Die Philosophie von Steve Bannon

In den letzten Wochen und Monaten waren mir die kruden geschichtsphilosophischen Ansichten von Steve Bannon des Öfteren begegnet, ohne dass jemand sie logisch widerlegt hatte. Ich habe das mal übernommen. Ihr könnt euch das als Video anschauen oder darunter lesen.

Es geht heute um den Mann, der seit ein paar Monaten der mächtigste in Amerika ist. Nein nicht um Donald Trump! Um Steve Bannon! Derzeit gilt Steve Bannon zwar als entmachtet, aber manchmal kommen sie wieder!!! Daher erzähle ich heute von der Philosophie von Steve Bannon.

Steve Bannon ist der prominenteste Vertreter einer rechtsradikalen politischen Strömung in den USA, die sich „Alt-Right“ nennt. Und falls jemand aus der neuen Rechten das hier liest: Stellt euch nicht an wie Eltern, die von ihrem Kind beim Sex erwischt wurden! Ihr seid rechts, eure Ideen sind radikal: Natürlich seid ihr rechtsradikal!

Steve Bannon jedenfalls war Chefredakteur der ebenfalls rechtsradikalen Webseite Breitbart (ja, ich habe es schon wieder gesagt: rechtsradikal!). Bannon schloss sich dann dem Wahlkampfteam von Donald Trump an und ist nun Chefstratege von Trump im weißen Haus. Er soll der Kopf sein, der hinter Executive Orders wie dem Muslim Ban steckt. Das ist das Einreiseverbot in die USA für Muslime aus einer Reihe von Ländern. Es wurde mittlerweile von mehreren Gerichten als unvereinbar mit der amerikanischen Verfassung abgeurteilt.

Bannons merkwürdige Vorstellungen

Steve Bannon vertritt viele Thesen, die sich in der amerikanischen Rechten im besonderen und der internationalen Rechten im Allgemeinen tummeln, als handele es sich um ein Bordell in Kingslanding. Er verehrt sexy Ronald Reagen und glaubt heutzutage gäbe es nur noch korrupte Politiker, die den anständigen weißen Mittelklasse-Arbeiter mit Hilfe internationaler Konzerne ausbeuten. Die Verstrickung von Politik und internationaler Wirtschaft nennt er „die Partei von Davos“. Zugleich nennt er sich selbst einen Hardcore-Kapitalisten und kritisiert den „Sozialismus“, den Obama-Care für Arme bereitstellt – wiederum auf Kosten der Mittelschicht. Die Politik und die Finanzelite haben Amerika an den Rande des Ruins getrieben, während sie sich selbst bereicherten. Diese Politiker gilt es in Bannons Weltsicht genauso zu bekämpfen wie den Islam, der den christlichen Westen bedroht. Bannon träumt von einer rechtskonservativen Revolution und verglich sich selbst mit Lenin – dahingehend, dass er den amerikanischen Staat zerstören wolle, wie Lenin das mit dem Russischen getan hat. Nur ein Schock – so seine Weltsicht – könne den ich Niedergang des Systems aufhalten.

In diesem Kartoffelsalat an zusammengeklauten Ideologien stecken schon so viele ungesunde Zusatzstoffe, dass ich über jeden eine eigenn Folge machen könnte, aber mich interessiert heute nur der letzte Aspekt (der heilsame Schock) und der theoretische Unterbau dazu: Einer der wichtigsten philosophischen Einflüsse auf Steve Bannon ist das Buch The Fourth Turning* von William Strauss und Neil Howe. Ein Werk, das nicht nur klingt wie eine Gangschaltung bei Star Wars sondern auch ebenso sinnlos ist. Doch der Reihe nach …

Im Buch “The Fourth Turning” wird die Theorie aufgestellt, dass sich die amerikanische Geschichte wiederholt. Sie bewege sich in 80-100 Jahre-Zyklen. Jeder Zyklus endet dann mit einem kathartischen Crash, auf den ein Neubeginn folgt – die Generation Zero*, wie Bannon es in einer von ihm produzierten Dokumentation nennt. Bannon meint, dass der letzte Crash durch die Finanzkrise 2008 eingeleitet wurde. Die Obama-Administration das System aber über seine natürliche Lebensdauer hinaus am Leben erhalten habe. Offensichtlich hat Bannon also kein Problem mit aktiver Sterbehilfe.

