Ich mache auch diesen Monat wieder mit bei 12 von 12. Der 12. Tag in meinem Dezember war relativ ereignislos – ein ganz normaler Samstag im Hause Privatsprache. Morgens bin ich mit meinen Töchtern aufgestanden, während die Dame noch etwas schlafen durfte. Die Große sah Kevin – Allein zu Haus. Der Film ist leider viel schlechter, als ich ihn in Erinnerung hatte. Ich habe ihn zum ersten Mal mit 10 Jahren im Kino gesehen.
Da die Dame und ich derzeit unter der Woche beide arbeiten gehen, bleibt uns leider auch nichts anderes übrig als am Samstag die Wohnung zu putzen. Es gibt schönere Möglichkeiten, sein Wochenende zu verbringen. Aber immerhin konnte ich beim Putzen die neue Folge Logbuch Netzpolitik hören.
Bevor wir aufbrechen zu einem unvermeidlichen vorweihnachtlichen Shopping-Trip, baut meine Tochter (8) noch eine Burg aus den Spielsteinen von „Torres“.
Dann geht’s los. Zu Fuß zum „Skyline Plaza“ einem großen Einkaufszentrum hier im Gallus. Ein gaaaaanz schrecklicher Ort, aber manchmal kann ich mich dem nicht verweigern. Immerhin sehen wir unterwegs in einem Schaufenster auf der Frankenallee dieses wunderschöne Stück Trash.
In der Frankenallee schon im Schatten der Türme befindet sich auch eine schöne alte Feuerwache im klassisch-hessischem Sandstein.
Angekommen! Das Einkaufszentrum steht am Güterplatz, der schon eine Baustelle ist, seit ich in Frankfurt wohne. Ständig wird dort ein neuer Turm in die Höhe gezogen.
Meine Tochter (8) hat in der Schule einen Handschuh verloren, daher müssen wir in einen Klamottenladen und dort ein neues Paar kaufen. Dort ereignet sich dieser bemerkenswerte Dialog:
Ich so: Entschuldigung, können Sie mir mal die Verpackung von diesen Handschuhen aufmachen, damit meine Tochter sie anprobieren kann?
Verkäuferin so: Nein das geht nicht, denn dann bekommt man die Verpackung nicht mehr richtig zu.
Ich so: Aber wie soll ich dann wissen, ob sie passen?
Verkäuferin so: Wenn sie nicht passen, können Sie sie umtauschen.
Ich so: Ich darf also nicht hier im Laden die Verpackung öffnen, darf die Handschuhe aber mit nach Hause nehmen, dort öffnen und sie dann wieder zurück in den Laden bringen. Das ist nicht gerade logisch. Das merken Sie selbst, oder?
Verkäuferin so: Dann gehen Sie halt zur Kasse und fragen Sie dort!
An der Kasse wurde mir dann gesagt, dass ich die Handschuhe natürlich anprobieren darf.
¯\_(ツ)_/¯
Ansonsten verläuft der Einkauf weitgehend ereignislos und zugleich stressig, die schlechteste aller Kombinationen. Bis ich in einem Schreibwarenladen diese Postkarte entdecke:
Möglicherweise ist die ja als Witz gedacht. Aber ich befürchte, dass das A einfach für „Ansichts“ steht, was dann mit dem Detail-Foto vom My-Zeil-Hochhaus eher ungünstig kombiniert wurde.
Als ich dann aber den Weihnachtsbaum in der Lobby des Einkaufszentrums sehe, komme ich schließlich doch noch ein bisschen in Weihnachtsstimmung:
Ab nach Hause! Zurück gehen wir durch die Koblenzer Straße, eine der sympathischsten Straßen des Viertels, wie ich im Sommer feststellen durfte, als ebenjene Straße ein sehr schönes Fest feierte. Dort entdecke ich diese Perle der Straßenkunst:
Puh, Zu Hause angekommen, sind wir fix und fertig. Da hilft eine Kaffeepause mit Weihnachtsplätzchen im Kerzenlicht.
Um 12 Uhr ist auch das letzte Kind im Bett. Wir haben noch etwas vor, aber bevor ich wieder aufdrehe, lehne ich mich mal kurz zurück und genieße meinen Samstagabend mit einem Gin-Tonic. Offensichtlich hatte er es so in sich, dass mein Blick schon ganz trübe wurde.
