Judith Butler – Das Unbehagen der Geschlechter (Lesekreis mit Christiane 13)

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Daniel
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Ende Kapitel 1.3 Die Geschlechtsidentität: Zirkel und Scheitern der gegenwärtigen Debatte

Christiane und ich beenden das Kapitel 1.3 „Die Geschlechtsidentität: Zirkel und Scheitern der gegenwärtigen Debatte“ mit einem Fazit von Butler zu den Unterschieden zwischen Beauvoir und Irigaray. Im Anschluss sprechen wir in einer Metadiskussion noch einmal über Descartes Geist-Körper-Dualismus. Ist der Geist-Körper-Dualismus wirklich inhärent patriarchal geprägt? Kann man die Begriffspaare Geist/Körper und Mann/Frau nicht auch losgelöst voneinander betrachten?

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Judith Butler – Das Unbehagen der Geschlechter (Lesekreis mit Christiane 12)

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dialektisiert

Fortsetzung Kapitel 1.3 Die Geschlechtsidentität: Zirkel und Scheitern der gegenwärtigen Debatte

Christiane und ich besprechen weiter das Kapitel „Die Geschlechtsidentität: Zirkel und Scheitern der gegenwärtigen Debatte“. Heute geht es unter anderem um Humanismus, Geschlechtsidentität als Relation zu den anderen in der Gesellschaft vorhandenen Identitäten. Wir sprechen über Existenzialismus und Strukturalismus, das Spannungsfeld in dem die Geschlechtsidentität sich befindet, Irigarays These vom weiblichen Geschlecht als einem Punkt sprachlicher Abwesenheit. Ist es möglich, Weiblichkeit zu definieren ohne Rückgriff auf Männlichkeit? Butler schärft noch einmal die Unterschiede zwischen Beauvoir und Irigaray und es geht erneut darum, dass „Körper“ immer mit Weiblichkeit assoziiert wird, während Männlichkeit körperlos bleibt. Hegels Herr-Knecht-Dialektik wird ins Spiel gebracht. Und Butler wirft Beauvoir vor, den cartesianischen Geist-Körper-Dualismus unkritisch fortzuschreiben.

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Judith Butler – Das Unbehagen der Geschlechter (Lesekreis mit Christiane 11)

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Fortsetzung Kapitel 1.3 Die Geschlechtsidentität: Zirkel und Scheitern der gegenwärtigen Debatte

Christiane und ich besprechen weiter das Kapitel „Die Geschlechtsidentität: Zirkel und Scheitern der gegenwärtigen Debatte“. Heute geht es unter anderem darum, dass der hegemoniale Diskurs festlegt, was verhandelt werden darf. Wir machen einen Exkurs, dass im Gegensatz zur Gender-Debatte AfD-Thesen als legitime Diskursbeiträge vom hegemonialen Diskurs akzeptiert werden. Wir besprechen Butlers These, dass die Einschränkung, welche Geschlechter denkbar sind, in unsere Sprache eingeschrieben sind. Weiblichkeit erhält demnach immer nur in Relation zu Männlichkeit Bedeutung. Butler bringt Luce Irigaray ins Spiel. Es geht um die Möglichkeit, die Welt mit der Sprache richtig abzubilden. Daniel schweift ab in das Idealsprachen-Projekt der analytischen Philosophie, warum es aufgegeben wurde und die Versuche der Postmoderne, Sprache nicht mehr als Ganzes zu ändern sondern in einzelnen Facetten so zu verbiegen, dass sagbar wird, was zuvor nicht sagbar war.

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Judith Butler – Das Unbehagen der Geschlechter (Lesekreis mit Christiane 10)

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Fortsetzung Kapitel 1.3 Die Geschlechtsidentität: Zirkel und Scheitern der gegenwärtigen Debatte

Christiane und ich besprechen weiter das Kapitel „Die Geschlechtsidentität: Zirkel und Scheitern der gegenwärtigen Debatte“. Heute geht es unter anderem um Medientheorie und Butlers These vom Körper als Medium des Genders, um Sprache und sprachliche Repräsentation von Gender sowie um den hegemonialen Diskurs und die machtvolle Aushandlung, welche Gender überhaupt in einer Gesellschaft verhandelbar sind.

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Judith Butler – Das Unbehagen der Geschlechter *
Lars Distelhorst – Judith Butler  *
Riki Wilchins – Gender Theory. Eine Einführung *
Ernst Ulrich von Weizsäcker über Konrad Lorenz
Bundespsychotherapeutenkammer über die Entpathologisierung von Homosexualität
Olaf Hiort über biologisches Geschlecht als Spektrum
Simone de Beauvoir – Das andere Geschlecht *
Eva Scheufler – Die feministische Philosophie und der Frauenkörper 
The Rest is History – 340. Hadrian and Antinous 

 

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Judith Butler – Das Unbehagen der Geschlechter (Lesekreis mit Christiane 9)

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ist akzidentiell
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ist wesentlich

Kapitel 1.3 Die Geschlechtsidentität: Zirkel und Scheitern der gegenwärtigen Debatte

Christiane ist zurück! Und wir besprechen weiter, Das Unbehagen der Geschlechter von Judith Butler. Wir beginnen mit einer Podcast-Empfehlung zu sexuellen Orientierungen im Alten Rom, antworten auf Benjamins Audio-Kommentar, was wir unter „Kausalbeziehung“ verstehen und steigen endlich in Abschnitt 1.3 ein. Hier geht es zunächst um die Frage, ob Geschlechtsidentität wesentlich oder akzidentiell ist und wie man sie erlangt, bevor wir uns mit Simone de Beauvoirs Thesen zur Geschlechtsidentität befassen. Ach ja, einen Ausflug zu Decartes Cogito gibt es auch noch!

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Judith Butler – Das Unbehagen der Geschlechter *
Lars Distelhorst – Judith Butler  *
Riki Wilchins – Gender Theory. Eine Einführung *
Ernst Ulrich von Weizsäcker über Konrad Lorenz
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Olaf Hiort über biologisches Geschlecht als Spektrum
Simone de Beauvoir – Das andere Geschlecht *
Eva Scheufler – Die feministische Philosophie und der Frauenkörper 
The Rest is History – 340. Hadrian and Antinous 

 

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Automatisch erstelltes Transkript

0:00:00 Vorstellung 
0:02:18 Unterschiede zwischen aktiver und passiver Sexualrolle im antiken Rom
0:08:07 Kausalität
0:09:49 Start des Abschnitts „Geschlechtsidentität, Zirkel und Scheitern der gegenwärtigen Debatte“
0:13:48 Flexibilität und Konstruktion von Geschlechtsidentität
0:15:21 Veränderung der Akzeptanz von Geschlechteridentität in der Gesellschaft
0:22:29 Cogito ergo sum
0:23:59 Autonomes Subjekt und Geschlechtsidentität nach Butler und Beauvoir
0:26:05 Der Körper als Situation bei Beauvoir

Vorstellung

[0:00] Hallo, mein Name ist Daniel und ich möchte euch von Philosophie erzählen bzw. heute möchte ich mal wieder zusammen mit jemand anders euch von Philosophie erzählen. Denn wir erzählen euch von Philosophie, das heißt, wir sprechen über Judith Butler. Und wir, das ist neben meiner einer Person auch die Person am anderen Ende der Leitung. Und da frage ich, wie ich das in meinem anderen Podcast immer mache. Hallo du da drüben, wer bist denn du?

