Die Freiheit unserer Kinder

Beim letzten WRINT Realitätsabgleich rantete Holgi gegen die Eltern von heute, die ihren Kindern keine Bewegungsfreiheit mehr lassen. Das hatte ich schon fast wieder vergessen, da spülte mir Twitter als Nachtisch eine Grafik in die Timeline, in der man sieht, wie sich der Aktionsradius von Kindern innerhalb von vier Generationen verkleinert hat. Das ganze basiert auf EINER Stichprobe, ist also nicht gerade aussagekräftig, aber nehmen wir das einfach mal als Ausgangsbasis … Ist es wirklich so, dass wir unsere Kinder überbeschützen? War früher alles besser? Waren wir „in allem schon mal weiter“, wie Holgi sagte? Oder gibt es vielleicht Gründe, unsere Kindern nicht mehr herumstreunern zu lassen wie früher? Gründe, die vielleicht gar nicht so doof und so helikopterelterlich sind?

Kind auf Wiese. Bild von mir.
Kind auf Wiese. Bild von mir.

Am Anfang war die Anekdote

In meiner Erinnerung hatte ich enorm viel Bewegungsfreiheit in meiner Kindheit. Ich bin allein zur Schule gegangen, zu meinen Freunden, ins Kino, zum Spielen in den Wald, ins Freibad und ich bin mit dem Fahrrad in den Nachbarort gefahren. Ich bin ganze Wochenenden lang herumgetromert und nur zum Essen und Schlafen heimgekommen, ich habe Pfennige von Zügen auf Bahnschienen plätten lassen und einmal bin ich sogar einen Nachmittag nackt durch den Ort gelaufen, weil ich Robinson Crusoe spielte – fragt mich bitte nicht, warum Robinson Crusoe unbedingt nackt sein musste …

Aus dieser Aufzählung lässt sich aber vor allem eines erkennen: Wie wir unsere eigene Kindheit verklären. Denn ich habe  nicht den blassesten Schimmer, wie alt ich bei den jeweiligen Erinnerungen war, ob meine Eltern wirklich nicht wussten, wo ich war (denn ich habe auch Erinnerungen, in denen ich Ärger aus genau diesem Grund bekam) und vor allem war ich klein, weswegen mir die Welt viel größer vorkam. Ich habe mir mal den Spaß gemacht, meine erinnerten Strecken nachzumessen:

  • Zu meinem besten Freund = 600 Meter
  • Ins Kino = 800 Meter
  • Zur Schule  = 850 Meter
  • In den Wald = 1 Kilometer
  • Ins Freibad = 1,9 Kilometer

Bewegungsfreiheit vs. persönliche Freiheit

Das sind jetzt alles nicht gerade Marathonstrecken, besonders wenn ich sie mit denen meiner Tochter (7) vergleiche. Aber dazu später, denn zuvor noch etwas anderes: Wie man der Anekdote entnehmen kann, bin ich auf dem Land aufgewachsen, doch heute lebe ich in der Stadt. Und das ist kein Zufall. Ich bin nicht hier gelandet, weil es der Job diktierte oder ähnliches, sondern weil ich das Landleben gehasst habe! Der Bewegungsfreiheit stand dort nämlich eine persönliche Unfreiheit gegenüber, erzeugt durch gedachte Schubladen, in die du gesteckt wurdest, erzeugt von Nachbarn, die sich Mäuler zerreißen und von der Hordenmoral, wo jeder jede kennt und alles verurteilt, das anders ist!
Das wollte ich für meine Kinder nie und daher bin ich in die Stadt gezogen, wo sie vor den Schubladen in Nischen flüchten können, wo alles bunter ist, wo ich israelische, türkische, arabische, persische, spanische, ukrainische und italienische Freunde und Bekannte habe. Wo du den Menschen aus dem Weg gehen kannst, die dich verurteilen, wenn du als Frau eine Frau oder als Mann einen Mann liebst genau wie jenen, die sich schon an der falschen Frisur oder den falschen Klamotten stören. Ist dafür weniger Bewegungsfreiheit nicht ein geringer Preis?