Doch dann geht es weiter und erst gegen Mitternacht ist der Tag für mich am Ende, nachdem die Dame und ich unsere neueste Folge Spätfilm im Kasten haben. Im Spätfilm besprechen wir pro Folge einen Film. Und dabei haben wir uns vorgenommen, dass mindestens einer von zehn Filmen von einer Regisseurin stammen muss. Nachdem wir in SF47 über den großartigen Film La Haine sprachen, haben wir uns diesmal angesehen, wie Céline Sciamma in Bande de filles die Pariser Banlieues aus einer weiblichen Perspektive darstellte.
Das war’s von mir. Wir lesen uns spätestens in einem Monat. Bis dahin könnt ihr ja mal in den Spätfilm reinhören. Wir sprechen auch nicht immer nur über französische Sozialdramen!
Gestern hatte ich ein kafkaeskes Erlebnis: Auf der Fahrt zur Arbeit hörte ich Logbuch Netzpolitik, in der natürlich die Vorratsdatenspeicherung ausführlich besprochen wurde. Unter anderem bezogen sich Tim Pritlove und Linus Neumann dabei auf diese Übersicht von Bundesjustizminister Heiko Maas:
Und gleich der erste Punkt hat es in sich. Denn was da so schön zusammen gefasst ist mit …
4 Wochen Speicherfrist für Mobiltelefone
Funkzelle, in der sich das Mobiltelefon befindet
Zeitpunkt des Aufenthalts in der Funkzelle
… bedeutet im Klartext nichts anderes, dass der Deutsche Staat in Zukunft ein Bewegungsprofil für die Gesamtbevölkerung haben wird. Sie. Werden. Von. Jedem. Einzelnen. Menschen. In. Diesem. Land. Zu. Jeder. Zeit. Wissen. Wo. Er. Sich. Aufhält! Das ist der feuchte Traum jedes kontrollsüchtigen „Law & Order“-Fans.
Doch das war noch nicht einmal der kafkaeske Teil meines gestrigen Tages. Der kam am Nachmittag. Direkt nach der Arbeit gingen wir nämlich als komplette Familie zu „FUN – Familie und Nachbarschaft“. Die Grundschule meiner Tochter (7) hatte uns eingeladen an diesem Programm der Stadt teilzunehmen. Und prinzipiell erschien mir die Idee, andere Eltern und Kinder aus unserem Viertel kennenzulernen, durchaus erstrebenswert. Das, was aber hinten rauskommt, wenn man diese Veranstaltung von Grundschullehrern und -lehrerinnen organisieren lässt, ähnelt dann eher einer schrägen Gruppentherapiesitzung. Wirklich crazy shit!
Aber auch das war noch nicht der kafkaeske Teil, der kommt jetzt: Denn einer der ersten Tagesordnungspunkte und noch ganz bodenständig, war unsere schriftliche Einverständniserklärung, dass die Lehrer und Lehrerinnen Fotos von uns und vor allem von unseren Kindern machen dürfen.
Wir leben also in einem Land, in dem der Staat Fotos für einwilligungspflichtig hält, aber Totalüberwachung des Aufenthaltsortes der absolut okay ist keiner zusätzlichen Legitimation bedarf …
Beim letzten WRINT Realitätsabgleich rantete Holgi gegen die Eltern von heute, die ihren Kindern keine Bewegungsfreiheit mehr lassen. Das hatte ich schon fast wieder vergessen, da spülte mir Twitter als Nachtisch eine Grafik in die Timeline, in der man sieht, wie sich der Aktionsradius von Kindern innerhalb von vier Generationen verkleinert hat. Das ganze basiert auf EINER Stichprobe, ist also nicht gerade aussagekräftig, aber nehmen wir das einfach mal als Ausgangsbasis … Ist es wirklich so, dass wir unsere Kinder überbeschützen? War früher alles besser? Waren wir „in allem schon mal weiter“, wie Holgi sagte? Oder gibt es vielleicht Gründe, unsere Kindern nicht mehr herumstreunern zu lassen wie früher? Gründe, die vielleicht gar nicht so doof und so helikopterelterlich sind?
