Die FAZ schrieb gestern, dass die SHZ schrieb, dass Hamburg jetzt doch kein Vorreiter sein will in Sachen Digitaltechnik an Schulen. Allein diese Einführung ist so wundervoll, dass sich au dieser Metaebene stundenlang über den Artikel diskutieren ließe.
Vor allem weil die FAZ mittlerweile maximal intransparent den Artikel schlichtweg durch einen anderen ersetzt hat, der darauf verweist, dass das Projekt doch nicht gestoppt wurde. Hier kann man das schön an an der URL sehen: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/wegen-gesundheitsbedenken-hamburg-stoppt-w-lan-an-schulen-13295887.html. Es ist fast so, als habe tatsächlich jemand aus dem Frankfurter Redaktionshaus diesen Artikel gelesen und festgestellt, wie halbseiden er zusammengezimmert worden ist. Das ist sehr schade, da der ursprüngliche Artikel ein Paradebeispiel für eine „Standardsituation der Technologiekritik“ war.
„Jesus konnte übers Wasser gehen.“ „Na und? W-LAN geht sogar durch Wände.“
— Privatsprache (@Privatsprache) 11. Oktober 2012
Zum Glück gibt es ja die Wayback Machine... Und so steht uns nach wie vor dieses argumentative Kunstwerk zur Verfügung. Also schauen wir doch noch einmal, was die FAZ gestern noch schrieb, aber vor allem, wie sie es schrieb. Hamburg habe sein Pilotprojekt gestoppt, weil…
„…Fragen wegen möglicher Strahlenbelastung durch die hierfür benötigten W-Lan-Verbindungen nicht völlig geklärt seien“
Es werden zwar auch noch „datenschutzrechtliche“ und „andere juristische Probleme“ erwähnt, aber im Fortlauf konzentriert sich die FAZ auf den Gesundheitsaspekt. Wobei die Argumentation, so wie sie dann in der FAZ folgt, maximal verworren ist. Die FAZ tritt dem parteilosen Bürgerschaftsabgeordneten Walter Scheuerl zur Seite, der „mit mehreren Gutachten Kritik geübt“ habe. Anscheinend stammen diese Gutachten vom „Ärztearbeitskreis Digitale Medien Stuttgart“. Hier sind wir mal wieder beim Sophismus des Namedroppings. Ärzte haben gesagt, dass Strahlen gefährlich sind, dann muss es ja stimmen! Doch die FAZ hält sich nicht lange mit dem gedropten Arbeitskreis auf, sondern wechselt gleich zum nächsten „großen“ Namen, der bei der Netzgemeinde freilich regelmäßig für kollektives Nackenhaareaufstellen sorgt: Manfred Spitzer. Spitzer wird zitiert mit…
„Die Korrelation des Anstiegs von Überforderung, Kopfschmerzen, ADHS und psychischen Erkrankungen mit der wachsenden Nutzung der digitalen Medien ist besorgniserregend“
Hier schmeißt die FAZ zwei Aspekte wild durcheinander. Zumindest meines bescheidenen Wissens nach geht es Spitzer gewöhnlich nicht um die gefährliche Strahlung des WLANs, sondern um den Inhalt der digitalen Medien. Glaubt man der FAZ, so habe ich allerdings Spitzer bislang immer falsch verstanden, denn er sagt laut den Frankfurter Qualitätsjournalisten:
„Daneben könne die Belastung nachweislich auch zu Spermienschädigungen und sogar DNA-Strangbrüchen führen, also das Erbgut verändern“.