Hi Daniel, hier ist Christiane.

Hallo Christiane, schön dass du zurück bist. Erzähl doch mal unseren Hörerinnen und Hörern, warum du jetzt ein wenig abwesend warst. Ich hab das zwar schon das ein oder andere mal erwähnt, aber es wäre ja ganz schön, wenn sie es nochmal aus deinem Mund hören würden.

Ja, nachdem ich ungefähr die letzten drei bis vier Jahre damit verbracht habe, zu behaupten, ich wäre in den letzten Zügen meiner Promotion. War das jetzt tatsächlich in den letzten Monaten wirklich der Fall und ich habe dieses große Projekt endlich abschließen können. Habe meine Doktorarbeit eingereicht, verteidigt und letzte Woche die Urkunde zugestellt bekommen.

Glückwunsch, Dr. Christiane! 

Dankeschön.

Das ist sehr, sehr schön. Wir dürfen jetzt hier die Stimme einer promovierten Psychologin hören. Sage ich das richtig? Ist das der korrekte Ausdruck?

Das kannst du so sagen, ja. 

Ja, nice. Wir haben auch Feedback bekommen.

[1:13] Bevor wir darauf eingehen, möchte ich als Allererstes noch mal eine Podcast-Empfehlung abgeben, die auch wieder sehr schön hier zu unserem Thema passt und zwar The Rest is History: Folge 340Hadrian und Antinous. In der Folge beschäftigen sich mit diesem Antinous, der von Hadrian zum Gott erklärt wurde nach dessen Tod. Und zwar war das der Liebhaber von Hadrian. Und sie fragen sich: Kann man denn deswegen sagen, dass Hadrian homosexuell war. Hadrian – Kaiser von Rom. Und die Antwort, die sie dann geben, ist sehr spannend gerade für unseren Podcast hier. Da sie darlegen, dass die Vorstellungen, wie unsere Gesellschaft sie hat von Homosexualität, Heterosexualität und Bisexualität im antiken Rom so noch gar nicht existiert haben. Sondern, dass man dort Unterschieden hat zwischen Menschen, die quasi eine aktive, eine nehmende Rolle im Sexualverhalten einnehmen und Menschen, die eine passive Rolle im Sexualverhalten annehmen können.

Unterschiede zwischen aktiver und passiver Sexualrolle im antiken Rom

[2:18] Da war dann auch ein sexistischer Bias drin, denn Männer konnten sich in beide Rollen begeben, während es für Frauen nur sittlich war, in die passive Rolle zu gehen. Allerdings gab es, wenn Frauen einen gewissen Stand hatten, diese Position, dass man nicht einfach so von jedem genommen werden durfte, sondern dass es da ja entsprechende Regeln gab.

Ja Daniel, ich würde aber sagen, dass Frauen da durchaus auch ihre Wege gefunden haben, andere Arten der Sexualität auszuleben.

Das kann ich mir sehr gut auch vorstellen. jedenfalls fand ich das sehr, sehr spannend gerade auch wegen dieses konservativen Talking Points von der natürlichen Heterosexualität, um den es ja Judith Butler auch immer sehr stark geht in ihrem „Kampf gegen die Zwangsheterosexualität“, wie sie es nennt.

Bevor wir in den Text einsteigen, haben wir aber auch einen Audiokommentar bekommen von Benjamin. Und den würde ich mal einspielen und dann können wir darüber reden. Bist du da bereit und interessiert dran?

Ja, Matz ab, Daniel!

Hallo Christiane, hallo Daniel. Ich habe eine Frage zur letzten Folge. Und zwar verstehe ich deinen Begriff von Kausal nicht so richtig, Daniel.

[3:27] Es gibt doch eine Kausalkette von meiner körperlichen Konfiguration hin zu meinem Geschlecht, oder? Als ich geboren wurde, wurde ich zum Beispiel als männlich klassifiziert. Da hat sich jemand meinen Körper angeschaut, mit dem gesellschaftlich vorgegebenen Klassifikationsschema abgeglichen und dann folgerichtig männlich in meine Dokumente geschrieben.

[3:46] Die Kausalkette geht also von meinem Körper über das Klassifikationsschema hin zu meinem Geschlecht. Ich würde also gar nicht bestreiten, dass der Zusammenhang kausal ist. Ich würde bloß bestreiten, dass diese Kausalität naturgegeben, logisch zwingend oder unveränderlich wäre, denn das Klassifikationsschema ist ja menschengemacht.

[4:05] Aber was meinst du denn mit Kausal bzw. was meint Butler hier vielleicht Vielen Dank für euren Podcast und viele Grüße!

Vielen Dank für dein Audiokommentar, Benjamin. Ja ich gebe dir recht. Da ist eine Kausalbeziehung. Erstmal müssen wir unterscheiden – und das ist eine ganz wichtige Unterscheidung in der Philosophie – du hast nämlich eben gesagt: „nicht kausal zwingend“ oder „nicht logisch zwingend“. Und das ist eben eine wichtige Unterscheidung, dass wir in der Philosophie unterscheiden zwischen logisch notwendig und kausalen Beziehungen. Und dann könnte man präzisieren zwischen kausal motiviert und kausal zwingend, möglicherweise. Ich gebe dir recht, da ist eine Kausalbeziehung drinnen, aber diese Feststellung sagt ja eigentlich im Grunde nicht viel aus. Denn alles hat ja eine Kausalbeziehung in unserer Welt. Also: es entsteht ja nichts, ohne dass davor Ereignisse stattgefunden haben. Und philosophisch spannend wird die Frage eben, ob diese Beziehung zwingend war. Also: es ist zwingend so, dass eine Billardkugel, die auf eine andere trifft, diese andere in Bewegung setzen wird. Wenn es keine Hindernisse gibt, wie eine Wand oder sowas. Und es ist zwingend so, dass wenn ich schneller Auto fahre, dass ich dann mehr Energie verbrauchen werde. Das ist kausal gegeben zwingend. Und diese gleiche Form des Kausalzwingendseins existiert eben nicht in der Zuordnung von Sex zu Gender.

[5:34] Sondern da haben wir eben dann diesen Schritt, dass ein Mensch dazwischen tritt, der Entscheidungen fällt und sagt, ich sehe hier folgendes äußeres Geschlechtsmerkmal und deswegen ordne ich diesen Personen dieses Gender zu. Jetzt können wir in die Debatte des freien Willens tief einsteigen, aber das müssen wir noch nicht mal. Denn wir können auch sagen, die Person macht das auch nicht komplett aus freien Stücken, sondern die ist auch wieder motiviert durch gewisse Gründe, aber diese Gründe sind eben kulturell gemacht.

[6:06] Und damit sind sie auch veränderlich. Das ist der große Unterschied. Deswegen können wir heute überhaupt über neue Geschlechtsidentitäten wie trans, wie non-binary etc. sprechen, weil diese Geschlechtsidentitäten veränderlich sind. Während, dass eine Billardkugel eine andere anstößt, ist nicht veränderlich. Dass wird für immer, bis in alle Ewigkeit so sein, weil es ein Naturgesetz ist. Und es ist in dem Sinne kausal zwingend.