Am Anfang war die Anekdote
In meiner Erinnerung hatte ich enorm viel Bewegungsfreiheit in meiner Kindheit. Ich bin allein zur Schule gegangen, zu meinen Freunden, ins Kino, zum Spielen in den Wald, ins Freibad und ich bin mit dem Fahrrad in den Nachbarort gefahren. Ich bin ganze Wochenenden lang herumgetromert und nur zum Essen und Schlafen heimgekommen, ich habe Pfennige von Zügen auf Bahnschienen plätten lassen und einmal bin ich sogar einen Nachmittag nackt durch den Ort gelaufen, weil ich Robinson Crusoe spielte – fragt mich bitte nicht, warum Robinson Crusoe unbedingt nackt sein musste …
Aus dieser Aufzählung lässt sich aber vor allem eines erkennen: Wie wir unsere eigene Kindheit verklären. Denn ich habe nicht den blassesten Schimmer, wie alt ich bei den jeweiligen Erinnerungen war, ob meine Eltern wirklich nicht wussten, wo ich war (denn ich habe auch Erinnerungen, in denen ich Ärger aus genau diesem Grund bekam) und vor allem war ich klein, weswegen mir die Welt viel größer vorkam. Ich habe mir mal den Spaß gemacht, meine erinnerten Strecken nachzumessen:
Zu meinem besten Freund = 600 Meter
Ins Kino = 800 Meter
Zur Schule = 850 Meter
In den Wald = 1 Kilometer
Ins Freibad = 1,9 Kilometer
Bewegungsfreiheit vs. persönliche Freiheit
Das sind jetzt alles nicht gerade Marathonstrecken, besonders wenn ich sie mit denen meiner Tochter (7) vergleiche. Aber dazu später, denn zuvor noch etwas anderes: Wie man der Anekdote entnehmen kann, bin ich auf dem Land aufgewachsen, doch heute lebe ich in der Stadt. Und das ist kein Zufall. Ich bin nicht hier gelandet, weil es der Job diktierte oder ähnliches, sondern weil ich das Landleben gehasst habe! Der Bewegungsfreiheit stand dort nämlich eine persönliche Unfreiheit gegenüber, erzeugt durch gedachte Schubladen, in die du gesteckt wurdest, erzeugt von Nachbarn, die sich Mäuler zerreißen und von der Hordenmoral, wo jeder jede kennt und alles verurteilt, das anders ist!
Das wollte ich für meine Kinder nie und daher bin ich in die Stadt gezogen, wo sie vor den Schubladen in Nischen flüchten können, wo alles bunter ist, wo ich israelische, türkische, arabische, persische, spanische, ukrainische und italienische Freunde und Bekannte habe. Wo du den Menschen aus dem Weg gehen kannst, die dich verurteilen, wenn du als Frau eine Frau oder als Mann einen Mann liebst genau wie jenen, die sich schon an der falschen Frisur oder den falschen Klamotten stören. Ist dafür weniger Bewegungsfreiheit nicht ein geringer Preis?
Die Wege meiner Tochter
Aber nicht zu schnell. Machen wir zunächst die Gegenprobe: Meine Tochter (7) geht alleine zur Schule (850 Meter), von der Schule zum Hort (1,2 Kilometer), vom Hort nach Hause (650 Meter). Das ist doch gar kein so großer Unterschied … Es wirkt nur kleiner, weil ich jetzt größer bin und weil Frankfurt größer ist. Ich will auch nicht verschweigen, dass sie nicht überall alleine hin darf: Wir bringen sie zum Gesangsunterricht (obwohl der nur 300 Meter entfernt ist) weil der abends stattfindet und wir nicht wollen, dass sie im Winter alleine durchs Dunkel läuft. Morgens ist es zwar auch dunkel, aber da sind hunderte Kinder unterwegs. Abends nicht. Und wir bringen sie zum Capoeira, weil das eine typische Frankfurter Strecke von 4,7 Kilometern ist.
Die Freiheit der Kinder
Jetzt könntet ihr natürlich sagen: „Ja du, du machst das so, aber andere nicht!“ Und wisst ihr was? Ihr habt recht. Wenn ich meine Tochter (7) mal zur Schule bringe, dann sehe ich da auch immer Autokolonnen vorfahren, aber woher soll ich denn wissen, welchen Schulweg deren Kinder haben? Denn dass meine Tochter sich so frei bewegen kann, liegt an unserer recht ungewöhnlichen Wohnsituation. Wir wohnen in einer ziemlich ruhigen Ecke im Frankfurter Gallus.
