Ausgehen am Heiligen Abend

Fünf Weihnachtsfeste – Nummer 2 von 5 – Weihnachten in den 1990ern

Weihnachten war und ist bei uns eine so streng familiäre Angelegenheit, als handele es sich bei uns um den Cast von Star-Wars-Filmen. Schon als Kind hatte ich Höllenqualen durchzustehen, weil meine Eltern nicht wollten, dass ich bereits am ersten Weihnachtsfeiertag meine neuen Schätzen meinen Freunden vorführte. Frühestens am zweiten Feiertag konnte ich einen zaghaften Versuch wagen, die familiäre Trutzburg zu durchbrechen und hinaus die Freiheit der mittelhessischen Kleinstadt und dann weiter zu meinen Freunden zu gelangen.

Schlimmer wurde das noch, als ich in die Pubertät kam und begann, abends wegzugehen. Meine Kumpels erzählten, wenn ich sie dann zwischen den Jahren endlich wiedersah, wie cool der Heiligabend gewesen war und ich hatte nur die familiäre Langeweile und bestensfalls noch eine Sichtung von Stirb Langsam im Spätprogramm zu bieten. In meinem mittelhessischen Kaff gab es die Tradition, dass sich nach der Bescherung und dem Essen die Dorfjugend in einer bestimmten Kneipe traf, um dort die heilige Nacht mit reichlich Alkohol ausklingen zu lassen. In diesem Kaff gab es auch nur 1,35 Kneipen, in die man unironisch gehen konnte und nicht auch noch Gefahr lief, einem Bekannten der eigenen Eltern oder gar Lehrer der städtischen Gesamtschule zu begegnen. Mir aber blieb Jahrelang diese eine Freude des heiligen Abends vorenthalten.

Es war ja auch längst nicht mehr so, dass Weihnachtsfeste bei uns noch immer die großen Familienereignisse waren. Mein sechs Jahre älterer Bruder war längst ausgezogen und hatte mittlerweile seine eigene Familie. Er kam nur noch am zweiten Weihnachtsfeiertag vorbei, sodass nur meine Schwester und ich mit Eltern und der Großma („das lohnt sich doch alles gar nicht mehr“) unterm Baum hockten, sofern meine Schwester nicht gerade bei einem ihrer Auslandsaufenthalte war.

Schließlich kam aber ein Weihnachtsfest, an dem ich aus meinem Leid fliehen konnte wie Kurt Russell aus New York, indem ich aus dem Leid eines meiner Freunde meinen Nutzen zog. Die Eltern jenes Freundes hatten sich gerade scheiden lassen. Einige Monate zuvor hatten wir uns beide noch darüber ausgetauscht, dass sowohl seine, als auch meine Eltern nun getrennte Schlafzimmer haben. „Ja, meine Mutter ist genervt davon, dass mein Vater immer schon vor fünf Uhr wach wird“, sagte ich. „Das soll angeblich auch deren Beziehung helfen“, sagte er. Meinen Eltern hat es anscheinend geholfen, zumindest sind sie noch heute ein Paar, seinen nicht …

Aus irgendeinem Grund, an den ich mich nicht mehr erinnern kann, war dieser Freund dann am Heiligabend komplett allein zu Hause. Das war meine Chance! Das alljährliche, christliche Besäufnis fand mal nicht in der Kneipe statt, sondern in einem 70er-Jahre-Einfamilienhaus in einer Straße mit Blumennamen. Das war meine Gelegenheit: Endlich konnte ich auch mal am heiligen Absacker teilhaben. Alles, was ich dazu tun musste, war, die Wahrheit ein kleines Bisschen zu strecken. So erzählte ich meiner Mutter, wie schlecht es meinem Freund ging – was sicher auch stimmte, wenngleich wir testosteronsprotzenden Teenager nicht im Traum daran dachten, uns das anmerken zu lassen. Doch als echte Freunde, erläuterte ich meiner Mutter, hatten wir beschlossen, dass wir ihn an diesem Abend nicht allein lassen dürfen. Daher wollten wir in kleiner Runde noch bei ihm zusammenkommen, um ihm in dieser schweren Zeit beizustehen. Dem konnte meine Mutter natürlich nichts entgegensetzen sodass ich nach Bescherung und Essen mich schließlich vom Acker machen durfte.

