Roland Barthes – Der Tod des Autors

Ich habe ja auch noch einen Podcast: den Spätfilm. Wie der Name unschwer erraten lässt, sprechen wir dort über Filme. Und eine wiederkehrende Frage, der wir uns dort stellen müssen, lautet: Kann man das Werk vom Autor trennen? Konkret: Darf ich Filme von Hitchcock oder Kubrick gut finden, auch wenn ich weiß, dass diese Regisseure ihre Schauspieler*innen mitunter extrem schlecht behandelten? Darf ich Filme von und mit mutmaßlichen oder nachgewiesenen Sexualstraftätern wie Bryan Singer, Roman Polanski, Harvey Weinstein oder Kevin Spacey schauen? Und wie ist es mit Filmen, von Tom Cruise, die dazu beitragen Scientology zu finanzieren?

Es gibt gute moralische Gründe, derlei Filme nicht zu gucken. Das Argument dafür ist hingegen zumeist: Man muss Autor und Werk trennen. Wie soll das gehen? Nehme ich eine Schere und schneide einfach Woody Allen aus dem Vorspann all seiner Filme? Wie kommt man auf diese Idee?

Nun, ich kann mich irren, aber ich denke, alles geht zurück auf den berühmten Aufsatz von Roland Barthes: Der Tod des Autors. Doch was genau schrieb Barthes damals, im Jahr 1968 eigentlich? Lasst uns in den Text blicken!

Balzac und die Frauen: Wer spricht hier?

Barthes beginnt den nur acht Seiten und sieben Abschnitte langen, aber unglaublich dichten Aufsatz mit einem Zitat aus Balzacs Novelle ‚Sarrasine.‘ Honoré de Balzac war, auch wenn er aussah wie Sigmar Gabriel, ein französischer Autor der 19. Jahrhundert. In ‚Sarrasine‘ heißt es, so Barthes, von einem als Frau verkleideten Kastraten:

„Es war das Weib mit seinem plötzlichen Ängsten, seinen grundlosen Launen, seinen instinktiven Verunsicherungen, seinen unwillkürlichen Kühnheiten, seinen Prahlereien und seinem köstlichen Zartgefühl.“

Roland fragt daraufhin: Wer zum Henker spricht so? Und er gibt uns mehrere Optionen zur Auswahl, als säßen wir bei Wer wird Millionär vor der alles entscheidenden Frage:

  • Spricht hier A) Der Held der Novelle?
  • Ist es B) das Individuum Balzac mit seiner persönlichen Philosophie der Frau?
  • Oder C) der Autor Balzac, der die literarische Idee der Weiblichkeit vorträgt?
  • Ist es D) eine universale Weisheit?
  • Oder, äh, irgendwie passt das nicht mehr ins WWM-Schema, egal: E) ist es die romantische Psychologie?

Roland Bartes meint nun – und das ist der Kern des gesamten Aufsatzes, also legt das Handy mal ganz kurz weg und passt auf –, es lässt sich nicht sagen, wer spricht. Denn

„Das Schreiben ist Zerstörung jeder Stimme, jedes Ursprungs. Das Schreiben ist Neutrum, zusammengesetzt, Schrägheit, der Identität verlorengeht.“

Das ist ein medientheoretisches Argument. Und zwar ein verdammt gutes! Die Frage, wer hier spricht, kann sich überhaupt erst im Medium der Schrift stellen. Denn sie trennt die Botschaft von der Stimme des Urhebers. Die Schrift macht aus einem Vollzug, der die gesprochene Sprache ist, etwas Stillstehendes. Auch die Idee, dass Sprache etwas zusammengesetztes ist, kommt erst so richtig mit dem Schriftbild auf, das Sätze, Wörter und Buchstaben segmentiert.

Dadurch, dass die Urheberin der Worte und die Worte selbst über Raum und Zeit getrennt sind, haftet der Schrift oft etwas Neutraleres an, als es bei der gesprochenen Sprache der Fall ist, die immer auch Emotionen transportiert, als wäre sie eine andauernde Diskussion, ob es die Nutella oder das Nutella ist. Nebenbei: Es ist DIE Nutella und jeden, der was anderes sagt den blocke ich!!! Anyway … Mit dieser Trennung geht eben auch die Identität von Autor und Werk zumindest ein Stück weit verloren.

So, jetzt könnt ihr euer Handy wieder zur Hand nehmen und weiter Candy Crush spielen. Spielt das heute überhaupt noch jemand?

Woher kommt der Autor eigentlich?

Schauen wir uns mal an, wie Roland Barthes im zweiten Abschnitt fortfährt. Er widmet sich ganz im Stile Indiana Jones‘ als nächstes der Geschichte, stellt sich die Frage, wie es überhaupt zu einem solchen Konzept wie dem Autor kommen konnte.

Denn zunächst einmal ist es ja eigentümlich für eine Erzählung, dass sie gerade keine andere Absicht verfolgt, als das Erzählen. Wodurch ja gerade der Autor dieser Geschichte in den Hintergrund tritt, unwichtig wird, oder wie Barthes es ausdrückt: stirbt. Nehmen wir demgegenüber zum Beispiel ein Versprechen, dann ist es bei diesem Spechakt von wesentlicher Bedeutung, wer die Autorin, die Versprecherin ist. Wenn ich euch verspreche, morgen hier einen Text über Heidegger zu veröffentlichen, dann könnt ihr mich und nur mich daran messen, ob ich das auch wirklich mache. Gut, eher würde ich mir ohne Narkose einen Zahn ziehen lassen, als euch so ein Versprechen zu geben, aber eine solche Rückbindung an den Autor gibt es bei einer Erzählung erst einmal nicht.

Barthes fragt sich also, wieso wir dem Autor dann paradoxerweise doch so eine wichtige Rolle zuschreiben. Seine Überlegungen zu diesem Punkt beginnen nicht ganz bei Adam und Eva aber kurz danach: In oralen Gesellschaften. Wie werden hier Geschichten weitergegeben? Sie werden erzählt. Das Interessante ist, dass der Autor dabei überhaupt keine Rolle spielt. Denn die Erzählung erfolgt durch einen Mittelsmann. Du kannst bei ihm vielleicht die Performanz des Vortragens bewundern. Nicht aber sein Genie. Denn die Geschichte hat er sich selbst ja gar nicht ausgedacht, ähnlich wie Karl-Theodor zu Guttenberg seine Doktorarbeit. Und oft wissen wir gar nicht mehr, wer sie sich ausgedacht hat. Ähnlich wie Karl-Theodor zu Guttenberg bei seiner Doktorarbeit.

Der Autor ist eine moderne Erfindung, folgert Barthes daraus. Philosophisch würden wir von einer neuzeitlichen Erfindung sprechen. Denn Barthes glaubt dass er im ausklingenden Mittelalter entstanden ist,  als (Zitat)

„mit dem Englischen Empirismus und dem Französischen Rationalismus und dem persönlichen Glauben der Reformation das Individuum entdeckt wurde.“

An dieser Stelle muss ich eine kleine Warnmeldung einbauen, denn die meisten Zitate von Barthes in dieser Folge habe ich radikal vereinfacht. Ich liebe die Art zu Schreiben des ollen Franzosen, aber sie ist komplizierter als die Position der Labour-Partei zum Brexit.

Zurück zum Text: Was Barthes hier anspricht, ist das zweite Paradigma der Philosophie. Schaut dazu gerne noch einmal in meinen Text zu den drei Paradigmen. Mit Beginn der philosophischen Neuzeit wurde die erkenntnistheoretische Frage ‚Was ist Die Welt?‘ abgelöst durch die Frage ‚Was kann ich erkennen?‘. Wittgenstein sagt an einer Stelle schön: Philosophische Problem werden eigentlich nie gelöst, sondern zum Verschwinden gebracht. Mit dem zweiten Paradigma der Philosophie kam das Individuum ins Blickfeld. In der Frage „was kann ich erkennen?“ steckt ja schon das Ich. So ist es nicht verwunderlich, dass der erste neuzeitliche Philosoph Descartes auch das Ich findet, als er sich fragte, wessen er sich gewiss sein kann: Ich denke, also bin ich.

Was mir an Barthes Satz beim ersten Lesen nicht klar war:  Inwiefern ist die Reformation individualistisch? Daher machte ich, was ich immer in einer solchen Situation mache, ich fragte Twitter und die Antworten zeigen, was ich an Twitter mag:

 

Die Konsequenz daraus ist, so Barthes,

„dass der Positivismus, diese Kurzfassung und Vollendung der kapitalistischen Ideologie, im Bereich der Literatur der „Person“ des Autors die größte Bedeutung beigemessen hat.“

Was zum Millennium Falcon soll das denn schon wieder bedeuten? Damit spielt Barthes wohl auf Auguste Comte an, einen der Begründer der modernen Soziologie. Comte wollte alles metaphysische, alles geisteswissenschaftliche in der Sozialforschung loswerden und eine soziale Physik rein auf Beobachtbarem aufbauen. Wie Barthes es orakelt, als säße er in Delphi über einer Erdspalte, korrespondiert das stark mit dem Materialismus des Kapitalismus, in dem andere Werte als materielle keine Rolle mehr spielen. Okay, vielen Dank für diesen zusammenhangslosen Einwurf, alter Mann.