Kleine Abschweifung: Das Gallus
Das Gallus hat zwar einen sehr schlechten Ruf in Frankfurt, aber der ist ziemlich ungerechtfertigt. Erstens kommt der daher, dass das Viertel ans Bahnhofsviertel grenzt, das in Frankfurt das Rotlichtviertel ist. Und daher treiben sich in Bahnhofsnähe auch eine ganze Reihe Junkies rum. Zweitens ist die S-Bahnstation „Galluswarte“ ein verlauster Straßenköter, der an seiner eigenen Kotze zu ersticken droht. Dort ist es unsäglich laut, schmutzig und bevölkert mit Alkoholikern. Drittens war das Gallus wohl in den 90ern mal ein sozialer Brennpunkt, aber seit damals hat die Stadt sehr viel Kohle ins Viertel gepumpt und ein problematischer Güterbahnhof ist verschwunden. Aber vor allem viertens: Das Gallus ist groß. Es hat über 30.000 Einwohner und damit mehr als doppelt so viel wie die Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin. Und in diesem großen Bezirk wohnen wir eben in einer familiengerecht ruhigen Ecke.
Aber ich schweife ab. Worauf ich eigentlich hinaus wollte, war, dass wir zuvor in Sachsenhausen direkt am Südbahnhof gewohnt haben. Und ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich da meiner Tochter die gleiche Freiheit gelassen hätte: Dort fuhren Busse, Trams, S-, U-Bahnen und Züge ab und an. Dort hetzten morgens die gestressten Pendler zum Bahnhof oder weg von ihm. Da blockierten Autos immer wieder den Bürgersteig, sodass man auf die vierspurige Straße ausweichen musste. Da war es mit anderen Worten verdammt quirlig. Und da soll ich eine Siebenjährige rumlaufen lassen, die die meiste Zeit des Tages ihren Träumen und Gedankenwelten nachhängt? Ich weiß nicht …
Das Wohl der Kinder
Jetzt komme ich nämlich zum letzten Akt. Ich glaube, ich hätte das nicht getan, denn ich will das beste für meine Kinder und ich glaube, damit bin ich nicht allein. So geht es vielen, wenn nicht gar den meisten Eltern. Ich denke, das beste für seine Kinder zu wollen, ist normal. Und ich glaube, das war es auch früher schon, aber die Lebensumstände waren andere.
Ich glaube nicht, dass unsere Welt gefährlicher geworden ist, hier habe ich zumindest einen Artikel gefunden, der das Gegenteil sagt. Sicher haben wir heute mehr Verkehr als fürher, und vielleicht wird auch jeder Kindesentführung oder „Familientragödie“ mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Aber ich glaube nicht, dass das der wesentliche Unterschied ist. Ich glaube am meisten hat sich die Zahl der Kinder verändert.
Denn, haben unsere Eltern und Großeltern ihren Kindern mehr Freiheiten gelassen, weil sie im tiefsten Inneren davon überzeugt waren, dass das wichtig und richtig ist? Oder war es nicht vielleicht so, dass eine Mutter von 3,4 oder 5 Kindern, deren Mann den ganzen Tag malochen geht, es einfach nicht leisten konnte, ein Kind zum Sportunterricht zu fahren? Weil dann vier andere Kinder kein Essen, keine saubere Wäsche, keine Hausaufgabenkontrolle bekommen hätten? War es nicht vielleicht das beste für die Kinder, zuhause zu bleiben?
Und heute muss die gleiche zur Verfügung stehende Zeit eben oft nur auf ein oder zwei Kinder verteilt werden. Zugleich gibt es auch mehr Väter – so wie ich –, die sich an der Kindererziehung beteiligen. Vorausgesetzt, dass Eltern schon immer das beste für ihre Kinder wollten, war vielleicht früher einfach das beste zuhause zu bleiben, sich um die Kinder zu kümmern, von denen ich weiß, dass sie jetzt meine Hilfe brauchen und jene Kinder streunern zu lassen, denen ich zutrauen kann, dass sie wieder nach Hause finden. Heute hingegen bringe ich meinen Kindern nicht mehr Aufmerksam entgegen, ich muss diese Aufmerksamkeit nur weniger verteilen. Ist es da nicht vernünftig, mein Kind zu fahren, zu begleiten und zu beschützen, wenn ich davon ausgehe, dass ich das beste für ebendieses Kind will? Klar kann ich das übertreiben und zum Helikopter werden. Aber wir sollten auch nicht ins andere Extrem verfallen und „die Eltern von heute“ verurteilen, die so viel Angst haben, nur weil früher bekanntlich alles besser war …
Ich fuhr gestern so mit meinem Fahrrad durch diese schöne Stadt am Main. Ich kam von der Arbeit, zu der ich mangels guter Öffi-Anbindung auch zu dieser Jahreszeit tagtäglich mit dem Rad fahre. Ich fuhr also gestern so vor mich hin – dumdidumdidumdidum – und hörte meinen Podcast. Also nicht meinen Podcast, so selbstverliebt bin ja nichteinmal ich, sondern irgendeinen Podcast. Ich war auch schon in unserem schönen Viertel, dem Gallus, und nicht mehr allzu weit von meiner eigenen Haustür entfernt.