The Fourth Turning

Doch, ich will mal einen Moment ernst bleiben und der Reihe nach gehen: Die beiden Urheber dieser (in Ermangelung eines besseren Wortes) Theorie, glauben an eine feste Folge von Generationen. Gemäß William Strauss und Neil Howe gehören alle Menschen einer Generation an, die in etwa in einem 20-Jahre-Korridor geboren wurden. Sie haben wichtige Ereignisse der Geschichte in etwa in der gleichen Lebensphase erlebt und teilen daher das gleiche Set an Werten, Glaubenssätzen und Verhaltensweisen. Strauss und Howe glauben, dass es eine historische Gesetzmäßigkeit gibt, wonach vier Genrationen zumindest in Amerika immer aufeinander folgen: „The High“, „The Awakening“, „The Unraveling“ und „The Crisis“.

Nach einer Krise beginnt ein neuer Zyklus wieder mit The High – der Hochphase. Dieses Hoch zeichnet sich dadurch aus, dass der Staat von starken Institutionen geprägt wird, während der Individualismus schwach ist. Die Gesellschaft ist sich einig, in welche Richtung sie sich entwickeln sollte. Die letzte Hochphase erlebten die USA demnach nach dem zweiten Weltkrieg.

Die zweite Phase ist The Awakening – das Erwachen. In diesem Turning werden die Institutionen angegriffen durch individuelle oder spirituelle Kräfte. The Awakening tritt ausgerechnet dann ein, wenn die Gesellschaft auf dem Höhepunkt des kollektiven Fortschritts ist. Dann erscheint der jungen Generation das High als Ära der kulturellen oder spirituellen Armut und sie wollen sich selbst entdecken und spirituelle Erfahrungen machen. Das letzte Awakening begann wohl nach Kennedys Tod mit den Studentenbewegungen der 1960er.

Es folgt als nächstes das Unravelling – die Phase der Auflösung. Institutionen sind schwach, Menschen Misstrauen ihnen und feiern ihren Individualismus. Die Gesellschaft zersplittert und jeder interessiert sich nur noch für sich selbst. Diese Phase begann der Theorie nach zuletzt in den 1980ern.

Schließlich kommt The Crisis. In dieser Krise wird die Gesellschaft bedroht. Etwa durch einen Krieg. Die Institutionen werden in so einer Krise zerschlagen. Die letzte Krise war die Weltwirtschaftskrise von 1929, die im zweiten Weltkrieg endete. Und an dieser Stelle landen wir wieder bei Steve Bannon. Denn wenn ihr gut aufgepasst habt, dann ist euch aufgefallen, dass die 20 Jahre des letzten Niedergangs schon um sind. Wir also eigentlich schon in der Krise stecken müssten.

Wie schon gesagt, glaubt Bannon, dass The Krisis eigentlich durch die Finanzkrise 2008 eingeleitet wurde, dass es die Obama-Administration aber verpasst hat, das aktuelle politisch-wirtschaftliche System einzureißen, um damit den Weg für die nächste Hochphase zu ebnen. Deswegen unterstützt er Trump, damit dieser diesen Prozess vorantreibt. Das wird das aktuelle System zum Einsturz bringen und Platz machen für das nächste High Amerikas.

Ein nach Mustern suchendes Gehirn

Was haltet ihr davon? Ich muss euch ehrlich sagen, auf mich wirkt das wie das möchtegern-prophetische Fantasy-Konstrukt von nach Mustern suchenden Gehirnen. Dass Bannon seinen Dokumentarfilm mit den Worten „Winter is Coming“ enden lässt, macht es auch nicht unbedingt besser. Und ich muss leider sagen, Steve, es liegt an dir und nicht an mir, dass deine Theorie keinen Sinn ergibt. Steve, deine Theorie ist in etwa so glaubwürdig wie eine Werbekampagne, in der uns McDonalds erklärt, wie gesund ihre Burger sind.  Aber ich will das ganze noch nicht gleich komplett als Quatschkram abtun, sondern zunächst einmal überlegen, ob da nicht vielleicht doch etwas dran  sein  könnte.

Immerhin sind William Strauss, Neil Howe und Steve Bannon nicht allein in dem Versuch, aus der Geschichte Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. Und mal ehrlich, eigentlich ist die Überlegung gar nicht so doof: Wir leben in einer kausalen Welt, in der jede Wirkung eine Ursache hat. Warum sollte es in der Menschheitsgeschichte anders sein? So wie wir Jahreszeiten oder Sonnenfinsternisse Vorherbestimmen können, so können wir doch vielleicht auch Ereignisse wie Krisen vorherbestimmen. Berühmte Vorgänger in dieser Art zu denken waren etwa Hegel und Marx.