Wichtiger ist da schon: Dieser positivistische Ansatz wirkte sich Anfang des 20. Jahrhunderts auch auf die zeitgenössische Literaturwissenschaft aus. Hier versuchte der Positivismus ebenfalls kausale Gesetzmäßigkeiten auszumachen und konzentrierte sich daher auf die Beziehung zwischen Autoren und Publikum, um so aus der Entstehung von literarischen Werken ihre Wirkung zu folgern. Ob dies wirklich erst zur Erfindung des Autors führte oder zumindest zu seiner Erhöhung als entscheidend für die Interpretation, kann ich nicht beurteilen. Denn ich bin kein Literaturwissenschaftler. Ich habe von Literaturwissenschaft in etwa so viel Ahnung wie Trump von Staatsführung. Barthes aber glaubt, dass seine zeitgenössische Literatur, Kultur und Gesellschaft der 60er Jahre als Ergebnis der geschilderten Entwicklung auf den Autor fixiert ist.Er sagt:

„Die Kritik besteht meistens noch darin, zu sagen, das Werk Baudelaires sei das Scheitern des Menschen Baudelaire, das Van Goghs sein Wahnsinn, Tschaikowskys sein Laster: Die Erklärung des Werks wird immer auf Seiten desjenigen gesucht, der es hervorgebracht hat.“

Der Niedergang des Autors

Nachdem Roland Barthes uns nun gezeigt hat, was zum Aufbau des Autors geführt hat, beginnt er im dritten Abschnitt mit seinem Niedergang, als wäre der Autor ein Elb, der Mittelerde verlassen muss. In Frankreich habe Stéphane Mallarmé als erster versucht, weg vom Autor zu gehen und den Text selbst ins Zentrum zu stellen. Dieser Mallarmé war Symbolist, so verrät mir die Wikipedia. Ja, höher als die Wikipedia ist mein Niveau nicht. Schließlich bin ich ein Typ, der „die Nutella“ sagt.  Der Symbolismus war wiederum eine literarische Strömung, die sich gegen Realismus, Naturalismus und den schon erwähnten Positivismus stellte. In dieser steht wenig überraschend das Symbol im Zentrum. Statt – wie zum Beispiel der Realismus – sich mit gesellschaftlichen Problemen rumzuschlagen oder sich mit dem Innenleben zu beschäftigen, wie es Romantik und Impressionismus taten, war der Symbolismus … äh … Ja was? Irgendwie anders halt. Fragt da besser mal eine Literaturwissenschaftlerin als einen Philosophie-Dilletanten.

Kehren wir zu Roland Barthes zurück: Der sagt, die Sprache spreche, nicht der Autor. Schreiben ist unpersönlich, nicht ich sondern die Sprache allein agiert, performiert. Das ist wieder ein medientheoretisches Argument, da fühle ich mich wieder zuhause. Erst dadurch, dass die Schrift und die Schreiberin im Gegensatz zur oralen Sprache getrennt voneinander auftreten können, kann die Schrift alleine, aus sich heraus etwas bedeuten. Und, so Barthes, Wenn man den Autor ausblendet, erhält der Leser seinen Platz. Die Lesende muss anfangen, sich selbst Gedanken über die Bedeutung zu machen.

Der nächste Schritt zum Tod des Autors war dann Paul Valéry. Valéry verspottete den Autor und zweifelte ihn an, schreibt Barthes. Valéry trat für die verbale Voraussetzung der Literatur ein, ein Rückgriff auf die Innerlichkeit des Schriftstellers erschien ihm als reiner Aberglaube. Ich habe natürlich auch recherchiert, wer Paul Valéry war. Google und ich sind nach acht Seiten Roland Barthes so unzertrennlich, dass wir bald zusammen bei Ikea einkaufen gehen. Valéry war ebenfalls ein Französisch Schriftsteller, was euch wahrscheinlich wenig überrascht. Er stand wohl anfangs den Symbolisten nahe. Doch seine späteren Werke werden als „reine Poesie“ bezeichnet, sie verzichten auf die Darstellung von Gefühlen und äußerer Realität. Stattdessen streben sie formale Vollendung an. Es ist leicht zu sehen, dass hier nicht viel Raum für die Frage „Was will uns der Autor damit sagen?“ bleibt.

Als französischer Philosoph und Literaturwissenschaftler kommt Roland Barthes natürlich nicht an Marcel Proust vorbei. Und das stellt ihn vor ein argumentatives Problem, denn „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ gilt wohl als Paradebeispiel für einen autobiografisch geprägten Roman. Plötzlich steht also der Autor wieder im Fokus. Doch Barthes leugnet das mit einem Twist, der unerwarteter kommt als der in Parasite: In Prousts Epos verwische die Beziehung zwischen dem Schriftsteller und seinen Figuren. Der Erzähler sei nicht der, der empfunden hat, nicht einmal der der schreibt, sondern der, der schreiben wird. Joa, ich lass das einfach mal so stehen, da ich die Bücher nicht gelesen habe und mir diesmal sogar der Wikipedia-Artikel zu lang ist. Doch dann wird es wieder spannend, denn Barthes schreibt:

Nicht Charlus imitiert Montesquiou sondern Montesquiou ist in seiner anekdotischen, historischen Wirklichkeit ein sekundäres, aus Charlus abgeleitetes Fragment.

Wissta bscheid! Robert de Montesquiou war ein Schriftsteller, der nicht zuletzt dadurch bekannt wurde, dass er als Vorbild für die Figur des Charlus aus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ fungierte. Was Barthes hier wohl sagen will, ist, dass wir uns die historische Person des Montesquiou nur über die Romanfigur erschließen können. Dass, was wir glauben, über Montesquiou zu wissen, wir letztlich nur aus Charlus ableiten können. Die literarische Figur hat das Primat.

In seinem historischen Abriss wendet sich Barthes als nächstes dem Surrealismus zu und urteilt: In diesem habe die Sprache keinen souveränen Stellenwert. Okay, das kam jetzt unerwartet wie der Tod von Snoke in Episode 8. WER WAR DENN NUN DIESER SNOKE?!?! Tschuldigung. Barthes sagt, die Sprache ist ein System und die romantische Bewegung des Surrealismus versuchte, dieses zu untergraben. Doch Barthes meint, dass das illusorisch sei, denn Code kann nicht zerstört, nur „gespielt“ werden. Ah, hier scheint die strukturalistische Schule des Franzosen durch. Der Strukturalismus ist eine ursprünglich sprachwissenschaftliche Strömung, die sich auf viele weitere Kulturwissenschaften ausdehnte. Ihr Begründer war Ferdinand de Saussure und die Grundidee ist, dass sich Bedeutung erst in einem System aus der Differenz zu anderen Bedeutungseinheiten auftut. Beispielsweise können wir nur sagen, was Rot ist, wenn wir wissen, was die Alternativen sind. Sind sie Grün und Blau, wird unsere Antwort anders ausfallen, als wenn wir ein System haben, in dem wir uns zwischen Rot, Weinrot, Zinnober, Purpur und Orange entscheiden müssen. Worauf Barthes hier abzielt, ist, dass du dem System nicht entkommen kannst. Selbst wenn du versuchst ganz neue, revolutionäre Verwendungsweisen von Sprache zu etablieren,  werden diese zwangsläufig nur in Differenz zu dem, was sie nicht sind, Bedeutung erhalten und so letztlich wieder Teil des Systems. Doch auch, wenn dieser Versuch des Surrealismus  gescheitert ist, so trug aber dazu bei, das Bild eines Autors zu profanisieren, diagnostiziert Barthes. Der Surrealismus empfahl, erwartete Bedeutung zu unterlaufen. Mit der Technik des automatischen Schreibens ignorierte die Hand den Kopf. Und das Schreiben zu zweit oder zu dritt trug dazu bei. So, so, interessant …

Da er schon beim Strukturalismus ist, kann Barthes gleich mit der Linguistik fortfahren: Diese trug ebenfalls dazu bei, den Autor zu zerstören, indem sie klarmachte, dass das Ich keine Person, sondern ein grammatisches Subjekt ist. Frei nach Wittgenstein könnte man hier ergänzen, dass Descartes Satz „Ich denke, also bin ich“ Nicht die Existenz des Ichs beweist, sondern dass die Notwendigkeit eines grammatischen Subjekts für das Prädikat „denken“ bewiesen wird. Ich habe in meinem philosophischen Adventskalender darüber geredet. Ihr findet das in der Folge zu „Cogito ergo sum“.

