Theodor Adorno – Es gibt kein richtiges Leben im falschen

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Daniel
lebt falsch

Mein Corona-Tagebuch der schönen Gedanken – Teil 30

Heute geht es um Adornos berühmtes Zitat. Was bedeutet es? Und verwenden wir es richtig? Wird es womöglich aus dem Kontext gerissen? Denn es stammt aus dem Aphorismus „Asyl für Obdachlose“ aus der Minima Moralia. Geht es also nur ums Wohnen? Außerdem ist es nur ein Teil eines Satzes, der insgesamt viel ambivalenter ist und zudem die Antithese zu einer These ist. Erfahrt selbst, was es damit auf sich hat und warum ich heute mal nicht über Hegel lästere. Unten findet ihr nach langer Zeit mal wieder das Transkript zum Lesen.

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Theodor Adorno – Es gibt kein richtiges Leben im falschen (Transkript)

Heute geht es um das berühmte Zitat „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. Das Zitat geht auf meinen liebsten Kulturpessimisten zurück: Theodor Adorno. Es findet sich in seinem Buch „Minima Moralia – Reflexionen aus dem beschädigten Leben“. Wenn das mal kein geiler Titel für ein Buch ist, dann weiß ich nicht, was einer sein soll.

Es gibt kein richtiges Leben im falschen, ist ein geflügeltes Wort geworden, mit dem ich hervorragend rechtfertigen kann, warum ich bei Amazon bestelle, obwohl ich doch weiß, was dieser Konzern alles für schlimme Dinge macht. Wo ich gerade dabei bin: Bitte kauft die Minima Moralia über meinen Amazon-Affiliate Link. 😉

Ein anderes Beispiel: Ich habe vor Jahren aus ethischen Gründen aufgehört, Fleisch zu essen. Ich will einfach nicht, dass fühlende Lebewesen für mich sterben müssen, wenn ich auch leben kann, ohne dass das geschieht. Dennoch werfe ich niemanden seinen Fleischkonsum vor. Das Maskulinum habe ich absichtlich gewählt, lieber Grillmeister. Ich kann Fleischessern keinen Vorwurf machen, denn ich weiß genau, dass zum Beispiel das Korn aus meinem Brot von einem Mähdrescher geerntet wurde, der ziemlich viele Tiere auf dem Gewissen hat. Es gibt eben kein richtiges Leben im falschen.

Der Kontext des Zitats

Die Frage, der ich mich heute widmen will, ist: Hat denn Adorno den Satz auch so gemeint, wie wir ihn heute verwenden? Oder ist er aus dem Kontext gerissen, wie beispielsweise Robert Frosts berühmtes Zitat aus ‚The Road Not Taken‘, wo er schreibt:

„Two roads diverged in a wood, and I –
I took the one less traveled by,
And that has made all the difference.“

Das wird heute oft so verwendet, dass der weniger betretene Pfad das Leben des Erzählers veränderte. Aber wenn du das ganze Gedicht liest, wirst du feststellen, dass Frost das genaue Gegenteil meint: Der einzige Unterschied zwischen den beiden Pfaden war halt, dass der eine weniger betreten war. That has made all the difference.

Könnte es sich mit Adornos Zitat genauso verhalten? Denn – kleiner Spoiler an dieser Stelle – Das Leben, von dem Adorno hier schreibt, verwendet er synonym für „wohnen“. Das Zitat stammt aus einem Aphorismus mit dem Titel „Asyl für Obdachlose“. Die  Minima Moralia ist keine Abhandlung, sondern eine Aphorismen-Sammlung.

Ein Aphorismus ist ein eigenständiger, abgeschlossener Gedanke. Der kurze Text steht zwar thematisch in einem Kontext mit den anderen Aphorismen, er baut aber argumentativ nicht auf den vorhergehenden Abschnitten auf, noch wird er in direkter Weise im Rest des Buches weiter verfolgt.