Die Wege meiner Tochter

Aber nicht zu schnell. Machen wir zunächst die Gegenprobe: Meine Tochter (7) geht alleine zur Schule (850 Meter), von der Schule zum Hort (1,2 Kilometer), vom Hort nach Hause (650 Meter). Das ist doch gar kein so großer Unterschied … Es wirkt nur kleiner, weil ich jetzt größer bin und weil Frankfurt größer ist. Ich will auch nicht verschweigen, dass sie nicht überall alleine hin darf: Wir bringen sie zum Gesangsunterricht (obwohl der nur 300 Meter entfernt ist) weil der abends stattfindet und wir nicht wollen, dass sie im Winter alleine durchs Dunkel läuft. Morgens ist es zwar auch dunkel, aber da sind hunderte Kinder unterwegs. Abends nicht. Und wir bringen sie zum Capoeira, weil das eine typische Frankfurter Strecke von 4,7 Kilometern ist.

Die Freiheit der Kinder

Jetzt könntet ihr natürlich sagen: „Ja du, du machst das so, aber andere nicht!“ Und wisst ihr was? Ihr habt recht. Wenn ich meine Tochter (7) mal zur Schule bringe, dann sehe ich da auch immer Autokolonnen vorfahren, aber woher soll ich denn wissen, welchen Schulweg deren Kinder haben? Denn dass meine Tochter sich so frei bewegen kann, liegt an unserer recht ungewöhnlichen Wohnsituation. Wir wohnen in einer ziemlich ruhigen Ecke im Frankfurter Gallus.

Kleine Abschweifung: Das Gallus

Das Gallus hat zwar einen sehr schlechten Ruf in Frankfurt, aber der ist ziemlich ungerechtfertigt. Erstens kommt der daher, dass das Viertel ans Bahnhofsviertel grenzt, das in Frankfurt das Rotlichtviertel ist. Und daher treiben sich in Bahnhofsnähe auch eine ganze Reihe Junkies rum. Zweitens ist die S-Bahnstation „Galluswarte“ ein verlauster Straßenköter, der an seiner eigenen Kotze zu ersticken droht. Dort ist es unsäglich laut, schmutzig und bevölkert mit Alkoholikern. Drittens war das Gallus wohl in den 90ern mal ein sozialer Brennpunkt, aber seit damals hat die Stadt sehr viel Kohle ins Viertel gepumpt und ein problematischer Güterbahnhof ist verschwunden. Aber vor allem viertens: Das Gallus ist groß. Es hat über 30.000 Einwohner und damit mehr als doppelt so viel wie die Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin. Und in diesem großen Bezirk wohnen wir eben in einer familiengerecht ruhigen Ecke.

Aber ich schweife ab. Worauf ich eigentlich hinaus wollte, war, dass wir zuvor in Sachsenhausen direkt am Südbahnhof gewohnt haben. Und ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich da meiner Tochter die gleiche Freiheit gelassen hätte: Dort fuhren Busse, Trams, S-, U-Bahnen und Züge ab und an. Dort hetzten morgens die gestressten Pendler zum Bahnhof oder weg von ihm. Da blockierten Autos immer wieder den Bürgersteig, sodass man auf die vierspurige Straße ausweichen musste. Da war es mit anderen Worten verdammt quirlig. Und da soll ich eine Siebenjährige rumlaufen lassen, die die meiste Zeit des Tages ihren Träumen und Gedankenwelten nachhängt? Ich weiß nicht …

Das Wohl der Kinder

Jetzt komme ich nämlich zum letzten Akt. Ich glaube, ich hätte das nicht getan, denn ich will das beste für meine Kinder und ich glaube, damit bin ich nicht allein. So geht es vielen, wenn nicht gar den meisten Eltern. Ich denke, das beste für seine Kinder zu wollen, ist normal. Und ich glaube, das war es auch früher schon, aber die Lebensumstände waren andere.

Ich glaube nicht, dass unsere Welt gefährlicher geworden ist, hier habe ich zumindest einen Artikel gefunden, der das Gegenteil sagt. Sicher haben wir heute mehr Verkehr als fürher, und vielleicht wird auch jeder Kindesentführung oder „Familientragödie“ mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Aber ich glaube nicht, dass das der wesentliche Unterschied ist. Ich glaube am meisten hat sich die Zahl der Kinder verändert.

Denn, haben unsere Eltern und Großeltern ihren Kindern mehr Freiheiten gelassen, weil sie im tiefsten Inneren davon überzeugt waren, dass das wichtig und richtig ist? Oder war es nicht vielleicht so, dass eine Mutter von 3,4 oder 5 Kindern, deren Mann den ganzen Tag malochen geht, es einfach nicht leisten konnte, ein Kind zum Sportunterricht zu fahren? Weil dann vier andere Kinder kein Essen, keine saubere Wäsche, keine Hausaufgabenkontrolle bekommen hätten? War es nicht vielleicht das beste für die Kinder, zuhause zu bleiben?

Und heute muss die gleiche zur Verfügung stehende Zeit eben oft nur auf ein oder zwei Kinder verteilt werden. Zugleich gibt es auch mehr Väter – so wie ich –, die sich an der Kindererziehung beteiligen. Vorausgesetzt, dass Eltern schon immer das beste für ihre Kinder wollten, war vielleicht früher einfach das beste zuhause zu bleiben, sich um die Kinder zu kümmern, von denen ich weiß, dass sie jetzt meine Hilfe brauchen und jene Kinder streunern zu lassen, denen ich zutrauen kann, dass sie wieder nach Hause finden. Heute hingegen bringe ich meinen Kindern nicht mehr Aufmerksam entgegen, ich muss diese Aufmerksamkeit nur weniger verteilen. Ist es da nicht vernünftig, mein Kind zu fahren, zu begleiten und zu beschützen, wenn ich davon ausgehe, dass ich das beste für ebendieses Kind will? Klar kann ich das übertreiben und zum Helikopter werden. Aber wir sollten auch nicht ins andere Extrem verfallen und „die Eltern von heute“ verurteilen, die so viel Angst haben, nur weil früher bekanntlich alles besser war …

Es gibt die selbstlose gute Tat!

Es gibt einen Mythos in unserer Gesellschaft, den uns, soweit ich das sehe, Immanuel Kant eingebrockt hat.

Ein Mythos sickert ins abschließende Vokabular

Vor 229 Jahren, im Jahr 1785 erschien Immanuel Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Und mit dem Einsickern der Grundlegung ins abschließende Vokabular kam ein Irrtum in die Welt, der seit dem Millionenfach wiederholt wurde und dadurch doch nicht richtiger wird: Die Vorstellung, dass es keine selbstlose gute Tat gäbe.

Die Argumentation geht folgendermaßen: Du tust etwas gutes, das zwar vordergründig selbstlos ist, aus dem du also keinen Nutzen ziehst. Du wirfst etwa einem Obdachlosen etwas Geld in den Hut. Doch durch eben diese Handlung fühlst du dich gut, weshalb du letztlich doch davon profitierst – die Tat ist also nicht selbstlos. Auf die Spitze wird die Argumentation dann oft noch dadurch getrieben, dass hinzugefügt wird, dass du die gute Tat nur deshalb getan hast, weil du dich gut fühlen wolltest. Das bedeutet, dass wir alle letztendlich immer egoistisch handeln. Denn selbst, wenn wir dies anscheinend nicht tun, machen wir es immer in Wahrheit nur, weil wir uns gut fühlen wollen. Es gibt also keinen Altruismus.

Der von Gram umwölkte Menschenfreund

Bevor ich dieses Argument widerlege, möchte ich mal wieder ein bisschen philosophische Grundlagenarbeit leisten und zeigen, in welchem Kontext Kant – dem ich ja alles in die Schuhe geschoben habe – die selbstlose gute Tat ins Spiel bringt.

Zu Beginn der Grundlegung legt Kant dar, dass „der gute Wille“ der höchste Wert der Ethik ist. Ob dies so ist, ist eine andere Geschichte, der ich mich ein anderes Mal widmen werde. Es geht mir heute um einen anderen Punkt, nämlich den nämlichen: Nach dem Abschnitt mit dem guten Willen führt Kant den Begriff der Pflicht ein, denn Kant will auf eine „Pflichtenethik“ hinaus (GMS 397). Der Begriff der Pflicht enthalte den Begriff des guten Willens, so Kant. Fortan interessiert sich Kant besonders für Handlungen, die aus Pflicht vollzogen werden, zu denen aber zugleich die Handelnde eine unmittelbare Neigung habe.

Kants erstes Beispiel ist ein Händler, der faire Preise hat. Kant diagnostiziert, dass dieser Händler weder aus Pflichtbewusstsein, noch aus unmittelbarer Neigung faire Preise hat, sondern aus schnödem Eigeninteresse, um auf dem Markt zu bestehen. Na? Merkta was?

Kants nächstes Beispiel ist der Erhalt des eigenen Lebens. Dem Christentum folgend behauptet Kant ohne weitere Begründung, dass dies eine Pflicht sei und zugleich hat jeder eine Neigung dazu. In diesem Fall verhält man sich zwar „pflichtmäßig“, also der Pflicht entsprechend, aber nicht aus Pflicht.

„Dagegen, wenn Widerwärtigkeiten und hoffnungsloser Gram den Geschmack am Leben gänzlich weggenommen haben, wenn der Unglückliche, stark an Seele, über sein Schicksal mehr entrüstet als kleinmütig oder niedergeschlagen, den Tod wünscht und sein Leben doch erhält, ohne es zu lieben, nicht aus Neigung oder Furcht, sondern aus Pflicht: alsdann hat seine Maxime einen moralischen Gehalt.“

Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 398.

Der Suizid ist auch ein spannendes Thema und einem eigenen Blogpost würdig, aber auch auf diesen, und ob er moralisch verwerflich ist, will ich nicht hinaus. Sondern klarmachen, wie Kant den Begriff „aus Pflicht“ verwendet. Moralisch ist eine Handlung nach Kant nämlich nur, wenn man sie aus Pflicht vollzieht und das bedeutet für ihn immer, dass man sie gegen seine eigenen Neigungen vollführt. Kant fährt entsprechend auch fort, indem er nun endgültig die weitverbreitete Argumentation aufgreift: Es gibt viele Menschen, denen es Freude bereitet, Gutes zu tun. Aber wenngleich deren Handlungen dann pflichtgemäß sind, so geschehen sie dennoch nicht aus Pflicht und haben somit „keinen wahren sittlichen Wert“ (398).

„Gesetzt also, das Gemüt jenes Menschenfreundes wäre von eigenem Gram umwölkt, der alle Teilnehmungen an anderer Schicksal auslöscht, er hätte immer noch Vermögen, den Notleidenden wohlzutun, aber fremde Not rührte ihn nicht, weil er mit seiner eigenen genug beschäftigt ist, und dann, da keine Neigung ihn mehr dazu anreizt, risse er sich doch aus dieser tödlichen Unempfindlichkeit heraus und täte die Handlung ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht, alsdenn hat sie allererst ihren echten moralischen Wert.“

Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 398.

Wie wir sehen, vertritt Kant die These „Es gibt keine selbstlose gute Tat“ – in Kants Terminologie: Tat aus Pflicht – nur in abgeschwächter Form und räumt ein, dass man im Falle einer ernsten Depression doch mal gut, da aus Pflicht, handeln kann. Da dieser Fall so konstruiert ist, hat der Volksmund wohl ganz zu Recht daraus gemacht, dass es keine selbstlose gute Tat gibt.

