Mein Corona-Tagebuch der schönen Gedanken – Teil 27
Wir blicken ins Illustrierte Buch der schlechten Argumente und finden Nichtwissen, das sich als Beweis ausgibt. Was haben Ufo-Gläubige mit Karl Popper und dem Wiener Kreis zu tun? Weniger als es aussieht! Doch mit Wittgenstein, Platon und Aristoteles bestehen wir auf den Regeln des Sprachspiels.
Ich möchte mich ab heute dem nächsten großen Block zuwenden und euch von Platons Erkenntnistheorie erzählen. Ihr könnt das als Video angucken oder darunter das Transkript lesen. Wenn ihr Quellenangaben wünscht, fragt mich in den Kommentaren!
Der Dialog Theaitetos
Die beiden wichtigsten Dialoge zu Platons Erkenntnistheorie sind der Menon und der Theaitetos. Ich werde mich zunächst hauptsächlich auf den Theaitetos beziehen, denn in ihm werden einige klassische Probleme der Epistemologie verhandelt, die noch heute relevant sind. Platons These, wie menschliche Erkenntnis möglich ist, findet sich dann allerdings im Menon. Wir kommen dazu …
Der Theaitetos ist ein spannender Dialog, da er einerseits aus Platons Spätwerk stammt, andererseits aber viele Aspekte eines frühen platonischen Dialogs aufweist, so wird hier ein einzelnes Problem untersucht: Die Frage, was Wissen ist. Außerdem endet der Dialog wie viele frühe Werke aporetisch, also mit einem offenen Ende, ohne konkretes Ergebnis.
Der Theaitetos beginnt auch sehr klassisch. Sokrates, der junge Mathematiker Theaitetos und sein Lehrer Theodoros beginnen ein Gespräch, indem Theaitetos gefragt wird, was Wissen ist und erst einmal eine extensionale Antwort gibt. Er zählt also auf, was alles unter den Begriff des Wissens fällt: Zum Beispiel Mathematik, verschiedene Handwerkskünste, Platons Apfelkuchenrezept oder was zur dunklen Seite der Macht führt.
Natürlich wird Theaitetos als nächstes nicht weniger klassisch von Sokrates belehrt, dass es ihm nicht um diese Aufzählung von Beispielen gehe, wenn er eine „Was ist …?“-Frage stellt. Stattdessen geht es ihm um die Intension des Begriffs, seine Bedeutung oder (verkürzt gesprochen) die Definition.
Die erste Definition von Wissen
Nach einigem Hin und Her gibt Theaitetos dann Sokrates und uns Lesern eine erste Definition für Wissen: Wissen ist Wahrnehmung. Und das ist eine wirklich spannende Antwort. Auf den ersten Blick wirkt sie sehr naiv, besonders wenn man bedenkt, dass Theaitetos Mathematiker sein soll. Dass ausgerechnet ein Mathematiker glaubt, Wissen sei Wahrnehmung, interpretiere ich übrigens als einen kleinen Witz von Platon. Ich kann mir richtig gut vorstellen, wie der alte Mann ihn leise kichernd in seine Wachstafel ritzte.
Aber neben einem Scherz ist diese Antwort zugleich die Begründung einer wissenschaftlich-philosophischen Tradition, die über die britischen Philosophen der Neuzeit und den Wiener Kreis bis heute fortgeschrieben wird: den Empirismus. Zwar ist dieser längst über Theaitetos‘ naive Version hinaus und setzt Wahrnehmung und Wissen nicht mehr gleich. Aber die Grundidee, die schon hier im Dialog auftaucht, ist die gleiche geblieben: Auf der Suche nach Erkenntnis müssen wir uns auf das verlassen, was wir wahrnehmen beziehungsweise messen können.
Die Gegenthese ist übrigens der Rationalismus, der wiederum vor allem auf das setzt, was wir denkend erkennen können. Platons oben erwähnter Witz hat die Pointe, dass das Paradebeispiel des Rationalismus‘ immer die Mathematik ist.
Der Mensch ist das Maß aller Dinge
Doch zurück zum Dialog: Sokrates erwidert, dass die These „Wissen ist Wahrnehmung“ seiner Meinung nach das gleiche sagt wie der berühmte Satz des Sophisten Protagoras: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge.“ Dieser Satz von Protagoras, den ihr nicht mit Pythagoras verwechseln solltet, ist wiederum so etwas wie der Artikel 1 einer weiteren philosophischen Strömung: des Relativismus. Der Relativismus ist die schlechte philosophische Angewohnheit, immer alles relativieren zu müssen. Echt ey, nie können wir euch eure absoluten Wahrheiten lassen! Also fast nie. Relativ gesehen.