Die Zeit und der Ort, wo Adorno diese Worte schrieb

Doch bevor ich richtig in den Text einsteige, möchte ich noch einmal einen Schritt zurücktreten. Denn so manches wird erst verständlich, wenn wir uns klarmachen, in welchem zeitlichen Kontext das Buch entstanden ist. Adorno ist hier in Frankfurt geboren und aufgewachsen. Der große Philosoph studierte in Frankfurt und Wien. Er hatte Anfang der 1930er Jahre gerade angefangen, Philosophie an der Frankfurter Uni zu lehren.

Dann kam 1933 und Hitler kam an die Macht. Nach der Machtergreifung der Nazis entwickelte sich die Situation für Adorno schlecht. Er war zwar katholisch erzogen worden, aber sein Vater war Jude genau wie es seine Verlobte war. Daher emigrierte Adorno mit seiner Frau, die er 1937 heiratete, über Oxford nach New York, wo sein Freund und Kollege Max Horkheimer im Exil verweilte. In New York schloss Adorno sich dem ins Exil gegangen Institut für Sozialforschung an.

1940 zogen die Horkheimers aus gesundheitlichen Gründen nach Kalifornien und 1941 folgten die Adornos ihnen. Sie zogen in die Pacific Palisades, einen Stadtteil von L. A., in dem viele intellektuell Exildeutsche lebten. Dort lernte Adorno unter anderem auch Thomas Mann kennen und soll keinen kleinen Einfluss auf dessen Buch Doktor Faustus gehabt haben. Hier schrieb Adorno zusammen mit Horkheimer die Dialektik der Aufklärung und alleine schließlich auch die Minima Moralia. In der Minima Moralia versucht Adorno die kritische Theorie auf (Zitat) „den engsten privaten Bereich, de[n] des Intellektuellen in der Emigration“ anzuwenden.

Wichtig ist, dass Adorno beim Schreiben unter dem direkten Eindruck des zweiten Weltkrieges stand, mit Sicherheit kannte er das Ausmaß des Holocausts noch nicht, aber Judenhass und Vertreibung hatte er am eigenen Leib erfahren.

Blick in die Minima Moralia

So, jetzt aber rein in den Text! Aphorismus 18 heißt also „Asyl für Obdachlose“. Dem Ansatz folgend seine Theorie auf das Private anwenden zu wollen, stellt Adorno zunächst fest, dass sich dieses Privatleben gut in seinem Schauplatz zeige: Der Art, wie wir wohnen. Ganz der Kulturpessimist, der er ist, steigt er gleich ein mit „Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen“. Aber wer wollte ihm diesen Kulturpessimismus vergällen zur dunkelsten Stunde der Menschheit?

Adorno widmet sich zunächst den traditionellen Wohnungen, in denen seine Generation groß geworden ist.  Das Behagen, das diese Wohnungen einst ausströmten, sei mit Verrat an der Erkenntnis bezahlt. Mit der muffigen Interessengemeinschaft der Familie. Das ist natürlich eine direkte Kritik an das Vorkriegsdeutschland, das den Faschismus hervorgebracht hat.

Entsprechend hält sich Adorno nicht lange damit auf, sondern wendet sich den „neusachlichen“ Wohnungen zu, bei denen „tabula rasa“ gemacht wurde. Die bringen für den Ampelbefürworter nur den Kapitalismus zum Ausdruck, den er auch nicht gutheißen kann. Er nennt sie, „Für Banausen angefertigte Etuis“ und „Fabrikstätten“. Sie haben keine Beziehung zum Bewohner. Menschen haben eine Sehnsucht nach unabhängiger Existenz, doch der schlagen diese Wohnungen ins Gesicht.