Hegel vertrat zum Beispiel den Standpunkt, dass in der Weltgeschichte und im Aufkommen und Untergehen einzelner Staaten der „Weltgeist“ zum Ausdruck kommt. Die Geschichte strebe dem Endziel entgegen, in dem sich der Geist und die Natur vereinen. Ich weiß, dass klingt super-abgehoben und ich kann es euch nicht runterbrechen ohne etliche Folgen zu Hegels Philosophie zu machen. Das letzte werden wir eines fernen Tages angehen, versprochen! Aber jetzt ist erst einmal wichtig, dass Hegel genau wie Strauss und Howe  geschichtliche Ereignisse analysierte. Er meinte, daraus ablesen zu können, dass die menschlichen Gesellschaften sich gesetzmäßig zu immer mehr Freiheit hinentwickeln würden.

Ganz ähnlich verhält es sich bei Marx und doch ganz anders. Marx glaubte Gesetzmäßigkeiten darin zu erkennen, dass die materiellen Verhältnisse der Menschen in der Geschichte zu bestimmten Ideen führten. Das Ziel dieser Entwicklung sei natürlich der Kommunismus, der zwangsläufig kommen werde um die – wie er es nannte – Vorgeschichte der Menschheit beenden werde.

Hmm, mittlerweile haben wir 2017 und der Kommunismus macht derzeit in etwa soviel Welle wie ein Quietscheentchen, nachdem ein Panzer über es hinweggerollt ist. Auch Hegels Vorstellung, dass wir immer freier werden, wird gerade irgendwo zwischen Terrorangst und Nationalismus zermalmt. Ist die Idee, dass wir aus der Geschichte Gesetze ableiten können also genauso bekloppt, wie sie sich anhört?

Die Prognosen der Sozialwissenschaften

Nun, wir müssen bedenken, dass wir solche Gesetze aus der Geschichte ständig ableiten. „Wenn die Wirtschaft boomt, sinkt die Arbeitslosigkeit“ – das ist gewissermaßen ein historisches Gesetz. Denn es hat sich in der Geschichte gezeigt, dass es sich so verhält. „Länder, die miteinander Handel treiben, führen keinen Krieg gegeneinander“, ist ein anderes. Und „In Großstädten wählen die Menschen links-liberaler als auf dem Land“, ist ein drittes. Sätze wie diese sind in den Sozialwissenschaften an der Tagesordnung und sie sind im gewissen Sinne historische Gesetze. Worin unterscheiden sie sich von denen von Hegel, Marx und Strauss und Howe?

Mir erscheinen zwei Unterschiede wichtig. Zum einen sind die Sätze der Sozialwissenschaften Thesen mit einem bedingten Geltungsanspruch. Niemand geht so weit, zu behaupten, dass wirtschaftliches Wachstum bis in alle Ewigkeit für geringe Arbeitslosigkeit sorgen wird. Wenn erst einmal die Maschinen wirklich intelligent sind, dann ist es wahrscheinlich vorbei damit. Die Sozialwissenschaften beobachten die Welt und passen ihre Theorien dann der Welt an. Aber wenn Steve Bannon meint, Obama habe es versäumt, die Crisis einzuleiten, dann versucht es die Welt seiner Theorie anzupassen.

Der andere Unterschied ist, dass die Theorien der Sozialwissenschaften nur Teilaspekte menschlicher Gesellschaften untersuchen und Thesen dazu aufstellen: Die Arbeitslosigkeit, internationale Beziehungen oder das Wahlverhalten von Großstädtern in den Beispielen oben. Hegel, Marx, Strauss und  Howe versuchen hingegen allumfassende, sogenannte holistische Theorien aufzustellen, gültig entweder für die ganze Menschheit oder zumindest für ganz Amerika! Das Problem dabei ist, dass hier unglaublich viele Einflüsse auf das beobachtete System wirken, sodass die für Wissenschaft nötige Reduzierung der Komplexität leicht zu Fehlschlüssen führen kann. Zum Beispiel definieren Strauss und Howe eine Generation als 20 Jahre und sagen, dass Menschen in diesem Lebensabschnitt die gleichen Erfahrungen teilen, was zu dem gleichen Set an Werten, Glaubenssätzen und Verhaltensweisen führt. Das ist eine verdammt steile These. Mein Bruder ist nur sechs Jahre älter als ich, aber – so lieb ich ihn habe – seine Werte, Glaubenssätzen und Verhaltensweisen unterscheiden sich massiv von meinen. Aber 20 Jahre? Ich habe den 11. September im Alter von 20 miterlebt. Wie alle, die diese Erfahrung mit mir teilen, weiß ich noch genau, wo ich war: Im Raucherabteil eines RegionalExpress nach Aachen. Zu meiner Generation sollen aber Menschen gehören, die an diesen Tag noch Babys waren, geschweige denn wissen, dass man früher in Zügen rauchen durfte! Seht ihr das Problem? Und dabei habe ich noch nicht einmal berücksichtigt, dass außer dem Alter noch ganz andere Faktoren Einfluss auf Werte, Glaubenssätze und Verhaltensweisen haben.