Da wanderte mein Blick gen Himmel, während ich den lieblichen Stimmen irgendwelcher Podcaster/innen lauschte. Meine müden Augen erblickten eine Krähe, die einen Zweig trug. Und ich denk noch so bei mir: „Mensch, der Zweig hat aber eine beachtliche Größe verglichen mit dieser Krähe …“ Da lässt Corvus frugilegus mit einem Mal den Zweig fallen und ich blicke ihm nach.
Der Zweig landet direkt auf dem Kopf eines Fußgängers, der sich wutentbrannt umdrehte und … mich auf meinem Fahrrad sieht! Ich nur so: „ICH WAR DAS NICHT! EHRLICH, DAS WAR DER VOGEL!“ – der sich natürlich mittlerweile aus dem Staub gemacht hatte …
Nun, was soll ich sagen. Ich habe die Pedale in die Hand genommen (bildlich gesprochen), denn was ich da gerade diesem Mann gegenüber behauptet hatte, das glaubt einem doch niemand!
Ich möchte mal eine Menschengattung loben, die sonst meist Schimpf und Tadel erntet: Die Nachbarn. Denn die Nachbarn in unserer neuen Wohnung sind einfach super. Da ich, werte Leser, in Bezug auf Nachbarn ein gebranntes Kind bin, freue ich mich umso mehr über die hiesige Hausgemeinschaft.
Das Leiden der anderen
Mein Leid mit den Nachbarn vergangener Tage und Wohnungen fing 2005 an, als ich mit zwei Kommilitoninnen eine WG geründete. Fairerweise muss ich zugestehen, dass die Nachbarn auch unter uns litten, denn wir hatten nicht bloß einen Kicker-Tisch und eine Freude an Partys bis in die frühen Morgenstunden; nein, wir hatten vor allem eine große Wohnung in unmittelbarer Nähe der Pontstraße, Aachens Partymeile Nummer 1. Sodass mehrmals wöchentlich bei uns vorgeglüht wurde.
Dennoch war es eher Saruman-Style, dass zwei unserer damaligen Nachbarn gleich eine Abmahnung durch unseren Vermieter bewirkten, bevor sie uns auf ihre Bedürfnisse ansprachen und dass in der Abmahnung Dinge wie „permanentes Hämmern und Sägen“ oder „Zu lautes Türenschließen“ beklagt wurden. Die Krönung war, dass ich eines Tages, einen Eimer Wasser über den Kopf bekam, weil sich ein Nachbar daran störte, dass ich im Garten grillte. Welcher Nachbar das war, konnte ich leider nicht feststellen, weil der heldenhafte Kämpfer für saubere Luft das Fenster geschlossen hatte, bevor die Schwerkraft sich daran erinnert hatte, was sie mit Wasser macht und auch auf meine – sagen wir mal – nicht ganz so freundlichen Aufforderungen, sich erkennen zu geben, nicht reagierte.
High Noon an der Mülltonne
Die nächste Wohnung war meine erste gemeinsame mit der Dame und auch dort standen wir mit den Nachbarn auf größerem Kriegsfuß als Bushido mit Toleranz. So hatte ich eine unschöne Begegnung der dritten Art mit dem Hausdrachen, einer Rentnerin, deren Lebensinhalt im Verbotsschilderaufhängen im Treppenhaus und in der ordentlichen Mülltrennung bestand. Wir trafen uns an einem stickigen Sonntag zu High Noon an den Mülltonnen und sie forderte mich auf, meinen Papiermüll gleichmäßig auf alle vier Papiermülltonnen zu verteilen.