Schreiben ist eine flüchtige Performanz

Im 4. Abschnitt stellt Barthes die These auf, dass die Entfernung des Autors gleichbedeutend ist mit Verfremdung im Sinne Brechts. Bertold Brecht war nicht nur ein lustiger kleiner Mann mit Mütze. Er machte strange Theaterstücke. Brecht verfremdete dabei das Schauspiel absichtlich, um es als Schauspiel für das Publikum erkennbar zu machen. Er richtete also die Aufmerksamkeit auf die Bedingungen des Mediums, um so sein Publikum in die Lage zu versetzen, über das Medium zu reflektieren. Man kann leicht sehen, dass Ähnliches mit dem Text passiert, sobald ich aufhöre, ihn einfach als die Stimme des Autors zu verstehen. Denn dann muss ich anfangen, mir Gedanken zu machen, wie anders der Text denn Bedeutung erlangt.

Während klassisch der Autor als zeitlich vor dem Text betrachtet wurde, wie ein Vater zu seinem Kind. Entsteht der moderne Schreiber zeitgleich mit seinem Text, fährt Barthes fort.

 Er besitzt kein Sein, das vor oder über seinem Buch wäre. Er ist nicht das Subjekt, dessen Prädikat das Buch ist. Es gibt keine andere Zeit als die der Äußerung, und jeder Text ist ewig hier und jetzt geschrieben.

Das klingt ein bisschen, wie ein Song aus Frozen 2. Es ist aber ein Gedanke, den ich gut nachvollziehen kann. Ich habe ihnim Zusammenhang mit Platon schon geäußert: Ich kann Platon philosophiegeschichtlich betrachten als ein Produkt seiner Zeit. Dann kann ich mir Gedanken machen, wie er auf die Ideen kommen konnte, die er hatte. Aber das ist keine philosophische Betrachtung im eigentlichen Sinne. Wenn ich mich für Platons Philosophie interessiere, dann frage ich mich, was seine Texte zu den philosophischen Problemen unserer Zeit beitragen können. Wie ich sie verstehe und nicht wie Platon sie gemeint hat.

Als Nächstes nimmt Barthes Bezug auf die Sprechakttheorie insbesondere auf die von John L. Austin.

Schreiben ist ein Performativ. Eine seltene, verbale Form der Äußerung, die keinen anderen Inhalt besitzt als den Sprechakt selbst,

sagt Barthes. Austin unterscheidet in seiner Theorie der Sprechakte zunächst zwischen Konstativa und Performativa. Die Philosophie hat sich traditionell nur für erstere interessiert, die klassischen Aussagen über die Welt. Austin hingegen kümmert sich um die Performativa: Sprechakte, die eine Handlung darstellen. Etwa ein Versprechen geben, oder das Urteil eines Richters. Ws ist spannend, dass Barthes den Akt des Schreibens dazuzählt. Denn das Ergebnis, der Text ist im Normalfall wahrscheinlich das Paradebeispiel für ein Konstativum. Doch durch die Hervorhebung, dass das Schreiben eine Performanz ist, macht Barthes klar, dass der Akt etwas flüchtiges ist, das nur im Moment des Schreibens existiert. So wie ein Tanz nur in dem Moment existiert, in dem er ausgeführt wird. Folglich fährt Barthes fort:

Der moderne Schreiber kann nicht glauben, dass seine Hand zu langsam für sein Denken oder Fühlen sei. Sodass er nachträglich sein Werk kommentieren müsse.

Man merkt, dass der Text aus einer Zeit stammt, in der es Social Media noch nicht gab. Ich schaue dich an, J. K. Rowling. Und dich George R. R. Martin! Allerdings ist das Argument gut: Das Schreiben ist eine Handlung. Das Ergebnis dieser Handlung ist der Text. Die Idee, dass der Text selbst nicht ausreiche, sondern zu interpretieren sei, indem man sich um die Gedanken des Autors kümmert, ist unter diesem Aspekt fragwürdig. Man stelle sich vor, jedesmal wenn ein Richter jemanden zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, müssten wir uns zunächst überlegen: Wie hat er das gemeint? Oder stellt euch vor, ich verspreche euch, nie wieder über Heidegger zu lästern – was ich nicht tue – und wenn ich dieses Versprechen breche, sage ich dann: Aber meine Intention war eine ganz andere! Austin selbst bringt das Beispiel, am Grab sein Beileid auszudrücken. Bei dieser Handlung ist es vollkommen egal, ob ich mich wirklich schlecht fühle oder dies nur sage, um den Hinterbliebenen irgendwas zu sagen. Die Handlung selbst bringt zum Ausdruck, was sie bedeutet.

Auch das Nächste, was Barthes schreibt, ist wieder spannend, denn er lenkt unsere Aufmerksamkeit wieder auf die medialen Bedingungen, die sich bei Rede und Text unterscheiden:

Die Hand zieht mit der Geste der Einschreibung ein Feld, das von der Stimme gelöst ist, das keinem Ursprung hat, zumindest keinen anderen als die Sprache selbst.

Während ich einem Sprecher Fragen stellen kann, muss der Text für sich alleine stehen. Dass ich überhaupt die Möglichkeit habe, den Autor zu fragen, wie er etwas gemeint hat, stellt beim Lesen die absolute Ausnahme dar und nicht die Regel. Der Autor kann im Normalfall nicht erläutern, was seine Intention war. Ich als Leser muss mir die Bedeutung selbst erschließen.

Everything is a Remix

Den 5. Absatz beginn Barthes mit:

Der Text ist nicht bloß eine Wortzeile, die nur dem Zweck dient, die Botschaft des Autors freizusetzen. Der Text ist stattdessen ein mehrdimensionaler Raum, in dem vielfältige Schreibweisen miteinander harmonieren und ringen. Keine davon ist vorrangig. Der Text ist ein Geflecht von Zitaten, die aus den Tausend Brennpunkten der Kultur stammen.

Im Studium habe ich die schöne Formulierung gelernt, dass der Autor nur ein Interpret seines Werkes ist, aber nicht der vorrangige. Wenn Beispielsweise Shakespeare über Liebe schreibt, dann basiert das auf einem Konzept der Liebe aus dem 16. Jh. Wenn ich das im 21. Jh. lese, bringe ich zwangsläufig ein ganz anderes Konzept der Liebe in den Text ein. Warum sollte die Idee, die Shakespeare von Liebe hatte vorrangig sein? Und wenn sie es ist, warum sollte ich den Text dann heute überhaupt noch lesen? Sind es nicht gerade die Texte, die zeitlos sind, welche wir als besonders wertvoll betrachten? Also gerade nicht diejenigen, die auf die konkreten Gedanken und Gefühle nur eines einzigen Menschen, der Autorin Bezug nehmen?

Barthes sagt, der Autor gleiche Bouvard und Pécuchet. Das sind die zwei Protagonisten des gleichnamigen unvollendeten Schelmenroman von Gustave Flaubert. Worauf Barthes anspielt, ist, dass die beiden Kopisten sind. Bevor es Kopierer gab, mussten Texte von Hand kopiert werden, das war der Job von Kopisten. Und der Autor, so Barthes, ist letztlich auch nur ein Kopist.

Der Schriftsteller kann nur eine frühere, aber niemals eine ursprüngliche Geste nachahmen. Seine einzige Macht besteht darin, frühere Schreibweisen zu mischen.

Das ist die „Everything is a Remix“-These, demnach gibt es keine genuine Originalität. Sondern alles, was wir kulturell erschaffen, ist letztlich durch Vorhergehendes beeinflusst. Als wären wir alle mitteltalentierte Rapper, können wir zwar kreativ neu zusammensetzen, aber nicht neu aus dem Nichts erschaffen. Wenn ihr wüsstet, bei wem ich überall für dieses Video geklaut habe, ihr wärt sehr enttäuscht von mir. Barthes fährt fort:

Sein Inneres kann der Autor nur insofern ausdrücken, wenn er sich bewusst ist, dass sein Inneres selbst ein zusammengesetztes Wörterbuch ist, dessen Wörter sich nur durch andere Wörter erklären lassen, und dies ad infinitum.

Das ist wieder Wittgenstein in Reinform. In seinem berühmten Privatsprachenargument legt er unter anderem dar, dass innere Zustände immer erst in sozialem Kontext gelernt werden müssen. Meinen inneren Schmerz kann ich erst benennen, wenn ich gelernt habe, was äußerer Schmerz ist. Das habe ich als Kleinkind gelernt, indem meine Eltern auf meine Verhaltensweisen mit dem Wort „Schmerz“ reagiert haben. Erst Jahre später kann ich ein deprimierter Teenager werden. Der Autor steht selbstverständlich ebenso in einem solchen sozialen Kontext.