[6:32] Aber dass die Person ein Gender aufgrund eines äußeren Sexualmerkmals oder auch aufgrund von Chromosomen oder was auch immer zugeordnet kriegt, ist eben nicht in gleicher Weise kausal zwingend.

[6:45] Und daher habe ich verkürzt gesagt, es gibt da keine Kausalbeziehung.
Christiane, wie siehst du das?

Du hast dich jetzt auf jeden Fall wesentlich klarer ausgedrückt als bei unseren privaten Diskussionen über diese Frage. Ich glaube, so wie du es jetzt ausgeführt hast, würde Benjamin vermutlich hundertprozentig mit dir übereinstimmen, wenn ich seinen Kommentar korrekt verstanden habe. Und ich tatsächlich auch. Also, ich glaube, aus meiner Warte als Psychologin, dass wir uns beispielsweise auch Kausalbeziehungen angucken. Wenn wir davon ausgehen würde, dass nichts kausal determiniert wäre, dann bräuchten wir unsere Wissenschaft nicht machen, denn wir wollen natürlich auch Vorhersagen treffen über Zusammenhänge beispielsweise zwischen, jetzt mal ganz platt gesagt, Traumata in der Kindheit und dem Verhalten im Erwachsenenalter. Und wenn wir davon ausgehen würden, dass es da keine kausalen Zusammenhänge gäbe, dann müssten wir das ganze Unterfangen ja nicht machen. Aber was wir in der Psychologie eben, also welchem Umstand wir uns stellen müssen, ist, dass es, wie du gesagt hast, halt keine zwingenden, oder nee, was hast du gesagt? Nicht zwingend, sondern?

Doch genau, das habe ich jetzt so formuliert, um den Begriff „notwendig“ zu vermeiden, weil der ist in der Philosophie halt immer für logische Notwendigkeit reserviert und logisch notwendig etwas anderes ist als kausal zwingend.

[8:07] Genau, also wir haben es nicht mit zwingenden oder notwendigen Zusammenhängen zu tun, sondern mit probabilistischen. Das heißt, Zusammenhänge, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auftreten. Und wenn man jetzt diesen Zusammenhang, um den es jetzt gerade geht, nämlich die Zuordnung eines Genders auf Basis des Sexes, wenn man sich das anschaut und sozusagen auf die gesamte Menschheitsgeschichte ausgedehnt betrachtet, könnte man vermutlich sagen, ja, das ist halt auch ein probabilistischer Zusammenhang, weil sich dieser Zusammenhang ändert. Ich glaube, da sind wir gerade jetzt mitten in einem Prozess drin, dass darüber debattiert wird, wie man das anders betrachten kann. Sodass, wenn man die gesamte Menschheitsgeschichte betrachtet, man sagen könnte: ja, zu – weiß ich nicht – Punkt 95 Prozent gab es halt diesen Zusammenhang und dann gibt es halt eine gewisse Prozentzahl oder eine gewisse Zeit, wo es aufgeweicht wurde, weißt du, wie ich meine? Aber ich glaube, wenn du jetzt, sagen wir mal, den Zeitraum von, was weiß ich, 1970 bis 1980 dir anguckst, dann ist dieser Prozentsatz vermutlich noch höher, weil da eben diese Debatten, die wir heute führen, nicht in dieser Intensität geführt wurden. Ich habe jetzt mal Personen wie intersexuelle Personen ausgeschlossen aus meiner Argumentation, weil das das Bild noch ein bisschen komplexer macht, was ich jetzt runterbrechen wollte, der Einfachheit halber.

[9:25] Wie du schon sagst, wir haben da privat schon drüber gesprochen und deine Einwände gegen meine Position haben mir geholfen, meine Position auch nochmal zu schärfen. Benjamin: Sag doch mal, ob wir das jetzt zu deiner Zufriedenheit beantwortet haben! Wenn nicht, dann müssen wir nochmal nachdenken und nachlegen.

[9:45] Aber wollen wir mal in den Text springen, Christiane? 

Ja, auf jeden!

Start des Abschnitts „Geschlechtsidentität: Zirkel und Scheitern der gegenwärtigen Debatte“

[9:49] Das hat ja schon lang genug gedauert. Wir müssen endlich dieses Kapitel abschließen. Oder den Abschnitt.

Genau, den Abschnitt. Wir sind ja erst mal bei Abschnitt 1.3. Also die drei großen Kapitel sind halt auch drei große Kapitel, aber das erste Kapitel, da beschäftigen wir uns heute mit dem dritten Abschnitt, der heißt „Die Geschlechtsidentität: Zirkel und Scheitern der gegenwärtigen Debatte.“ Und dort – genauer gesagt – sind wir auf Seite 25. Da beginnt Butler zunächst mit der Frage: Haben Personen „eine“ Geschlechtsidentität oder ist Geschlechtsidentität ein Attribut, dass sie sind? Da hatte ich schon wieder sehr große Probleme mit der Formulierung.

[10:33] Ich habe schon verstanden, worauf they hinaus wollte, aber they schreibt einerseits das „eine“ in Anführungszeichen und andererseits … ich fand die grammatische Konstruktion dieses Satzes sehr komisch. Ich würde es trotzdem mal so umformulieren, wie ich es verstanden habe und widersprich mir gerne, wenn du es ganz anders verstanden hast. Ich würde vermuten, dass they hier – und meine Vermutung wird gestützt dadurch, dass they später noch stärker auf Aristoteles eingeht – dass they eben aristotelisch gesprochen von dem Unterschied zwischen wesentlich und akzidentiell spricht, dass they eben sagt, gibt es eine Geschlechtsidentität.

[11:14] Dann ist die ganz eng mit meinem Wesen verbunden, ich kann sie nicht ändern. Ich kann sie nicht ablegen. Sie macht aus, was ich bin. Oder ist Geschlechtsidentität ein Attribut wie viele andere, wie Größe, Augenfarbe, Haarfarbe oder so. Attribute, die mir zukommen, aber die nicht unbedingt mein Wesen ausmachen und deswegen auch veränderlich sind.

Ich habe das auch so verstanden.

Sehr gut. They fährt fort und fragt, wenn Gender ein kulturelles Konstrukt ist – das war ja das Ergebnis der ersten zwei Abschnitte –, stellt sich die Frage, wie der Modus dieser Konstruktion aussieht. Gibt es verschiedene Möglichkeiten der Konstruktion oder ist die Konstruiertheit gesellschaftlich determiniert?

Wenn du das jetzt so ausführst, dann frage ich mich gerade: Wie ist denn der Zusammenhang zwischen diesen beiden Fragen? Kann es sich nur um ein Konstrukt handeln, wenn…

[12:11] Ich eine Geschlechtsidentität habe und nicht wenn ich sie bin?

Das ist auch eine sehr gute Frage! Auch ich habe mich nämlich gefragt. Entweder machen wir eine Matrix mit vier Elementen auf: Geschlechtsidentität ist etwas was meinem Wesen zugehört oder sie ist bloß akzidentiell und Geschlechtsidentität ist determiniert durch die Gesellschaft, oder sie ist in irgendeiner Form flexibler.

wesentlich akzidentiell
determiniert flexibel

Dann könnte man fragen, ob Wesen und Determiniertheit fest verschraubt sind oder ob Wesen sowohl determiniert sein könnten als auch flexibel. Und die Eigenschaften, ein Attribut zu sein oder akzidentiell zu sein, dann genauso.
Ich verstehe es jetzt erst einmal so, dass ich sagen würde: Wenn ich genau eine Geschlechtsidentität habe und daran nichts ändern kann, dass das aus der gesellschaftlichen Determiniertheit hervorgeht. Aber die Frage ist dennoch berechtigt, ob es nicht andere Modi geben kann.