Wenn ich das so recht bedenke, dann war das eigentlich gar keine Lüge. Gut, die Runde war etwas größer als klein und ich verschwieg meiner Mutter auch, dass Alkohol und THC mindestens genauso für uns da waren wie unsere Freundschaft, aber im Grunde war es eine sehr christlich-weihnachtliche Angelegenheit. Ein Freund machte eine schwere Zeit durch und wir waren auf unsere Art und Weise für ihn da. So, wie das wahrscheinlich nur Teenager können.

Falls Ihr im Kontrast dazu die Geschichte eines Weihnachtsfests aus meiner Kindheit nachlesen wollt, dann werdet ihr hier fündig.

Eine Lego-Ritterburg zu Weihnachten

Fünf Weihnachtsfeste – Nummer 1 von 5 – Weihnachten in den 1980ern

Jetzt wird es hier besinnlich! Ich beglücke euch in der Weihnachtswoche mit fünf Geschichten zu Weihnachten aus dreieinhalb Jahrzehnten. Ein ambitionierter Plan und wie so oft werde ich ihn wahrscheinlich nicht einhalten. Aber ich kann es ja mal versuchen. Es soll um Geschenke, Kindheit, Freunde, Teenager, Krankheiten, Familie und Streit gehen. Beginnen werde ich mit einem Weihnachtsfest in den 1980ern und einer Lego-Ritterburg.

Da war sie: Hochglanzdruck auf viel zu dünnem Papier – die Lego-Ritterburg! Wie jedes Jahr kurz vor dem Fest blätterten meine Geschwister und ich im Vedes-Spielzeug-Katalog und träumten davon, was wohl am heiligen Abend unterm Tannenbaum liegen würde. Mein großer Traum in diesem Jahr war die Lego-Ritterburg. Ich weiß nicht mehr genau, ob Lego das Ritterthema erst in jenem Jahr ins Programm nahm oder ob in meiner Grundschulfilterblase die Burg zum neuesten heißen Scheiß ausgerufen worden war. Ich weiß ja nicht einmal mehr genau, welches Jahr es war.

Es gab in der Ritter-Reihe neben kleineren Gebäuden, wie der Schmiede oder den Gasthof, eine kleine und eine große Ritterburg. Und ich wünschte mir nichts sehnlicher als die Große. Doch es war klar, dass ich die nie bekommen würde, daher flehte ich meine Mutter an, dass ich doch bitte, bitte, bitte –mit Streuseln obendrauf – die kleine Burg bekomme. Wir waren nicht arm, sondern eine gut-mittelständige Familie, mit gemietetem Haus, zwei Autos, zwei Katzen drei Kindern und einer Oma, die wir Großma nannten, im Souterrain. Aber wir waren auch nicht reich und im Gegensatz zur Dorfprominenz aus meiner Schule bekam ich nicht alles, was ich mir wünschte. Ich schnitt die kleine Burg aus dem Katalog aus und dazu noch ein paar der anderen kleineren Gebäude. Falls ich die Burg nicht bekommen würde, dann zumindest ein Gebäude mit Zinnen, das in meiner Fantasie zu einer Burg werden konnte.

Weihnachten war in meiner Kindheit immer wundervoll. Meine Mutter schmückte das ganze Haus, wir buken Plätzchen und im Kassettenrecorder liefen Rolf und seine Freunde auf „heavy Rotation“. Irgendwann fuhren dann meine Eltern samstags mal ohne uns Kinder weg in die mittelgroße mittelhessische Metropole, um „sich mit dem Christkind zu treffen“ und wir Kinder wussten: Es wird ernst. Weihnachten ist nicht mehr fern.

Meine Geschwister und ich teilten uns einen Lindt-Advenzkalender, wobei meine Geschwister mir immer den „Vortritt“ ließen, sodass ich zwar immer das erste Törchen öffnen durfte, aber nie die großen am 6. und 24. Die ganze Familie fuhr kurz vor Weihnachten mit dem Bully in den Wald und wir klauten ganz unchristlich eine Tanne. In meiner Erinnerung war natürlich immer alles weiß verschneit. Die Bäume waren hingegen nicht immer die tollsten. Einmal war einer so ungleichmäßig mit Zweigen bestückt, dass mein Vater ein Loch in den Stamm bohrte, dort noch einen zusätzlichen Tannenzweig reinsteckte und festleimte.

Am heiligen Abend war dann immer schon morgens das Wohnzimmer abgeschlossen und sogar die Rolläden wurden herabgelassen. Das geschah nur an diesem Tag, da das Fenster des Wohnzimmers riesig war und der Rolladen entsprechend schwer. Doch diese Mühe gingen meine Eltern lieber ein, als zu riskieren, dass ein Kind sich auf die Terrasse schleicht, um einen so vorzeitigen wie vorwitzigen Blick zu riskieren.