Der Relativismus sagt, es gibt nicht die eine Wahrheit, sondern jede von uns hat ihre eigene kleine Wahrheit je nach Kontext. Das ist eine sehr spannende These, die mir auch äußerst sympathisch ist, und die unglaublich viele Chancen und noch mehr Risiken mit sich bringt. Aber was hat das mit Theaitetos‘ „Wissen ist Wahrnehmung“ zu tun?
Nun, hier steckt der nächste riesige Brocken philosophischer Probleme drin, genauer gesagt die sogenannte Qualia-Debatte. Auch wenn die mitunter eine Qual ist, hat sie mehr mit Qualitäten zu tun. Ihr habt wahrscheinlich noch nie etwas von ihr gehört aber trotzdem kennt ihr sie alle. Denn es handelt sich um die Suche nach der Antwort auf eine der ersten philosophischen Fragen, die sich Menschen als Teenager stellen. Die gleiche Frage, die nachts um drei bekifft in der WG-Küche diskutiert wird: Ist das, was ich als Rot wahrnehme auch für dich rot? Wir nennen es zwar beide so, aber vielleicht sieht dein Rot blau aus. Sokrates bringt hier ein anderes Beispiel: Der Wind, der die eine frieren lässt, ist für die andere eine angenehme Erfrischung.
Wissen ist das Gegenteil von Irrtum
Sokrates fährt fort, indem er Wissen als das Gegenteil von Irrtum definiert. Das ist ziemlich einleuchten, oder? Wenn ich etwas weiß, dann habe ich mich nicht geirrt. Wenn ich mich irre, habe ich kein Wissen. Daraus folgt, dass, wenn Wahrnehmung Wissen ist, dass ich mich dann nicht in einer Wahrnehmung irren kann. Soweit klar?
Bevor Platon mit der Prüfung dieser These beginnt, schweift er dann erst noch einmal kräftig ab und lässt Sokrates viel Zeug über Werden und Gleichbleiben schwafeln, das ich in etwa so spannend finde wie die zweite Staffel von The Wire, sodass ich es hier einfach ganz dreist weglasse.
Als Platon Sokrates wieder auf Spur gebracht hat, lässt er ihn Argumente gegen die These liefern, dass man sich in seinen Wahrnehmungen nicht täuschen kann. Im Traum wisse man zum Beispiel nicht, dass man träume, glaubt aber wahrzunehmen. Meine Wahrnehmung ist also ein Irrtum. Auch Menschen mit Psychosen glauben, Wahrnehmungen zu haben, die aber objektiv betrachtet nicht da sind. Und im kleinere Maßstab hatten wir alle schon mal eine Halluzination und glaubten etwa, etwas zu riechen, wovon in Wirklichkeit kein Duft in der Luft lag. Entsprechend gibt es durchaus diverse Möglichkeiten, sich in seinen Wahrnehmungen zu irren. Soweit ist das klar, oder?
Zurück zum Relativismus
Aber waren wir nicht vorhin noch beim Relativismus und haben diesen dann ganz schamlos bei Seite liegen lassen? Keine Sorge: Für das nächste Argument gegen die These, dass Wahrnehmung Wissen ist, schlägt Sokrates den Bogen zurück zu Protagoras. Wenn Wissen Wahrnehmung ist, die wahrgenommene Welt jedem anders erscheint und obendrein das auch noch richtig und wichtig ist, wie die Bundesregierung sagen würde, dann folgt daraus, dass ich von niemandem sagen kann, dass sie mehr Wissen als eine andere habe.
Das ganze läuft dann nämlich ab wie eine Diskussion auf Facebook: Ich sage, es gibt keine Chemtrails, ich sehe bloß Kondensstreifen. Aber mein Widersacher, nennen wir ihn mal Aluhutträger1984, entgegnet einfach: Das ist falsch, ich sehe doch den Unterschied zwischen normalen Kondensstreifen und gefährlichen Chemtrails. Wenn also Wissen gleich Wahrnehmung wäre, dann ließe sich nicht entscheiden, wer von uns beiden Recht hat. Wir hätten beide Recht, schließlich nehmen wir das ja wahr.