Dann kommen zwei Verweise auf Baudelaires „die künstlichen Paradiese“ und auf Thomas De Quincey, die sich mir nicht erschließen. Wenn ihr die erklären könnt, macht das gerne in den Kommentaren. Ich kann an dieser Stelle nur lächeln und winken. Barthes schließt den Abschnitt mit:

Der Schreiber, der Nachfolger des Autors hat keine Leidenschaften, Stimmungen, Gefühle oder Eindrücke mehr in sich, sondern jenes gewaltige Wörterbuch, aus dem er ein Schreiben schöpft, das keinen Stillstand kennen kann.

Das fasst noch einmal die vorhergehenden Thesen zusammen. Nicht die inneren Zustände der Schreibenden sind entscheidend. Sondern die Worte. Denn wie sollten wir auf diese inneren Zustände zugreifen? Letztlich geht das nur sprachlich. Aber die Sprache liegt uns in Form des Textes ja bereits vor. Und weiter noch: Sowohl die Interpretationsmöglichkeiten des Textes als auch die Autorin haben sich seit dem Schreiben weiterentwickelt, sie kennen keinen Stillstand.

Das Leben imitiert immer nur das Buch,

so Barthes.

Das Buch ist selbst nur ein Geflecht aus Zeichen, verlorene, endlos aufgeschobene Imitationen.

Er beschwört also noch einmal, dass es dem Medium immanent ist, dass der Text für sich selbst stehen muss und dass jedes neue Werk immer schon Inspirationsquellen hatte. Mal größere Inspirationsquellen und mal kleinere, möchte ich süffisant zur Spiegelbestsellerliste rüberschielend hinzufügen.

Was bleibt, wenn der Autor tot ist?

In Abschnitt 6 ist der Autor nun bereits zu Grabe getragen und Barthes stellt sich der Frage, was danach kommt:

Ist der Autor entfernt, wird der Anspruch, einen Text zu entziffern, völlig überflüssig.

Echt jetzt? Das schreibst ausgerechnet du? Hast du mal deine eigenen Texte gelesen? Ich meine, ich liebe sie, aber wenn man etwas entziffern muss, dann diesen Text! Anyway … Barthes fährt fort: Wenn man sagt, ein Text habe einen Autor, dann riegelt man ihn ab, versieht ihn mit einem letzten Signifikat. Damit verweist er wieder auf seine strukturalistische Tradition, insbesondere auf Saussure, den Gründer des Strukturalismus. Signifikat ist die Inhaltsseite, die Bedeutung eines Zeichens. Signifikant hingegen ist die Ausdrucksseite, die Zeichengestalt. Die Frage, was die Bedeutung ist, ist natürlich immer die entscheidende, bei einer Analyse. Und sie zu beantworten ist schwerer als einen Film von David Lynch zu verstehen. Wenn man jetzt sagt, die Bedeutung eines Textes ist die Intention des Autors, dann macht man es sich bei dieser schwierigen Frage sehr einfach.Das diagnostiziert auch Barthes, wenn er schreibt:

Der Buchkritik passt das sehr gut, die es sich zur Aufgabe macht, hinter dem Werk den Autor zu entdecken oder seine Hypostasen: die Gesellschaft, die Geschichte, die Psyche, die Freiheit.

Da frage ich mal ganz eloquent: Hä? Hypo-was? Hypostasen sind verschiedene Gesichtspunkte der gleichen Sache. Danke Wikipedia, was würde ich nur ohne dich machen! Unter diesem Gesichtspunkt ist der Satz ein ziemlich hemdsärmeliges draufschlagen von Barthes auf alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Ich kann verstehen, wenn er den Autor zu Grabe tragen möchte, seine Argumente bis hierhin erschlossen sich mir, die Psyche schenke ich ihm auch noch. Aber Gesellschaft und Geschichte? Das ist doch ein Widerspruch zu seiner „Everything is a Remix“-These weiter oben im Text. Denn wovon sollen denn Texte Remix sein, wenn nicht von anderen Texten, die wiederum Teil von Gesellschaft und Geschichte sind. Was es wiederum heißen soll, dass die Buchkritik hinter dem Werk die Freiheit entdecken will, erschließt sich mir überhaupt nicht. Ein weiteres Mal stehe ich hier, ich armer Tor und bin so schlau als wie zuvor.

Schauen wir mal weiter. Barthes greift nun die Autorität der Literaturkritik an:

Ist der Autor gefunden, dann ist der Text erklärt und der Kritiker hat gesiegt. Daher ist historisch mit der Herrschaft des Autors auch die  des Kritikers verbunden. Und mit  dem Autor gerät auch der Kritiker ins Wanken.

Wenn es keine letztendlich gültige Interpretation mehr gibt, weil die Autorität des Autors sie nicht mehr abnicken kann, dann gerät damit auch die Stellung des Kritikers ins Wanken. Was mir zunächst kontraintuitiv erscheint, macht aber vielleicht doch Sinn, wenn ich mir die Entwicklung der Filmkritik ansehe, denn sie geht immer weiter weg von einem kleinen Kreis von Kritikern, die in Feuilletons über einen Film urteilen, hin zu einem vielstimmigen Chor aus Bloggern, Podcasterinnen, Youtuberinnen und Fans, die Filme kritisieren und interpretieren und dabei ganz eigene Beurteilungsschemata anlegen. Die Frage ist, für was davon ist der tote Autor verantwortlich und wie viel geht auf das Konto des Internets? Barthes sah die Entwicklung aber voraus, als er schrieb:

Indem die Literatur oder das Schreiben sich weigert dem Text (und der Welt als Text) ein Geheimnis, einen letzten Sinn, zuzuweisen, setzt sie eine Tätigkeit frei, die man als kontratheologisch oder revolutionär bezeichnen kann.

Und:

Die Weigerung den Sinn festzulegen, ist gleichbedeutend mit der Ablehnung Gottes und seiner Hypostasen Vernunft, Wissenschaft, Gesetz.

Ah, da sind sie wieder, die Hypostasen. Das sind große Worte und der Strukturalist wirkt hier schon sehr poststrukturalistisch. Aber inhaltlich hat er einen Punkt: In unserer atheistischen, Post-vernünftigen und mit Verschwörungstheorien und Esoterik flirtenden Zeit sind uns so manche ehemals gewisse Autoritäten abhanden gekommen. Man möchte fast den Autor wieder exhumieren.

Die Geburt des Lesers

Kommen wir zum letzten Absatz und kehren in ihm mit Barthes zu Balsacs Satz am Anfang zurück. Wer sagte ihn denn jetzt? Barthes schließt:

Niemand, keine Person sagt ihn. Sein Ursprung liegt im Lesen nicht im Schreiben.

Die lesende Person selbst muss sich also erschließen, was dieser Satz zu bedeuten hat. Barthes schreibt, dass der Altphilologe Jean-Pierre Vernant gesagt habe:

Die griechische Tragödie ist konstitutiv doppelsinnig. Ihr Text ist aus doppeldeutigen Worten gesponnen, die jede Figur einseitig versteht. Dieses ständige Missverstehen ist das Tragische. Es gibt aber jemanden, der die Doppeldeutigkeit versteht und das Missverstehen der Figuren: der Leser.

Mit anderen Worten, schon in der Antike lag die Autorität gar nicht beim Autor sondern bei der Leserin eines Textes. Barthes fast zusammen:

 Der Text besteht aus vielfachen, mehreren Kulturen entstammenden Schreibweisen, die untereinander in einen Dialog, eine Parodie, ein Gefecht eintreten. Der Ort, der diese Vielfalt sammelt, ist nicht der Autor sondern der Leser. Die Einheitlichkeit des Textes liegt nicht an seinem Ursprung sondern an seinem Bestimmungsort. Aber dieser Bestimmungsort kann nicht mehr personal sein.

Okay Boomer, aber warum jetzt noch gleich?

Der Leser ist ein Mensch ohne Geschichte, Biographie, Psychologie. Ein jemand, der alle Spuren zusammenhält, aus denen das Geschriebene besteht.

Ähm, erschließt sich mir jetzt nicht 100%-ig ich bin Leser und habe all das. Ich vermute eher, dass Barthes darauf hinaus will, dass es viele verschiedene Leserinnen gibt, die alle verschiedene Geschichten, Biographien, Psychologien haben. Somit gibt es am Ende auch viele verschiedene Signifikate des Textes und nicht mehr die eine kanonische Interpretation, die auf den Autor zurückzuführen ist. Auch bin ich notwendig beim Lesen immer an einem ganz bestimmten Zeitpunkt in meiner Geschichte, Biografie und Psychologie. Wenn ich heute noch einmal die weirde Kindersex-Stelle in Steven Kings ‚Es‘ lesen würde, würde sie für mich mit Sicherheit eine ganz andere Bedeutung haben als für mein 12-Jähriges Ich. So kann ich mir da zumindest einen Reim draus machen und dann auch mit Barthes zusammen schließen:

Die Geburt des Lesers muss mit dem Tod des Autors bezahlt werden.