[13:14] Also wenn wir das kurz mal auf einen anderen Bereich transferieren… Nehmen wir mal meinen Beruf. Ich bin Psychologin und das ist so sehr in meine Identität integriert, dass ich denke, es gehört zu meinem Wesen, Psychologin zu sein. Ich beschäftige mich den ganzen Tag damit, ich mache das auch gerne und ich kann mir nichts anderes vorstellen. Dennoch ist es ja nicht naturgegeben, dass es den Beruf Psychologin gibt. Das ist ja ein gesellschaftliches Konstrukt und dennoch würde ich sagen: das ist Teil meines Wesens.

Ja, da hast du es sehr schön auf den Punkt gebracht.

Flexibilität und Konstruktion von Geschlechtsidentität

[13:48] Du bist dann in unserer ersten Dimension bei wesentlich und unserer zweiten Dimension bei flexibel. Denn Christiane könnte auch was anderes sein. Es ist nicht gesellschaftlich determiniert, dass Christiane Psychologin ist. Sie könnte auch Schuhverkäuferin sein.

Rein theoretisch: ja. Praktisch nicht. Aber – ja – ich weiß, was du meinst. Ich meine, das ist doch im Grunde genau der Akt, wie wir zu unserer Identität kommen, oder? Wir sind ja auch Konstrukte und Flickenteppiche aus dem, was uns begegnet und dem, was wir als wichtig und identitätsstiftend erachten. Also wenn ich beispielsweise mit dieser Theorie hier niemals in Verbindung gekommen wäre, hätte ich ja gar nicht die Möglichkeit gehabt, das irgendwie in mein Selbstbild zu integrieren, dass ich diese Fragen spannend finde oder so.

Ja, ich glaube, genau um diese Fragen geht es hier in diesem Kapitel und ich glaube, Judith Butler ist genau bei dir in dieser Position. Aber they versucht das hier halt innerhalb dieses Kapitels erstmal zu erörtern, dass das genau so ist.
Wir müssen uns ja immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass der Text vor 40 Jahren geschrieben worden ist, als die Idee, dass man eine andere Geschlechtsidentität annehmen kann als die, die einem bei der Geburt zugeordnet wurde…

[15:04] Noch sehr viel mehr „far wide out“ war, als es heute der Fall ist.
Heute ist uns dieser Gedanke – in nicht allen Teilen der Gesellschaft , aber in vielen Teilen der Gesellschaft – wesentlich vertrauter, als es der Fall in den 80ern war, als dieser Text entstanden ist.

Veränderung der Akzeptanz von Geschlechteridentität in der Gesellschaft

[15:21] Ja, auf jeden Fall. Soll ich mal weitermachen mit meiner Zusammenfassung? 

Ja, bitte.

Wenn wir davon ausgehen, dass die Geschlechtsidentität kulturell konstruiert ist, dann geht damit zwangsläufig ein bestimmter Determinismus einher. Dann gibt es kulturelle Gesetzmäßigkeiten, die bestimmen, welches Gender wir haben.
Das ist wieder dieser Gedanke, den ich…

[15:43] In der letzten oder vorletzten Folge schon mal geäußert haben, dass wir die Unterscheidung haben zwischen notwendig und kontingent. Also notwendige Wahrheiten: Junggesellen sind unverheiratete Männer. Sowas ist das hier nicht. Sondern they spricht über Kontingenz. Aber Kontingenz kann halt verschiedene grade der Flexibilität haben. Es ist genauso kontingent dass Artikel 1 des Grundgesetzes ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Wie, dass ich heute ein weißes T-Shirt anhabe. Aber ich kann den Artikel 1 unseres Grundgesetzes nicht in gleicher Weise flexibel ändern, wie ich mein T-Shirt ändern kann. Und entsprechend: Selbst wenn Geschlechtsidentität etwas ist, was wir irgendwie ändern können, also wenn sie flexibel ist und nicht komplett determiniert ist, geht mit der Tatsache, dass es ein kulturelles Konstrukt ist, immer einher, dass ein bestimmter Determinismus vorligt, wie they hier sagt, eine bestimmte Form der Determiniertheit.

Das ist doch eigentlich genau das, was diese Gender-Wahn-Idioten nicht kapieren. Weil von denen kommt ja oft der Einwand: Ja, dann kann ja jeder jeden Tag was anderes behaupten, was die Geschlechtsidentität sei. Und das macht ja keiner so, das ist ja nicht der Punkt. Also sie sehen – könnte man das so sagen – dass die das fälschlicherweise komplett akzidentiell ansehen? Ja, dass die denken, man könnte das Gender einfach jederzeit wechseln. Als gäbe es Menschen, die genau das im Sinn haben.

[17:13] Ja.

[17:15] Okay. Aber Butler ihrerseits kritisiert das jetzt von der anderen Seite, weil they sagt: Wenn Gender tatsächlich durch Kultur determiniert ist, dann bietet der Begriff „Gender“ nicht den Ausweg, den der Begriff aus der Formel „Biologie ist Schicksal“ bieten sollte, sondern er wird selbst zum Schicksal, nur eben zu einem kulturellen Schicksal.

[17:34] Das heißt, ursprünglich wurde die Unterscheidung zwischen Sex und Gender eingeführt, um klarzumachen: Nur weil du mit einem bestimmten biologischen Geschlecht geboren wurdest, heißt das nicht, dass du zwangsläufig dich auch diesem Gender zuordnen musst.
Aber wenn diese Zuordnung superfest ist durch die kulturelle Zuschreibung, dann ist die Funktion, die der Begriff „Gender“ ursprünglich hatte, der geht dann verloren. Dann ist zwar der Modus, wie das entsteht, ein anderer, aber das Ergebnis ist halt am Ende das gleiche.

Aber das nimmt they hier nur an als Annahme? Das ist nicht, was hier vertreten wird? Weil dann wären wir ja wieder bei dem Determinismus, wo ich sagen würde: Nee, das ist probabilistisch.

Genau! They stellt das nur erst mal als Ausgang der Auseinandersetzungen, die jetzt hier im Kapitel folgen, hin, um zu sagen: Okay, wir haben hier ein Konstrukt „Gender“. Das ist irgendwie kulturell gemacht und es ist auch in irgendeiner Form zwingend, denn wir können es nicht wechseln wie ein T-Shirt, sondern es ist in irgendeiner Form sehr fest mit mir verbunden – wie fest, müssen wir noch schauen. Ob es wirklich irgendwie zu meinem Wesen gehört oder ob es ein Attribut von mehreren ist, was dann auch wechselbar ist.

[18:50] Aber es kann halt nicht super fest sein, um es jetzt so platt zu sagen. Weil sonst haben wir überhaupt nichts gewonnen, sondern brauchen den Begriff „Gender“ nicht. Dann können wir auch bei „Sex“ bleiben. Ja, und they fährt jetzt fort, dass they mit Simone de Beauvoir und mit – wie heißt die Andere?

Luce Irigaray.

Genau! Mit diesen beiden Feministinnen und deren Theorien schaut they sich an, wie denn dieser Modus der Konstruktion aussieht.

[19:17] Um zu schauen, welche Flexibilität da gewissermaßen drin steckt.

Okay, das habe ich jetzt verstanden. Ich habe halt immer noch ein bisschen Probleme mit dem fehlenden Signposting in diesem Text. Dass mir manchmal die Information fehlt: Ist das jetzt etwas, was Judith Butler vertritt oder wofür sie sich stark macht? Oder ist es gerade nur, in Anführungsstrichen, „eine Annahme“, die they jetzt auseinandernimmt?

Ja. Naja.

[19:42] Es hängt wahrscheinlich auch damit zusammen, dass diese Art von Text viel weniger formalisiert ist, als es eure Texte in der Psychologie sind, wo du eine viel klarere Struktur hast.

Ja!

Während they hier – später kommt erstmals Hegel auf . Also they kommt viel mehr aus einer hegelschen Dialektik und das heißt, dass they erstmal eine These in den Raum stellt, um dann mit einer Antithese diese wieder in Frage zu stellen und so zu einem höheren Erkenntnisgrad zu gelangen. Das ist eher der Modus in dem dieses Kapitel funktioniert. Also – wie schon gesagt – Butler setzt sich jetzt mit Simone de Beauvoirs These auseinander, dass man nicht als Frau zur Welt kommt, sondern zur Frau wird. In der ursprünglichen Unterscheidung sagt they, wäre das: eine Identität haben. Butler schreibt, Beauvoir geht davon aus, dass die Geschlechtsidentität ein Konstrukt ist, nimmt aber ein autonom handelndes Subjekt an, ein Cogito. Cogito ist ein Ausdruck, der auf Rene Descartes zurückgeht.

Cogito ergo sum

[20:50] *Musik*

Hallo, hier spricht Daniel aus dem Schnitt. An dieser Stelle wollte ich euch kurz erklären…

[21:02] Was das Cogito ist. Cogito ist eine Abkürzung für Cogito ergo Sum. Dazu schreibt mein kleines philosophisches Wörterbuch:

Cogito ergo sum, lateinisch: ich denke, also bin ich. Der von René Descartes zunächst im Discours de la méthode formulierte Grundsatz einer Metaphysik und in seinem Gefolge ein Hauptsatz in unterschiedlichen Richtungen der neuzeitlichen Philosophie. Er setzt den Zweifel an allem dogmatisch Festgesetzten und Geglaubten voraus und besagt, dass das Ich sich im Denken bzw. Zweifeln als über allen Zweifel erhabenes Sein erfährt. Dass das Bewusstsein sich im Denken als Bewusstsein selbst weiß. Dass die einzige Seinsgewissheit aus dem bewussten Denken stammt.

Soviel erstmal dazu. Aus diesem Grundsatz cogito ergo sum folgt, dass die Gewissheit um das eigene Ich die höchste Gewissheit ist, die man in der Philosophie haben kann. Und daraus abgeleitet wurde das Subjekt in der neuzeitlichen Philosophie in den Mittelpunkt der Philosophie gestellt, das erkennende Ich, das auch zugleich zu einem autonom handelnden Ich wurde, das in der Abgeschiedenheit seines Geistes die Welt erkennt, sich die Welt gegenüberstellt und von dort an anfängt…

[22:29] Auf die Welt einzuwirken, die Welt zu erkennen (wie ich schon sagte), zu handeln … you name it. In der Philosophie des 20. Jahrhunderts hat diese Auffassung dann eine Reihe von Kritik erfahren. Zunächst in der analytischen Philosophie. Im Anschluss an Wittgenstein kann man kritisieren, dass der methodische Zweifel selbstwidersprüchlich ist. Denn er zweifelt an allem, aber nicht an der Bedeutung seiner Worte. Und diese Worte wiederum wurden ja in einer Außenwelt gelernt. Das heißt…

[23:02] Beim cogito ergo sum bediene ich mich eines Mediums, das ich eigentlich anzweifeln müsste. Dadurch ergibt sich ein Widerspruch. Die ganze Methode wird also unbrauchbar als philosophisches Mittel. Damit einher ging dann auch die Kritik an dem autonomen Ich, das in irgendeiner Form unabhängig von der externen Welt erkennen oder entscheiden kann. Stattdessen trat – vor allem in der postmodernen Philosophie – die Erkenntnis in den Vordergrund, dass das Ich immer schon eingebunden ist in soziale Strukturen, in gesellschaftliche Zwänge, in Machtverhältnisse, in kognitive Fehleinschätzungen und so weiter, die verhindern, dass es wirklich ein solches autonomes Ich, ein Cogito geben kann, was sich der Welt gegenüberstellt und von dort an erkennt und Entscheidungen fällt. Und jetzt zurück zur Aufnahme.

*Musik*

Autonomes Subjekt und Geschlechtsidentität nach Butler und Beauvoir

[23:59] Dahinter versteckt sich wieder die Idee, die wir in unseren privaten Gesprächen auch schon öfter besprochen haben und die wir auch hier in dieser Reihe schon öfter mal angesprochen haben, dass es ein autonom handelndes Subjekt gibt, das gewisse Entscheidungen fällen kann und auch dem gewisse Dinge widerfahren, aber das quasi den Kern bildet von unserer Identität.
Das heißt, Butler sagt hier, Beauvoir geht erstmal davon aus, wir haben ein autonomes handelndes Subjekt, ein Cogito, was als erstes da ist, und dem dann im Anschluss daran die Geschlechtsidentität zugeschrieben wird, eine Frau zu sein.

[24:38] Dass es also schon etwas gibt, bevor diese kulturelle Zuschreibung der Frau stattfindet. Und they fährt fort, dass wenn wir dieses Konstrukt annehmen, dann ist es prinzipiell auch möglich, dass dieses Subjekt die Möglichkeit hat, eine andere Geschlechtsidentität anzunehmen. Wenn es also einen Wesenskern gibt, der existiert, bevor die Geschlechtsidentität ihm zugeordnet wurde. Wir befinden uns auf Seite 26. Hier stellt Butler die Frage: Lässt sich die Geschlechtsidentität auf eine Frage der Wahl reduzieren? Also kann ich mich wirklich entscheiden? Nochmal im Grunde das, was sie vorher schon in diversen anderen Formulierungen oder Konstellationen in den Raum gestellt hat: Kann ich mich wirklich entscheiden, welche Form der Geschlechtsidentität ich annehme?

[25:30] Und dort gibt they zu bedenken, dass Beauvoir schreibt, dass zwar das Werden zur Frau eine Handlung ist – und das impliziert ja, wenn ich handle, dann ist darin ja schon inbegriffen dass ich Entscheidungen fälle. Das ist also nichts, was mir einfach widerfährt, sondern dass ich da irgendwie ein Agens habe, irgendeine Möglichkeit, mich zu entscheiden. Aber dass diese Handlung unter gesellschaftlichem Druck funktioniert.

[26:00] Und an dieser Stelle kommt ein spannender Satz, den du hast.
Magst du uns den mal vorlesen?

