Roland Barthes – Der Tod des Autors

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Daniel
bringt den Autor um

Ich lese Roland Barthes‘ berühmten Essay und überlege, was er bedeutet

Kann man das Werk vom Autor trennen? Wie kommt man überhaupt auf so eine Idee? Alles geht zurück auf Roland Barthes‘ Essay: Der Tod des Autors. In einer (zugegeben recht lang gewordenen) Textanalyse schaue ich, was dran ist, an der Idee.

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Roland Barthes – Der Tod des Autors

Ich habe ja auch noch einen Podcast: den Spätfilm. Wie der Name unschwer erraten lässt, sprechen wir dort über Filme. Und eine wiederkehrende Frage, der wir uns dort stellen müssen, lautet: Kann man das Werk vom Autor trennen? Konkret: Darf ich Filme von Hitchcock oder Kubrick gut finden, auch wenn ich weiß, dass diese Regisseure ihre Schauspieler*innen mitunter extrem schlecht behandelten? Darf ich Filme von und mit mutmaßlichen oder nachgewiesenen Sexualstraftätern wie Bryan Singer, Roman Polanski, Harvey Weinstein oder Kevin Spacey schauen? Und wie ist es mit Filmen, von Tom Cruise, die dazu beitragen Scientology zu finanzieren?

Es gibt gute moralische Gründe, derlei Filme nicht zu gucken. Das Argument dafür ist hingegen zumeist: Man muss Autor und Werk trennen. Wie soll das gehen? Nehme ich eine Schere und schneide einfach Woody Allen aus dem Vorspann all seiner Filme? Wie kommt man auf diese Idee?

Nun, ich kann mich irren, aber ich denke, alles geht zurück auf den berühmten Aufsatz von Roland Barthes: Der Tod des Autors. Doch was genau schrieb Barthes damals, im Jahr 1968 eigentlich? Lasst uns in den Text blicken!

Balzac und die Frauen: Wer spricht hier?

Barthes beginnt den nur acht Seiten und sieben Abschnitte langen, aber unglaublich dichten Aufsatz mit einem Zitat aus Balzacs Novelle ‚Sarrasine.‘ Honoré de Balzac war, auch wenn er aussah wie Sigmar Gabriel, ein französischer Autor der 19. Jahrhundert. In ‚Sarrasine‘ heißt es, so Barthes, von einem als Frau verkleideten Kastraten:

„Es war das Weib mit seinem plötzlichen Ängsten, seinen grundlosen Launen, seinen instinktiven Verunsicherungen, seinen unwillkürlichen Kühnheiten, seinen Prahlereien und seinem köstlichen Zartgefühl.“

Roland fragt daraufhin: Wer zum Henker spricht so? Und er gibt uns mehrere Optionen zur Auswahl, als säßen wir bei Wer wird Millionär vor der alles entscheidenden Frage:

  • Spricht hier A) Der Held der Novelle?
  • Ist es B) das Individuum Balzac mit seiner persönlichen Philosophie der Frau?
  • Oder C) der Autor Balzac, der die literarische Idee der Weiblichkeit vorträgt?
  • Ist es D) eine universale Weisheit?
  • Oder, äh, irgendwie passt das nicht mehr ins WWM-Schema, egal: E) ist es die romantische Psychologie?

Roland Bartes meint nun – und das ist der Kern des gesamten Aufsatzes, also legt das Handy mal ganz kurz weg und passt auf –, es lässt sich nicht sagen, wer spricht. Denn

„Das Schreiben ist Zerstörung jeder Stimme, jedes Ursprungs. Das Schreiben ist Neutrum, zusammengesetzt, Schrägheit, der Identität verlorengeht.“

Das ist ein medientheoretisches Argument. Und zwar ein verdammt gutes! Die Frage, wer hier spricht, kann sich überhaupt erst im Medium der Schrift stellen. Denn sie trennt die Botschaft von der Stimme des Urhebers. Die Schrift macht aus einem Vollzug, der die gesprochene Sprache ist, etwas Stillstehendes. Auch die Idee, dass Sprache etwas zusammengesetztes ist, kommt erst so richtig mit dem Schriftbild auf, das Sätze, Wörter und Buchstaben segmentiert.

Dadurch, dass die Urheberin der Worte und die Worte selbst über Raum und Zeit getrennt sind, haftet der Schrift oft etwas Neutraleres an, als es bei der gesprochenen Sprache der Fall ist, die immer auch Emotionen transportiert, als wäre sie eine andauernde Diskussion, ob es die Nutella oder das Nutella ist. Nebenbei: Es ist DIE Nutella und jeden, der was anderes sagt den blocke ich!!! Anyway … Mit dieser Trennung geht eben auch die Identität von Autor und Werk zumindest ein Stück weit verloren.

So, jetzt könnt ihr euer Handy wieder zur Hand nehmen und weiter Candy Crush spielen. Spielt das heute überhaupt noch jemand?

Woher kommt der Autor eigentlich?

Schauen wir uns mal an, wie Roland Barthes im zweiten Abschnitt fortfährt. Er widmet sich ganz im Stile Indiana Jones‘ als nächstes der Geschichte, stellt sich die Frage, wie es überhaupt zu einem solchen Konzept wie dem Autor kommen konnte.

Denn zunächst einmal ist es ja eigentümlich für eine Erzählung, dass sie gerade keine andere Absicht verfolgt, als das Erzählen. Wodurch ja gerade der Autor dieser Geschichte in den Hintergrund tritt, unwichtig wird, oder wie Barthes es ausdrückt: stirbt. Nehmen wir demgegenüber zum Beispiel ein Versprechen, dann ist es bei diesem Spechakt von wesentlicher Bedeutung, wer die Autorin, die Versprecherin ist. Wenn ich euch verspreche, morgen hier einen Text über Heidegger zu veröffentlichen, dann könnt ihr mich und nur mich daran messen, ob ich das auch wirklich mache. Gut, eher würde ich mir ohne Narkose einen Zahn ziehen lassen, als euch so ein Versprechen zu geben, aber eine solche Rückbindung an den Autor gibt es bei einer Erzählung erst einmal nicht.

