf dieser Wiese einige Male mit meiner Familie gepicknickt. Als ich noch klein war. Als meine Großma noch lebte. Es ist eine wundervolle Wiese. Von drei Seiten vom Wald eingefasst, zur Mitte hin sich sanft absenkend zu einem Bach. Diesen Bach hatten meine Freunde und ich einst gestaut und wir hatten dort Frösche versucht zu fangen. Und siehe da, jene kleine alte „Brücke“ überquerte ihn noch immer. „Brücke“ ist stark übertrieben. Es sind nicht mehr als fünf oder sechs halbe Baumstämme, die mittlerweile halb verrottet sind und wer weiß vor wie vielen Dekaden, wer weiß zu welchem Zweck dort niedergelegt wurden.

Unspektakulär? Sage ich doch… Und so wie diese Wiese, so ist meine Heimat, meine Wetterau. Auf einer Fläche von vielleicht hundert Kilometern Länge und 50 Kilometern Breit reihen sich sanfte Hügel aneinander. Leuchtender Mischwald und dunkler Tann wechseln sich ab mit gelben Feldern und grünen Wiesen. All das durchzogen von unzähligen namenlosen Bächen und gespickt mit kleinen Seen. Im Osten ist meine Au begrenzt vom Vogelsberg, einem unbedeutenden Mittelgebirge. Bei klarer Sicht kann man im Winter von meiner Heimatstadt aus seine schneebedeckten Gipfel sehen. Oft der einzige Schnee, den man dort sieht, wo das Klima so mild ist, dass es schon fast sprichwörtlichen Charakter annimmt. Nach Westen verliert sich die Au im Taunus, im Lahn- und im Dilltal, die ihre Wasser anderen Ländern entgegen tragen. Nach Norden gen Marburg steigt das Land an und aus den Hügeln werden Höhen. Doch auch sie überaus beschaulich, als wollten sie sich um jeden Preis die Mühe sparen, zu hoch hinaus zu wachsen… Nach Süden schließlich enden die Hügel. Die Täler vereinen sich zu einer großen Ebene. Die Wälder und Wiesen weichen großen Feldern und fruchtbaren Äckern. Und schließlich steht dort Babylon am Horizont als mahnendes Symbol, dass es eine große weite Welt jenseits der beschaulichen Grenzen meines kleinen Landes gibt – die kleinste Metropole der Welt, wie die Hessen Frankfurt liebevoll nennen.

Ihr könnt euch den majestätischen Anblick nicht vorstellen, der sich mir vor einigen Jahren bot… Ich war mit dem Auto im Morgengrauen unterwegs auf der A5 gen Süden. Die Sonne erhob sich gerade über dem Horizont, als ich den letzten namenlosen Hügel überquerte hinter dem sich jene Ebene erstreckt. Sie, die Sonne, war noch zu müde, um die Nebelfelder zu zerstreuen, sodass sich vor mir ein großes weißwaberndes Meer auftat und dort im Süden stachen sie daraus hervor, die Stahlbetontürme Frankfurts. Wie riesige Klippen einer fernen Küste, an denen sich das Nebelmeer brach. Und während sich ihre Wurzeln noch im Grau verbargen, brach sich in ihren gläsernen Wipfeln bereits flammendrotes Morgenlicht.