Das war er! Der berühmte Essay über den Tod des Autors, vielleicht seid ihr jetzt in eurer Urteilsfindung ein Stück weiter, ob sich das Werk vom Autor trennen lässt. Ich möchte euch abschließend noch mit auf den Weg geben, dass ich hier gerade über weite Strecken versucht habe, die Frage zu beantworten, was uns der Autor Roland Barthes mit seinem Text eigentlich sagen will. Vielleicht habe ich aber auch beim Schreiben die Bedeutung des Textes überhaupt erst erzeugt. Und ihr erzeugt gerade beim Lesen eine ganz andere. Denkt mal darüber nach …

Performanz

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Daniel
tanzt mit performativer Kompetenz

Adventskalender Türchen 16

In diesem Advent präsentiere ich euch einen kleinen philosophischen Adventskalender. Jeden Tag stelle ich einen philosophischen Begriff vor und mache mir ein paar Gedanken dazu.

Heute geht es um Performanz.

 

 

Platon – Wissen ist Wahrnehmung

Ich möchte mich ab heute dem nächsten großen Block zuwenden und euch von Platons Erkenntnistheorie erzählen. Ihr könnt das als Video angucken oder darunter das Transkript lesen. Wenn ihr Quellenangaben wünscht, fragt mich in den Kommentaren!

Der Dialog Theaitetos

Die beiden wichtigsten Dialoge zu Platons Erkenntnistheorie sind der Menon und der Theaitetos. Ich werde mich zunächst hauptsächlich auf den Theaitetos beziehen, denn in ihm werden einige klassische Probleme der Epistemologie verhandelt, die noch heute relevant sind. Platons These, wie menschliche Erkenntnis möglich ist, findet sich dann allerdings im Menon. Wir kommen dazu …

Der Theaitetos ist ein spannender Dialog, da er einerseits aus Platons Spätwerk stammt, andererseits aber viele Aspekte eines frühen platonischen Dialogs aufweist, so wird hier ein einzelnes Problem untersucht: Die Frage, was Wissen ist. Außerdem endet der Dialog wie viele frühe Werke aporetisch, also mit einem offenen Ende, ohne konkretes Ergebnis.

Der Theaitetos beginnt auch sehr klassisch. Sokrates, der junge Mathematiker Theaitetos und sein Lehrer Theodoros beginnen ein Gespräch, indem Theaitetos gefragt wird, was Wissen ist und erst einmal eine extensionale Antwort gibt. Er zählt also auf, was alles unter den Begriff des Wissens fällt: Zum Beispiel Mathematik, verschiedene Handwerkskünste, Platons Apfelkuchenrezept oder was zur dunklen Seite der Macht führt.

Natürlich wird Theaitetos als nächstes nicht weniger klassisch von Sokrates belehrt, dass es ihm nicht um diese Aufzählung von Beispielen gehe, wenn er eine „Was ist …?“-Frage stellt. Stattdessen geht es ihm um die Intension des Begriffs, seine Bedeutung oder (verkürzt gesprochen) die Definition.

Die erste Definition von Wissen

Nach einigem Hin und Her gibt Theaitetos dann Sokrates und uns Lesern eine erste Definition für Wissen: Wissen ist Wahrnehmung. Und das ist eine wirklich spannende Antwort. Auf den ersten Blick wirkt sie sehr naiv, besonders wenn man bedenkt, dass Theaitetos Mathematiker sein soll. Dass ausgerechnet ein Mathematiker glaubt, Wissen sei Wahrnehmung, interpretiere ich übrigens als einen kleinen Witz von Platon. Ich kann mir richtig gut vorstellen, wie der alte Mann ihn leise kichernd in seine Wachstafel ritzte.

Aber neben einem Scherz ist diese Antwort zugleich die Begründung einer wissenschaftlich-philosophischen Tradition, die über die britischen Philosophen der Neuzeit und den Wiener Kreis bis heute fortgeschrieben wird: den Empirismus. Zwar ist dieser längst über Theaitetos‘ naive Version hinaus und setzt Wahrnehmung und Wissen nicht mehr gleich. Aber die Grundidee, die schon hier im Dialog auftaucht, ist die gleiche geblieben: Auf der Suche nach Erkenntnis müssen wir uns auf das verlassen, was wir wahrnehmen beziehungsweise messen können.

Die Gegenthese ist übrigens der Rationalismus, der wiederum vor allem auf das setzt, was wir denkend erkennen können. Platons oben erwähnter Witz hat die Pointe, dass das Paradebeispiel des Rationalismus‘ immer die Mathematik ist.

Der Mensch ist das Maß aller Dinge

Doch zurück zum Dialog: Sokrates erwidert, dass die These „Wissen ist Wahrnehmung“ seiner Meinung nach das gleiche sagt wie der berühmte Satz des Sophisten Protagoras: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge.“ Dieser Satz von Protagoras, den ihr nicht mit Pythagoras verwechseln solltet, ist wiederum so etwas wie der Artikel 1 einer weiteren philosophischen Strömung: des Relativismus. Der Relativismus ist die schlechte philosophische Angewohnheit, immer alles relativieren zu müssen. Echt ey, nie können wir euch eure absoluten Wahrheiten lassen! Also fast nie. Relativ gesehen.

Der Relativismus sagt, es gibt nicht die eine Wahrheit, sondern jede von uns hat ihre eigene kleine Wahrheit je nach Kontext. Das ist eine sehr spannende These, die mir auch äußerst sympathisch ist, und die unglaublich viele Chancen und noch mehr Risiken mit sich bringt. Aber was hat das mit Theaitetos‘ „Wissen ist Wahrnehmung“ zu tun?

Nun, hier steckt der nächste riesige Brocken philosophischer Probleme drin, genauer gesagt die sogenannte Qualia-Debatte. Auch wenn die mitunter eine Qual ist, hat sie mehr mit Qualitäten zu tun. Ihr habt wahrscheinlich noch nie etwas von ihr gehört aber trotzdem kennt ihr sie alle. Denn es handelt sich um die Suche nach der Antwort auf eine der ersten philosophischen Fragen, die sich Menschen als Teenager stellen. Die gleiche Frage, die nachts um drei bekifft in der WG-Küche diskutiert wird: Ist das, was ich als Rot wahrnehme auch für dich rot? Wir nennen es zwar beide so, aber vielleicht sieht dein Rot blau aus. Sokrates bringt hier ein anderes Beispiel: Der Wind, der die eine frieren lässt, ist für die andere eine angenehme Erfrischung.

Wissen ist das Gegenteil von Irrtum

Sokrates fährt fort, indem er Wissen als das Gegenteil von Irrtum definiert. Das ist ziemlich einleuchten, oder? Wenn ich etwas weiß, dann habe ich mich nicht geirrt. Wenn ich mich irre, habe ich kein Wissen. Daraus folgt, dass, wenn Wahrnehmung Wissen ist, dass ich mich dann nicht in einer Wahrnehmung irren kann. Soweit klar?

Bevor Platon mit der Prüfung dieser These beginnt, schweift er dann erst noch einmal kräftig ab und lässt Sokrates viel Zeug über Werden und Gleichbleiben schwafeln, das ich in etwa so spannend finde wie die zweite Staffel von The Wire, sodass ich es hier einfach ganz dreist weglasse.

Als Platon Sokrates wieder auf Spur gebracht hat, lässt er ihn Argumente gegen die These liefern, dass man sich in seinen Wahrnehmungen nicht täuschen kann. Im Traum wisse man zum Beispiel nicht, dass man träume, glaubt aber wahrzunehmen. Meine Wahrnehmung ist also ein Irrtum. Auch Menschen mit Psychosen glauben, Wahrnehmungen zu haben, die aber objektiv betrachtet nicht da sind. Und im kleinere Maßstab hatten wir alle schon mal eine Halluzination und glaubten etwa, etwas zu riechen, wovon in Wirklichkeit kein Duft in der Luft lag. Entsprechend gibt es durchaus diverse Möglichkeiten, sich in seinen Wahrnehmungen zu irren. Soweit ist das klar, oder?

Zurück zum Relativismus

Aber waren wir nicht vorhin noch beim Relativismus und haben diesen dann ganz schamlos bei Seite liegen lassen? Keine Sorge: Für das nächste Argument gegen die These, dass Wahrnehmung Wissen ist, schlägt Sokrates den Bogen zurück zu Protagoras. Wenn Wissen Wahrnehmung ist, die wahrgenommene Welt jedem anders erscheint und obendrein das auch noch richtig und wichtig ist, wie die Bundesregierung sagen würde, dann folgt daraus, dass ich von niemandem sagen kann, dass sie mehr Wissen als eine andere habe.

Das ganze läuft dann nämlich ab wie eine Diskussion auf Facebook: Ich sage, es gibt keine Chemtrails, ich sehe bloß Kondensstreifen. Aber mein Widersacher, nennen wir ihn mal Aluhutträger1984, entgegnet einfach: Das ist falsch, ich sehe doch den Unterschied zwischen normalen Kondensstreifen und gefährlichen Chemtrails. Wenn also Wissen gleich Wahrnehmung wäre, dann ließe sich nicht entscheiden, wer von uns beiden Recht hat. Wir hätten beide Recht, schließlich nehmen wir das ja wahr.