Poppers Widerlegung des Historizismus

Karl Popper, einer meiner Lieblingsphilosophen nennt die Art zu Denken von Strauss und Howe „Historizismus“ und er hat eine simple aber zwingende Widerlegung ihres Wahrheitsanspruchs. Sein Argument geht wie folgt:

(P1) Der Ablauf der Geschichte wird durch das Anwachsen des menschlichen Wissens stark beeinflusst.
(P2) Wir können mit rationalen oder Wissenschaftlichen Methoden das zukünftige Wachstum unserer Wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht vorhersagen.
(C) Daher können wir den zukünftigen Verlauf der menschlichen Geschichte nicht vorhersagen.

Das ist ein klassischer Syllogismus. Wenn man  das menschliche Wissen nicht vorhersagen kann und wenn das menschliche Wissen einen starken Einfluss auf den Verlauf der Geschichte hat, dann folgt daraus zwingend, dass wir die Geschichte nicht vorhersagen können. Mit anderen Worten: Die Theorie vom Fourth Turning ist zwingend falsch. Sie kann nicht wahr sein. Unter keinen Umständen.

Die Popular Vote hat Bannon also verloren, wie sieht es mit der Anzahl der Wahlmänner aus? Nun, die Schlussfolgerung, dass die Theorie von Fourth Turning falsch ist, ist logisch zwingend, daran kann ein Verfechter diesee Theorie nichts ändern und wenn er sich auf den Kopf stellt. Aber wo die Konklusion unumstößlich ist, da rücken die Prämissen in den Fokus des Interesses. Um Bannon und seine kruden Ideen doch noch wahr werden zu lassen, müssten unsere Ausgangsbehauptungen falsch sein. Lasst uns einen Blick darauf werfen.

Wissen und Geschichte

Liegt es im Rahmen des Möglichen, dass die menschliche Geschichte nicht durch das menschliche Wissen beeinflusst wird? Nun es spricht ziemlich viel dafür, dass es zwischen Wissen und menschlicher Entwicklung eine kausale Beziehung besteht. Wir hatten schon bei Thales gesehen, wie stark die griechische Geschichte von Sprache, Alphabet und Seefahrt beeinflusst wurden. Andere Beispiele gibt es zuhauf: Ohne die Erfindung des Buchdrucks und die Möglichkeit, Schriften schnell und günstig zu vervielfältigen, wären die Reformation und die Aufklärung nicht möglich geworden. Ohne Vordenker wie Friedrich August von Hayek und Ayn Rand würde der Neoliberalismus die Wirtschaftspolitik der USA nicht seit der Präsidentschaft von Reagan beeinflussen. Und ohne das Internet und Social Media wäre Trump jetzt nicht Präsident. Ich denke beim Einfluss des Wissens kann ich Poppers Schlussfolgerung nicht knacken.

Wie sieht es aus, mit der These, dass sich der Zuwachs des menschlichen Wissens nicht vorhersagen lässt? Ich fürchte hier sieht es sogar noch übler für Bannon aus. Nehmen wir mal für einen Moment an, es gäbe eine neue Wissenschaft, die sich mit der Vorhersage der Wissensentwicklung befassen würde. Gehen wir weiter davon aus, dass diese Wissenschaft voraussagen könnte, wann die Physik das Beamen entdeckt. Dann müsste unsere prophetische Wissenschaft auch erklären können, wie Beamen funktioniert, sonst könnte sie nicht beweisen, dass ihre Prognose wahr ist. Wenn das aber möglich wäre, dann bräuchten wir keine Physik mehr. Wir bräuchten überhaupt keine andere Wissenschaft mehr, sondern müssten alle unsere Ressourcen nur noch auf die prophetische Wissenschaft werfen. Dies wird aber nicht gemacht, sondern nur die Einzelwissenschaften können Fortschritte erzielen. Es deutet also alles darauf hin, dass prophetische Wissenschaft nicht möglich ist.