Barthes fragt sich also, wieso wir dem Autor dann paradoxerweise doch so eine wichtige Rolle zuschreiben. Seine Überlegungen zu diesem Punkt beginnen nicht ganz bei Adam und Eva aber kurz danach: In oralen Gesellschaften. Wie werden hier Geschichten weitergegeben? Sie werden erzählt. Das Interessante ist, dass der Autor dabei überhaupt keine Rolle spielt. Denn die Erzählung erfolgt durch einen Mittelsmann. Du kannst bei ihm vielleicht die Performanz des Vortragens bewundern. Nicht aber sein Genie. Denn die Geschichte hat er sich selbst ja gar nicht ausgedacht, ähnlich wie Karl-Theodor zu Guttenberg seine Doktorarbeit. Und oft wissen wir gar nicht mehr, wer sie sich ausgedacht hat. Ähnlich wie Karl-Theodor zu Guttenberg bei seiner Doktorarbeit.

Der Autor ist eine moderne Erfindung, folgert Barthes daraus. Philosophisch würden wir von einer neuzeitlichen Erfindung sprechen. Denn Barthes glaubt dass er im ausklingenden Mittelalter entstanden ist,  als (Zitat)

„mit dem Englischen Empirismus und dem Französischen Rationalismus und dem persönlichen Glauben der Reformation das Individuum entdeckt wurde.“

An dieser Stelle muss ich eine kleine Warnmeldung einbauen, denn die meisten Zitate von Barthes in dieser Folge habe ich radikal vereinfacht. Ich liebe die Art zu Schreiben des ollen Franzosen, aber sie ist komplizierter als die Position der Labour-Partei zum Brexit.

Zurück zum Text: Was Barthes hier anspricht, ist das zweite Paradigma der Philosophie. Schaut dazu gerne noch einmal in meinen Text zu den drei Paradigmen. Mit Beginn der philosophischen Neuzeit wurde die erkenntnistheoretische Frage ‚Was ist Die Welt?‘ abgelöst durch die Frage ‚Was kann ich erkennen?‘. Wittgenstein sagt an einer Stelle schön: Philosophische Problem werden eigentlich nie gelöst, sondern zum Verschwinden gebracht. Mit dem zweiten Paradigma der Philosophie kam das Individuum ins Blickfeld. In der Frage „was kann ich erkennen?“ steckt ja schon das Ich. So ist es nicht verwunderlich, dass der erste neuzeitliche Philosoph Descartes auch das Ich findet, als er sich fragte, wessen er sich gewiss sein kann: Ich denke, also bin ich.

Was mir an Barthes Satz beim ersten Lesen nicht klar war:  Inwiefern ist die Reformation individualistisch? Daher machte ich, was ich immer in einer solchen Situation mache, ich fragte Twitter und die Antworten zeigen, was ich an Twitter mag:

 

Die Konsequenz daraus ist, so Barthes,

„dass der Positivismus, diese Kurzfassung und Vollendung der kapitalistischen Ideologie, im Bereich der Literatur der „Person“ des Autors die größte Bedeutung beigemessen hat.“

Was zum Millennium Falcon soll das denn schon wieder bedeuten? Damit spielt Barthes wohl auf Auguste Comte an, einen der Begründer der modernen Soziologie. Comte wollte alles metaphysische, alles geisteswissenschaftliche in der Sozialforschung loswerden und eine soziale Physik rein auf Beobachtbarem aufbauen. Wie Barthes es orakelt, als säße er in Delphi über einer Erdspalte, korrespondiert das stark mit dem Materialismus des Kapitalismus, in dem andere Werte als materielle keine Rolle mehr spielen. Okay, vielen Dank für diesen zusammenhangslosen Einwurf, alter Mann.

Wichtiger ist da schon: Dieser positivistische Ansatz wirkte sich Anfang des 20. Jahrhunderts auch auf die zeitgenössische Literaturwissenschaft aus. Hier versuchte der Positivismus ebenfalls kausale Gesetzmäßigkeiten auszumachen und konzentrierte sich daher auf die Beziehung zwischen Autoren und Publikum, um so aus der Entstehung von literarischen Werken ihre Wirkung zu folgern. Ob dies wirklich erst zur Erfindung des Autors führte oder zumindest zu seiner Erhöhung als entscheidend für die Interpretation, kann ich nicht beurteilen. Denn ich bin kein Literaturwissenschaftler. Ich habe von Literaturwissenschaft in etwa so viel Ahnung wie Trump von Staatsführung. Barthes aber glaubt, dass seine zeitgenössische Literatur, Kultur und Gesellschaft der 60er Jahre als Ergebnis der geschilderten Entwicklung auf den Autor fixiert ist.Er sagt:

„Die Kritik besteht meistens noch darin, zu sagen, das Werk Baudelaires sei das Scheitern des Menschen Baudelaire, das Van Goghs sein Wahnsinn, Tschaikowskys sein Laster: Die Erklärung des Werks wird immer auf Seiten desjenigen gesucht, der es hervorgebracht hat.“

Der Niedergang des Autors

Nachdem Roland Barthes uns nun gezeigt hat, was zum Aufbau des Autors geführt hat, beginnt er im dritten Abschnitt mit seinem Niedergang, als wäre der Autor ein Elb, der Mittelerde verlassen muss. In Frankreich habe Stéphane Mallarmé als erster versucht, weg vom Autor zu gehen und den Text selbst ins Zentrum zu stellen. Dieser Mallarmé war Symbolist, so verrät mir die Wikipedia. Ja, höher als die Wikipedia ist mein Niveau nicht. Schließlich bin ich ein Typ, der „die Nutella“ sagt.  Der Symbolismus war wiederum eine literarische Strömung, die sich gegen Realismus, Naturalismus und den schon erwähnten Positivismus stellte. In dieser steht wenig überraschend das Symbol im Zentrum. Statt – wie zum Beispiel der Realismus – sich mit gesellschaftlichen Problemen rumzuschlagen oder sich mit dem Innenleben zu beschäftigen, wie es Romantik und Impressionismus taten, war der Symbolismus … äh … Ja was? Irgendwie anders halt. Fragt da besser mal eine Literaturwissenschaftlerin als einen Philosophie-Dilletanten.

Kehren wir zu Roland Barthes zurück: Der sagt, die Sprache spreche, nicht der Autor. Schreiben ist unpersönlich, nicht ich sondern die Sprache allein agiert, performiert. Das ist wieder ein medientheoretisches Argument, da fühle ich mich wieder zuhause. Erst dadurch, dass die Schrift und die Schreiberin im Gegensatz zur oralen Sprache getrennt voneinander auftreten können, kann die Schrift alleine, aus sich heraus etwas bedeuten. Und, so Barthes, Wenn man den Autor ausblendet, erhält der Leser seinen Platz. Die Lesende muss anfangen, sich selbst Gedanken über die Bedeutung zu machen.

