Ich beginne mit Platons Erkenntnistheorie. Wir blicken in den Theaitetos, Platons wichtigsten Dialog zur Epistemologie und sehen Sokrates bei der Prüfung der ersten These zu: Wissen ist Wahrnehmung.
Heute möchte ich mich der Frage widmen, was eigentlich ein Irrtum ist. Und ich warne euch vor, das hier ist ein harter Brocken, eine Dehnübung für eure Seele. Aber bleibt dran, am Ende werdet ihr mit zwei schönen Erklärungen belohnt. Wie immer gibt es das hier als Video oder darunter als Transkript:
In meinen Wahrnehmungen kann ich mich irren
Beim letzten Mal hatten wir zusammen mit Platon die These geprüft, ob Wissen Wahrnehmung ist. Platon hatte viele Argumente dagegen präsentiert, das für mich stärkste Argument ist aber: Wissen ist das Gegenteil von Irrtum. In meinen Wahrnehmungen kann ich mich aber irren, daher kann Wissen nicht gleich Wahrnehmung sein. Dieses Argument ist besonders stark, weil der Schluss rein semantisch ist. Die Wahrheit ergibt sich aus der Wortbedeutung. Das nennt man einen analytischen Schluss oder ein analytisches Urteil. Während ich mich bei einem empirischen Schluss irren kann, weil meine Daten über die Welt falsch sein können, ist dies bei einem analytischen Urteil nicht möglich.
Da also Wahrnehmung ausscheidet, machen sich in Platons Dialog Sokrates und Theaitetos sowie dessen dumm daneben stehender Lehrer daran, eine zweite These aufzustellen, was Wissen sein könnte. Beim letzten Mal habe ich erläutert, dass die Definition „Wissen ist Wahrnehmung“ die Geburtsstunde der philosophischen Strömung des Empirismus war. Nun dürfen wir zusehen, wie Platon eine zweite große philosophische Strömung aus der Taufe hebt: Den Rationalismus. Denn wenn Wahrnehmung – also das, was von der Welt auf uns Menschen einströmt – als Kandidat für Wissen gescheitert ist, dann erscheint es doch lohnend, das zu prüfen, was wir Menschen der Welt entgegenbringen: Das Denken.
Die reine Lehre des Rationalismus sollte später werden, dass echte Erkenntnis nur mit voraussetzungsfreiem Denken möglich ist. Bitte bedenkt, dass ich das wieder einmal bewusst extrem verkürzt ausgedrückt habe, bevor ihr mir diese Definition um die Ohren haut. Große Rationalisten sollten später so Philosophen wie Descartes und Leibniz werden. Der reine Rationalismus musste allerdings erst durch Kant und dann durch die moderne Psychologie schwere Schläge einstecken, sodass er in dieser naiven Form nicht mehr vertreten wird. Aber dennoch sind noch heute viele Philosophen von ihm geprägt, insbesondere in meiner Lieblingsströmung, der analytischen Philosophie.
Indirekter Beweis von Wissen ist wahre Meinung
Zurück zu Platon: Der stellt nämlich fest, dass nicht jede Form von Denken als Kandidat für Wissen in Frage kommt. Ich sitze hier gerade und frage mich: „Was mache ich hier eigentlich?“ Diesen Satz kann ich wohl kaum Wissen nennen. Nein, Wissen kann nur die Art von Denken sein, die auch wahr oder falsch sein kann, wie zum Beispiel: „Das Studioset zu ‚Das Fenster zum Hof‘ war das damals größte Set aller Zeiten.“ Entsprechend lautet Platons zweite, zu prüfende Definition: „Wissen ist wahre Meinung“.
Platon lässt Sokrates die Untersuchung dieser These mit einem indirekten Beweis beginnen, indem er fragt, was denn eigentlich falsche Meinung ist. Sokrates macht dies, weil er zeigen will, dass falsche Meinungen existieren, um sie dann im nächsten Schritt den wahren Meinungen gegenüber zu stellen. Das ist eine beliebte Strategie in der Philosophie, wenn man seine These besonders stark machen will: Erst einmal ausschließen, was etwas nicht ist.
Was ist also diese falsche Meinung? Platon schlägt vier Kandidaten vor und ich warne euch schon einmal – die vier machen Knoten ins Gehirn. Da wären:
Wenn ich eine falsche Meinung habe, halte ich dann etwas, das ich kenne, für etwas anderes, das ich kenne?