Ich so: „Warum?“
Sie so: „Warum was?“
Ich so: „Warum soll ich meinen Müll auf alle Mülltonnen verteilen? Ist es nicht sinnvoller, erst eine Mülltonne voll zu machen und sich dann liebevoll der nächsten Tonne zuzuwenden?“
Sie so: „Nein, der Papiermüll muss gleichmäßig verteilt werden.“
Ich so: „Aber warum?“
Sie so: „Darum!“
Ich so (lachend): „Sorry, aber ‚darum‘ verliert mit dem Abschluss der vierten Klasse seinen Status als Argument.“
Leider war der Hausdrache nicht das einzige Ärgernis in diesem Haus. Als instantane Abstrafung für meine eigenen Lärmbelästigungen nur kurz zuvor setzte der Allmächtige den „Lutscher“ in die Wohnung über uns. Lutscher, den wir aufgrund einer vagen phonetischen Ähnlichkeit zu seinem Vornamen so nannten, war ein alleinstehender Herr in den Vierzigern. Lutscher konnte nicht viel für die Leiden, die er uns bereitete, denn zu seinem eher dickhäutigen Auftreten kam hinzu, dass dies nun wirklich das hellhörigste Haus war, in dem ich je gelebt habe. So wachten wir morgens auf, wenn Lutscher den Radiowecker singend begleitete und „Like a Virgin“ oder „blinded by the light“ intonierte.
Leider hatte Lutscher eine Vorliebe für Kriegsfilme, die im Surroundsound dann durch unser Schlafzimmer dröhnten und mindestens einmal ist er vor dem Fernseher eingeschlafen, sodass ich während der ganzen Nacht immer wieder hochschreckte, sobald der Pro7-Jingle ertönte, der die nächste Werbepause ankündigte. Doch Lutscher war auch kein Unschuldslamm, so ließ er mehrmals täglich Dinge zu Boden fallen, bei denen es sich akustisch nur um Hanteln handeln konnte. Außerdem hat er einmal unser Bad unter Wasser gesetzt, weil er glaubte, eine verstopfte Badewanne am besten dadurch zu befreien, dass er hunderte Liter Wasser laufen lässt. Wasser, das sich dann eben andere Wege suchte…
Doch damit noch nicht genug: Außerdem gab es in dem Haus noch ein junges Pärchen, das wir politisch höchst unkorrekt „die Inder“ nannten. Die Inder stritten sich nicht nur immer sehr lautstark, sie hatten auch oft Besuch, mit dem sie bis in die frühen Morgenstunden feierten, um dann anschließend die Luftmatratze mit einem alten Blasebalg aufzupumpen der klang wie ein asthmakranker Brontosaurus. Einmal, als sie nachts begannen Staub zu saugen, ging ich dann doch mal hoch und klingelte. Durch die Milchglastür ihrer Wohnung konnte ich Frau Inder im Flur erstarren sehen, als die Klingel ertönte. Doch anstatt die Tür zu öffnen, löschte sie nur das Licht. Woraufhin ich lachend umkehrte und ihr noch durch das dünne Glas mitteilte, dass das Licht mich jetzt nicht gerade gestört habe.
Aber in dem Haus gab es auch tolle Nachbarn. Da war der verpeilte Frederick, der sich ständig irgendetwas von uns ausleihen musste, weil er es nicht hatte: Mehl, Butter, Möbel … Der unser Tochter zum ersten Geburtstag einen Bademantel schenkte, der ihr jetzt mit sechs Jahren dann doch mal passte … Und der schon mal vergaß, dass seine Scheidungstochter an diesem Wochenende bei ihm sein sollte, sodass die Teenagerin eben zwei Stunden bei uns rumhing, bevo Frederick nach hause kam. Da war Bastian, der hartnäckig freundlich sich immer wieder zu ihm oder sich zu uns einlud, und der mir das Ziegenproblem erklärte. Da war der LotRi-Nachbar, der an unserer DVD-Sammlung erkannte, dass wir „auch LotRi-Fans“ (Lord of the Rings) waren und uns daraufhin ein ziemlich cooles Die-Zwei-Türme-Poster schenkte. Und es gab den „Immer Grillen“-Nachbarn, der halt einfach immer grillte und uns auch immer gerne dazu einlud. Aber unter Lutscher zu wohnen, verdarb uns letzten Endes doch den Spaß.
Kloschüsseln und Rasenmäher
Als unsere Nerven nicht bloß wegen Lutscher, sondern auch wegen unserer kleinen Tochter schließlich zu dünn wurden, zogen wir um. Leider kamen wir nicht vom Regen in die Traufe sondern direkt in die Jauche-Grube. Die Miete in unserer letzten Aachener Wohnung war so verdächtig niedrig, dass sie uns Warnung genug hätte sein sollen.