Der nächste Schritt zum Tod des Autors war dann Paul Valéry. Valéry verspottete den Autor und zweifelte ihn an, schreibt Barthes. Valéry trat für die verbale Voraussetzung der Literatur ein, ein Rückgriff auf die Innerlichkeit des Schriftstellers erschien ihm als reiner Aberglaube. Ich habe natürlich auch recherchiert, wer Paul Valéry war. Google und ich sind nach acht Seiten Roland Barthes so unzertrennlich, dass wir bald zusammen bei Ikea einkaufen gehen. Valéry war ebenfalls ein Französisch Schriftsteller, was euch wahrscheinlich wenig überrascht. Er stand wohl anfangs den Symbolisten nahe. Doch seine späteren Werke werden als „reine Poesie“ bezeichnet, sie verzichten auf die Darstellung von Gefühlen und äußerer Realität. Stattdessen streben sie formale Vollendung an. Es ist leicht zu sehen, dass hier nicht viel Raum für die Frage „Was will uns der Autor damit sagen?“ bleibt.

Als französischer Philosoph und Literaturwissenschaftler kommt Roland Barthes natürlich nicht an Marcel Proust vorbei. Und das stellt ihn vor ein argumentatives Problem, denn „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ gilt wohl als Paradebeispiel für einen autobiografisch geprägten Roman. Plötzlich steht also der Autor wieder im Fokus. Doch Barthes leugnet das mit einem Twist, der unerwarteter kommt als der in Parasite: In Prousts Epos verwische die Beziehung zwischen dem Schriftsteller und seinen Figuren. Der Erzähler sei nicht der, der empfunden hat, nicht einmal der der schreibt, sondern der, der schreiben wird. Joa, ich lass das einfach mal so stehen, da ich die Bücher nicht gelesen habe und mir diesmal sogar der Wikipedia-Artikel zu lang ist. Doch dann wird es wieder spannend, denn Barthes schreibt:

Nicht Charlus imitiert Montesquiou sondern Montesquiou ist in seiner anekdotischen, historischen Wirklichkeit ein sekundäres, aus Charlus abgeleitetes Fragment.

Wissta bscheid! Robert de Montesquiou war ein Schriftsteller, der nicht zuletzt dadurch bekannt wurde, dass er als Vorbild für die Figur des Charlus aus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ fungierte. Was Barthes hier wohl sagen will, ist, dass wir uns die historische Person des Montesquiou nur über die Romanfigur erschließen können. Dass, was wir glauben, über Montesquiou zu wissen, wir letztlich nur aus Charlus ableiten können. Die literarische Figur hat das Primat.

In seinem historischen Abriss wendet sich Barthes als nächstes dem Surrealismus zu und urteilt: In diesem habe die Sprache keinen souveränen Stellenwert. Okay, das kam jetzt unerwartet wie der Tod von Snoke in Episode 8. WER WAR DENN NUN DIESER SNOKE?!?! Tschuldigung. Barthes sagt, die Sprache ist ein System und die romantische Bewegung des Surrealismus versuchte, dieses zu untergraben. Doch Barthes meint, dass das illusorisch sei, denn Code kann nicht zerstört, nur „gespielt“ werden. Ah, hier scheint die strukturalistische Schule des Franzosen durch. Der Strukturalismus ist eine ursprünglich sprachwissenschaftliche Strömung, die sich auf viele weitere Kulturwissenschaften ausdehnte. Ihr Begründer war Ferdinand de Saussure und die Grundidee ist, dass sich Bedeutung erst in einem System aus der Differenz zu anderen Bedeutungseinheiten auftut. Beispielsweise können wir nur sagen, was Rot ist, wenn wir wissen, was die Alternativen sind. Sind sie Grün und Blau, wird unsere Antwort anders ausfallen, als wenn wir ein System haben, in dem wir uns zwischen Rot, Weinrot, Zinnober, Purpur und Orange entscheiden müssen. Worauf Barthes hier abzielt, ist, dass du dem System nicht entkommen kannst. Selbst wenn du versuchst ganz neue, revolutionäre Verwendungsweisen von Sprache zu etablieren,  werden diese zwangsläufig nur in Differenz zu dem, was sie nicht sind, Bedeutung erhalten und so letztlich wieder Teil des Systems. Doch auch, wenn dieser Versuch des Surrealismus  gescheitert ist, so trug aber dazu bei, das Bild eines Autors zu profanisieren, diagnostiziert Barthes. Der Surrealismus empfahl, erwartete Bedeutung zu unterlaufen. Mit der Technik des automatischen Schreibens ignorierte die Hand den Kopf. Und das Schreiben zu zweit oder zu dritt trug dazu bei. So, so, interessant …

Da er schon beim Strukturalismus ist, kann Barthes gleich mit der Linguistik fortfahren: Diese trug ebenfalls dazu bei, den Autor zu zerstören, indem sie klarmachte, dass das Ich keine Person, sondern ein grammatisches Subjekt ist. Frei nach Wittgenstein könnte man hier ergänzen, dass Descartes Satz „Ich denke, also bin ich“ Nicht die Existenz des Ichs beweist, sondern dass die Notwendigkeit eines grammatischen Subjekts für das Prädikat „denken“ bewiesen wird. Ich habe in meinem philosophischen Adventskalender darüber geredet. Ihr findet das in der Folge zu „Cogito ergo sum“.

Schreiben ist eine flüchtige Performanz

Im 4. Abschnitt stellt Barthes die These auf, dass die Entfernung des Autors gleichbedeutend ist mit Verfremdung im Sinne Brechts. Bertold Brecht war nicht nur ein lustiger kleiner Mann mit Mütze. Er machte strange Theaterstücke. Brecht verfremdete dabei das Schauspiel absichtlich, um es als Schauspiel für das Publikum erkennbar zu machen. Er richtete also die Aufmerksamkeit auf die Bedingungen des Mediums, um so sein Publikum in die Lage zu versetzen, über das Medium zu reflektieren. Man kann leicht sehen, dass Ähnliches mit dem Text passiert, sobald ich aufhöre, ihn einfach als die Stimme des Autors zu verstehen. Denn dann muss ich anfangen, mir Gedanken zu machen, wie anders der Text denn Bedeutung erlangt.