Fremde Sprachen hören und verstehen

Sokrates gibt ein weiteres Beispiel gegen die „Wissen ist Wahrnehmung“-These: Wenn ich eine mir unverständliche Fremdsprache höre oder lese, dann nehme ich sie wahr, aber ich weiß nicht, was sie bedeutet. Theaitetos wendet ein, dass man da unterscheiden müsse: Ich weiß nämlich noch immer etwas – den Klang, bloß seine Bedeutung nicht.

Puh, die Frage ist, ob wir hier wirklich noch von Wissen sprechen können. Denn – vielleicht kennt ihr das Phänomen – wenn ich einen Film auf Englisch sehe und die Menschen sprechen da schnell und womöglich sogar Slang, und wenn ich dann  irgendwann den Faden verliere, dann ist es mir nicht einmal mehr möglich, Wortgrenzen herauszuhören. Erst wenn ich wieder ein mir bekanntes Wort gehört habe, beginnt die Sprache wieder Struktur für mich auszubilden, davor war sie nur Rauschen und ich würde nicht sagen, dass das Wissen ist. Wenn ich mich nachts auf meinen Balkon stelle und Frankfurt rauschen höre, sage ich ja auch nicht, dass ich dadurch Wissen von der Stadt habe.

Theaitetos macht hier den Fehler, zu glauben, dass Hören und Interpretieren zwei getrennte Dinge sind. Aber unser Gehirn strukturiert das, was wir Hören schon vor. Im Studium habe ich zum Beispiel mal gehört, dass es im Finnischen einen Laut zwischen *ü* und *i* gibt, den wir Deutsche nicht hören und entsprechend auch nicht sprechen können. Denn unser Gehirn presst das Geräusch immer in eine der beiden schon existierenden Schubladen, nur so ist Spracherkennung überhaupt möglich. Aber selbst wenn es anders wäre, wäre es äußerst fragwürdig, ob man Hören ohne Interpretation wirklich Wissen nennen könnte.

Der performative Widerspruch

Obwohl die Sache für mich schon längst geritzt ist, hört Sokrates nicht auf, auf der naiven These des armen Theaitetos herumzuhacken und das auch noch ziemlich kleinlich: Wenn ich etwas sehe, dann weiß ich, wie es aussieht. Wenn ich mich später daran erinnere, weiß ich das noch immer, ohne jedoch eine Wahrnehmung zu haben. Dieses Argument geht wirklich nur auf, wenn man die engste und naivste Auslegung von Theaitetos‘ These wählt.

Deswegen lassen wir das schnell hinter uns und wenden uns Platons Königsargument zu: Dem performativen Widerspruch. Der performative Widerspruch ist ein Widerspruch, der in dem Moment zutage tritt, wenn ich einen Satz äußere, also einen performativen Akt vollziehe.

Wieder geht es dabei um Protagoras‘ Satz: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge.“ Wenn dieser Satz bedeutet, dass für jeden Menschen das wahr ist, was ihm wahr erscheint, dann muss dies auch für ebenjenen Satz von Protagoras gelten. Wenn ich also sage: „Yo Protagoras, dein Satz ist so falsch wie die Vorurteile der AfD gegenüber Ausländern. Es gibt wohl eine absolute Wahrheit, die für alle gilt.“ Dann kann Protagoras dem schlichtweg nichts entgegen, denn, dass ich das so sehen kann, folgt ja logisch aus seinem Satz. Aber das heißt einmal mehr nichts anderes als: Protagoras‘ Relativismus kann nicht wahr sein.

Natürlich könnte ich jetzt noch problematisieren, ob der Empirismus des Theaitetos‘ immer mit Relativismus einhergehen muss. Aber das spare ich mir, denn die zwingende Widerlegung der These ist ja auch ohne diese Schlussfolgerung längst erfolgt, als Sokrates aufwies, dass ich mich in Wahrnehmungen irren kann und Irrtum nicht Wissen sein kann.

Also wenden wir uns der nächsten Definition von Wissen zu. Im Dialog ist hier übrigens die Untersuchung der ersten Definition noch nicht zu Ende, es werden weitere Argumente vorgebracht und zudem wird das eine oder andere Mal abgewichen. Aber für unsere Zwecke soll das für heute reichen, denn es ist ein sehr rundes Ergebnis und zeigt, wie eine philosophische Untersuchung im besten Falle ablaufen kann. Das nächste Mal setzen wir uns dann mit der zweiten These des Theaitetos auseinander: Wissen ist wahre Meinung.

Platon – Was ist das Gute?

Heute möchte ich heute einen sehr langen Bogen zurückschlagen. Er innert euch: Ich begann meine Platon-Reihe mit den drei Gleichnissen, die uns zu diesem ganzen Mindfuck von Platons  Metaphysik führten. Aber die Frage, die in den Gleichnissen gestellt wurde, war ja – zumindest vordergründig – eine ganz andere. Nämlich: Was ist das Gute? Wie immer habt ihr die Wahl: Oben Video, darunter Text.

Das Gute – ein höchst metaphysisches Konstrukt

Tja, was ist das Gute denn jetzt? Wir wissen vom letzten Mal, dass wir es anstreben sollen und wollen, wir wissen auch, dass wir uns darin irren können, was es  ist. Aber wir wissen noch immer nicht, was es verdammt noch einmal ist, dieses Gute! Schon bei den Gleichnissen hat Platon immer nur um den heißen Brei herumgeredet. Jetzt muss er doch mal sagen, ob es zum Beispiel gut ist, Kriegsflüchtlingen Asyl anzubieten oder, ob es gut ist, die Grenzen zu schützen! Was hat einen höheren moralischen Wert: Das Selbstbestimmungsrecht der Frau über ihren eigenen Körper oder das Recht auf Leben des ungeborenen Kindes?

Aber leider macht Platon es uns nicht so einfach, hier eine definitive Antwort zu geben. Er kommt in all seien Dialogen nie so richtig hinter dem Berg damit hervor, worin das Gute besteht. Wir hatten ja schon am Höhlengleichnis gesehen, dass er die Auffassung vertrat, dass man erst nach einer ausgiebigen Beschäftigung mit Philosophie die Erkenntnis erlangt, worin die Idee des Guten besteht. Sie uns einfach so hinzuschreiben, hielt er sogar für gefährlich, wie wir noch sehen werden, wenn wir uns mit seiner Schriftkritik befassen. Möglicherweise kam er auch nie zu einem abschließenden Ergebnis, was gut ist und was nicht. Fest steht zumindest, dass das Gute für Platon ein höchst metaphysisches Konstrukt ist und nicht in klaren Regeln besteht. Eine Tatsache für die ihn sein Schüler Aristoteles stark kritisiert hat.

Hedonismus und Wissen

Allerdings verschweigt Platon auch nicht vollkommen, was er über das Gute denkt, sondern greift das Thema immer wieder auf. So prüft er zum Beispiel im Dialog „Der Staat“ zwei zu seiner Zeit populäre Theorien. Zum einen ist das „Das Gute besteht in der Lust“. Das ist die These des Hedonismus, der zu Platons Lebzeit prominent von Aristippos von Kyrene vertreten wurde. Und zum anderen die These „Das Gute besteht im Wissen“. Das war ja die These, die – wie wir sahen – mehr oder weniger Sokrates vertreten hatte.

Dass Lust das Gute ist, verwirft Platon mit dem ziemlich guten Argument, dass es auch schlechte Lust gibt. Wir hatte schon den Junkie als Beispiel, der sicher viel Lust am nächsten Schuss haben wird. Allerdings dürfte es schwer zu begründen sein, dass dies eine gute Tat ist. Im Dialog „Gorgias“ bringt Platon ein noch stärkeres Argument gegen Lust als das Gute. Ich möchte es, das „Ramsay Bolton“-Argument nennen: Ein Mensch, dem es Spaß macht, andere Menschen zu quälen. Während ich beim Junkie zumindest noch argumentieren kann, dass dieser nur sich selbst schadet, wird es jetzt fast komplett aussichtslos, ein Argument zu finden, dass die Lust am Leid anderer etwas Gutes ist. Nicht die Lust kann das Gute sein, stattdessen muss das Gute hinzukommen, damit wir beurteilen können, ob eine Lust etwas Gutes ist.

Aus ganz ähnlichen Gründen scheitert auch die These, dass das Gute im Wissen besteht. Wieder wendet Platon ein, dass nicht jedes Wissen gut ist. Das Wissen, wie ich ein Selbstmordattentat verübe, ist sicher nichts Gutes. Wenn überhaupt ein Wissen als Kandidat um das Gute in Frage kommt, dann das Wissen, um das Gute. Aber diese Antwort ist wieder einmal ein Zirkelschluss: Ich begründe A mit B und B wieder mit A. Was ist das Gute? Wissen. Welches Wissen? Das Wissen um das Gute. Das ist ein logischer Fehler, es ist keine gültige Antwort und daher scheidet das Wissen auch aus im Rennen um die Frage, was das Gute ist.