In dem Haus wohnten vier Parteien und eine war schlimmer als die andere. Ganz unten wohnte eine Familie von Snobs, die jedes Mal ins Treppenhaus stürmte, wenn man die Haustür nicht vorsichtig genug schloss. Gut, dafür hatte ich noch Verständnis nach unseren jüngsten Erlebnissen. Aber eines Tages, als meine Tochter mitten in der Trotzphase einen Wutanfall hatte, weil ich neben dem Wocheneinkauf und dem Laufrad nicht auch noch sie die Treppe hochtragen wollte, stürmte Frau Snob aus ihrer Wohnungstür und geiferte, dass sie ja Verständnis für Kindererziehung habe, aber bitte nicht im Treppenhaus!
Im zweiten Stock wohnte der Messi. Nicht der Lionel, sondern der Sammler. Und ich sage das nicht, wie man das mal scherzhaft zu jemanden sagt, der oder die etwas unordentlich ist. Ich nenne Messi jemanden, mit dem ich ein halbes Jahr diskutieren musste, bis er unseren Kellerraum von seinem Kram befreite. Seine Sachen standen bei uns im Kellerraum, weil sein Keller bis unters Dach vollgepackt war. Nachdem er seinen Krempel aus unseren Raum geräumt hatte, legten die Dame und ich dort die dickste Plastikfolie aus, die wir für Geld kaufen konnten, weil die untersten Schichten des Krempels schon so sehr verwest waren, dass wie sie nicht vollständig vom Boden loslösen konnten – Sie bildeten eine untrennbare Einheit. Der Messi hatte zum Beispiel drei Kloschüsseln im Keller stehen und vier Rasenmäher – in einem Haus ohne Garten. Man kann ja nie wissen, wofür man die noch gebrauchen kann …
Doch am schlimmsten war die Familie über uns. Eine Familie mit einen schizophrenen erwachsenen Sohn, der leider keinen Bock hatte, seine Medikamente zu nehmen oder gar zur Therapie zu gehen sondern der ein ernstes Drogenproblem hatte. Ich will da nicht in die Details gehen aber es gab unschöne Szenen und phasenweise hatte ich richtig Angst. Besonders als ich ein halbes Jahr vor der Dame und meiner Tochter nach Frankfurt zog, um dort einen Job anzutreten.
The Return of the Hausdrachen
In Frankfurt wohnte ich höchst illegal zur Untermiete in einer Genossenschaftswohnung für einen Appel und ein Ei. Mein illegitimer Status machte es äußerst unangenehm, dass ich bald schon dem dortigen Hausdrachen, beziehungsweise dem Hausdrachen-Rentner-Paar bekannt war und anscheinend als Quelle allen Übels identifiziert wurde. Dabei befolgte ich brav alle Ge- und Verbote, damit ich nicht aufflog. Dennoch waren die Drachen ganz offensichtlich der Meinung, ich würde meine Tetrapacks nicht sorgfältig genug falten, da die gelben Tonnen immer überquollen. Jedenfalls teilten sie mir das eines Abends mit, als sie vor meiner Wohnungstür standen.
Es müssen dann wohl doch andere Nachbarn an der schändlich unsachgemäßen Müllbeseitigung beteilligt gewesen sein, jedenfalls versiegelten die Hausdrachen eines Tages kurzer Hand die gelben Tonnen mit Panzerklebeband und hingen im Treppenhaus Warnschilder auf, dass die Müllentsorgung nur noch Samstags zu bestimmten Uhrzeiten und unter ihren qualifizierten Blicken möglich sein werde. Dieser Mülldiktatur bereitete dann allerdings der Genossenschaftsvorstand schnell ein Ende. Woraufhin die Hausdrachen sich neuen Aufgabenfeldern zuwenden mussten…
Eines Abends saß ich auf dem Balkon und telefonierte mit der Dame im fernen Aachen. Als plötzlich eine nicht ganz so liebliche Stimme vom Nachbarbalkon herüberklang: „RAUCHEN SIE DA?!“
Ich so: „Guten Abend.“
Hausdrache so: „RAUCHEN SIE?“
Ich so: „Ja, in der Tat. Warum?“
Hausdrache so: „SCHMEISSEN SIE IMMER DIE KIPPEN IN DEN HOF?“
Ich so: „Gewiss nicht, werte Dame, ich bin im Besitz eines Aschenbechers.“
Hausdrache so: „WEIL DA LIEGEN IMMER KIPPEN IM HOF, DIE MUSS MEIN MANN DANN WEGFEGEN!“
Ich so: „Das bedauere ich, aber ich benutze – wie gesagt – einen Aschenbecher…“
Hausdrache so (die Balkontür schließend): „ABER NET IN DEN HOF WERFE!“
Schon ein wenig hämisch freute ich mich auf den Tag, an dem ich die Zwischenmiete beenden würde und die Hausdrachen feststellen mussten, dass wohl doch jemand anders der Quell des Übels sein musste…
Hampelmann im Hof
Meine Probezeit ging und mit ihr auch meine Zwischenmiete. Und nur 15 Wohnungsbesichtigungen später hatten wir eine habwegs bezahlbare Bleibe in Frankfurt gefunden. Zunächst schien alles ganz okay: Die Wohnung hatte eine hervorragende Lage mitten in Sachsenhausen, dafür war der Altbau in keinem sonderlich guten Zustand. Aber das hatte zum einen gewissen Charme und zum anderen den schönen Nebeneffekt, dass das von viel höheren Gebäuden umgebene kleine Haus perfekt vom Flug- und Straßenlärm abgeschirmt war, sodass es eine kleine Ruhepause mitten in der großen Stadt war.