Während klassisch der Autor als zeitlich vor dem Text betrachtet wurde, wie ein Vater zu seinem Kind. Entsteht der moderne Schreiber zeitgleich mit seinem Text, fährt Barthes fort.

 Er besitzt kein Sein, das vor oder über seinem Buch wäre. Er ist nicht das Subjekt, dessen Prädikat das Buch ist. Es gibt keine andere Zeit als die der Äußerung, und jeder Text ist ewig hier und jetzt geschrieben.

Das klingt ein bisschen, wie ein Song aus Frozen 2. Es ist aber ein Gedanke, den ich gut nachvollziehen kann. Ich habe ihnim Zusammenhang mit Platon schon geäußert: Ich kann Platon philosophiegeschichtlich betrachten als ein Produkt seiner Zeit. Dann kann ich mir Gedanken machen, wie er auf die Ideen kommen konnte, die er hatte. Aber das ist keine philosophische Betrachtung im eigentlichen Sinne. Wenn ich mich für Platons Philosophie interessiere, dann frage ich mich, was seine Texte zu den philosophischen Problemen unserer Zeit beitragen können. Wie ich sie verstehe und nicht wie Platon sie gemeint hat.

Als Nächstes nimmt Barthes Bezug auf die Sprechakttheorie insbesondere auf die von John L. Austin.

Schreiben ist ein Performativ. Eine seltene, verbale Form der Äußerung, die keinen anderen Inhalt besitzt als den Sprechakt selbst,

sagt Barthes. Austin unterscheidet in seiner Theorie der Sprechakte zunächst zwischen Konstativa und Performativa. Die Philosophie hat sich traditionell nur für erstere interessiert, die klassischen Aussagen über die Welt. Austin hingegen kümmert sich um die Performativa: Sprechakte, die eine Handlung darstellen. Etwa ein Versprechen geben, oder das Urteil eines Richters. Ws ist spannend, dass Barthes den Akt des Schreibens dazuzählt. Denn das Ergebnis, der Text ist im Normalfall wahrscheinlich das Paradebeispiel für ein Konstativum. Doch durch die Hervorhebung, dass das Schreiben eine Performanz ist, macht Barthes klar, dass der Akt etwas flüchtiges ist, das nur im Moment des Schreibens existiert. So wie ein Tanz nur in dem Moment existiert, in dem er ausgeführt wird. Folglich fährt Barthes fort:

Der moderne Schreiber kann nicht glauben, dass seine Hand zu langsam für sein Denken oder Fühlen sei. Sodass er nachträglich sein Werk kommentieren müsse.

Man merkt, dass der Text aus einer Zeit stammt, in der es Social Media noch nicht gab. Ich schaue dich an, J. K. Rowling. Und dich George R. R. Martin! Allerdings ist das Argument gut: Das Schreiben ist eine Handlung. Das Ergebnis dieser Handlung ist der Text. Die Idee, dass der Text selbst nicht ausreiche, sondern zu interpretieren sei, indem man sich um die Gedanken des Autors kümmert, ist unter diesem Aspekt fragwürdig. Man stelle sich vor, jedesmal wenn ein Richter jemanden zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, müssten wir uns zunächst überlegen: Wie hat er das gemeint? Oder stellt euch vor, ich verspreche euch, nie wieder über Heidegger zu lästern – was ich nicht tue – und wenn ich dieses Versprechen breche, sage ich dann: Aber meine Intention war eine ganz andere! Austin selbst bringt das Beispiel, am Grab sein Beileid auszudrücken. Bei dieser Handlung ist es vollkommen egal, ob ich mich wirklich schlecht fühle oder dies nur sage, um den Hinterbliebenen irgendwas zu sagen. Die Handlung selbst bringt zum Ausdruck, was sie bedeutet.

Auch das Nächste, was Barthes schreibt, ist wieder spannend, denn er lenkt unsere Aufmerksamkeit wieder auf die medialen Bedingungen, die sich bei Rede und Text unterscheiden:

Die Hand zieht mit der Geste der Einschreibung ein Feld, das von der Stimme gelöst ist, das keinem Ursprung hat, zumindest keinen anderen als die Sprache selbst.

Während ich einem Sprecher Fragen stellen kann, muss der Text für sich alleine stehen. Dass ich überhaupt die Möglichkeit habe, den Autor zu fragen, wie er etwas gemeint hat, stellt beim Lesen die absolute Ausnahme dar und nicht die Regel. Der Autor kann im Normalfall nicht erläutern, was seine Intention war. Ich als Leser muss mir die Bedeutung selbst erschließen.

Everything is a Remix

Den 5. Absatz beginn Barthes mit:

Der Text ist nicht bloß eine Wortzeile, die nur dem Zweck dient, die Botschaft des Autors freizusetzen. Der Text ist stattdessen ein mehrdimensionaler Raum, in dem vielfältige Schreibweisen miteinander harmonieren und ringen. Keine davon ist vorrangig. Der Text ist ein Geflecht von Zitaten, die aus den Tausend Brennpunkten der Kultur stammen.

Im Studium habe ich die schöne Formulierung gelernt, dass der Autor nur ein Interpret seines Werkes ist, aber nicht der vorrangige. Wenn Beispielsweise Shakespeare über Liebe schreibt, dann basiert das auf einem Konzept der Liebe aus dem 16. Jh. Wenn ich das im 21. Jh. lese, bringe ich zwangsläufig ein ganz anderes Konzept der Liebe in den Text ein. Warum sollte die Idee, die Shakespeare von Liebe hatte vorrangig sein? Und wenn sie es ist, warum sollte ich den Text dann heute überhaupt noch lesen? Sind es nicht gerade die Texte, die zeitlos sind, welche wir als besonders wertvoll betrachten? Also gerade nicht diejenigen, die auf die konkreten Gedanken und Gefühle nur eines einzigen Menschen, der Autorin Bezug nehmen?

Barthes sagt, der Autor gleiche Bouvard und Pécuchet. Das sind die zwei Protagonisten des gleichnamigen unvollendeten Schelmenroman von Gustave Flaubert. Worauf Barthes anspielt, ist, dass die beiden Kopisten sind. Bevor es Kopierer gab, mussten Texte von Hand kopiert werden, das war der Job von Kopisten. Und der Autor, so Barthes, ist letztlich auch nur ein Kopist.