Tja, es sieht also schlecht aus für die Theorie von Strauss und Howe. In ihr steckt in etwa soviel Wahrheit wie in Alien Covenant. Obwohl, wenn ich es recht bedenke, missachtet Ridley Scott in seinen Filmen zumindest nicht die Gesetze der Wissenschaft.

Notwendigkeit und Kontingenz

Aber auf einen Punkt muss ich noch eingehen: Was ist eigentlich, wenn morgen tatsächlich die Krise ausbricht, die Strauss und Howe vorhergesagt haben?  Zumindest in einem Punkt hat Bannon ja durchaus recht: Der internationale Finanzkapitalismus ist die Pest und die Zocker in den Investmentbanken haben durch die letzte Krise nichts gelernt. Daher ist es jederzeit wieder möglich, dass uns der ganze Laden um die Ohren fliegt. Ist die Theorie vom Fourth Turning dann am Ende doch wahr? Obwohl sie falsch sein müsste? Wir haben schließlich eben bewiesen, dass die Theorie von Strauss und Howe falsch ist.

Am Grund dieser Frage liegt ein philosophisches Problem, über das sich schon Aristoteles den Kopf zerbrochen hat.  Aristoteles formulierte das Problem damals so: Wenn ich gestern vorausgesagt habe, dass heute eine Seeschlacht stattfindet und heute die Schlacht wirklich stattfindet, war mein Satz gestern dann schon wahr?

Haben Zukunftsaussagen in gleichem Maße Wahrheitswerte wie Beschreibungen der Welt? Der Satz „Donald Trump hatte eine Audienz beim Papst“ ist wahr. Aber wie ist es heute, am 23. Mai 2017 mit dem Satz „Morgen wird Donald Trump etwas Dummes tun“. …. Äh …. Okay, vergesst diesen Satz, der ist noch einmal ein Sonderfall. Nehmen wir lieber: „Angela Merkel wird die Bundestagswahl gewinnen.“ Ist dieser Satz heute auch schon in gleicher Weise wahr? Im normalen Sprachgebrauch würden wir das nie sagen. Wir würden sagen, dass der Satz möglich, wahrscheinlich oder sogar ziemlich sicher ist. Aber wir sprechen Prognosen nie Wahrheit zu. Und dennoch, wenn im September Angela Merkel wiedergewählt werden sollte, dann erscheint uns der Satz retrospektiv als wahr. Wie können wir diesen Widerspruch auflösen?

Ganz einfach, die Logik kennt nicht bloß den Unterschied zwischen wahr und falsch sondern auch jenen zwischen kontingent und notwendig. Wenn die Entwicklung des Wissens der Menschheit sich nicht vorhersagen lässt und zugleich dieses Wissen die Geschichte beeinflusst, dann lässt sich die Geschichte notwendig nicht vorhersagen. Daraus folgt, dass eine Theorie, die behauptet, dass die Geschichte gesetzmäßig immer in vier aufeinander folgenden Phasen abläuft, notwendig falsch ist. Aber wenn demnächst ein Tweet von Donald Trump die USA in eine Staatskrise stürzt, dann war Bannons Vorhersage, dass dies geschehen wird, eben nur kontingent wahr.

Die Theorie vom Fourth Turning hat aber den Anspruch immer und zwingend wahr zu sein. Diesem Anspruch kann sie nicht gerecht werden. Die Geschichte der Zukunft ist noch nicht geschrieben.

 

*hinterhältiger Affiliate-Link: Wenn ihr das Buch kauft, bekomme ich eine winzige Provision und freue mich. Euch kostet das natürlich nicht mehr!

Es gibt die selbstlose gute Tat!

Es gibt einen Mythos in unserer Gesellschaft, den uns, soweit ich das sehe, Immanuel Kant eingebrockt hat.

Ein Mythos sickert ins abschließende Vokabular

Vor 229 Jahren, im Jahr 1785 erschien Immanuel Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Und mit dem Einsickern der Grundlegung ins abschließende Vokabular kam ein Irrtum in die Welt, der seit dem Millionenfach wiederholt wurde und dadurch doch nicht richtiger wird: Die Vorstellung, dass es keine selbstlose gute Tat gäbe.