Schließlich wird das Triptychon des Namedroppings noch mit einer Sprecherin des Bundes für Umwelt- und Naturschutz komplettiert, die
„die Schädlichkeit der W-Lan-Nutzung belegten; insbesondere die gebündelte und ‚körpernahe‘ Nutzung durch Dutzende Schüler sei bedenklich.“
Ich kann nicht beurteilen, ob WLAN in irgendeiner Weise schädlich ist. Aber ich kann eine gute Argumentation erkennen, wenn ich eine sehe. Und fast genauso gut kann ich Humbug ausmachen. Daher verlasse ich mich lieber auf den gut argumentierenden Joachim Schulz, der schreibt:
„DNA-Strangbrüche treten bei radioaktiver Bestrahlung und Röntgenstrahlung auf. Hierbei werden die Molekülbindungen in der DNA, dem Erbgut tragenden Molekül, aufgebrochen. Um solch eine kovalente Molekülbindung aufzubrechen ist Energie nötig. Diese Energie kann im Photoeffekt nur von einem einzelnen Photon aufgebracht werden. Die Photonenenergie der Strahlung, die im WLAN verwendet wird, liegt bei etwa 10 Mikroelektronenvolt. Um eine kovalente Bindung aufzubrechen braucht es mehrere Elektronenvolt, also einige 10.000 mal mehr Energie, als die 2,4 Gigahertz-WLAN-Strahlung aufbringen kann. DNA-Strangbrüche durch WLAN sind physikalisch unmöglich.“
Mich interessiert, wie gesagt, vor allem, wie die Menschen argumentieren, denn das kann ich gut beurteilen. Und diesbezüglich sehe ich hier das fast schon panische Plädoyer für zwei sehr alte menschliche Ängste: Zum einen die Angst vor Strahlen. Strahlen und ihre Verwandte wie „Etwas im Trinkwasser“ sind Ausdruck der tief in uns verwurzelten Angst vor Dingen, die wir nicht wahrnehmen können, die uns aber dennoch krank machen oder gar töten. Eine Angst, die spätestens mit der Entdeckung von Krebs massentauglich wurde. Schließlich können und wollen wir uns nicht mit dem Gedanken abfinden, dass unser eigener Körper sich gegen uns wendet. Daher brauchen wir eine Erklärung dafür und da es offensichtliche Korrelationen etwa zwischen Rauchen und Krebs gibt, versuchen wir eben jene Fälle der Krankheit, die wir nicht erklären können, auf Unsichtbares wie Stahlen zu schieben. Und was bei Krebs klappt, klappt auch bei Unfruchtbarkeit, „Überforderung, Kopfschmerzen, ADHS und psychischen Erkrankungen“.
Ich wäre ja auch gerne Kulturpessimist, finde aber, der Kulturpessimismus von heute ist auch nicht mehr das, was er mal war. — Privatsprache (@Privatsprache) 2. Juli 2012
Schließlich aber ist der Artikel vor allem ein Ausdruck des Kulturpessimismus. Und das ist ja quasi die Paradedisziplin der FAZ. Kathrin Passig hat in ihrem bekanntesten Text, den ihr sicher alle kennt, neun Standardargumente der Technologiekritik zusammengefasst:
- Wozu soll das denn gut sein?
- Wer will denn so was?
- Nur seltsame Gestalten oder privilegierte Minderheiten wollen das Neue.
- Vielleicht geht es wieder weg.