Der Schriftsteller kann nur eine frühere, aber niemals eine ursprüngliche Geste nachahmen. Seine einzige Macht besteht darin, frühere Schreibweisen zu mischen.

Das ist die „Everything is a Remix“-These, demnach gibt es keine genuine Originalität. Sondern alles, was wir kulturell erschaffen, ist letztlich durch Vorhergehendes beeinflusst. Als wären wir alle mitteltalentierte Rapper, können wir zwar kreativ neu zusammensetzen, aber nicht neu aus dem Nichts erschaffen. Wenn ihr wüsstet, bei wem ich überall für dieses Video geklaut habe, ihr wärt sehr enttäuscht von mir. Barthes fährt fort:

Sein Inneres kann der Autor nur insofern ausdrücken, wenn er sich bewusst ist, dass sein Inneres selbst ein zusammengesetztes Wörterbuch ist, dessen Wörter sich nur durch andere Wörter erklären lassen, und dies ad infinitum.

Das ist wieder Wittgenstein in Reinform. In seinem berühmten Privatsprachenargument legt er unter anderem dar, dass innere Zustände immer erst in sozialem Kontext gelernt werden müssen. Meinen inneren Schmerz kann ich erst benennen, wenn ich gelernt habe, was äußerer Schmerz ist. Das habe ich als Kleinkind gelernt, indem meine Eltern auf meine Verhaltensweisen mit dem Wort „Schmerz“ reagiert haben. Erst Jahre später kann ich ein deprimierter Teenager werden. Der Autor steht selbstverständlich ebenso in einem solchen sozialen Kontext.

Dann kommen zwei Verweise auf Baudelaires „die künstlichen Paradiese“ und auf Thomas De Quincey, die sich mir nicht erschließen. Wenn ihr die erklären könnt, macht das gerne in den Kommentaren. Ich kann an dieser Stelle nur lächeln und winken. Barthes schließt den Abschnitt mit:

Der Schreiber, der Nachfolger des Autors hat keine Leidenschaften, Stimmungen, Gefühle oder Eindrücke mehr in sich, sondern jenes gewaltige Wörterbuch, aus dem er ein Schreiben schöpft, das keinen Stillstand kennen kann.

Das fasst noch einmal die vorhergehenden Thesen zusammen. Nicht die inneren Zustände der Schreibenden sind entscheidend. Sondern die Worte. Denn wie sollten wir auf diese inneren Zustände zugreifen? Letztlich geht das nur sprachlich. Aber die Sprache liegt uns in Form des Textes ja bereits vor. Und weiter noch: Sowohl die Interpretationsmöglichkeiten des Textes als auch die Autorin haben sich seit dem Schreiben weiterentwickelt, sie kennen keinen Stillstand.

Das Leben imitiert immer nur das Buch,

so Barthes.

Das Buch ist selbst nur ein Geflecht aus Zeichen, verlorene, endlos aufgeschobene Imitationen.

Er beschwört also noch einmal, dass es dem Medium immanent ist, dass der Text für sich selbst stehen muss und dass jedes neue Werk immer schon Inspirationsquellen hatte. Mal größere Inspirationsquellen und mal kleinere, möchte ich süffisant zur Spiegelbestsellerliste rüberschielend hinzufügen.

Was bleibt, wenn der Autor tot ist?

In Abschnitt 6 ist der Autor nun bereits zu Grabe getragen und Barthes stellt sich der Frage, was danach kommt:

Ist der Autor entfernt, wird der Anspruch, einen Text zu entziffern, völlig überflüssig.

Echt jetzt? Das schreibst ausgerechnet du? Hast du mal deine eigenen Texte gelesen? Ich meine, ich liebe sie, aber wenn man etwas entziffern muss, dann diesen Text! Anyway … Barthes fährt fort: Wenn man sagt, ein Text habe einen Autor, dann riegelt man ihn ab, versieht ihn mit einem letzten Signifikat. Damit verweist er wieder auf seine strukturalistische Tradition, insbesondere auf Saussure, den Gründer des Strukturalismus. Signifikat ist die Inhaltsseite, die Bedeutung eines Zeichens. Signifikant hingegen ist die Ausdrucksseite, die Zeichengestalt. Die Frage, was die Bedeutung ist, ist natürlich immer die entscheidende, bei einer Analyse. Und sie zu beantworten ist schwerer als einen Film von David Lynch zu verstehen. Wenn man jetzt sagt, die Bedeutung eines Textes ist die Intention des Autors, dann macht man es sich bei dieser schwierigen Frage sehr einfach.Das diagnostiziert auch Barthes, wenn er schreibt:

Der Buchkritik passt das sehr gut, die es sich zur Aufgabe macht, hinter dem Werk den Autor zu entdecken oder seine Hypostasen: die Gesellschaft, die Geschichte, die Psyche, die Freiheit.

Da frage ich mal ganz eloquent: Hä? Hypo-was? Hypostasen sind verschiedene Gesichtspunkte der gleichen Sache. Danke Wikipedia, was würde ich nur ohne dich machen! Unter diesem Gesichtspunkt ist der Satz ein ziemlich hemdsärmeliges draufschlagen von Barthes auf alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Ich kann verstehen, wenn er den Autor zu Grabe tragen möchte, seine Argumente bis hierhin erschlossen sich mir, die Psyche schenke ich ihm auch noch. Aber Gesellschaft und Geschichte? Das ist doch ein Widerspruch zu seiner „Everything is a Remix“-These weiter oben im Text. Denn wovon sollen denn Texte Remix sein, wenn nicht von anderen Texten, die wiederum Teil von Gesellschaft und Geschichte sind. Was es wiederum heißen soll, dass die Buchkritik hinter dem Werk die Freiheit entdecken will, erschließt sich mir überhaupt nicht. Ein weiteres Mal stehe ich hier, ich armer Tor und bin so schlau als wie zuvor.

Schauen wir mal weiter. Barthes greift nun die Autorität der Literaturkritik an:

Ist der Autor gefunden, dann ist der Text erklärt und der Kritiker hat gesiegt. Daher ist historisch mit der Herrschaft des Autors auch die  des Kritikers verbunden. Und mit  dem Autor gerät auch der Kritiker ins Wanken.

