Kuscheln in der Opferrolle

50 Gedanken – Gedanke 3

Ich fuhr heute Morgen auf meinem Rad am Main entlang zur Arbeit. Über dem Fluß hingen noch vereinzelte Nebelschwaden und die Sonne brach am Horizont durch die rissige Wolkendecke. Ich hörte derweil eine wirklich aufschlussreiche Folge von „This American Life“, die sich um die Neue Rechte in Amerika drehte. Nicht zuletzt weil seit zwei Tagen wieder eine rechtsextreme Partei im deutschen Bundestag sitzt, ist das ein Thema, das mir keine Ruhe lässt. Wie kommt es, dass die Feinde der offenen Gesellschaft überall im Westen auf dem Vormarsch sind? Nach wie vor glaube ich, dass unsere mediale Besessenheit von islamistischem Terror seit 2001 der wichtigste Grund ist. Doch darüber schreibe ein anderes Mal …

… Denn am oben erwähnten Podcast war am allerspannendsten ein Interview mit einem Initiator der rechtsradikalen Demo in Charlottesville – Jason Kessler. In diesem Gespräch kam irgendwann zur Sprache, was ihn denn zu einem White Supremacist hat werden lassen. Und die Antwort ist nahezu unglaublich: Er hat mal eine Stelle nicht bekommen, auf die er sich beworben hat. Stattdessen wurde eine Frau eingestellt. Er ist der Meinung, dass diese Frau weniger qualifiziert war als er und nur genommen wurde, weil sie eine Frau war. Das ließ ihn zu der Überzeugung kommen, dass weiße Männer in den USA unterdrückt werden.

WTF!?! Was für ein erbärmliches Gejammer! Ich kann nicht zählen, wie viele Absagen auf Bewerbungen ich in meinem Leben bekommen habe. Aber ich bin nie auf die absurde Idee gekommen, dass es daran liegt, dass ich ein weißer Mann bin. Wie widerlich diese Haltung ist, zu glauben, die Welt schulde einem etwas und nur weil man das nicht kriegt, mit Hass auf Schwächere zu reagieren! Allein, die unglaubliche Ignoranz dieser Aussage ist verblüffend, denn es gibt ja durchaus Statistiken zur Vergabe von Arbeitsplätzen. Uns diese sagen klipp und klar, dass es sich gerade andersherum verhält. Dass wir weißen Männer eben gerade auf dem Arbeitsmarkt bevorzugt werden! Doch der Typ stellt den Einzelfall seiner narzisstischen Kränkung über die objektiv erhobenen Fakten, die zeigen, wie die Welt wirklich ist.

Was er macht ist eine beliebte Strategie unter Rechtsextremen: Ich habe dies schon früher „Kuscheln in der Opferrolle“ genannt. Der Rechtsextremist verdreht die Fakten so, dass er nicht mehr Täter (geistiger Brandstifter, der anderen Menschenrechte aberkennt) ist, sondern Opfer – weil wir anderen seine persönliche Sonderstellung nicht anerkennen. Achtet mal darauf, es ist wirklich ein beliebter Sophismus in der Neuen Rechten.

 

Aufmerksamkeit

Etwas, das Sie rechtspopulistischen und rechtsextremen Politikern und Politikerinnen in Sozialen Netzwerken auf keinen Fall schenken dürfen. Egal, wie menschenverachtend, rassistisch oder extrem ihre Forderungen und Thesen sind!

Es handelt sich um einen instrumentalisierten Tabubruch, um Ihre Empörung hervorzurufen. Damit erreicht der oder die rechtsextreme Politiker/in eine Aufmerksamkeitsspirale, die sie oder ihn in die Massenmedien bringt. Anschließend wird die These von jemandem relativiert und abgeschwächt: „Das ist falsch rüber gekommen“, „Ich bin falsch zitiert worden“, „Ich wollte provozieren, um in Bewusstsein zu holen, dass es einen anderen Missstand gibt“ oder „Ich bin auf der Maus ausgerutscht“.

Die bittere Wahrheit ist, dass die Äußerung, die Sie so empört hat, in zwei Wochen niemanden mehr interessiert. Aber die rechtsextreme oder rechtpopulistische Partei im Nachgang dieser Äußerung noch mehr Sendezeit gewonnen hat, um noch mehr Menschen dazu zu bringen, im September das Kreuzchen an die entsprechende Stelle zu setzen.

Dieses Spiel werden die Rechstextremen und Rechtspopulisten im Wahljahr 2017 immer und immer wieder spielen. Spielen Sie nicht mit! Sprechen Sie statt dessen über etwas anderes. Wenn es sein muss, über das Wetter. Am besten aber über ihre eigenen Werte und Visionen.

Und wenn Sie schon über den Rechtsextremen sprechen müssen, dann nennen Sie ihn wenigstens „Bernd“.