Vielleicht ist falsche Meinung auch, etwas, das ich nicht kenne, für etwas zu halten, das ich ebenfalls nicht kenne?
Natürlich könnte ich auch etwas, das ich kenne, für etwas halten, das ich nicht kenne.
Oder (zu guter Letzt) kann ich etwas, das ich nicht kenne, für etwas halten, das ich kenne.
Platon hält alle vier Möglichkeit für unmöglich. Etwas, dass ich kenne, kann ich nicht verwechseln, da ich es ja kenne. Aber etwas, das ich nicht kenne, kann ich nicht verwechseln, weil ich es eben nicht kenne. Es gibt also keine falsche Meinung.
Alter! Das ist ein typischer Platon-Mindfuck, bei dem dir fast der Schädel platzt, wenn du versuchst, nachzuvollziehen, was um Himmels Willen er überhaupt meint. Bei aller Kritik, muss ich aber auch sagen, dass die Systematik, mit der Platon hier vorgeht, sehr elegant ist. In der Aussagenlogik könnte man die vier Sätze durch Variablen ersetzen und würde sehen, dass Platon tatsächlich alle Möglichkeiten abdeckt.
p = q
-p = -q
p = -q
-p = q
Nur die Schlussfolgerung, dass keine der vier Möglichkeiten in Betracht kommt, ist absurd. Walter Bröcker meint, dass diese Untersuchung überhaupt nur entstehen konnte, weil es im Altgriechischen keine Unterscheidung zwischen „Kennen“ und „Wissen“ gab. Da ich Altgriechisch nicht beherrsche, kann ich das nicht beurteilen. Ich sehe hier aber mal wieder das gleiche Problem, das wir auch schon im Zusammenhang mit dem Prädikat „groß“ hatten: Platon berücksichtigt nicht, dass es mehr als Entweder-Oder-Entscheidungen gibt, dass die Welt voller Kontinuen ist.
Beispielsweise ist es nicht so, dass ich Justin Bieber entweder kenne oder nicht. Ich kann Justin Bieber auch ein bisschen kennen, wenn ich weiß, dass er Popmusiker ist, dass er ein weißes, blondes Bübchen ist, also eben dieser Typ:
Oh, jetzt habe ich ihn wohl mit irgendjemandem verwechselt. einen anderen Justin, den ich eben auch nur ein bisschen kenne …
Anyway, Platons nächste Definition von falscher Meinung lautet: Falsche Meinung ist, zu meinen, was nicht ist. Doch auch diese Definition scheint zu scheitern, denn nach Platon ist Meinen immer „etwas meinen“. Das ist soweit korrekt. Ich meine, dass Berliner fritierte Teigbällchen mit Marmeladenfüllung sind, die in Puderzucker gewälzt wurden. Also wenn das mal nicht etwas ist! Aber dieses „Etwas“ kann immer nur etwas sein, das existiert, so Platon.
Pfff … Das sind so ontologische Problemchen, von denen ich mit 2000 Jahren Abstand meine, dass du sie einfach nicht mehr ernst nehmen kannst. Natürlich kann ich von Nichtseiendem meinen, dass es ist. Beispiel gefällig? Einhörner existieren. Basta. Außerdem unterscheidet Platon nicht zwischen logischem Subjekt und logischem Prädikat. Ich kann zum Beispiel sagen: Pferde haben die Farbe MÖÖÖÖÖÖÖP. Dann habe ich einem Subjekt, das existiert, nämlich dem Pferd, etwas zugeschrieben, das nicht existiert, nämlich die Farbe MÖÖÖÖÖÖÖP. Ihr seht, Platons Definition ist gleich in mehrere Hinsicht falsch.
Nun gut, Platon sieht das anders und prüft eine dritte Definition: Falsche Meinung ist Verwechslung. Das ist genau unser Fall mit den zwei Justins. Aber Platon lehnt diesen Fall auch wieder ab, da ich bei der Verwechslung etwas, das ich kenne für etwas anderes halte, das ich kenne. Wie schon gesagt, kennt Platon aber kein graduelles Kennen, daher zieht er den absurden Schluss, dass es keine Verwechslung gibt.