Gesinnungsethik und Handlungsethik

Nein! Stopp! Es ist eben nicht zu Recht, sondern vollkommen falsch! Kant hat viele kluge Dinge geschrieben, aber dies hier gehört nicht dazu. Und das Schlimme ist, dass dieses Argument Kants so wirkungsmächtig war, weil sich damit ganz hervorragend der eigene Egoismus rechtfertigen lässt: „Warum soll ich dem Penner einen Euro geben? Wenn ich es tue, dann doch nur, weil ich mich gut fühlen will, dann kann ich es doch gleich lassen und mich um meinen eigenen Scheiß kümmern.“

Das Problem ist, dass Kant eine „Gesinnungsethik“ etabliert. Das wird schon an Kants höchstem Wert, dem guten Willen deutlich. Nicht eine moralisch gute Handlung kommt für Kant als höchster Wert in Frage sondern eine innere Einstellung. Und ich möchte hier behaupten, dass das falsch ist. Auch wenn es streng genommen kein Falsch (zumindest in diesem Sinn) in der Ethik gibt. Ich bin der Überzeugung, dass allein Handlungen einen moralischen Wert haben, will also im Gegensatz zur Gesinnungsethik eine Handlungsethik verteidigen. Und ich gehe noch weiter, indem ich sage, dass wir gewöhnlich alle nur Handlungen und nicht Gesinnungen moralischen Urteilen unterwerfen. Und diese Argumentation, wonach es keine selsbtlose gute Tat gibt, somit vom normalen Sprachgebrauch von „selbstlos“ abweicht. Das werde ich im Folgenden doppelt beweisen.

Gott als Game-Changer

Mein erster Beweis werde ich anhand eines unserer ältesten ethischen Dokumente vollziehen: den zehn Geboten. Das ist tricky, denn die zehn Gebote sind genau wie Kants Ethik eigentlich eine Gesinnungsethik, das wird gleich am ersten Gebot klar:

1. Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.

Die Zehn Gebote nach Martin Luthers Kleinem Katechismus

Genauso verhält es sich mit den Geboten 9 und 10:

9. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.

10. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat.

Die Zehn Gebote nach Martin Luthers Kleinem Katechismus

BTW: Auch interessant, dass das Haus ein eigenes Gebot hat, aber das Weib mit dem restlichen Kladderadatsch zusammengeschmissen wird. Ferner wird die männliche Zielgruppe der 10 Gebote klar…

Ich kann ja ausschließlich in Gedanken einen anderen Gott haben und ich kann nur in Gedanken begehren. Das würde Gott nicht gefallen. Also haben Kant und die Bibel doch Recht mit ihrer Gesinnungsethik? Ich glaube nicht und der entscheidende Punkt hier ist, dass Gott als Game-Changer ins Spiel gebracht wird. Denn der Allmächtige kann unsere Gedanken lesen und somit werden aus diesen inneren Zuständen Handlungen. Im Katholizismus wird das zum Beispiel im Akt der Beichte symbolisiert. Erst durch das Geständnis dem Pfarrer gegenüber wird aus dem Gedanken eine Handlung, die moralisch verwerflich wird.

Dass Ethik immer Handlungsethik ist, wird dann aber bei den anderen sieben Geboten klar:

2. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mißbrauchen.
3. Du sollst den Feiertag heiligen.
4. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.
5. Du sollst nicht töten.
6. Du sollst nicht ehebrechen.
7. Du sollst nicht stehlen.
8. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.

Die Zehn Gebote nach Martin Luthers Kleinem Katechismus

Das sind alles Handlungsanweisungen. Selbst wenn „heiligen“ oder „ehren“ sicher interpretationsbedürftige Begriffe sind, so zeigt sich ein ehren oder heiligen meines Erachtens erst in einer Handlung. Glaubt ihr nicht? Dann machen wir doch einmal die Gegenprobe: Kannst du deine Mutter in Gedanken ehren, wenn du sie wie Scheiße behandelst? Kannst du geistig den Feiertag heiligen, wenn du zugleich deine Angestellten zur Sonntagsarbeit verpflichtest? Ich denke nicht…

Hordenmoral

Aber lassen wir diese tausende Jahre alte Beispiel hinter uns und widmen wir uns meinem zweiten Beweis. Dafür möchte ich einen Blick in den heutigen Panoramateil von Spiegel Online werfen, denn Boulevardmedien haben immer die Aufgabe (in ihrem Selbstverständnis), den Lesern zu sagen, wie sie sich fühlen sollen. Sie schreiben nieder, was sittlich ist. „Hordenmoral“ in Hayeks Worten. Ich lasse mal die ganzen Promi-News außer acht und beschränke mich auf einige Artikel mit moralischem Gehalt:

„Nach Schüssen vor einem Luxushotel in Caracas ist ein Deutscher gestorben.“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Bedeutet: Mord ist doof.