Relativismus vs. objektiv Gutes

Wenn Platon also nie sagt, was das Gute ist, aber immer wieder betont, was es nicht ist, dann legt das ja den Schluss nahe, dass es das Gute überhaupt nicht gibt. Sophisten wie Protagoras vertraten diese Position. Berühmt wurde der Satz von Protagoras „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“, also die Ansicht, dass jede Erkenntnis und jede Moral nur menschengemacht und somit relativ ist. Doch ihr ahnt es schon: In mehreren Dialogen bezog Platon ebenfalls massiv Stellung gegen den sophistischen Relativismus, also dass es kein absolut Gutes gebe, sondern gut und böse für jede Kultur, jede soziale Schicht oder gar jeden Menschen etwas anderes sind. Dagegen spricht ein weiteres berühmtes logisches Argument: Der performative Widerspruch. Wenn ich sage: „Es gibt keine allgemeingültige Moral, daher kann jede machen, was sie will“, dann handelt es sich dabei ebenfalls um eine moralische Maxime, von der ich den Anspruch habe, dass sie allgemeine Gültigkeit hat, obwohl ich gerade bestritten habe, dass es so etwas gibt. Die Performanz meines Sprechakts steht somit im Widerspruch zum Inhalt meiner Äußerung. Wir werden dies wieder aufgreifen, wenn wir uns mit Platons Erkenntnistheorie beschäftigen.

Nein, den Relativismus lehnte Platon stets ab. Seine zentrale philosophische Bemühung, die gesamte Ideenlehre, ist dem Versuch geschuldet, die Ethik auf ein objektives Fundament zu stellen. Aus den Lehren des Sokrates und dann den frühen platonischen Dialogen war ein zentrales Problem hervorgegangen: Eine haltbare Definition des Guten zu finden und auch wenn Platon uns diese nie liefert, so steht für ihn unumstößlich fest, dass es das Gute gibt und dass es etwas objektives ist.

Ein metaphysischer Schauer am Ende

In den Gleichnissen hatten wir verschiedene metaphysische Erklärungen gesehen, worin der Status des Guten besteht. Diese halte ich persönlich allesamt für wenig glaubwürdig und muss sie nicht noch einmal wiederholen. Ihr könnt euch ja die entsprechenden Folgen ansehen. Lediglich die These aus dem Höhlengleichnis ist nicht unplausibel: Dass die Erkenntnis, was das Gute ist, die schwerste von allen ist und sich erst nach langer und intensiver Auseinandersetzung mit Philosophie beantworten lässt. Dies ist die Lehre des Sokrates, die Platon verinnerlicht hat: Philosophie im Allgemeinen und die Suche nach dem Guten im Besonderen ist nichts, was sich einfach in einem Buch nachlesen lässt. Sie muss gelebt werden, erst dann wird dich eines Tages die Erkenntnis mit einem metaphysischen Schauer ergreifen. Und du wirst verstehen, worin das wahre Gute besteht.

Sehr ihr das genauso? Oder ist das für euch nur Geschwafel? Schreibt mir doch mal einen Kommentar! Beim nächsten Mal lassen wir die Ethik ein Stück weit hinter uns und tauchen in Platons politische Philosophie ein.

Metaphysische Spuren an performanten Medien

Oder kurz: Medientheorie

Wenn du ins Internet über Sprache schreibst, kommt früher oder später immer jemand, der oder die behauptet, dass es doch total egal ist, ob wir etwa „Zigeunersauce“ oder „Negerkuss“ sagen. Wichtig wäre doch allein, was wir meinen oder denken und es sei doch ganz klar, dass sie keine Rassisten seien, bloß weil sie Worte verwenden, die so klingen. Eine beliebte Variante dieses Arguments ist auch gerne die Marxsche Wende, dass es doch egal ist, was wir sagen. Statt dessen zählten allein unsere Handlungen.

Ein Fernseher ist ein Medium. Zeigt er Loriot, ist er sogar ein gutes Medium.
Ein Fernseher ist ein Medium. Zeigt er Loriot, ist er sogar ein gutes Medium.

Einmal ganz davon abgesehen, dass diese Einstellung übersieht, dass eine sprachliche Äußerung immer auch eine Handlung ist (womit ich mich zu anderer Zeit noch einmal auseinandersetzen werde), ist sie auch deswegen falsch, weil die Sprache das Medium meiner Gedanken ist. Somit ist wesentlich für meine Weltsicht, meine Lebensform, meine Wünsche, Träume und Überzeugungen, welche Worte ich verwende.

Ich möchte und werde diesen Gedanken in Zukunft weiter ausführen, doch um ihn zu verstehen, muss ich zunächst einmal erklären, was ein Medium ist. Denn der Begriff des Mediums ist selbst so kompliziert weil so unscharf in unserer alltäglichen Verwendung, dass ich für seine Bestimmung einen ganzen Blogpost brauchen werde.

Wie immer gilt: was ich hier schreibe ist nicht auf meinen Mist gewachsen. Es geht auf viele schlaue Köpfe zurück, die ich im Laufe des Textes und als Literaturtips am Ende auch nennen werde. Allerdings werde ich nicht Zitate im einzelnen belegen, dies ist ein Blogpost, den ich an einem grauen Novembernachmittag runterschreibe und keine wissenschaftliche Arbeit.

Von der Metaphysik zurück zum Alltag

Wie fange ich an? Gemäß Wittgenstein am besten damit, dass ich den Begriff von seiner metaphysischen wieder in seine alltägliche Sphäre zurückführe und mal schaue, wie wir ihn verwenden. Wir alle benutzen das Wort „Medium“ ständig. Es ist von alten und neuen Medien die Rede, von Massenmedien, vom Medium Zeitung, Internet, Fernsehen oder Radio. Wir alle haben extensional eine ziemlich exakte Vorstellung davon, was der Begriff umfasst, ohne dass wir ihn im einzelnen intensional definieren können. Versuchen wir es, kommen wir schnell auf Begriffe wie Sender und Empfänger, Symbole, Botschaften, Bilder oder Sprache.

Diese stümperhafte, stichprobenartige Analyse unseres alltäglichen Medienbegriffs stößt uns gleich auf eine erste Unterscheidung. Es gibt einen weiten und einen engen Medienbegriff. In der weiten Verwendung meint der Begriff des Mediums immer etwas das als Träger oder Mittel für etwas anderes dient. Wir sprechen dann vom Licht als Medium des Sehens, vom Wasser als Medium des Schwimmens, vom Auto als Medium der Fortbewegung und vielleicht sogar vom Kran als Medium des Hochhausbaus.
Demgegenüber steht die enge Verwendung des Medienbegriffs. In dieser hat ein Medium immer etwas mit einer Botschaft (im Sinne von Message nicht im Sinne von Spionage), mit einem Symbolsystem zu tun. Die Zeitung bringt uns die Nachrichten, das Internet bringt uns Meme, im Fernsehen läuft die Daily Soap und im Radio laufen die aktuellen Charts.

Ich bevorzuge diesen engen Medienbegriff aus zweierlei Gründen. Zum einen kommt er meines Erachtens dem alltäglichen Gebrauch des Wortes „Medium“ näher und das sollte immer unsere Basis sein. Die weite Verwendung erscheint mir eher wie eine Metapher. Erst wenn ich anhand von Büchern, Filmen, Comics, CDs etc. verstanden habe, was ein Medium ist, kommt es mir überhaupt in den Sinn soetwas wie Licht oder ein Auto Medium zu nennen.

Zum anderen ist ein Begriff ein Terminus und in diesem steckt der lateinische Ausdruck für Grenze oder Grenzpunkt. Ein Begriff begrenzt immer eine Bedeutung, indem er sie von anderen Begriffen mit anderen Bedeutungen unterscheidet. Daher sind Begriffe, die letztlich alles bedeuten können, sinnlos. Ich habe so den Eindruck, als würde genau das auf unseren weiten Medienbegriff zutreffen.

The medium is the message

Einer der berühmtesten Medientheoretiker war Marshall McLuhan, der für genau zwei Sachen berühmt ist: 1. Den Satz „The medium is the message“ und 2. seinen Gastauftritt in Woody Allens Annie Hall:

Ich habe McLuhan zwar in meinem Studium gelesen, aber das ist so lange her, dass ich mich kaum daran erinnern kann. Daher kann ich nicht genau sagen, was er mit seinem Zitat meinte, aber ich kann zumindest sagen, was in der Rezeption, besonders in der popkulturellen allzu oft daraus gemacht wurde: Nämlich die Behauptung, dass die Botschaft gar keine (gesonderte) Rolle mehr spiele, dass sie im Medium aufgehe und nicht von dem Medium losgelöst werden könne. Das ist in etwa das diametrale Gegenteil der Position der oben erwähnten Anhänger einer strikten Unterscheidung von Sagen, Denken und Handeln. Und ich denke, es ist zumindest in diesem Extremismus genauso falsch.