Nun ist Platon zwar ein weltfremder Philosoph, aber auch nicht ganz doof, weswegen er Theaitetos und Sokrates die Erkenntnis beschert, dass ihr Ergebnis nicht stimmen kann, denn wir alle kennen ja Verwechslungen. Und ich kann euch beruhigen, jetzt wird das alles wieder verständlicher.
Wachstafel und Taubenschlag
Um zu erklären, wie Verwechslungen zustande kommen, entwirft Platon zwei weitere berühmte Gleichnisse: Das Bild von der Wachstafel und das Bild vom Taubenschlag. Um Verwechslungen in der Wahrnehmung – wie bei unseren beiden Justins – zu erklären, dient die Tafel.
Demnach ist unsere Seele (wir können auch Geist oder Gehirn sagen) wie eine Wachstafel und jedes Mal, wenn wir einen Sinneseindruck haben, dann wird dieser in die Tafel im wahrsten Sinne des Wortes eingedrückt (ob daher wohl die Metapher kommt?). Diese Eindrücke sind nun unterschiedlich tief und tragen sich zudem mit der Zeit ab. Wir vergessen, wenn wir einer Erinnerung nicht Nachdruck verleihen.Eine Verwechslung ist nun, wenn wir beispielsweise Timberlake begegnen, ihm aber in unserem Kopf den Eindruck von Bieber zuordnen. Na das ist doch mal eine schöne und verständliche Erklärung gewesen!
Allerdings gibt es auch noch andere Arten von Irrtümern, bei denen uns das Bild von der Wachstafel nicht mehr weiterhilft. Es sind Fälle von falschen Schlussfolgerungen: Etwa bei Fällen, in denen ich mich verrechne. Oder wenn ich zum Beispiel aus der Tatsache, dass eine Gruppe von Muslimen in Köln Frauen massiv belästigt hat, schließe, dass alle Muslime Sexisten sind.
Hierfür entwirft Platon das Bild vom Taubenschlag: Meine Seele, mein Geist oder mein Gehirn ist wie ein Taubenschlag und mein Wissen ist wie die Tauben. Platon unterscheidet nun zwischen dem Besitz von Wissen und dem Haben von Wissen. Beispielsweise besitze ich das Wissen, dass ich von einem Einzelfall nicht auf eine Regel schließen kann. Wenn mir einmal von Schokolade schlecht geworden ist, werde ich doch trotzdem nicht sofort aufhören Schokolade zu essen. Diese Regel fliegt als eine Taube durch meinen Taubenschlag, ich besitze sie. Und im Fall der Schokolade habe ich sie auch erfolgreich gefangen, halte sie in der Hand und habedieses Wissen entsprechend auch.
Wenn nun aber wie im Fall nach der Silvesternacht 2016 in Köln die Situation aufgeheizt ist, alle Medien dauernd berichten und auf Facebook und Twitter rumgeschrien wird, wie schlimm diese Muslime sind, die Tauben quasi wie blöd durch meinen Taubenschlag flattern, dann kann es vorkommen, dass ich die Taube nicht fange, sondern womöglich eine andere greife. Auch dann besitze ich noch das Wissen, also die richtige Meinung, aber ich habe sie nicht mehr. Ich habe dann eine falsche Meinung.
Wie schön, am Ende hat Platon doch noch ein Kontinuum entdeckt! Aber natürlich lässt Platon Sokrates dieses Ergebnis der Untersuchung umgehend problematisieren, wie es üblich ist in seinem dialektischem Spiel. Sokrates kommt zu dem Ergebnis, dass es ein Fehler war, die Untersuchung mit dem Irrtum zu beginnen, und man sich stattdessen der eigentlichen These zuwenden sollte, dass Wissen wahre Meinung ist.
Natürlich war es aber nicht wirklich ein Fehler. Platon hat eine gescheiterte Argumentation nicht „aus versehen“ in seinem Dialog stehenlassen. Es war stattdessen eine logische Dehnübung, die uns vor Augen führen sollte, wie kompliziert und mitunter verfahren die Lage ist, wenn wir beginnen, zu untersuchen, was unseren alltagssprachlichen Begriffen zugrunde liegt.
Nach dieser Dehnübung ist unsere Seele nun bereit, die These zu prüfen, dass Wissen wahre begründete Meinung ist. Aber weil es schon wieder so spät ist, machen wir das beim nächsten Mal.