- Dadurch ändert sich gar nichts
5a Es ist nur ein Spielzeug
5b Damit ist kein Geld zu verdienen
5c Die Nutzer haben einander nichts mitzuteilen. - Das Neue ist nicht gut genug
- Schwächere können nicht damit umgehen
- Schlechte Manieren
- Schädlicher Einfluss auf das Denken, Schreiben und Lesen
und was die FAZ hier vertritt ist quasi das siebte Argument in Reinform, denn schließlich geht es ja um Kinder:
„Spätestens zu diesem Zeitpunkt muss man sich Gedanken darüber machen, was das Neue in den Köpfen von Kindern, Jugendlichen, Frauen, der Unterschicht und anderen leicht zu beeindruckenden Mitbürgern anrichtet. „Schwächere als ich können damit nicht umgehen!“, lautet Argument sieben.“
Kombiniert wird dies durch die Instanz von Manfred Spitzer mit dem neunten Argument:
„Hat die neue Technik mit Denken, Schreiben oder Lesen zu tun, dann verändert sie ganz sicher unsere Denk-, Schreib- und Lesetechniken zum Schlechteren.“
Ich möchte euch nicht verschweigen, dass Passig ihre Position später selbst kritisiert hat:
„Bitte denken Sie also beim nächsten Teil meines Vortrags daran, dass alles, was ich sage, falsch ist.“
Und diesen kritischen Standpunkten Standardsituationen des Technikoptimismus entgegengesetzt hat. Denenzufolge bringen neue Techniken:
- Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, garantierte Redefreiheit
- Weltfrieden
- Lernen wird ganz einfach
- Ende der Knappheit
- Ende des Verbrechens
- Überwindung des Todes
Ich finde es zwar schön, dass Kathrin Passig ihre Position durch falsche optimistische Prognosen ergänzte, dennoch finde ich, dass sie mit sich selbst zu hart ins Gericht geht, wenn sie sagt, ihre Auffassung war falsch, dass bestimmte Kritiken immer wiederkehren, sondern dass es eben nur diese sind, die uns überliefert wurden. Denn wichtig ist ja auch die Frage, warum sie uns überliefert wurden. Und ich denke nicht, dass dies immer nur aus Spott gegenüber konservativen Positionen geschah, sondern auch, weil Kulturpessimismus für viele Menschen schlichtweg attraktiv ist. Schließlich wissen wir alle, dass früher alles besser war. Und besonders dann ist dieses Gefühl für uns attraktiv, wenn sich gerade große Umwälzungen ereignen wie beispielsweise ein Medienwandel. Einen solchen Medienwandel erleben wir gerade mit der Digitalisierung, aber schon in den fast 2500 Jahre alten Texten von Platon lassen sich Passigs Argumente finden, und zwar gegen die Technik des Schreibens:
„Dieses Mißliche nämlich, o Phaidros, hat doch die Schrift, und sie ist darin der Malerei gleich. Denn die Erzeugnisse auch dieser stehen wie lebendig da; wenn du sie aber etwas fragst, schweigen sie sehr vornehm.“
Zu Platons Zeit war die Alphabetschrift quasi der neue heiße Scheiß. Gewissermaßen „gerade erst erfunden“, und mit ihr die erste gewissermaßen vollständig demokratische Schrift*. Ein Schriftsystem, das so einfach zu lernen war, dass es nicht mehr bloß Eliten, sondern breiten Massen zur Verfügung stand.
Das führte in Platon zu einer entsprechenden pessimistischen Haltung die er im Dialog Phaidros und im berühmten siebten Brief festgehalten hat. Er kritisierte an der Schrift folgende Punkte:
- Schrift schwäche das Gedächtnis
- Schrift sei zur Vermittlung von Wissen ungeeignet, da die Schüler keine Rückfragen stellen könnten
- Der Leser bilde sich ein, etwas begriffen zu haben, ohne dass er es wirklich verstanden hat (weil er es nicht im Dialog erlernte, wo ihn der Lehrer ermahnen könne)
- Schreiben sei nur ein mangelhaftes Abbild des Redens
- Text könne sich nicht gegen unberechtigte Kritik zur Wehr setzen
- Text könne nicht auf die individuellen Bedürfnisse der Leser eingehen
Wieder sind es die Argumente sieben und neun von Passig, die sich hier herauslesen lassen. Wie später noch so oft, etwa gegenwärtig von Spitzer, hat Platon damals wirklich existierende Schwächen des Mediums schamlos übertrieben und verallgemeinert, zugleich aber die positiven Seiten unter den Tisch fallen lassen. Denn natürlich kann (oder in Zeiten von Textmessagern besser: konnte) man mit der Schrift in keinen Dialog treten. Aber dafür können wir aufgrund von Platons performativen Widerspruch (Ein Widerspruch der dadurch entstand, dass er seine Schriftkritik aufschrieb!) noch heute Platons Kritik lesen. Denn die Schrift bietet gegenüber dem gesprochenen Wort den großen Vorteil, beständig, persistent, zu sein, während das gesprochene Wort sich ephemer wie ein FAZ-Artikel von gestern verhält und kaum ist es geäußert, auch schon wieder verschwunden ist…