Wenn es keine letztendlich gültige Interpretation mehr gibt, weil die Autorität des Autors sie nicht mehr abnicken kann, dann gerät damit auch die Stellung des Kritikers ins Wanken. Was mir zunächst kontraintuitiv erscheint, macht aber vielleicht doch Sinn, wenn ich mir die Entwicklung der Filmkritik ansehe, denn sie geht immer weiter weg von einem kleinen Kreis von Kritikern, die in Feuilletons über einen Film urteilen, hin zu einem vielstimmigen Chor aus Bloggern, Podcasterinnen, Youtuberinnen und Fans, die Filme kritisieren und interpretieren und dabei ganz eigene Beurteilungsschemata anlegen. Die Frage ist, für was davon ist der tote Autor verantwortlich und wie viel geht auf das Konto des Internets? Barthes sah die Entwicklung aber voraus, als er schrieb:

Indem die Literatur oder das Schreiben sich weigert dem Text (und der Welt als Text) ein Geheimnis, einen letzten Sinn, zuzuweisen, setzt sie eine Tätigkeit frei, die man als kontratheologisch oder revolutionär bezeichnen kann.

Und:

Die Weigerung den Sinn festzulegen, ist gleichbedeutend mit der Ablehnung Gottes und seiner Hypostasen Vernunft, Wissenschaft, Gesetz.

Ah, da sind sie wieder, die Hypostasen. Das sind große Worte und der Strukturalist wirkt hier schon sehr poststrukturalistisch. Aber inhaltlich hat er einen Punkt: In unserer atheistischen, Post-vernünftigen und mit Verschwörungstheorien und Esoterik flirtenden Zeit sind uns so manche ehemals gewisse Autoritäten abhanden gekommen. Man möchte fast den Autor wieder exhumieren.

Die Geburt des Lesers

Kommen wir zum letzten Absatz und kehren in ihm mit Barthes zu Balsacs Satz am Anfang zurück. Wer sagte ihn denn jetzt? Barthes schließt:

Niemand, keine Person sagt ihn. Sein Ursprung liegt im Lesen nicht im Schreiben.

Die lesende Person selbst muss sich also erschließen, was dieser Satz zu bedeuten hat. Barthes schreibt, dass der Altphilologe Jean-Pierre Vernant gesagt habe:

Die griechische Tragödie ist konstitutiv doppelsinnig. Ihr Text ist aus doppeldeutigen Worten gesponnen, die jede Figur einseitig versteht. Dieses ständige Missverstehen ist das Tragische. Es gibt aber jemanden, der die Doppeldeutigkeit versteht und das Missverstehen der Figuren: der Leser.

Mit anderen Worten, schon in der Antike lag die Autorität gar nicht beim Autor sondern bei der Leserin eines Textes. Barthes fast zusammen:

 Der Text besteht aus vielfachen, mehreren Kulturen entstammenden Schreibweisen, die untereinander in einen Dialog, eine Parodie, ein Gefecht eintreten. Der Ort, der diese Vielfalt sammelt, ist nicht der Autor sondern der Leser. Die Einheitlichkeit des Textes liegt nicht an seinem Ursprung sondern an seinem Bestimmungsort. Aber dieser Bestimmungsort kann nicht mehr personal sein.

Okay Boomer, aber warum jetzt noch gleich?

Der Leser ist ein Mensch ohne Geschichte, Biographie, Psychologie. Ein jemand, der alle Spuren zusammenhält, aus denen das Geschriebene besteht.

Ähm, erschließt sich mir jetzt nicht 100%-ig ich bin Leser und habe all das. Ich vermute eher, dass Barthes darauf hinaus will, dass es viele verschiedene Leserinnen gibt, die alle verschiedene Geschichten, Biographien, Psychologien haben. Somit gibt es am Ende auch viele verschiedene Signifikate des Textes und nicht mehr die eine kanonische Interpretation, die auf den Autor zurückzuführen ist. Auch bin ich notwendig beim Lesen immer an einem ganz bestimmten Zeitpunkt in meiner Geschichte, Biografie und Psychologie. Wenn ich heute noch einmal die weirde Kindersex-Stelle in Steven Kings ‚Es‘ lesen würde, würde sie für mich mit Sicherheit eine ganz andere Bedeutung haben als für mein 12-Jähriges Ich. So kann ich mir da zumindest einen Reim draus machen und dann auch mit Barthes zusammen schließen:

Die Geburt des Lesers muss mit dem Tod des Autors bezahlt werden.

Das war er! Der berühmte Essay über den Tod des Autors, vielleicht seid ihr jetzt in eurer Urteilsfindung ein Stück weiter, ob sich das Werk vom Autor trennen lässt. Ich möchte euch abschließend noch mit auf den Weg geben, dass ich hier gerade über weite Strecken versucht habe, die Frage zu beantworten, was uns der Autor Roland Barthes mit seinem Text eigentlich sagen will. Vielleicht habe ich aber auch beim Schreiben die Bedeutung des Textes überhaupt erst erzeugt. Und ihr erzeugt gerade beim Lesen eine ganz andere. Denkt mal darüber nach …

12 von 12 im Januar 2017

Im Dezember musste ich meine 12 von ausfallen lassen, da ich zu sehr im Vorweihnachtsstress steckte. Aber jetzt sind sie wieder da – mit etwas Verspätung.

Aufstehen

Tja, ja, so ist das: Nachts will meine Tochter (2) nicht schlafen. Es sei denn, sie darf ins Bett von Mama und Papa kommen. Aber wenn wir morgens um 6:45 Uhr dann aufstehen müssen, ja, dann schläft sie wie ein Murmeltier!

Sofa

 

Unser altes Sofa war durch. Am Lattenrost waren zwei Latten gebrochen, die Polster waren durchgesessen und die ehemalige Farbe nur noch zu erahnen. Daher haben wir den Plan gefasst, dass wir am Samstag O.o zum berühmten nordeuropäischen Möbelhaus fahren und ein neues Sofa bestellen. Der Sperrmüll wurde aber bereits vorgestern abgeholt, daher haben wir nun diese improvisierte „Simplify Your Life“ Variante im Wohnzimmer. Sie hat ja was … aber es ist nicht unbedingt Komfort.