Ich möchte mich ab heute dem nächsten großen Block zuwenden und euch von Platons Erkenntnistheorie erzählen. Ihr könnt das als Video angucken oder darunter das Transkript lesen. Wenn ihr Quellenangaben wünscht, fragt mich in den Kommentaren!
Der Dialog Theaitetos
Die beiden wichtigsten Dialoge zu Platons Erkenntnistheorie sind der Menon und der Theaitetos. Ich werde mich zunächst hauptsächlich auf den Theaitetos beziehen, denn in ihm werden einige klassische Probleme der Epistemologie verhandelt, die noch heute relevant sind. Platons These, wie menschliche Erkenntnis möglich ist, findet sich dann allerdings im Menon. Wir kommen dazu …
Der Theaitetos ist ein spannender Dialog, da er einerseits aus Platons Spätwerk stammt, andererseits aber viele Aspekte eines frühen platonischen Dialogs aufweist, so wird hier ein einzelnes Problem untersucht: Die Frage, was Wissen ist. Außerdem endet der Dialog wie viele frühe Werke aporetisch, also mit einem offenen Ende, ohne konkretes Ergebnis.
Der Theaitetos beginnt auch sehr klassisch. Sokrates, der junge Mathematiker Theaitetos und sein Lehrer Theodoros beginnen ein Gespräch, indem Theaitetos gefragt wird, was Wissen ist und erst einmal eine extensionale Antwort gibt. Er zählt also auf, was alles unter den Begriff des Wissens fällt: Zum Beispiel Mathematik, verschiedene Handwerkskünste, Platons Apfelkuchenrezept oder was zur dunklen Seite der Macht führt.
Natürlich wird Theaitetos als nächstes nicht weniger klassisch von Sokrates belehrt, dass es ihm nicht um diese Aufzählung von Beispielen gehe, wenn er eine „Was ist …?“-Frage stellt. Stattdessen geht es ihm um die Intension des Begriffs, seine Bedeutung oder (verkürzt gesprochen) die Definition.
Die erste Definition von Wissen
Nach einigem Hin und Her gibt Theaitetos dann Sokrates und uns Lesern eine erste Definition für Wissen: Wissen ist Wahrnehmung. Und das ist eine wirklich spannende Antwort. Auf den ersten Blick wirkt sie sehr naiv, besonders wenn man bedenkt, dass Theaitetos Mathematiker sein soll. Dass ausgerechnet ein Mathematiker glaubt, Wissen sei Wahrnehmung, interpretiere ich übrigens als einen kleinen Witz von Platon. Ich kann mir richtig gut vorstellen, wie der alte Mann ihn leise kichernd in seine Wachstafel ritzte.
Aber neben einem Scherz ist diese Antwort zugleich die Begründung einer wissenschaftlich-philosophischen Tradition, die über die britischen Philosophen der Neuzeit und den Wiener Kreis bis heute fortgeschrieben wird: den Empirismus. Zwar ist dieser längst über Theaitetos‘ naive Version hinaus und setzt Wahrnehmung und Wissen nicht mehr gleich. Aber die Grundidee, die schon hier im Dialog auftaucht, ist die gleiche geblieben: Auf der Suche nach Erkenntnis müssen wir uns auf das verlassen, was wir wahrnehmen beziehungsweise messen können.
Die Gegenthese ist übrigens der Rationalismus, der wiederum vor allem auf das setzt, was wir denkend erkennen können. Platons oben erwähnter Witz hat die Pointe, dass das Paradebeispiel des Rationalismus‘ immer die Mathematik ist.
Der Mensch ist das Maß aller Dinge
Doch zurück zum Dialog: Sokrates erwidert, dass die These „Wissen ist Wahrnehmung“ seiner Meinung nach das gleiche sagt wie der berühmte Satz des Sophisten Protagoras: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge.“ Dieser Satz von Protagoras, den ihr nicht mit Pythagoras verwechseln solltet, ist wiederum so etwas wie der Artikel 1 einer weiteren philosophischen Strömung: des Relativismus. Der Relativismus ist die schlechte philosophische Angewohnheit, immer alles relativieren zu müssen. Echt ey, nie können wir euch eure absoluten Wahrheiten lassen! Also fast nie. Relativ gesehen.