Fremde Sprachen hören und verstehen
Sokrates gibt ein weiteres Beispiel gegen die „Wissen ist Wahrnehmung“-These: Wenn ich eine mir unverständliche Fremdsprache höre oder lese, dann nehme ich sie wahr, aber ich weiß nicht, was sie bedeutet. Theaitetos wendet ein, dass man da unterscheiden müsse: Ich weiß nämlich noch immer etwas – den Klang, bloß seine Bedeutung nicht.
Puh, die Frage ist, ob wir hier wirklich noch von Wissen sprechen können. Denn – vielleicht kennt ihr das Phänomen – wenn ich einen Film auf Englisch sehe und die Menschen sprechen da schnell und womöglich sogar Slang, und wenn ich dann irgendwann den Faden verliere, dann ist es mir nicht einmal mehr möglich, Wortgrenzen herauszuhören. Erst wenn ich wieder ein mir bekanntes Wort gehört habe, beginnt die Sprache wieder Struktur für mich auszubilden, davor war sie nur Rauschen und ich würde nicht sagen, dass das Wissen ist. Wenn ich mich nachts auf meinen Balkon stelle und Frankfurt rauschen höre, sage ich ja auch nicht, dass ich dadurch Wissen von der Stadt habe.
Theaitetos macht hier den Fehler, zu glauben, dass Hören und Interpretieren zwei getrennte Dinge sind. Aber unser Gehirn strukturiert das, was wir Hören schon vor. Im Studium habe ich zum Beispiel mal gehört, dass es im Finnischen einen Laut zwischen *ü* und *i* gibt, den wir Deutsche nicht hören und entsprechend auch nicht sprechen können. Denn unser Gehirn presst das Geräusch immer in eine der beiden schon existierenden Schubladen, nur so ist Spracherkennung überhaupt möglich. Aber selbst wenn es anders wäre, wäre es äußerst fragwürdig, ob man Hören ohne Interpretation wirklich Wissen nennen könnte.
Der performative Widerspruch
Obwohl die Sache für mich schon längst geritzt ist, hört Sokrates nicht auf, auf der naiven These des armen Theaitetos herumzuhacken und das auch noch ziemlich kleinlich: Wenn ich etwas sehe, dann weiß ich, wie es aussieht. Wenn ich mich später daran erinnere, weiß ich das noch immer, ohne jedoch eine Wahrnehmung zu haben. Dieses Argument geht wirklich nur auf, wenn man die engste und naivste Auslegung von Theaitetos‘ These wählt.
Deswegen lassen wir das schnell hinter uns und wenden uns Platons Königsargument zu: Dem performativen Widerspruch. Der performative Widerspruch ist ein Widerspruch, der in dem Moment zutage tritt, wenn ich einen Satz äußere, also einen performativen Akt vollziehe.
Wieder geht es dabei um Protagoras‘ Satz: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge.“ Wenn dieser Satz bedeutet, dass für jeden Menschen das wahr ist, was ihm wahr erscheint, dann muss dies auch für ebenjenen Satz von Protagoras gelten. Wenn ich also sage: „Yo Protagoras, dein Satz ist so falsch wie die Vorurteile der AfD gegenüber Ausländern. Es gibt wohl eine absolute Wahrheit, die für alle gilt.“ Dann kann Protagoras dem schlichtweg nichts entgegen, denn, dass ich das so sehen kann, folgt ja logisch aus seinem Satz. Aber das heißt einmal mehr nichts anderes als: Protagoras‘ Relativismus kann nicht wahr sein.
Natürlich könnte ich jetzt noch problematisieren, ob der Empirismus des Theaitetos‘ immer mit Relativismus einhergehen muss. Aber das spare ich mir, denn die zwingende Widerlegung der These ist ja auch ohne diese Schlussfolgerung längst erfolgt, als Sokrates aufwies, dass ich mich in Wahrnehmungen irren kann und Irrtum nicht Wissen sein kann.
Also wenden wir uns der nächsten Definition von Wissen zu. Im Dialog ist hier übrigens die Untersuchung der ersten Definition noch nicht zu Ende, es werden weitere Argumente vorgebracht und zudem wird das eine oder andere Mal abgewichen. Aber für unsere Zwecke soll das für heute reichen, denn es ist ein sehr rundes Ergebnis und zeigt, wie eine philosophische Untersuchung im besten Falle ablaufen kann. Das nächste Mal setzen wir uns dann mit der zweiten These des Theaitetos auseinander: Wissen ist wahre Meinung.