Kaffee

… ist morgens überlebensnotwendig. Nicht zuletzt weil auch meine Tochter (9) in letzter Zeit an starker Morgenmuffeligkeit leidet und auf das Wecken nicht sooooo freudig reagiert, wie ich mir das wünschen würde.

Fahrradpendler

Auf geht’s zur Arbeit! Am besten komme ich dahin mit dem Fahrrad. Im Winter hat mein Arbeitsweg dafür dann die erhöhten Schwierigkeitsgrade Kälte und Nässe. Aber mit der richtigen Kleidung geht alles!

Der Weg zur Arbeit

Aber dafür werde ich jeden Tag mit diesem Anblick belohnt! Ich kann mir kaum einen schöneren Arbeitsweg in Frankfurt vorstellen, als morgens am Main entlangzuradeln.

Schlucht

Hier parke ich mein Fahrrad übrigens. Auch nicht schlecht, oder?

Mittagspause

Mittags gehe ich selbst beim Schmuddelwetter der letzten Tage mal kurz raus, einen Salat im Supermarkt kaufen, ein bisschen Pokemon spielen und frische Luft schnappen. Gestern hatte ich Glück: Die Sonne kam raus und am Wasser war es kurz sehr schön …

… Doch dann ging es zurück ins Warme. Ich lese noch immer „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace. Das hat aber auch 1.600 Seiten und ist nicht unbedingt leichte Kost. Seit 2003 notiere ich mir alle Bücher, die ich gelesen habe. Seitdem ich ein Smartphone besitze, wurden die jährlichen Leselisten immer kürzer. Ich habe zwar effektiv mehr gelesen als früher. Aber eben hauptsächlich Online-Publikationen. Doch Ende 2014 beschloss ich, dass ich das nicht möchte. Das Lesen von Büchern ist eine Kulturtechnik, die ich gerne weiterhin praktizieren möchte. Online-Texte benötigen selten mehr als eine halbe Stunde zum Lesen. Ein Buch verlangt wochen- oder monatelange Aufmerksamkeit. Die aufrechtzuerhalten möchte ich nicht verlernen. Mein Plan ging auch auf: Meine jährlichen Listen wurden wieder länger.

Feierabend

Noch ein bisschen arbeiten, dann hatte ich auch schon Feierabend …

… Das Wetter hielt und so glitzerte Frankfurt in der Nacht.

Aber eigentlich hatte ich noch gar nicht Feierabend. Ihr kennt das: Zuhause warteten zwei kleine Mädchen, deren Bäuche gefüllt werden mussten und die anschließend ins Bett gehörten. Anschließend schrieben die Dame und ich noch einen Text für eine Filmzeitschrift. Dazu wurden wir eingeladen und die Deadline rückt näher. Doch dann hatten wir endlich Elternfeierabend!

Schlafenszeit

Dann rief auch uns das Bett. Ich schaute noch ein paar Minuten von Fahrraddiebe  von Vittorio De Sica – Ich versuche mich einmal von hinten nach vorne durch die Filmgeschichte zu gucken und bin mittlerweile im Jahr 1948 angekommen. Fahrraddiebe kann ich sehr empfehlen (hier meine Kurzrezension auf Letterboxd): Der Film ist zurückhaltend inszeniert aber sehr dramatisch. Stark!

Meine neue Lieblings-Kinderbuch-Autorin: Kirsten Boie

von Paula Hesse

[Gerade erst hatte ich angekündigt, mal ein Stück über Kirsten Boie zu schreiben. Dann habe ich es mir anders überlegt, und die Dame schreiben lassen, die das sowieso viel besser kann. Da sie sich nach wie vor standhaft weigert, ein eigenes Blog anzulegen, schreibt sie für mich einen Gastbeitrag. Ihren Twitteraccount darf ich auch nicht verlinken, denn der ist geheim. Aber ihren Podcast findet ihr hier. (Privatsprache)]

Mit dem Kind wächst die Freude am Vorlesen

Seit der Geburt meiner ersten Tochter vor etwa sieben Jahren bin ich von der Leserin zur Vorleserin geworden. Mit Pixi-Büchern fing es an; darunter gibt es gute und weniger gute. Wie freute ich mich, als durch das Voranschreiten der kognitiven Entwicklung meiner Tochter auch das Niveau der Lektüre stieg. Von Daniel Napps „Dr. Brumm“ über Gunilla Bergströms „Willi Wiberg“ kletterten wir höher zu Sven Nordqvists „Pettersson und Findus“ und „Mama Muh“. Bilderbücher, die auch Erwachsenen Spaß machen. Am schönsten war natürlich, als wir bei ganzen Romanen anlangten, wie sie Astrid Lindgren und Erich Kästner schrieben.

Schund im Kinderbuchregal – Verkaufsstrategie vor Niveau

Doch Kinderbücher mit literarischem Anspruch sind nicht leicht zu finden. Viel Schund findet sich in den Regalen der Kinderbuchabteilungen; viel zu viele Menschen schreiben Kinderbücher in der Annahme, bunte, glitzernde Bilder, einfache Sätze und die Darstellung von Banalitäten oder irgendwelchen Zaubereien reichten aus, um Kinder glücklich zu machen.

Da ist sicherlich etwas dran, denn immerhin haben es unzählige Kinderbuchhelden zu Merchandise-Erfolgen gebracht. Jedoch tummeln sich dort (zum Beispiel bei den „Prinzessin Lillifee“- und „Ponyfee“-Geschichten) Inkonsistenzen, unschöner Sprachstil und Moralappelle, die mit dem Holzhammer ausgeteilt werden. Kurzum: Viele dieser Geschichten sind einfach plump und machen auch dem kindlichen Rezipienten wenig Spaß. Erschwerend kommt hinzu, dass vor allem die erfolgreichen Kinderbuchserien getragen werden vom auffälligsten und unangenehmsten Sexismus (siehe „Prinzessin Lillifee“ und „Capt’n Sharky“).

Fluchtversuch zwecklos

Ich kenne die rosafarbenen dieser Geschichten, weil meine Tochter in der Bücherei selbstverständlich auch zu den glitzernden Büchern greift, deren Protagonistinnen immer und überall zu sehen sind. Und weil sie immer wieder von weniger interessierten oder informierten, es gut meinenden Menschen ebensolche Bücher geschenkt bekommt.