Der Relativismus sagt, es gibt nicht die eine Wahrheit, sondern jede von uns hat ihre eigene kleine Wahrheit je nach Kontext. Das ist eine sehr spannende These, die mir auch äußerst sympathisch ist, und die unglaublich viele Chancen und noch mehr Risiken mit sich bringt. Aber was hat das mit Theaitetos‘ „Wissen ist Wahrnehmung“ zu tun?
Nun, hier steckt der nächste riesige Brocken philosophischer Probleme drin, genauer gesagt die sogenannte Qualia-Debatte. Auch wenn die mitunter eine Qual ist, hat sie mehr mit Qualitäten zu tun. Ihr habt wahrscheinlich noch nie etwas von ihr gehört aber trotzdem kennt ihr sie alle. Denn es handelt sich um die Suche nach der Antwort auf eine der ersten philosophischen Fragen, die sich Menschen als Teenager stellen. Die gleiche Frage, die nachts um drei bekifft in der WG-Küche diskutiert wird: Ist das, was ich als Rot wahrnehme auch für dich rot? Wir nennen es zwar beide so, aber vielleicht sieht dein Rot blau aus. Sokrates bringt hier ein anderes Beispiel: Der Wind, der die eine frieren lässt, ist für die andere eine angenehme Erfrischung.
Wissen ist das Gegenteil von Irrtum
Sokrates fährt fort, indem er Wissen als das Gegenteil von Irrtum definiert. Das ist ziemlich einleuchten, oder? Wenn ich etwas weiß, dann habe ich mich nicht geirrt. Wenn ich mich irre, habe ich kein Wissen. Daraus folgt, dass, wenn Wahrnehmung Wissen ist, dass ich mich dann nicht in einer Wahrnehmung irren kann. Soweit klar?
Bevor Platon mit der Prüfung dieser These beginnt, schweift er dann erst noch einmal kräftig ab und lässt Sokrates viel Zeug über Werden und Gleichbleiben schwafeln, das ich in etwa so spannend finde wie die zweite Staffel von The Wire, sodass ich es hier einfach ganz dreist weglasse.
Als Platon Sokrates wieder auf Spur gebracht hat, lässt er ihn Argumente gegen die These liefern, dass man sich in seinen Wahrnehmungen nicht täuschen kann. Im Traum wisse man zum Beispiel nicht, dass man träume, glaubt aber wahrzunehmen. Meine Wahrnehmung ist also ein Irrtum. Auch Menschen mit Psychosen glauben, Wahrnehmungen zu haben, die aber objektiv betrachtet nicht da sind. Und im kleinere Maßstab hatten wir alle schon mal eine Halluzination und glaubten etwa, etwas zu riechen, wovon in Wirklichkeit kein Duft in der Luft lag. Entsprechend gibt es durchaus diverse Möglichkeiten, sich in seinen Wahrnehmungen zu irren. Soweit ist das klar, oder?
Zurück zum Relativismus
Aber waren wir nicht vorhin noch beim Relativismus und haben diesen dann ganz schamlos bei Seite liegen lassen? Keine Sorge: Für das nächste Argument gegen die These, dass Wahrnehmung Wissen ist, schlägt Sokrates den Bogen zurück zu Protagoras. Wenn Wissen Wahrnehmung ist, die wahrgenommene Welt jedem anders erscheint und obendrein das auch noch richtig und wichtig ist, wie die Bundesregierung sagen würde, dann folgt daraus, dass ich von niemandem sagen kann, dass sie mehr Wissen als eine andere habe.
Das ganze läuft dann nämlich ab wie eine Diskussion auf Facebook: Ich sage, es gibt keine Chemtrails, ich sehe bloß Kondensstreifen. Aber mein Widersacher, nennen wir ihn mal Aluhutträger1984, entgegnet einfach: Das ist falsch, ich sehe doch den Unterschied zwischen normalen Kondensstreifen und gefährlichen Chemtrails. Wenn also Wissen gleich Wahrnehmung wäre, dann ließe sich nicht entscheiden, wer von uns beiden Recht hat. Wir hätten beide Recht, schließlich nehmen wir das ja wahr.