Spielen wir dafür mal folgendes Sprachspiel durch:

Ein Land, nennen wir es „Gondor“ wird von einem verfeindeten Land, nennen wir es „Mordor“ angegriffen. Gondor möchte nun seinen Verbündeten mit dem hypothetischen Namen „Rohan“ zu Hilfe rufen. Gondor möchte also die Botschaft „Hilfe“ mit einem Medium nach Rohan transportieren. Wären Medium und Botschaft eine nicht zu trennende Einheit, könnte Gondor das nur mit dem hypothetischen Medium „Zettel in der Hand eines Boten machen“. Es ist nun leicht einzusehen, dass Gondor statt dessen noch ganz andere Möglichkeiten hat: Raben mit Zettel versehen, Telefon, Whatsapp oder so etwas weit hergeholtes wie Leuchtfeuer.

Worauf ich hinaus will ist also, dass ein Medium weder unlösbar mit einer Botschaft verbunden ist, noch sich komplett neutral gegenüber der Botschaft verhält.

Die symbolisierende Performanz

Mein ehemaliger Prof. Christian Stetter vertritt die Auffassung vom Medium als symbolisierender Performanz. Dieser Medienbegriff hat eine ganze Reihe Vorteile, aber auch ein paar Nachteile. Was meint „symbolisierende Performanz“?

Zum einen steckt da wieder der Enge Medienbegriff drin: Medien haben immer etwas mit Symbolen zu tun. Sie erzeugen oder transportieren Symbole. Zum anderen steckt die Performanz drin, die uns vor allem aus der Kunst oder dem Tanz in irgendwelchen Castingshows bekannt ist. Eine Performanz ist ein Vollzug, eine Handlung, etwas, das zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfindet und dann wieder vorbei ist. Wie hängt das nun mit unserem Medium zusammen? Ganz einfach: Ein Medium transportiert Symbole, aber es ist kein Ding, sondern ein Vollzug.

Das erscheint zunächst einmal kontraintuitiv, besonders wenn wir uns wieder an der alltäglichen Verwendung abarbeiten. Aber es ist gar nicht so kontraintuitiv, wenn man darüber nachdenkt: Eine Zeitung ist nur dann ein Medium für Nachrichten, wenn ich sie lese. Wenn ich hingegen mein Geschirr bei einem Umzug damit polstere, ist es bloß noch ein Ding, das ich als austauschbares Mittel zu irgendeinem Zweck einsetze. Mit Büchern kann ich hervorragend Blumen oder Herbstlaub pressen, aber das macht sie nicht zum Medium für einen Roman. Erst das Lesen macht sie dazu. Das iPad könnte ich als Brettchen zum Hacken von Kräutern benutzen, aber erst wenn ich etwa damit im Internet surfe, wird es zu einem Medium fürs Internet. Und ich hatte mal ein Handy, mit dem ich hervorragend Bierflaschen öffnen konnte. Aber erst wenn ich damit telefonierte, wurde es zum Medium für meine Gespräche.

Christian Stetter verdeutlicht diesen Punkt, indem er den Begriff des Mediums von dem des Mittels abgrenzt. Ein Mittel ist eine Handlung zu einem bestimmten Zweck, die diesem Zweck vorausgeht und die austauschbar ist. Mein Zweck ist es, unversehrtes Geschirr in meiner neuen Wohnung zu haben, das Mittel ist die Polsterung dieses Geschirrs. Aber ich kann außer mit Zeitungen auch mit Luftpolsterfolie polstern. Will ich hingegen einen Roman lesen, so muss ich zum Buch greifen und das Lesen der Geschichte funktioniert auch nur solange ich das Buch zur Hand habe. Lege ich das Medium weg, so steht mir meine Botschaft nicht mehr zur Verfügung. Ein Mittel ist hinreichende Bedingung zur Erreichung eines Zwecks. Das Medium hingegen ist notwendige Bedingung.

Diese pragmatische Wendung des Medienbegriffs weg vom Ding hin zur Handlung ist meines Erachtens eine clevere Näherung an den Begriff, allerdings hat sie auch ein Problem: Denn sie kann nicht den Unterschied zwischen ephemer und persistent erklären, den Stetter in der Sprachwissenschaft selbst aus Tapet brachte: Ein wesentlicher medialer Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Sprache ist, dass gesprochene Sprache ephemer ist, vergänglich, ja flüchtig. Ausgesprochen ist das Wort auch schon wieder verschwunden. Die geschriebene Sprache ist hingegen persistent. Das geschriebene Wort steht wie eine Skulptur auf dem Papier, dem Stein oder dem Bildschirm und kann jederzeit wieder betrachtet werden. Diesen Unterschied kann ich aber nicht erklären, wenn ich das Medium selbst als Performanz verstehe. Denn Performanzen sind Handlungen, Ereignisse, also per se immer ephemer. Es muss zur Performanz also noch etwas anderes hinzukommen: ein physisches Substrat. Aber das nur am Rande, denn mein Studium liegt jetzt auch schon ein paar Jährchen zurück und ich kenne die neuesten Entwicklungen in der Medientheorie nicht.

Die Spur des Mediums

Kommen wir lieber zurück zur These, dass das Medium die Botschaft ist. Sybille Krämer hat eine sehr elegante Lösung gefunden zwischen dem Widerstreit in der Position, dass das Medium und die Botschaft unlösbar voneinander sind und jener, dass das Medium gar keinen Einfluss auf die Botschaft hat. Sie löst dieses Problem aristotelisch, indem sie feststellt, dass Medium und Botschaft zwar durchaus zwei getrennte Phänomene sind (ob Dinge oder Handlungen, lass ich jetzt mal dahingestellt), dass aber der Botschaft „die Spur des Mediums“ anhaftet.

Eine wunderbar Metapher, wie ich finde. Sie wird auch jedem sogleich verständlich, der schon einmal die Verfilmung eines Buches gesehen hat, das er zuvor gelesen hat. Im Grunde erzählen beide die gleiche Geschichte: Etwa dass Frodo einen Ring in einen Vulkan schmeißen soll. Aber dem Buch steht dabei alle Zeit der Welt zur Verfügung. Romane, für die ich hunderte Stunden Lesezeit brauche, sind kein Problem im Medium des Buches. Hingegen ist das Medium Spielfilm diesbezüglich beschränkt. Es kann nicht jeden bekloppt vor sich hin singenden und tanzenden Nebencharakter eine Stunde Screentime gewähren. Auch funktionieren manche Dinge im Film überhaupt nicht, die im Buch hervorragend klappen. Lady in the Lake hat uns gezeigt, dass ein Film mit Ich-Erzähler nicht funktioniert. Hintergrundgeschichten und innere Monologe sind andere Probleme des Films. Aber der Film kann anderes schaffen: Bilder. Er zeigt uns, wie ein Balrog aussieht, nimmt uns mit zum Mond oder lässt in der Matrix die Schwerkraft nur als eine Option erscheinen.

Ich schaue gerade die Serie Six Feed Under und an dieser sieht man hervorragend, wie das Medium Internet das Medium Serie verändert hat. Die Serie ist von 2001, also aus einer Zeit, in der Streaming noch keinerlei Rolle spielte und auch die DVD gerade erst dabei war, das Video abzulösen. Damals wurden Serien noch fast ausschließlich im Fernsehen gesehen. Pro Woche eine Episode. Das zeigt sich in Six Feed Under am Intro, das geschlagene 1:39 Minuten dauert.

Das ist kein Problem, wenn ich es bloß einmal in der Woche sehe, denn es ist ein sehr gut gemachtes Intro. Aber wenn ich Serien streame und mir eine Folge nach der anderen angucke, nervt das ungemein. Dem gegenüber stammt die Serie Breaking Bad von 2008. DVDs waren da schon ein alter Hut. Streaming allgegenwärtig und den Machern war vollkommen bewusst, dass die Zuschauer eine Folge nach der anderen hintereinander weggucken werden. Was dazu führt, dass das Intro sechs Akkorde und ein Grillenzirpen lang ist, 17 Sekunden.

An dem Medium Serie haftet die Spur des Internets… Nebenbei zeigt es auch, dass Medien in Medien in Medien verschachtelt sind…

Soweit soll das genügen. Jetzt habe ich meinen Medienbegrif vorgestellt und kann nun demnächst mal abbiegen in Richtung „Die Sprache ist das Medium meiner Gedanken“. Aber ich kann auch genauso betrachten, inwiefern das Medium Internet Botschaften verändert, die ehedem uns anders übermittelt wurden.

Ich bin raus. vorerst…

 

Literatur:

 

*hinterhältiger Affili-Link, danke fürs Klicken!