Der Körper als Situation bei Beauvoir

[26:05] Ja. Butler schreibt: Wenn der Leib eine Situation ist, wie Beauvoir sagt, so gibt es keinen Rückgriff auf den Körper, der nicht bereits durch kulturelle Bedeutungen interpretiert ist. Da habe ich mich gefragt, was meint Beauvoir denn, wenn sie sagt, der Körper ist eine Situation? Bei „Situation“ denke ich als Psychologin an Kontextvariablen. Also Anlage versus Umwelt und Situation wäre da synonym zur Umwelt zu denken. Und da dachte ich so, hey, aber wie genau soll jetzt der Körper eine Situation darstellen, die mich in irgendeiner Weise zu einer Handlung bringt? Und da habe ich nochmal nachgelesen oder recherchiert und gefunden habe ich eine Diplomarbeit namens „Die feministische Philosophie und der Frauenkörper“ von Eva Scheufler aus 2008. Und da würde ich jetzt gerne mal daraus zitieren, weil ich glaube anhand dieses Ausschnittes, wo auch sehr viele Zitate von Beauvoir drinstecken, wird klar, was sie versteht darunter, dass der Körper eine Situation ist, der man irgendwie auch unterliegt. Wobei, wie du auch gesagt hast, man im Prinzip eine Handlungsmöglichkeit hat, die aber aufgrund der Kultur wenig wahrscheinlich ist.

[27:16] Also Eva Scheufler schreibt und vielleicht noch einen kurzen Einschub von mir, daraus wird auch sehr schön deutlich, dass Simone de Beauvoir hier eine sehr biologistische Haltung einnimmt.

In Beauvoirs Perspektive erscheint der Frauenkörper als die Frau in der Entfaltung ihrer Individualität behindernd und ihre individuelle Existenz zugunsten der Erhaltung der Gattung begrenzend. Angefangen von der Menstruation über die Möglichkeit zur Schwangerschaft und Geburt von Kindern ist für Beauvoir die Frau bloß einer Belastung ausgesetzt, die ihr keinen persönlichen Vorteil bringt, sondern im Gegenteil schwere Opfer abverlangt.

Ich werde jetzt nicht jedes einzelne Zitat von Beauvoir als solches kennzeichnen, sonst wird das zu ausufernd. Das kann man gerne nachlesen, das ist auch Open Access.

Die Menstruation ist nichts als furchteinflößend, Schwangerschaft ein Martyrium. Erst nach den Wechseljahren ist die Frau von den Zwängen ihrer Weiblichkeit befreit. Sie ist nicht länger Mächten unterworfen, die über sie hinausgehen. Erst dann stimmt sie mit sich selbst überein. Doch dann sind für Beauvoir Frauen zwar keine männlichen, aber auch keine weiblichen Wesen mehr.

So, da dachte ich schon mal, als ich das gelesen habe: Okay, ich kann das total nachvollziehen, was sie da schreibt. Das ist aber auch irgendwie eine sehr extreme Position, aber dennoch interessant. Und jetzt im Weiteren wird das Ganze mit dem Blick von Beauvoir auf die männliche Körperlichkeit abgegrenzt.

Die männliche Physiologie stellt sich für Beauvoir in einem gänzlich anderen Licht dar. Von körperlicher Entfremdung, wie Beauvoir sie bei Frauen diagnostiziert, sind Männer nicht betroffen, im Gegenteil. Vergleicht man sie – die Frau, mit dem Mann – so scheint dieser unendlich bevorzugt. Sein Geschlechtsleben stört seine persönliche Existenz nicht, es verläuft gleichbleibend, ohne Krise und im Allgemeinen ohne Komplikationen. Im Gegenteil zum weiblichen Körper fällt der Männerkörper bei Beauvoir mit der Transzendenz zusammen und stellt quasi deren Verleiblichung dar, wie die Phänomenologin Regula Giuliani bemerkt. Diese Fähigkeit des Mannes zur Transzendenz sei gleichsam biologisch bedingt. Wie die Zuordnung der Frau zur Sphäre der Immanenz bei Beauvoir durch ihre Gebärfähigkeit erfolgt, ist die Zuordnung des Mannes zur der Transzendenz durch den Phallus bedingt.
Der Vorteil, den der Mann besitzt und der für ihn von Kindheit an spürbar ist, besteht darin, dass seine Berufung als Mensch keinen Widerspruch zu seiner Bestimmung als Mann darstellt. Durch die Gleichstellung von Phallus und Transzendenz ergibt es sich, dass seine sozialen oder geistigen Erfolge ihm ein männliches Prestige verleihen. Denn der Mann habe ein Sexualleben, das im Normalfall in seine individuelle Existenz integriert ist. Im Begehren, im Koitus verschmilzt sein Sich-Überschreiten auf die Art hin mit dem subjektiven Moment seiner Transzendenz. Er ist sein Körper. Während beim Mann Transzendenz und Leiblichkeit zusammenfallen, konzipiert Beauvoir den Frauenkörper als einen der Transzendenz-Widerstrebenden.

Und das, was jetzt kommt, das war ein Aha-Moment für mich.

Sie schreibt weiterhin, die Frau ist eher den Bedürfnissen der Eizelle angepasst als ihren eigenen. Dies bedeutet, der weibliche Leib und die persönliche Existenz fallen bei der Frau grundlegend auseinander. Der weibliche Leib widersetzt sich dem Freiheitsentwurf. Wie der Mann ist die Frau ihr Körper, aber ihr Körper ist etwas anderes als sie.

So, das war jetzt der sehr lange Einschub aus dieser Diplomarbeit. Und das fand ich tatsächlich ganz einleuchtend und hat – glaube ich, also ich hoffe nicht nur mir – klar gemacht, was Beauvoir meint, wenn sie sagt, der Körper ist eine Situation, in der sich die Frau befindet. Weil natürlich ist sowas wie Menstruation biologisch bedingt, aber was daraus gemacht wird oder werden muss, das ist ja wiederum kulturell bedingt.

Dieser Text, der klang jetzt fast schon so, als würde Beauvoir das unkritisch so annehmen. Butler sieht das ja ganz anders. Direkt im Anschluss kritisiert they oder liest they da Beauvoir, glaube ich, ganz anders. Aber auch später gibt es ja Auseinandersetzungen, wo they sich wieder mit diesem männlich = unkörperlich und weiblich ist immer an Körperlichkeit gebunden, bei Beauvoir auseinandersetzt und dort verstehe ich Butler so, dass Beauvoir das kritisiert. Ich persönlich habe Simone de Beauvoir nicht gelesen deswegen kann ich das nicht entscheiden und vielleicht interpretiere ich auch den Abschnitt, den du gerade vorgelesen hast, falsch. Aber da klang es für mich eher so heraus, als würde Simone de Beauvoir das eher als etwas faktisches darstellen, dass es sich so verhält, dass das Männliche = das Transzendente ist und das Weibliche an Körperlichkeit gebunden und nicht als wäre das etwas was eben…

[31:49] Durch die patriarchale Sicht auf beide Geschlechter so angenommen wird.

Doch doch! Wie die Frau –sagen wir mal – die Menstruation zum Beispiel wahrnimmt, welchen Einschnitt ihrer persönlichen Freiheit sie dadurch wahrnimmt, das ist ja wiederum kulturell bedingt und das sagt sie ja auch.
Also das ist ja nur eine Hinleitung dessen, was sie darunter versteht, dass der Körper eine Situation sei. Und das könnte ja keine Situation sein, wenn das faktisch wäre.

[32:19] Also ich meine, in der heutigen Gesellschaft ist es ja hoffentlich so, dass die Menstruation nicht als zwingendes Mittel dazu empfunden wird, beziehungsweise der gesamte weibliche Zyklus oder Menstruationszyklus, um das neutral auszudrücken, dass ich jetzt zwingend Kinder bekommen muss. Das ist ja nicht mehr so. Dennoch steckt da ein Funken Wahrheit, wie du es gerade gesagt hast, oder Feststellung schon drin, Denn ich kann jetzt ja auch nicht einfach sagen: Ja gut, dann habe ich halt keine Menstruation mehr, sondern ich muss mich ja zwingend irgendwie damit auseinandersetzen und je nachdem, was für eine körperliche Verfassung man hat, schränkt einen das natürlich auch in gewisser Weise ein.

Mhm. Ja, klar. Das verstehe ich schon. Ich fand auch ganz interessant, dass hier wieder – mit diesem Blick auf diesen Aristotelismus – eben eine dezidiert anti-aristotelische Position drin steckt. Also nach Aristoteles gibt es immer das Wesen, die Substanz von etwas und dann gibt es Eigenschaften, die dazu geordnet sind. Und wenn du halt den Körper der Frau als Situation beschreibst, dann ist das ja etwas, die dezidiert nicht substanziell ist, sondern es ist etwas, was halt in verschiedenen Ausformungen auftritt. Das fand ich jetzt mit Blick auf den Beginn dieses Kapitels und das worauf wir gleich noch kommen werden, eine interessante Perspektive. War mir auch so nicht klar, dass Beauvoir diese Position vertritt.

[33:44] *Musik*

[33:57] Hallo hier spricht Daniel aus dem Schnitt. Ich denke an dieser Stelle ist es gut, für heute Schluss zu machen.Wenn euch das hier gefällt, dann hinterlasst uns doch mal eine Rezension für diesen Podcast auf Apple Podcasts, oder eben einen Kommentar, entweder auch als Audio-Kommentar wie Benjamin oder auch gerne schriftlich im Blog, dann werden wir in einer der nächsten Folgen darauf eingehen. Ich danke euch, dass ihr uns eure Zeit geschenkt habt.

Judith Butler – Das Unbehagen der Geschlechter (Lesekreis mit Christiane 8)

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Christiane
Ergebnis eines Diskurses

Abschluss von Abschnitt 1.2 – Verhältnis von Gender und Sex

Zusammen mit Christiane Attig lese ich „Das Unbehagen der Geschlechter von Judith Butler. Wir wollen uns zusammen den Text erarbeiten. Heute beenden wir den zweiten Abschnitt des ersten Kapitels. Butler präsentiert their erste berühmte These, dass auch Sex (anatomisches Geschlecht) ein Ergebnis von Diskursen ist. Welcher Art diese Diskurse sind und was das mit dem Begriff Gender (Geschlechtsidentität) macht, sind die daran anschließenden Fragestellungen. Am Ende sprechen wir noch einmal allgemeine über die Postmoderne und ihre Tendenz, alles in den Diskurs zu verschieben.

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Judith Butler – Das Unbehagen der Geschlechter *
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Riki Wilchins – Gender Theory. Eine Einführung *
Ernst Ulrich von Weizsäcker über Konrad Lorenz
Bundespsychotherapeutenkammer über die Entpathologisierung von Homosexualität
Olaf Hiort über biologisches Geschlecht als Spektrum

 

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Judith Butler – Das Unbehagen der Geschlechter (Lesekreis mit Christiane 7)

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hat Gender

Beginn von Abschnitt 1.2 – Verhältnis von Gender und Sex

Zusammen mit Christiane Attig lese ich „Das Unbehagen der Geschlechter von Judith Butler. Wir wollen uns zusammen den Text erarbeiten. Heute beginnen wir mit dem zweiten Abschnitt des ersten Kapitels. Butler setzt hier das biologische oder anatomische Geschlecht (Sex) und das kulturelle Geschlecht (Gender) zueinander in Verhältnis.

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Judith Butler – Das Unbehagen der Geschlechter (Lesekreis mit Christiane 2)

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kein Objekt

Leseerfahrung, Vorwort, Gebrauchsanalyse, Frau als Mysterium, Sartre und die Frau als Objekt des Begehrens

Zusammen mit Christiane Attig lese ich „Das Unbehagen der Geschlechter von Judith Butler. Wir wollen uns zusammen den Text erarbeiten. Heute erzählen wir, wie der Text auf uns gewirkt hat und beginnen dann das Vorwort zu lesen. Dort sehen wir Judith Butler eine Gebrauchsanalyse des Wortes „Trouble“ machen, denn das Buch heißt im Englischen „Gender Trouble“. Es geht um  die Vorstellung der Frau als Mysterium und um die Vorstellung von Sartre, dass die Frau das Objekt männlichen Begehrens ist.

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Hedonismus

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Adventskalender Türchen 8

In diesem Advent präsentiere ich euch einen kleinen philosophischen Adventskalender. Jeden Tag stelle ich einen philosophischen Begriff vor und mache mir ein paar Gedanken dazu.

Heute geht es um Hedonismus.

 

Platonische Liebe

Meinen Zweiteiler zur Platonischen Liebe schließe ich heute und hier ab. Erinnert euch: Beim letzten Mal habe ich erzählt, wie Sokrates zu einem Saufgelage namens Symposion kam und dort ein Battlerap stattfand. Alle Anwesenden battelten sich darin, wer die beste Definition für die Liebe hat. Nachdem schon ein Haufen unwissender Tagediebe ihren Senf abgegeben haben, kommt nun endlich Sokrates an die Reihe und damit beginnt die eigentliche Definition der Liebe.Wie immer habt ihr die Wahl zwischen Video und Text:

Eine besitzergreifende Theorie

Als Sokrates das Wort ergreift, disst er in bester Battlerap-Tradition zunächst einmal seine Vorredner, dass sie alle keine Ahnung haben und nur schön Worte von sich geben. Er, Sokrates, wolle jetzt prüfen, was die Wahrheit über die Liebe sei. Platons Lehrer beginnt daraufhin seine Definition damit, dass Liebe immer Liebe zu etwas ist, das man noch nicht hat und begehrt. Wenn man sagt, dass man liebt, was man schon hat, so meint das, man möchte es auch in Zukunft behalten, da man das auch noch nicht sicher hat, bleibt es bei der ursprünglichen Definition.

Puh, ganz schön besitzergreifend. Sicher gibt es diesen Aspekt der Liebe. Aber ist sie immer so? Kann man nicht auch lieben, ohne zu besitzen? Der Platon-Spezialist Walter Bröcker* wendet zum Beispiel ein, dass Liebe auch darin bestehen kann, dass man sich an der Gegenwart einer Sache oder eines Menschen erfreut, ohne diesen gleich besitzen zu müssen.

Glück als Letztbegründung

Lauschen wir mal, was Sokrates noch zu sagen hat: Sokrates stimmt Phaidros zu, dass die Liebe das Schöne anstrebt und fragt nun, warum das so ist. Seine Antwort: Der Liebende will glückselig werden. Glückselig oder einfach nur glücklich zu sein wird dann von Sokrates als Letztbegründung angenommen, eine Begründung, bei der man nicht mehr sinnvoll weiter „Warum?“ fragen kann. Du kannst demnach sinnvoll fragen: „Warum willst du lieben?“ Und die Antwort lautet: „Weil ich glücklich werden will.“ Aber die Frage „Warum willst du glücklich werden?“ ist nicht sinnvoll. Weil #isso! Wir werden uns damit noch weiter im Zusammenhang mit Platons Ethik beschäftigen. Aber es ist ein interessanter Funfact, dass mit der Letztbegründung ein weiteres enorm wirkungsträchtiges philosophisches Konzept bis auf Platon zurückgeht.

Da Sokrates diesen Begründungsstrang seiner Meinung nach an sein Ende getrieben hat, folgt die Frage, was denn glücklich macht. Seine Antwort: „Das Gute“. Daraus folgend kritisiert er dann auch den Mythos vom Kugelmenschen, denn Liebende würden nicht ihre andere Hälfte suchen, sondern etwas, das gut für sie ist. Und wenn die andere Hälfte sich als schlecht herausstellt, dann wollten die Liebenden sie gar nicht haben.

Ist der Zweck der Liebe bloß die Fortpflanzung?

Sokrates präzisiert nun Phaidros These noch einmal: Die Liebe strebt nicht nach dem Schönen an sich, sondern nach der Geburt des Schönen. Die Geburt des Schönen kann nun buchstäblich die Geburt eines Kindes sein oder es kann eine metaphorische, eine geistige Geburt sein. Zeugung des Schönen sei aber im Grunde eine Verewigung, daher ist Liebe eigentlich die Liebe zur Unsterblichkeit. Platon, der alte Lustfeind, vergisst natürlich nicht, zu erwähnen, dass die geistige Zeugung viel cooler ist als die körperliche. Das sehe man ja an den Werken von Homer und Hesiod.

Oje, dieser Abschnitt ist mal wieder typisches Platon-Geschwurbel Brechen wir ihn mal herunter. Sokrates definiert Liebe in Analogie zu sexueller Fortpflanzung. Erfindungen, Ideen (im normalsprachlichen Sinne), Entwicklungen und Dichtungen sind genauso Geburten wie die Geburt eines Kindes. Das ist eine Metapher, die wir auch heute noch gerne verwenden. Aber ist denn die Analogie auch treffend? Es erscheint mir klar, dass es diesen Aspekt der Liebe gibt. Das kann ich als Vater von zwei Kindern anekdotisch bestätigen. Aber lässt sich Liebe immer aufs Biologische reduzieren? Ist der einzige Zweck der Liebe die Fortpflanzung? Gibt es nicht auch Formen der Liebe, die nichts mit dem Wunsch nach der eigenen Unsterblichkeit zu tun haben?

Der Stufenweg der Liebe

Platon gibt uns darauf keine Antwort, sondern baut als nächstes seine Ideenlehre ein, indem er von einem Stufenweg der Liebe spricht. Die erste Stufe, das erste, was der Mensch zu begehren lernt, ist die Liebe zu einem schönen Körper, in Form eines Individuums. Mit anderen Worten: Man verliebt sich. Die nächste Stufe ist die Liebe zu allen schönen Körpern. Gewissermaßen der Reiz, der für Künstlerinnen darin liegt, Menschen zu fotografieren oder zu malen. Die nächste Stufe ist die Entdeckung der Schönheit der Seele, die dazu führt auch weniger schöne Körper zu lieben. Durch die Schönheit der Seele beschäftigt man sich mit Sprache und entdeckt so die Schönheit in Handlungen und die Schönheit von Ethik. Von dort aus entdeckt man die Schönheit der Wissenschaft und auf der letzten Stufe sieht man schließlich die Schönheit selbst, also die Idee der Schönheit, wie wir sie in der Folge zur Ideenlehre schon definiert haben. Mit diesem Stufenweg verfolgt Platon natürlich eine Agenda: Die Idee der Schönheit zu sehen ist das Ziel einer Liebeserziehung und erst durch ihr Erblicken wird das Leben lebenswert, erklärt er.

Alkibiades‘ vergebliche Verführung

An dieser Stelle platzt der besoffene Alkibiades in die Runde. Nach einigem Hin und her wird Alkibiades aufgefordert, auch eine Lobrede auf den Eros zu halten. Aber offensichtlich haben er und Sokrates eine gemeinsame Vergangenheit, weshalb Alkibiades ziemlich rumzickt und am Ende lieber eine Lobrede auf Sokrates halten will, beziehungsweise die Wahrheit über diesen auspacken.

Er beginnt mit der altbekannten Charakterisierung von Sokrates: außen hässlich, innen schön. Sokrates ist Lehrer. Es verlangt ihn nicht nach Geld oder körperlicher Schönheit. Er ist nur an der Seele der Menschen interessiert. Schließlich packt Alkibiades aus, dass er einst versucht hat, Sokrates zu verführen, dass aber nichts daraus wurde. Er brachte durch geschickte Umstände Sokrates sogar dazu, mit ihm in einem Bett zu pennen, aber Sokrates habe ihn nicht angerührt! Echt ey, dieser prüde alte Sack! Danach folgen wieder Lobhudelein über Sokrates, die wir hier ignorieren können.

Denn der entscheidende Punkt, an diesem merkwürdigen Abschnitt, der später zur Redewendung der platonischen Liebe verkürzt wurde, ist folgender: Platon macht klar, dass Sokrates auf dem Stufenweg der Liebe schon hinaufgestiegen ist, ist er an profanem Sex nicht mehr interessiert. Stattdessen liebt er die Seelen der jungen Männer mehr als ihre Körper. Das ist – so die Schlussfolgerung – die bessere Form der Liebe, die Platonische Liebe.

Was machen wir damit?

Das war sie also, die platonische Begriffsbestimmung von Liebe. Was machen wir nun mit diesem Definitionsversuch? Spannend finde ich, wie viele Aspekte der Liebe schon in diesem Dialog stecken, die auch ich noch unterschreiben kann: Dass die Liebe das Beste in den Menschen hervorbringen kann. Dass man sich aber bemühen muss, schön zu lieben, also sich nicht unangemessen verhalten darf. Dass es so etwas wie Seelenverwandte gibt, aber dass diese Seelenverwandten vielleicht auch nicht gut für uns sind und wir lieber woanders die Liebe suchen sollen. Dass Liebe den Krieg besiegen und uns zu Dichtern machen kann. Und dass wir lieben, um glücklich zu werden. Das finde ich alles sehr schöne Gedanken.

Natürlich habe ich bei dieser Aufzählung einerseits sehr viel weggeworfen, was mich stört, und andererseits diesen über 2.300 Jahre alten Text sehr modern interpretiert. Aber ich finde, so eine Herangehensweise ist das beste, was ein Platonischer Dialog leisten kann: Er ist ein Gesprächsangebot, das die Zeit überdauert hat. Wenn wir ihn heute lesen und etwas finden, das wir aus ihm ziehen können und dadurch angespornt werden, über diese Sache weiter nachzudenken, dann ist das meines Erachtens philosophischer als alle komplexen metaphysischen Systeme. Und Platon, dem alten Dialektiker, hätte es sicher sehr gefallen.

Was denk ihr? Ist Liebe etwas, über das sich Philosophen Gedanken machen sollten? Oder sollten wir das lieber den Dichterinnen überlassen? Schreibt mir einen Kommentar. Eure Meinung interessiert mich sehr!

Literatur

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