Da ich grundsätzlich niemals Bücher zerstören und meiner Tochter Geschenktes nicht entreißen würde, sind diese Geschichten auch in unserer Wohnung zu finden, und – obwohl höchstens einmal gelesen – ich hasse sie.

Erfolgreiche Schatzsuche im Bücherregal

Denn zwischen all den belanglosen und unsere Kinder zu „Weibchen“ und „Männchen“ ohne Hirn degradierenden Kinderbüchern gibt es auch welche, die von guten Schriftstellern verfasst wurden. Bücher, die tatsächlich bilden und Freude bereiten. Die oben erwähnten – nicht ohne Grund bekannten – Autoren Erich Kästner und Astrid Lindgren sind zum Glück nicht die einzigen. Nein, auch heute noch gibt es Schriftsteller, die ihre Begabung Kindern widmen.

Kirsten Boies echte Menschen

Und der hellste Stern am Firmament ist für mich Kirsten Boie. Sie schafft es, sowohl stringente phantastische Geschichten zu erfinden als auch Geschichten aus dem normalen Leben zu schreiben. Bei ihr werden Rollenklischees durchbrochen, sie geht geradezu aufklärerisch an sie heran. Ihre Kinderhelden haben schon mal genervte Eltern, ärgern sich über Schulfreunde und leben nicht in Schlössern, sondern in Hochhäusern und Vorstadtsiedlungen. Boies Chraraktere sind nicht nur liebevoll gezeichnet, sondern vor allem eines: echt. Sie denken, fühlen und handeln wie reale Menschen, es gibt zwischenmenschliche Probleme und Missverständnisse, die nachvollziehbar sind. Hier finden sich Mädchen, die sich unbewusst mit weiblicher Emanzipation auseinandersetzen, gescheiterte Elternbeziehungen und auch finanzielle Probleme.

Prinzessinen sind doof

In der Reihe „Prinzessin Rosenblüte“ zum Beispiel wird Emma zusammen mit einem tollpatschigen Schulkameraden aus der normalen Welt in eine Märchenwelt versetzt, in der sie als Retterin der Prinzessin fungiert. Dabei geht Emma Prinzessin Rosenblüte mit ihrer prinzessinnen-eigenen Naivität und Inaktivität schon bald auf die Nerven. Wer möchte da Prinzessin sein? Auch unseren Töchtern, selbst im 21. Jahrhundert, wird suggeriert, sie müssten hübsch und brav sein. Die sportliche Emma räumt mit dem Klischee auf: Einerseits findet sie das rosa Prinzessinnen-Kleid toll, andererseits durchschaut sie bald die Eindimensionalität des Prinzessinnen-Daseins.

Jenseits der heilen Welt

Die kleine Nella aus „Nella-Propella“ wohnt alleine mit ihrer Mutter, die noch studiert. Ihre Eltern haben sich getrennt, und Nella sieht ihren Vater einmal in der Woche. Nellas Mutter hat immer wieder Probleme, nach dem Kindergarten eine Betreuung für Nella zu organisieren, wenn sie zum Seminar oder zur Sprechstunde beim Professor muss. Dazu kommen finanzielle Sorgen und Nellas Misstrauen gegenüber dem neuen Freund der Mutter. Es ist eine Familie fernab der heilen „Vater-Mutter-Kind-Welt“, die scheinbar nebenher aus der Sicht des Kindes nachgezeichnet wird. Nellas Hauptprobleme sind nämlich ihre Freundschaftsbeziehungen im Kindergarten. Frau Boie zeigt deutlich, dass eine glückliche Kindheit nicht aus perfekten Eltern, dem eigenen Haus und Auto besteht, wie es uns zum Beispiel die „Conni“-Bücher weismachen wollen.

Emanzipierte Kinder im Mittelalter

„Der kleine Ritter Trenk“ ist eigentlich ein Bauernjunge, der seinen Vater und seine Familie vor dem bösen Ritter Wertold retten möchte. Er verlässt heimlich seine Familie und zieht in die Stadt, um dort nach einem Jahr quasi automatisch von der Leibeigenschaft befreit zu werden. Durch Zufall bekommt er die Gelegenheit, die Rolle des ängstlichen Rittersohns Zink als Page bei dessen Onkel anzunehmen. Trenk führt ein Doppelleben, um dem Grundsatz: „Als Bauer geboren, als Bauer gestorben, Bauer ein Leben lang“ zu entgehen. Dabei schlägt er sich recht gut und zieht das Wohlwollen seines falschen Onkels und des Fürsten auf sich. Unterstützt wird er dabei tatkräftig von der Tochter seines „Zieh“-Onkels, die ebenfalls ein Doppelleben führt. Ihrem Vater macht sie vor, sich ausschließlich mit Suppe kochen, Harfe spielen und Sticken zu beschäftigen, während sie in Wahrheit alleine durch den Wald streift und sich selbst zu einer hervorragenden Erbsenschleuder-Schützin ausgebildet hat. Wir sehen zwei Kinder, die gegen festgefügte gesellschaftliche Zwänge aufbegehren und lernen dabei viel über das Mittelalter.

Höchstes Niveau bei Alltagsgeschichten und Fantasy-Abenteuern

Kirsten Boies Geschichten sind nie langweilig. Im Gegenteil, sogar der Alltag gerät hier zum Abenteuer, wenn eben jene Probleme, vor welche die kindlichen Protagonisten gestellt werden, von diesen gelöst werden müssen. Zudem sind ihre Bücher humorvoll und spannend erzählt. Für den erwachsenen Vorleser oder die Vorleserin gibt es immer wieder etwas zu Schmunzeln, wenn er oder sie die Welt durch die Lektüre wieder durch kindliche Augen sehen kann.

Zu guter Letzt ist noch Kirsten Boies angenehmer Schreibstil hervorzuheben. Sie schreibt luzide, mit kindgerechtem aber nicht verblödendem Wortschatz. Frau Boie schreibt nicht nur für Kinder, sondern auch für Jugendliche; meine Tochter und ich werden uns also noch länger an ihrer Kunst erfreuen können.

Empfehlungen:

Ich mochte bisher alles, was ich von Kirsten Boie vorgelesen habe. Besonders empfehlen möchte ich aber die Reihen:

Juli* (ab ca. 4 Jahre)
Der kleine Ritter Trenk* (ab ca. 6 Jahre)
Prinzessin Rosenblüte* (ab ca. 8 Jahre)

 

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