Auch die Nachbarn waren allesamt sehr nett: Außer uns wohnten nur Polen in dem Haus, die auf tagsüber auf dem Bau arbeiteten und abends im Hof saßen uns davon träumten genug Geld verdient zu haben, um wieder in ihre alte Heimat zurückzukehren. Sie waren eine sehr nette Runde, aber natürlich gab es auch einen Haken: Der Vermieter wohnte im Nebenhaus.
Wenn ich euch einen Rat geben darf: Zieht nie in eine Wohnung, in der euer Vermieter euer Nachbar ist. Zumal in unserem Fall der Vermieter noch nicht einmal einen Job hatte, sondern von der Miete seiner drei Häuser leben konnte. Doch anstatt seine freie Zeit in die Pflege seiner Immobilien zu stecken, kam er lieber auf dumme Ideen: Eines Tages hingen mal wieder die allseits beliebten Verbotsschilder im Hof: Sämtliche Fahrräder sollten binnen 24 Stunden aus selbigen verschwinden, oder sie würden vom Schrotthändler abgeholt. Wir versuchten noch zwei Mal mit dem Vermieter zu reden, da wir unsererseits so manchen Mangel am Haus bisher ignoriert oder nur zaghaft angesprochen hatten: Man will ja nicht die gute Nachbarschaft verderben. Doch der Mann war es nicht gewohnt, dass man ihm widersprach und sah erst recht nicht ein, dass auf seinem Grundstück Recht und Gesetz gelten sollten. Also fingen wir an Briefe zu schreiben, Reparaturen einzufordern, Fristen zu setzen, die Miete zu kürzen. Vor einem Jahr zogen wir aus und vor wenigen Wochen, zwei Gerichtsprozesse später, haben wir erst den Rest unserer Kaution bekommen…
Die gute Seite der Nachbarschaft
Ihr fragt euch bestimmt schon, ob die Überschrift dieses Blogposts Satire war, aber jetzt kommt das Happy End. Versprochen!
Nun leben wir also seit knapp einem Jahr in diesem neuen Haus im (übrigens vollkommen zu Unrecht) verrufenen Frankfurter Gallus. Und alles ist anders. Seit ich hier wohne, musste ich noch nicht ein Paket von der Post holen, weil sich immer irgendein Nachbar fand, der es für uns annahm. Schon als wir einzogen, parkte ich mein Auto mal im Hof, um Kisten auszuladen, obwohl andere Nachbarn Miete für das Parken im Hof bezahlen müssen. Als dann ein solcher Nachbar mit seinem Auto kam, versicherte ich, dass ich gleich wieder weg bin, ich müsse nur noch schnell die eine Kiste hochtragen. Seine Antwort: „Machen Sie ruhig! Wenn man Kisten tragen muss, dann muss man Kisten tragen…“
Doch jetzt hatte meine Tochter (jetzt 7) Kindergeburtstag und ich war skeptisch, als die Dame Deko im Treppenhaus und an der Haustür anbrachte. Als gebranntes Kind rechnete ich wieder mit Verbotsschildern und Briefen vom Vermieter. Umso gerührter war ich, als wir dann am nächsten Morgen dies vor unserer Tür fanden: