Das Dilemma von „Terror – Ihr Urteil“

In der ARD wurde am 17.10.2016 das Fernsehspiel „Terror – Ihr Urteil“ aufgeführt. Und wenn schon Millionen Menschen sich den Kopf über Ethik zerbrechen, möchte ich mir die Chance nicht entgehen lassen, meine 5 Cent in den Hut zu werfen.

Was ist passiert?

Das Setting des Fernsehspiels war folgendes: Ein Selbstmordattentäter hat ein Flugzeug entführt und droht es, auf ein Fußballstadion stürzen zu lassen. Ein Kampfjetpilot entscheidet sich gegen den direkten Befehl seiner Offiziere, das Flugzeug abzuschießen. Sein Kalkül ist einfach: So sterben nur wenige hundert Menschen im Gegensatz zu vielen Tausend.

Die Fernsehzuschauer sahen daraufhin die Gerichtsverhandlung und durften am Ende per Abstimmung das Urteil bestimmen. Sie entscheiden sich, den Piloten freizusprechen. Das ist ein brisanter Ausgang, denn es gibt ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach ein solcher Abschuss gegen das Grundgesetz verstößt, also gegen unsere Verfassung, gegen unser höchstes Gesetz, die Basis unserer Demokratie, auf deren Grundlage alle anderen Gesetze aufgebaut sind.

Der Ausgang dieser Sendung lässt sich also allzu leicht in Einklang bringen mit den menschenverachtenden, antidemokratischen Tendenzen, die Deutschland seit Beginn der Flüchtlingskrise zeigt. Aber ist dieser Schluss gerechtfertigt? Nicht unbedingt.

Nicht #mausgerutscht

Betrachten wir zum Beispiel den Schießbefehl, den die AfD-Politikerin Beatrix von Storch aufs Tapet gebracht hat. Sie spielte in einem Interview mit dem Gedanken, gegebenenfalls auf Flüchtlinge, auch Frauen und Kinder, zu schießen, um die deutschen Grenzen zu schützen. Später entschuldigte sie sich damit, dass die auf ihrer Maus ausgerutscht sei.

Ethik ist immer eine Güterabwägung und damit meine ich nicht „Güter“ im Sinne von „Waren“ sondern im Sinne von „gut und böse“. Und der Schießbefehl stellt ein vergleichsweise niedriges Gut „den illegalen Grenzübertritt von unbewaffneten Menschen in Not“ über eines der höchsten Güter, die wir kennen: Menschenleben. Er ist also ganz offensichtlich unmoralisch.

Doch wie verhält es sich bei der Terrorsendung?

Auf dem ersten Blick liegt hier das Gleiche Gut auf beiden Waagschalen: Menschenleben. Von Unmoral kann hier also keine Rede sein. Im Gegenteil ist es doch höchst moralisch, sich für die Seite zu entscheiden, auf der mehr Leben liegen, oder? Wie konnte das Bundesverfassungsgericht dann urteilen, dass es sich hierbei um einen Bruch des Grundgesetzes handelt?

Der Grund ist folgender: Nur auf den ersten Blick sind die beiden Güter, die hier miteinander streiten die Menschenleben einer größeren Zahl mit denjenigen einer geringeren Zahl. Auf den zweiten Blick streiten hier eigentlich Menschenleben und Menschenwürde miteinander. Dadurch, dass der Pilot für die Flugzeuginsassen entscheidet, dass ihr Leben weniger wert ist als das der Menschen im Fußballstadion, würde er gegen ihre Menschenwürde verstoßen, so das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Und „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ ist Artikel 1 unseres Grundgesetzes. Das oberste Prinzip, dem sich alles unterzuordnen hat. Erneut stellt sich mir hier die Frage: Warum ist das so? Warum sollen Menschenleben einer größeren Zahl weniger Wert sein, als Menschenwürde einer geringeren?

Zwei Wertesysteme

Dahinter stehen zwei Wertesysteme. Der Pilot, der die Menschenmenge im Stadion gegen die im Flugzeug aufrechnet, verfolgt die Philosophie des Utilitarismus‘. Der Utilitarismus lässt sich fahrlässig verkürzen auf den Leitsatz „Das  größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl“. Diese Philosophie ist vor allem im angelsächsischen Kulturkreis verbreitet. In den USA fand sie mit dem Grundsatz des „Pursuit of happiness“ sogar Einzug in die Verfassung. Es gehört also zu den Grundrechten amerikanischer Bürger, nach Glück zu streben und der Staat hat dies für die größtmögliche Zahl zu ermöglichen.

Das Bundesverfassungsgericht urteilte hingegen in der Tradition der Ethik Immanuel Kants. In seinem berühmten Buch „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ hatte Kant den kategorischen Imperativ als oberstes ethisches Prinzip definiert. Dieser Imperativ sagt: „Handle stets nach derjenigen Maxime, von der du zugleich wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz werde“. Aus dem Satz hatte Kant dann die Forderung abgeleitet, dass man Menschen nie als bloßes Mittel sondern immer als Zweck betrachten solle. Das ist im Grunde eine andere Formulierung für „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Und wenn der Pilot Menschen tötet um andere Menschen zu schützen, dann behandelt er sie eben als  bloßes Mittel.

Bloß Tradition?

Also hat das Bundesverfassungsgericht bloß aus Tradition so geurteilt und die Entscheidung des fiktiven Piloten ist genauso richtig? Nun, nicht ganz. Es hat ja einen Grund, dass die Menschenwürde, der Schutz des Individuums, das oberste Prinzip unserer Demokratie ist. In den totalitären Regierungsformen des 20ten-Jahrhunderts wurde diese Menschenwürde massiv missachtet. Sowohl im Faschismus und Nationalsozialismus als auch im Stalinismus wudren Menschen als bloße Mittel zum Erreichen eines größeren Ziels eingesetzt. Unsere Staatsform ist eine direkte Antwort, eine Gegenbewegung gegen diese Totalitären Denkweisen, denn sie haben viel Leid verursacht. Daher haben wir einen sehr guten Grund die Menschenwürde Weniger sogar höher zu stellen als das Leben Vieler.

Also zeigt die Fernsehsendung doch, dass der Mob keine Ahnung hat und undemokratische Entscheidungen fällt? Nein, so einfach ist es nicht und darin besteht auch genau der Unterschied zum kulturellen Tiefpunkt des erwähnten Schießbefehls. Hier haben wir es mit einem Dilemma zu tun, mit einer Entscheidung, bei der es kein einfaches richtig oder falsch gibt. Mein kleines Philosophiewörterbuch definiert ein solches Dilemma, wie wir es hier vor uns haben, als Situation …

„… In der man zwischen zwei Handlungsweisen wählen muß, die beide negative Konsequenzen haben.“

Das besondere an ethischen Dilemmata ist, dass dadurch, dass es keine einfachen Entscheidungen gibt, die Auseinandersetzung mit ihnen der eigentliche Gewinn ist. Ethik ist mehr als ein fester Satz von Geboten. Sie lebt von der ständigen Beschäftigung mit unseren Werten. Nur wenn wir sie in Frage stellen und sie immer wieder neu begründen, bleiben sie für unser Zusammenleben relevant. Entsprechend ist ein Tag, an dem sich Millionen Menschen mit einem ethnischen Dilemma beschäftigen, ein guter Tag für unsere Kultur.

Literatur

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