„In Kürze soll die Rettung des verletzten Forschers aus der Riesending-Schachthöhle abgeschlossen sein.“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Bedeutet: Retter sind Helden.

„Weil ein dreister Nager ihrem Beet zusetzte, griff Schriftstellerin Jeanette Winterson zu einem drastischen Mittel. Sie zog dem Karnickel das Fell über die Ohren – zum Zorn ihrer Internetfans.“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Das ist spannend, denn hier wird ein Wert ausgehandelt: Darfst du ein Kaninchen töten, das dir Schaden zugefügt hat?

„Nach dem qualvollen Sterben eines Todeskandidaten hatten manche US-Staaten Hinrichtungen gestoppt. Nun sind binnen 24 Stunden gleich drei Menschen exekutiert worden.“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Bedeutet: Die Todesstrafe gehört abgeschafft.

„Johann Breyer lebt in Philadelphia, der 89-Jährige soll im KZ Auschwitz Beihilfe zum hunderttausendfachen Mord geleistet haben. Jetzt ist er verhaftet worden, die USA müssen über eine Auslieferung entscheiden.“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Bedeutet: Fuck you Nazi!

„Ein Rentner erschießt einen jungen Räuber auf der Flucht – Totschlag oder Notwehr?“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Auch hier wird wieder ein Wert ausgehandelt, eben: Totschlag oder Notwehr?

„Freida Pinto hat in einem Interview sexuelle Gewalt gegen Frauen in ihrem Heimatland Indien beklagt. Belästigungen seien dort Alltag, sagte die Schauspielerin.“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Bedeutet: Sexuelle Gewalt ist verwerflich.

Ich bin mir bewusst, dass neben meinen Allzu-Kurzanalysen noch mehr in diesen Artikeln steckt. Zum Beispiel: Warum wird das Alter des mutmaßlichen Naziverbrechers genannt? Soll hier eine Verjährung des Holocausts angedacht werden? Und warum wird sexuelle Gewalt mal wieder am Beispiel Indien durchdekliniert? Weil es so schön weit weg ist?

Es gibt die selbstlose gute Tat

Aber der entscheidende Punkt ist: Hier werden ausschließlich Handlungen gemeldet. Da steht nirgends: Weil die Höhlenretter sich gut fühlten, handelten sie nicht selbstlos. Genausowenig wird gefragt, wie sich die Todesschützen in Caracas fühlten oder was sie dachten. Oder ob die Ermordung des Kaninchens nun pflichtgemäß oder aus Pflicht geschah.

Und das ist der springende Punkt: Es ist scheißegal, wie du dich nach einer guten Handlung fühlst. Ob du Spaß beim Helfen hast oder es widerwillig machst, ist schnurzpiepsegal. Wir sollten Handlungen immer auf ihre weltlichen Konsequenzen hin beurteilen nicht auf ihre Auswirkung auf eigene innere Zustände. Daher gibt es selbstverständlich auch die selbstlose gute Tat.

Eine selbstlose gute Tat ist eine Tat, die für mich persönlich in der Welt keine Vorteile einbringt. Wenn ich ein fremdes weinendes Kind tröste, dann mag das aus einem Vaterinstinkt heraus geschehen, aber im Endeffekt habe ich keinen Nutzen davon, daher ist es eine selbstlose gute Tat. Wenn ich einer alten Frau ihre Einkäufe die Treppen rauftrage, dann mag das vielleicht nur pflichtgemäß im Sinne Kants sein, es ist dennoch eine verfickte gute Tat und da ich keinen Vorteil dadurch habe, ist sie selbstlos. Und jeder, der etwas anderes erzählt, will nur seinen eigenen Egoismus rechtfertigen.

Literatur

Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Umsonst im Volltext bei Zeno oder auf Papier bei Amazon*).

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