Wir Kinder mussten unsere Zimmer aufräumen, Geschenke für unsere Eltern einpacken. Auch unserer Großma schenkten wir immer was, obwohl sie jedes Mal meinte, das sollten wir lieber lassen, „das lohnt sich doch gar nicht mehr“. Es sollte sich noch mindestens 15 Jahre lohnen und in der Zwischenzeit mussten wir Kinder baden und uns schick machen. Zwischendurch wurde fleißig „Warten aufs Christkind“ geguckt, bevor alle außer meiner Mutter, die noch „was vorbereiten musste“ in die Kirche gingen. Der Pfarrer in meinem mittelhessischen Kaff nahm seine Aufgabe stets sehr ernst und sprach so monoton, dass auch garantiert jedes Kind nur von der Bescherung träumte. Obwohl wir alle nicht getauft waren, sang meine Schwester immer im Kirchenchor, in einem Jahr sogar mit einem gebrochenen Fuß.

Nach der Kirche war es dann endlich soweit: Wir gingen alle noch einmal in unsere Zimmer um unsere Geschenke für Eltern und Großma zu holen und versammelten uns anschließend wieder vor der Wohnzimmertür. Das dauerte alles immer quälend lange. Aber irgendwann klingelte dann endlich ein Glöckchen und für uns Kinder stand fest: Das Christkind war da gewesen!

Die Türen öffneten sich und überall im Wohnzimmer brannten Kerzen – natürlich auch am Baum. Lichterketten kamen erst im Laufe meiner Kindheit dazu und dann auch immer nur als Ergänzung, nie als Ersatz der Kerzen. Und unter dem Baum lagen Geschenkehaufen, mysteriös mit Tüchern abgedeckt. Denn zuerst mussten wir Kinder noch etwas vortragen: Singen, ein Gedicht aufsagen oder Flöte spielen. Doch schließlich war es so weit: Meine Mutter zog die Tücher weg und wir durften uns über unsere Geschenke hermachen. Ich schnappte mir ein mittelgroßes, das gewiss kein Buch oder Kleidungsstück war und riss schnell das Papier auf. Meine großen Augen erblickten die Lego-Schmiede und ich war verzückt. Ich weiß noch, dass ich mich überschwenglich bei meinen Elten bedankte – offensichtlich hatte ich schon durchschaut, vom wem die Geschenke kamen – und sagte, dass ich die Burg gar nicht mehr brauche. Hinten auf den Anleitungen waren immer Vorschläge, was man sonst noch aus dem gelieferten Legostein-Satz bauen konnte, damit ließ sich bestimmt etwas anfangen, das burgähnlich war. Aber der Abend war noch nicht zu Ende und als ich mir ein weiteres Paket schnappte und aufriss, war sie tatsächlich da: Die Lego-Ritterburg! Natürlich nicht die große, damit hatte ich nicht gerechnet, aber „trotzdem“ der ganz große Traum.

Die Freiheit unserer Kinder

Beim letzten WRINT Realitätsabgleich rantete Holgi gegen die Eltern von heute, die ihren Kindern keine Bewegungsfreiheit mehr lassen. Das hatte ich schon fast wieder vergessen, da spülte mir Twitter als Nachtisch eine Grafik in die Timeline, in der man sieht, wie sich der Aktionsradius von Kindern innerhalb von vier Generationen verkleinert hat. Das ganze basiert auf EINER Stichprobe, ist also nicht gerade aussagekräftig, aber nehmen wir das einfach mal als Ausgangsbasis … Ist es wirklich so, dass wir unsere Kinder überbeschützen? War früher alles besser? Waren wir „in allem schon mal weiter“, wie Holgi sagte? Oder gibt es vielleicht Gründe, unsere Kindern nicht mehr herumstreunern zu lassen wie früher? Gründe, die vielleicht gar nicht so doof und so helikopterelterlich sind?

Kind auf Wiese. Bild von mir.
Kind auf Wiese. Bild von mir.

