Meine neue Lieblings-Kinderbuch-Autorin: Kirsten Boie

von Paula Hesse

[Gerade erst hatte ich angekündigt, mal ein Stück über Kirsten Boie zu schreiben. Dann habe ich es mir anders überlegt, und die Dame schreiben lassen, die das sowieso viel besser kann. Da sie sich nach wie vor standhaft weigert, ein eigenes Blog anzulegen, schreibt sie für mich einen Gastbeitrag. Ihren Twitteraccount darf ich auch nicht verlinken, denn der ist geheim. Aber ihren Podcast findet ihr hier. (Privatsprache)]

Mit dem Kind wächst die Freude am Vorlesen

Seit der Geburt meiner ersten Tochter vor etwa sieben Jahren bin ich von der Leserin zur Vorleserin geworden. Mit Pixi-Büchern fing es an; darunter gibt es gute und weniger gute. Wie freute ich mich, als durch das Voranschreiten der kognitiven Entwicklung meiner Tochter auch das Niveau der Lektüre stieg. Von Daniel Napps „Dr. Brumm“ über Gunilla Bergströms „Willi Wiberg“ kletterten wir höher zu Sven Nordqvists „Pettersson und Findus“ und „Mama Muh“. Bilderbücher, die auch Erwachsenen Spaß machen. Am schönsten war natürlich, als wir bei ganzen Romanen anlangten, wie sie Astrid Lindgren und Erich Kästner schrieben.

Schund im Kinderbuchregal – Verkaufsstrategie vor Niveau

Doch Kinderbücher mit literarischem Anspruch sind nicht leicht zu finden. Viel Schund findet sich in den Regalen der Kinderbuchabteilungen; viel zu viele Menschen schreiben Kinderbücher in der Annahme, bunte, glitzernde Bilder, einfache Sätze und die Darstellung von Banalitäten oder irgendwelchen Zaubereien reichten aus, um Kinder glücklich zu machen.

Da ist sicherlich etwas dran, denn immerhin haben es unzählige Kinderbuchhelden zu Merchandise-Erfolgen gebracht. Jedoch tummeln sich dort (zum Beispiel bei den „Prinzessin Lillifee“- und „Ponyfee“-Geschichten) Inkonsistenzen, unschöner Sprachstil und Moralappelle, die mit dem Holzhammer ausgeteilt werden. Kurzum: Viele dieser Geschichten sind einfach plump und machen auch dem kindlichen Rezipienten wenig Spaß. Erschwerend kommt hinzu, dass vor allem die erfolgreichen Kinderbuchserien getragen werden vom auffälligsten und unangenehmsten Sexismus (siehe „Prinzessin Lillifee“ und „Capt’n Sharky“).

Fluchtversuch zwecklos

Ich kenne die rosafarbenen dieser Geschichten, weil meine Tochter in der Bücherei selbstverständlich auch zu den glitzernden Büchern greift, deren Protagonistinnen immer und überall zu sehen sind. Und weil sie immer wieder von weniger interessierten oder informierten, es gut meinenden Menschen ebensolche Bücher geschenkt bekommt.

Da ich grundsätzlich niemals Bücher zerstören und meiner Tochter Geschenktes nicht entreißen würde, sind diese Geschichten auch in unserer Wohnung zu finden, und – obwohl höchstens einmal gelesen – ich hasse sie.

Erfolgreiche Schatzsuche im Bücherregal

Denn zwischen all den belanglosen und unsere Kinder zu „Weibchen“ und „Männchen“ ohne Hirn degradierenden Kinderbüchern gibt es auch welche, die von guten Schriftstellern verfasst wurden. Bücher, die tatsächlich bilden und Freude bereiten. Die oben erwähnten – nicht ohne Grund bekannten – Autoren Erich Kästner und Astrid Lindgren sind zum Glück nicht die einzigen. Nein, auch heute noch gibt es Schriftsteller, die ihre Begabung Kindern widmen.

Kirsten Boies echte Menschen

Und der hellste Stern am Firmament ist für mich Kirsten Boie. Sie schafft es, sowohl stringente phantastische Geschichten zu erfinden als auch Geschichten aus dem normalen Leben zu schreiben. Bei ihr werden Rollenklischees durchbrochen, sie geht geradezu aufklärerisch an sie heran. Ihre Kinderhelden haben schon mal genervte Eltern, ärgern sich über Schulfreunde und leben nicht in Schlössern, sondern in Hochhäusern und Vorstadtsiedlungen. Boies Chraraktere sind nicht nur liebevoll gezeichnet, sondern vor allem eines: echt. Sie denken, fühlen und handeln wie reale Menschen, es gibt zwischenmenschliche Probleme und Missverständnisse, die nachvollziehbar sind. Hier finden sich Mädchen, die sich unbewusst mit weiblicher Emanzipation auseinandersetzen, gescheiterte Elternbeziehungen und auch finanzielle Probleme.