Die Argumentation geht folgendermaßen: Du tust etwas gutes, das zwar vordergründig selbstlos ist, aus dem du also keinen Nutzen ziehst. Du wirfst etwa einem Obdachlosen etwas Geld in den Hut. Doch durch eben diese Handlung fühlst du dich gut, weshalb du letztlich doch davon profitierst – die Tat ist also nicht selbstlos. Auf die Spitze wird die Argumentation dann oft noch dadurch getrieben, dass hinzugefügt wird, dass du die gute Tat nur deshalb getan hast, weil du dich gut fühlen wolltest. Das bedeutet, dass wir alle letztendlich immer egoistisch handeln. Denn selbst, wenn wir dies anscheinend nicht tun, machen wir es immer in Wahrheit nur, weil wir uns gut fühlen wollen. Es gibt also keinen Altruismus.

Der von Gram umwölkte Menschenfreund

Bevor ich dieses Argument widerlege, möchte ich mal wieder ein bisschen philosophische Grundlagenarbeit leisten und zeigen, in welchem Kontext Kant – dem ich ja alles in die Schuhe geschoben habe – die selbstlose gute Tat ins Spiel bringt.

Zu Beginn der Grundlegung legt Kant dar, dass „der gute Wille“ der höchste Wert der Ethik ist. Ob dies so ist, ist eine andere Geschichte, der ich mich ein anderes Mal widmen werde. Es geht mir heute um einen anderen Punkt, nämlich den nämlichen: Nach dem Abschnitt mit dem guten Willen führt Kant den Begriff der Pflicht ein, denn Kant will auf eine „Pflichtenethik“ hinaus (GMS 397). Der Begriff der Pflicht enthalte den Begriff des guten Willens, so Kant. Fortan interessiert sich Kant besonders für Handlungen, die aus Pflicht vollzogen werden, zu denen aber zugleich die Handelnde eine unmittelbare Neigung habe.

Kants erstes Beispiel ist ein Händler, der faire Preise hat. Kant diagnostiziert, dass dieser Händler weder aus Pflichtbewusstsein, noch aus unmittelbarer Neigung faire Preise hat, sondern aus schnödem Eigeninteresse, um auf dem Markt zu bestehen. Na? Merkta was?

Kants nächstes Beispiel ist der Erhalt des eigenen Lebens. Dem Christentum folgend behauptet Kant ohne weitere Begründung, dass dies eine Pflicht sei und zugleich hat jeder eine Neigung dazu. In diesem Fall verhält man sich zwar „pflichtmäßig“, also der Pflicht entsprechend, aber nicht aus Pflicht.

„Dagegen, wenn Widerwärtigkeiten und hoffnungsloser Gram den Geschmack am Leben gänzlich weggenommen haben, wenn der Unglückliche, stark an Seele, über sein Schicksal mehr entrüstet als kleinmütig oder niedergeschlagen, den Tod wünscht und sein Leben doch erhält, ohne es zu lieben, nicht aus Neigung oder Furcht, sondern aus Pflicht: alsdann hat seine Maxime einen moralischen Gehalt.“

Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 398.

Der Suizid ist auch ein spannendes Thema und einem eigenen Blogpost würdig, aber auch auf diesen, und ob er moralisch verwerflich ist, will ich nicht hinaus. Sondern klarmachen, wie Kant den Begriff „aus Pflicht“ verwendet. Moralisch ist eine Handlung nach Kant nämlich nur, wenn man sie aus Pflicht vollzieht und das bedeutet für ihn immer, dass man sie gegen seine eigenen Neigungen vollführt. Kant fährt entsprechend auch fort, indem er nun endgültig die weitverbreitete Argumentation aufgreift: Es gibt viele Menschen, denen es Freude bereitet, Gutes zu tun. Aber wenngleich deren Handlungen dann pflichtgemäß sind, so geschehen sie dennoch nicht aus Pflicht und haben somit „keinen wahren sittlichen Wert“ (398).

„Gesetzt also, das Gemüt jenes Menschenfreundes wäre von eigenem Gram umwölkt, der alle Teilnehmungen an anderer Schicksal auslöscht, er hätte immer noch Vermögen, den Notleidenden wohlzutun, aber fremde Not rührte ihn nicht, weil er mit seiner eigenen genug beschäftigt ist, und dann, da keine Neigung ihn mehr dazu anreizt, risse er sich doch aus dieser tödlichen Unempfindlichkeit heraus und täte die Handlung ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht, alsdenn hat sie allererst ihren echten moralischen Wert.“

Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 398.

Wie wir sehen, vertritt Kant die These „Es gibt keine selbstlose gute Tat“ – in Kants Terminologie: Tat aus Pflicht – nur in abgeschwächter Form und räumt ein, dass man im Falle einer ernsten Depression doch mal gut, da aus Pflicht, handeln kann. Da dieser Fall so konstruiert ist, hat der Volksmund wohl ganz zu Recht daraus gemacht, dass es keine selbstlose gute Tat gibt.

Gesinnungsethik und Handlungsethik

Nein! Stopp! Es ist eben nicht zu Recht, sondern vollkommen falsch! Kant hat viele kluge Dinge geschrieben, aber dies hier gehört nicht dazu. Und das Schlimme ist, dass dieses Argument Kants so wirkungsmächtig war, weil sich damit ganz hervorragend der eigene Egoismus rechtfertigen lässt: „Warum soll ich dem Penner einen Euro geben? Wenn ich es tue, dann doch nur, weil ich mich gut fühlen will, dann kann ich es doch gleich lassen und mich um meinen eigenen Scheiß kümmern.“

Das Problem ist, dass Kant eine „Gesinnungsethik“ etabliert. Das wird schon an Kants höchstem Wert, dem guten Willen deutlich. Nicht eine moralisch gute Handlung kommt für Kant als höchster Wert in Frage sondern eine innere Einstellung. Und ich möchte hier behaupten, dass das falsch ist. Auch wenn es streng genommen kein Falsch (zumindest in diesem Sinn) in der Ethik gibt. Ich bin der Überzeugung, dass allein Handlungen einen moralischen Wert haben, will also im Gegensatz zur Gesinnungsethik eine Handlungsethik verteidigen. Und ich gehe noch weiter, indem ich sage, dass wir gewöhnlich alle nur Handlungen und nicht Gesinnungen moralischen Urteilen unterwerfen. Und diese Argumentation, wonach es keine selsbtlose gute Tat gibt, somit vom normalen Sprachgebrauch von „selbstlos“ abweicht. Das werde ich im Folgenden doppelt beweisen.

Gott als Game-Changer

Mein erster Beweis werde ich anhand eines unserer ältesten ethischen Dokumente vollziehen: den zehn Geboten. Das ist tricky, denn die zehn Gebote sind genau wie Kants Ethik eigentlich eine Gesinnungsethik, das wird gleich am ersten Gebot klar:

1. Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.

Die Zehn Gebote nach Martin Luthers Kleinem Katechismus

Genauso verhält es sich mit den Geboten 9 und 10:

9. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.

10. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat.

Die Zehn Gebote nach Martin Luthers Kleinem Katechismus

BTW: Auch interessant, dass das Haus ein eigenes Gebot hat, aber das Weib mit dem restlichen Kladderadatsch zusammengeschmissen wird. Ferner wird die männliche Zielgruppe der 10 Gebote klar…

Ich kann ja ausschließlich in Gedanken einen anderen Gott haben und ich kann nur in Gedanken begehren. Das würde Gott nicht gefallen. Also haben Kant und die Bibel doch Recht mit ihrer Gesinnungsethik? Ich glaube nicht und der entscheidende Punkt hier ist, dass Gott als Game-Changer ins Spiel gebracht wird. Denn der Allmächtige kann unsere Gedanken lesen und somit werden aus diesen inneren Zuständen Handlungen. Im Katholizismus wird das zum Beispiel im Akt der Beichte symbolisiert. Erst durch das Geständnis dem Pfarrer gegenüber wird aus dem Gedanken eine Handlung, die moralisch verwerflich wird.

Dass Ethik immer Handlungsethik ist, wird dann aber bei den anderen sieben Geboten klar:

2. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mißbrauchen.
3. Du sollst den Feiertag heiligen.
4. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.
5. Du sollst nicht töten.
6. Du sollst nicht ehebrechen.
7. Du sollst nicht stehlen.
8. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.

Die Zehn Gebote nach Martin Luthers Kleinem Katechismus

Das sind alles Handlungsanweisungen. Selbst wenn „heiligen“ oder „ehren“ sicher interpretationsbedürftige Begriffe sind, so zeigt sich ein ehren oder heiligen meines Erachtens erst in einer Handlung. Glaubt ihr nicht? Dann machen wir doch einmal die Gegenprobe: Kannst du deine Mutter in Gedanken ehren, wenn du sie wie Scheiße behandelst? Kannst du geistig den Feiertag heiligen, wenn du zugleich deine Angestellten zur Sonntagsarbeit verpflichtest? Ich denke nicht…