Am Anfang war die Anekdote

In meiner Erinnerung hatte ich enorm viel Bewegungsfreiheit in meiner Kindheit. Ich bin allein zur Schule gegangen, zu meinen Freunden, ins Kino, zum Spielen in den Wald, ins Freibad und ich bin mit dem Fahrrad in den Nachbarort gefahren. Ich bin ganze Wochenenden lang herumgetromert und nur zum Essen und Schlafen heimgekommen, ich habe Pfennige von Zügen auf Bahnschienen plätten lassen und einmal bin ich sogar einen Nachmittag nackt durch den Ort gelaufen, weil ich Robinson Crusoe spielte – fragt mich bitte nicht, warum Robinson Crusoe unbedingt nackt sein musste …

Aus dieser Aufzählung lässt sich aber vor allem eines erkennen: Wie wir unsere eigene Kindheit verklären. Denn ich habe  nicht den blassesten Schimmer, wie alt ich bei den jeweiligen Erinnerungen war, ob meine Eltern wirklich nicht wussten, wo ich war (denn ich habe auch Erinnerungen, in denen ich Ärger aus genau diesem Grund bekam) und vor allem war ich klein, weswegen mir die Welt viel größer vorkam. Ich habe mir mal den Spaß gemacht, meine erinnerten Strecken nachzumessen:

  • Zu meinem besten Freund = 600 Meter
  • Ins Kino = 800 Meter
  • Zur Schule  = 850 Meter
  • In den Wald = 1 Kilometer
  • Ins Freibad = 1,9 Kilometer

Bewegungsfreiheit vs. persönliche Freiheit

Das sind jetzt alles nicht gerade Marathonstrecken, besonders wenn ich sie mit denen meiner Tochter (7) vergleiche. Aber dazu später, denn zuvor noch etwas anderes: Wie man der Anekdote entnehmen kann, bin ich auf dem Land aufgewachsen, doch heute lebe ich in der Stadt. Und das ist kein Zufall. Ich bin nicht hier gelandet, weil es der Job diktierte oder ähnliches, sondern weil ich das Landleben gehasst habe! Der Bewegungsfreiheit stand dort nämlich eine persönliche Unfreiheit gegenüber, erzeugt durch gedachte Schubladen, in die du gesteckt wurdest, erzeugt von Nachbarn, die sich Mäuler zerreißen und von der Hordenmoral, wo jeder jede kennt und alles verurteilt, das anders ist!
Das wollte ich für meine Kinder nie und daher bin ich in die Stadt gezogen, wo sie vor den Schubladen in Nischen flüchten können, wo alles bunter ist, wo ich israelische, türkische, arabische, persische, spanische, ukrainische und italienische Freunde und Bekannte habe. Wo du den Menschen aus dem Weg gehen kannst, die dich verurteilen, wenn du als Frau eine Frau oder als Mann einen Mann liebst genau wie jenen, die sich schon an der falschen Frisur oder den falschen Klamotten stören. Ist dafür weniger Bewegungsfreiheit nicht ein geringer Preis?

Die Wege meiner Tochter

Aber nicht zu schnell. Machen wir zunächst die Gegenprobe: Meine Tochter (7) geht alleine zur Schule (850 Meter), von der Schule zum Hort (1,2 Kilometer), vom Hort nach Hause (650 Meter). Das ist doch gar kein so großer Unterschied … Es wirkt nur kleiner, weil ich jetzt größer bin und weil Frankfurt größer ist. Ich will auch nicht verschweigen, dass sie nicht überall alleine hin darf: Wir bringen sie zum Gesangsunterricht (obwohl der nur 300 Meter entfernt ist) weil der abends stattfindet und wir nicht wollen, dass sie im Winter alleine durchs Dunkel läuft. Morgens ist es zwar auch dunkel, aber da sind hunderte Kinder unterwegs. Abends nicht. Und wir bringen sie zum Capoeira, weil das eine typische Frankfurter Strecke von 4,7 Kilometern ist.

Die Freiheit der Kinder

Jetzt könntet ihr natürlich sagen: „Ja du, du machst das so, aber andere nicht!“ Und wisst ihr was? Ihr habt recht. Wenn ich meine Tochter (7) mal zur Schule bringe, dann sehe ich da auch immer Autokolonnen vorfahren, aber woher soll ich denn wissen, welchen Schulweg deren Kinder haben? Denn dass meine Tochter sich so frei bewegen kann, liegt an unserer recht ungewöhnlichen Wohnsituation. Wir wohnen in einer ziemlich ruhigen Ecke im Frankfurter Gallus.