Prinzessinen sind doof

In der Reihe „Prinzessin Rosenblüte“ zum Beispiel wird Emma zusammen mit einem tollpatschigen Schulkameraden aus der normalen Welt in eine Märchenwelt versetzt, in der sie als Retterin der Prinzessin fungiert. Dabei geht Emma Prinzessin Rosenblüte mit ihrer prinzessinnen-eigenen Naivität und Inaktivität schon bald auf die Nerven. Wer möchte da Prinzessin sein? Auch unseren Töchtern, selbst im 21. Jahrhundert, wird suggeriert, sie müssten hübsch und brav sein. Die sportliche Emma räumt mit dem Klischee auf: Einerseits findet sie das rosa Prinzessinnen-Kleid toll, andererseits durchschaut sie bald die Eindimensionalität des Prinzessinnen-Daseins.

Jenseits der heilen Welt

Die kleine Nella aus „Nella-Propella“ wohnt alleine mit ihrer Mutter, die noch studiert. Ihre Eltern haben sich getrennt, und Nella sieht ihren Vater einmal in der Woche. Nellas Mutter hat immer wieder Probleme, nach dem Kindergarten eine Betreuung für Nella zu organisieren, wenn sie zum Seminar oder zur Sprechstunde beim Professor muss. Dazu kommen finanzielle Sorgen und Nellas Misstrauen gegenüber dem neuen Freund der Mutter. Es ist eine Familie fernab der heilen „Vater-Mutter-Kind-Welt“, die scheinbar nebenher aus der Sicht des Kindes nachgezeichnet wird. Nellas Hauptprobleme sind nämlich ihre Freundschaftsbeziehungen im Kindergarten. Frau Boie zeigt deutlich, dass eine glückliche Kindheit nicht aus perfekten Eltern, dem eigenen Haus und Auto besteht, wie es uns zum Beispiel die „Conni“-Bücher weismachen wollen.

Emanzipierte Kinder im Mittelalter

„Der kleine Ritter Trenk“ ist eigentlich ein Bauernjunge, der seinen Vater und seine Familie vor dem bösen Ritter Wertold retten möchte. Er verlässt heimlich seine Familie und zieht in die Stadt, um dort nach einem Jahr quasi automatisch von der Leibeigenschaft befreit zu werden. Durch Zufall bekommt er die Gelegenheit, die Rolle des ängstlichen Rittersohns Zink als Page bei dessen Onkel anzunehmen. Trenk führt ein Doppelleben, um dem Grundsatz: „Als Bauer geboren, als Bauer gestorben, Bauer ein Leben lang“ zu entgehen. Dabei schlägt er sich recht gut und zieht das Wohlwollen seines falschen Onkels und des Fürsten auf sich. Unterstützt wird er dabei tatkräftig von der Tochter seines „Zieh“-Onkels, die ebenfalls ein Doppelleben führt. Ihrem Vater macht sie vor, sich ausschließlich mit Suppe kochen, Harfe spielen und Sticken zu beschäftigen, während sie in Wahrheit alleine durch den Wald streift und sich selbst zu einer hervorragenden Erbsenschleuder-Schützin ausgebildet hat. Wir sehen zwei Kinder, die gegen festgefügte gesellschaftliche Zwänge aufbegehren und lernen dabei viel über das Mittelalter.

Höchstes Niveau bei Alltagsgeschichten und Fantasy-Abenteuern

Kirsten Boies Geschichten sind nie langweilig. Im Gegenteil, sogar der Alltag gerät hier zum Abenteuer, wenn eben jene Probleme, vor welche die kindlichen Protagonisten gestellt werden, von diesen gelöst werden müssen. Zudem sind ihre Bücher humorvoll und spannend erzählt. Für den erwachsenen Vorleser oder die Vorleserin gibt es immer wieder etwas zu Schmunzeln, wenn er oder sie die Welt durch die Lektüre wieder durch kindliche Augen sehen kann.

Zu guter Letzt ist noch Kirsten Boies angenehmer Schreibstil hervorzuheben. Sie schreibt luzide, mit kindgerechtem aber nicht verblödendem Wortschatz. Frau Boie schreibt nicht nur für Kinder, sondern auch für Jugendliche; meine Tochter und ich werden uns also noch länger an ihrer Kunst erfreuen können.

Empfehlungen:

Ich mochte bisher alles, was ich von Kirsten Boie vorgelesen habe. Besonders empfehlen möchte ich aber die Reihen:

Juli* (ab ca. 4 Jahre)
Der kleine Ritter Trenk* (ab ca. 6 Jahre)
Prinzessin Rosenblüte* (ab ca. 8 Jahre)

 

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