Fremde Sprachen hören und verstehen
Sokrates gibt ein weiteres Beispiel gegen die „Wissen ist Wahrnehmung“-These: Wenn ich eine mir unverständliche Fremdsprache höre oder lese, dann nehme ich sie wahr, aber ich weiß nicht, was sie bedeutet. Theaitetos wendet ein, dass man da unterscheiden müsse: Ich weiß nämlich noch immer etwas – den Klang, bloß seine Bedeutung nicht.
Puh, die Frage ist, ob wir hier wirklich noch von Wissen sprechen können. Denn – vielleicht kennt ihr das Phänomen – wenn ich einen Film auf Englisch sehe und die Menschen sprechen da schnell und womöglich sogar Slang, und wenn ich dann irgendwann den Faden verliere, dann ist es mir nicht einmal mehr möglich, Wortgrenzen herauszuhören. Erst wenn ich wieder ein mir bekanntes Wort gehört habe, beginnt die Sprache wieder Struktur für mich auszubilden, davor war sie nur Rauschen und ich würde nicht sagen, dass das Wissen ist. Wenn ich mich nachts auf meinen Balkon stelle und Frankfurt rauschen höre, sage ich ja auch nicht, dass ich dadurch Wissen von der Stadt habe.
Theaitetos macht hier den Fehler, zu glauben, dass Hören und Interpretieren zwei getrennte Dinge sind. Aber unser Gehirn strukturiert das, was wir Hören schon vor. Im Studium habe ich zum Beispiel mal gehört, dass es im Finnischen einen Laut zwischen *ü* und *i* gibt, den wir Deutsche nicht hören und entsprechend auch nicht sprechen können. Denn unser Gehirn presst das Geräusch immer in eine der beiden schon existierenden Schubladen, nur so ist Spracherkennung überhaupt möglich. Aber selbst wenn es anders wäre, wäre es äußerst fragwürdig, ob man Hören ohne Interpretation wirklich Wissen nennen könnte.
Der performative Widerspruch
Obwohl die Sache für mich schon längst geritzt ist, hört Sokrates nicht auf, auf der naiven These des armen Theaitetos herumzuhacken und das auch noch ziemlich kleinlich: Wenn ich etwas sehe, dann weiß ich, wie es aussieht. Wenn ich mich später daran erinnere, weiß ich das noch immer, ohne jedoch eine Wahrnehmung zu haben. Dieses Argument geht wirklich nur auf, wenn man die engste und naivste Auslegung von Theaitetos‘ These wählt.
Deswegen lassen wir das schnell hinter uns und wenden uns Platons Königsargument zu: Dem performativen Widerspruch. Der performative Widerspruch ist ein Widerspruch, der in dem Moment zutage tritt, wenn ich einen Satz äußere, also einen performativen Akt vollziehe.
Wieder geht es dabei um Protagoras‘ Satz: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge.“ Wenn dieser Satz bedeutet, dass für jeden Menschen das wahr ist, was ihm wahr erscheint, dann muss dies auch für ebenjenen Satz von Protagoras gelten. Wenn ich also sage: „Yo Protagoras, dein Satz ist so falsch wie die Vorurteile der AfD gegenüber Ausländern. Es gibt wohl eine absolute Wahrheit, die für alle gilt.“ Dann kann Protagoras dem schlichtweg nichts entgegen, denn, dass ich das so sehen kann, folgt ja logisch aus seinem Satz. Aber das heißt einmal mehr nichts anderes als: Protagoras‘ Relativismus kann nicht wahr sein.
Natürlich könnte ich jetzt noch problematisieren, ob der Empirismus des Theaitetos‘ immer mit Relativismus einhergehen muss. Aber das spare ich mir, denn die zwingende Widerlegung der These ist ja auch ohne diese Schlussfolgerung längst erfolgt, als Sokrates aufwies, dass ich mich in Wahrnehmungen irren kann und Irrtum nicht Wissen sein kann.
Also wenden wir uns der nächsten Definition von Wissen zu. Im Dialog ist hier übrigens die Untersuchung der ersten Definition noch nicht zu Ende, es werden weitere Argumente vorgebracht und zudem wird das eine oder andere Mal abgewichen. Aber für unsere Zwecke soll das für heute reichen, denn es ist ein sehr rundes Ergebnis und zeigt, wie eine philosophische Untersuchung im besten Falle ablaufen kann. Das nächste Mal setzen wir uns dann mit der zweiten These des Theaitetos auseinander: Wissen ist wahre Meinung.