Hordenmoral

Aber lassen wir diese tausende Jahre alte Beispiel hinter uns und widmen wir uns meinem zweiten Beweis. Dafür möchte ich einen Blick in den heutigen Panoramateil von Spiegel Online werfen, denn Boulevardmedien haben immer die Aufgabe (in ihrem Selbstverständnis), den Lesern zu sagen, wie sie sich fühlen sollen. Sie schreiben nieder, was sittlich ist. „Hordenmoral“ in Hayeks Worten. Ich lasse mal die ganzen Promi-News außer acht und beschränke mich auf einige Artikel mit moralischem Gehalt:

„Nach Schüssen vor einem Luxushotel in Caracas ist ein Deutscher gestorben.“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Bedeutet: Mord ist doof.

„In Kürze soll die Rettung des verletzten Forschers aus der Riesending-Schachthöhle abgeschlossen sein.“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Bedeutet: Retter sind Helden.

„Weil ein dreister Nager ihrem Beet zusetzte, griff Schriftstellerin Jeanette Winterson zu einem drastischen Mittel. Sie zog dem Karnickel das Fell über die Ohren – zum Zorn ihrer Internetfans.“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Das ist spannend, denn hier wird ein Wert ausgehandelt: Darfst du ein Kaninchen töten, das dir Schaden zugefügt hat?

„Nach dem qualvollen Sterben eines Todeskandidaten hatten manche US-Staaten Hinrichtungen gestoppt. Nun sind binnen 24 Stunden gleich drei Menschen exekutiert worden.“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Bedeutet: Die Todesstrafe gehört abgeschafft.

„Johann Breyer lebt in Philadelphia, der 89-Jährige soll im KZ Auschwitz Beihilfe zum hunderttausendfachen Mord geleistet haben. Jetzt ist er verhaftet worden, die USA müssen über eine Auslieferung entscheiden.“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Bedeutet: Fuck you Nazi!

„Ein Rentner erschießt einen jungen Räuber auf der Flucht – Totschlag oder Notwehr?“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Auch hier wird wieder ein Wert ausgehandelt, eben: Totschlag oder Notwehr?

„Freida Pinto hat in einem Interview sexuelle Gewalt gegen Frauen in ihrem Heimatland Indien beklagt. Belästigungen seien dort Alltag, sagte die Schauspielerin.“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Bedeutet: Sexuelle Gewalt ist verwerflich.

Ich bin mir bewusst, dass neben meinen Allzu-Kurzanalysen noch mehr in diesen Artikeln steckt. Zum Beispiel: Warum wird das Alter des mutmaßlichen Naziverbrechers genannt? Soll hier eine Verjährung des Holocausts angedacht werden? Und warum wird sexuelle Gewalt mal wieder am Beispiel Indien durchdekliniert? Weil es so schön weit weg ist?

Es gibt die selbstlose gute Tat

Aber der entscheidende Punkt ist: Hier werden ausschließlich Handlungen gemeldet. Da steht nirgends: Weil die Höhlenretter sich gut fühlten, handelten sie nicht selbstlos. Genausowenig wird gefragt, wie sich die Todesschützen in Caracas fühlten oder was sie dachten. Oder ob die Ermordung des Kaninchens nun pflichtgemäß oder aus Pflicht geschah.

Und das ist der springende Punkt: Es ist scheißegal, wie du dich nach einer guten Handlung fühlst. Ob du Spaß beim Helfen hast oder es widerwillig machst, ist schnurzpiepsegal. Wir sollten Handlungen immer auf ihre weltlichen Konsequenzen hin beurteilen nicht auf ihre Auswirkung auf eigene innere Zustände. Daher gibt es selbstverständlich auch die selbstlose gute Tat.

Eine selbstlose gute Tat ist eine Tat, die für mich persönlich in der Welt keine Vorteile einbringt. Wenn ich ein fremdes weinendes Kind tröste, dann mag das aus einem Vaterinstinkt heraus geschehen, aber im Endeffekt habe ich keinen Nutzen davon, daher ist es eine selbstlose gute Tat. Wenn ich einer alten Frau ihre Einkäufe die Treppen rauftrage, dann mag das vielleicht nur pflichtgemäß im Sinne Kants sein, es ist dennoch eine verfickte gute Tat und da ich keinen Vorteil dadurch habe, ist sie selbstlos. Und jeder, der etwas anderes erzählt, will nur seinen eigenen Egoismus rechtfertigen.

Literatur

Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Umsonst im Volltext bei Zeno oder auf Papier bei Amazon*).

*hinterhältiger Affili-Link