Kleine Abschweifung: Das Gallus

Das Gallus hat zwar einen sehr schlechten Ruf in Frankfurt, aber der ist ziemlich ungerechtfertigt. Erstens kommt der daher, dass das Viertel ans Bahnhofsviertel grenzt, das in Frankfurt das Rotlichtviertel ist. Und daher treiben sich in Bahnhofsnähe auch eine ganze Reihe Junkies rum. Zweitens ist die S-Bahnstation „Galluswarte“ ein verlauster Straßenköter, der an seiner eigenen Kotze zu ersticken droht. Dort ist es unsäglich laut, schmutzig und bevölkert mit Alkoholikern. Drittens war das Gallus wohl in den 90ern mal ein sozialer Brennpunkt, aber seit damals hat die Stadt sehr viel Kohle ins Viertel gepumpt und ein problematischer Güterbahnhof ist verschwunden. Aber vor allem viertens: Das Gallus ist groß. Es hat über 30.000 Einwohner und damit mehr als doppelt so viel wie die Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin. Und in diesem großen Bezirk wohnen wir eben in einer familiengerecht ruhigen Ecke.

Aber ich schweife ab. Worauf ich eigentlich hinaus wollte, war, dass wir zuvor in Sachsenhausen direkt am Südbahnhof gewohnt haben. Und ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich da meiner Tochter die gleiche Freiheit gelassen hätte: Dort fuhren Busse, Trams, S-, U-Bahnen und Züge ab und an. Dort hetzten morgens die gestressten Pendler zum Bahnhof oder weg von ihm. Da blockierten Autos immer wieder den Bürgersteig, sodass man auf die vierspurige Straße ausweichen musste. Da war es mit anderen Worten verdammt quirlig. Und da soll ich eine Siebenjährige rumlaufen lassen, die die meiste Zeit des Tages ihren Träumen und Gedankenwelten nachhängt? Ich weiß nicht …

Das Wohl der Kinder

Jetzt komme ich nämlich zum letzten Akt. Ich glaube, ich hätte das nicht getan, denn ich will das beste für meine Kinder und ich glaube, damit bin ich nicht allein. So geht es vielen, wenn nicht gar den meisten Eltern. Ich denke, das beste für seine Kinder zu wollen, ist normal. Und ich glaube, das war es auch früher schon, aber die Lebensumstände waren andere.

Ich glaube nicht, dass unsere Welt gefährlicher geworden ist, hier habe ich zumindest einen Artikel gefunden, der das Gegenteil sagt. Sicher haben wir heute mehr Verkehr als fürher, und vielleicht wird auch jeder Kindesentführung oder „Familientragödie“ mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Aber ich glaube nicht, dass das der wesentliche Unterschied ist. Ich glaube am meisten hat sich die Zahl der Kinder verändert.

Denn, haben unsere Eltern und Großeltern ihren Kindern mehr Freiheiten gelassen, weil sie im tiefsten Inneren davon überzeugt waren, dass das wichtig und richtig ist? Oder war es nicht vielleicht so, dass eine Mutter von 3,4 oder 5 Kindern, deren Mann den ganzen Tag malochen geht, es einfach nicht leisten konnte, ein Kind zum Sportunterricht zu fahren? Weil dann vier andere Kinder kein Essen, keine saubere Wäsche, keine Hausaufgabenkontrolle bekommen hätten? War es nicht vielleicht das beste für die Kinder, zuhause zu bleiben?

Und heute muss die gleiche zur Verfügung stehende Zeit eben oft nur auf ein oder zwei Kinder verteilt werden. Zugleich gibt es auch mehr Väter – so wie ich –, die sich an der Kindererziehung beteiligen. Vorausgesetzt, dass Eltern schon immer das beste für ihre Kinder wollten, war vielleicht früher einfach das beste zuhause zu bleiben, sich um die Kinder zu kümmern, von denen ich weiß, dass sie jetzt meine Hilfe brauchen und jene Kinder streunern zu lassen, denen ich zutrauen kann, dass sie wieder nach Hause finden. Heute hingegen bringe ich meinen Kindern nicht mehr Aufmerksam entgegen, ich muss diese Aufmerksamkeit nur weniger verteilen. Ist es da nicht vernünftig, mein Kind zu fahren, zu begleiten und zu beschützen, wenn ich davon ausgehe, dass ich das beste für ebendieses Kind will? Klar kann ich das übertreiben und zum Helikopter werden. Aber wir sollten auch nicht ins andere Extrem verfallen und „die Eltern von heute“ verurteilen, die so viel Angst haben, nur weil früher bekanntlich alles besser war …