Mir rollen sich zwar die Zehennägel auf, wenn ich Kulturpessimismus zustimmen muss, aber wenn er von Adorno kommt, dann mache ich eine Ausnahme. Denn der kritische Theoretiker hat natürlich einen Punkt. Wir leben in einer Welt, in der unsere Möbel industriell gefertigt werden. Entsprechend habe ich zwar das Bedürfnis, individuell zu wohnen. Doch am Ende habe ich in meiner Sehnsucht nach unabhängiger Existenz die Wahl zwischen Ikea-Regal Billy oder Kallax.

Als nächstes zitiert er ein ungenanntes deutsches Magazin, das vor Hitlers Machtergreifung mal „prophetisch masochistisch“ nicht bloß geschrieben, sondern „dekretiert“ also angeordnet habe, der moderne Mensch wünscht nahe dem Boden zu schlafen, wie ein Tier.

Ich erinnere mich noch, dass in meiner Schule ein kanadischer Austauschschüler auch mal perplex angemerkt hat, dass in Deutschland die Betten so niedrig sind. Ich weiß aber nicht, ob ich daraus tatsächlich auf die Psychologie der Gesellschaft schließen würde. Wenn wir uns aber die Satzstruktur angucken, dann fällt ja auf, dass Adorno das selbst in Zweifel zieht. Das Magazin hat das nicht festgestellt oder analysiert, sondern angeordnet. Was, wie der im Exil sitzende Frankfurter wohl schmerzhaft feststellt: prophetisch masochistisch war. Denn die Schwelle zwischen Wachen und Traum wurde so abgeschafft und „Die Übernächtigen [sic!] sind allezeit verfügbar und widerstandslos zu allem bereit, alert und bewußtlos zugleich.“

Die nächste Wohnung, die Adorno auseinandernimmt, ist die „echte aber zusammengekaufte Stilwohnung“. Die sei, wie Einbalsamieren bei lebendigem Leibe. Er spart sich hier leider die Begründung. Was schade ist, denn: Was sind wir? Philosophen! Und was wollen wir? Begründungen!

Aber im Rahmen eines Aphorismus lass ich das dem knorrigen Klavierspieler mal durchgehen und liefere die Begründung meinerseits: Wenn ich einen einschlägigen Hashtag auf Instagram, etwa #apartmentstyle durchscrolle, dann sind die Wohnung durchaus fancy. Bei 90% frage ich mich aber auch: Wer wohnt so? Wer hält diese Sterilität aus? Wo ist das Lebendige, das Chaotische, auch mal Dreckige, das irritierende Moment, das eine echte Wohnung lebenswert macht? Die Bilder sehen eben aus, als seien die Bewohner einbalsamiert bei lebendigem Leibe. Das Einbalsamieren hat ja einen Aspekt des Starren, unbewegt bewahrenden. Das springt mir auf Insta regelmäßig entgegen.

Das Persönliche, um das es Adorno in der Minima Moralia geht, kommt in der nächsten Option zum Ausdruck, auch wenn sie heftig bourgeois für einen Marxisten ist: Man könne sich der Verantwortung dafür, wie die eigene Wohnung aussieht, ja auch entziehen, indem man in ein Hotel oder möbliertes Appartement zieht. Adorno schließt, das hieße – und darin liegt das Persönliche – die aufgezwungenen Bedingungen der Emigration zur lebensklugen Norm zu machen. Dieses Urteil hat etwas schön ambivalentes. Einerseits kannst du den Satz so lesen, dass Adorno das Hotel als lebenskluge Norm bevorzugt. Andererseits ist die Emigration eben eine aufgezwungene und diese zu akzeptieren, hat etwas bitteres an sich.

Der olle Marx-Fan findet jedenfalls im nächsten Aspekt zu sich zurück, denn er urteilt ganz richtig, dass es am ärgsten die trifft, die nicht wählen können. Sie leben in Slums, Bungalows, Laubhütten, Autos, Trailern oder haben gar kein Dach über dem Kopf. Aus dieser Aufzählung fällt der Bungalow seltsam heraus. Ich bin in einem klassischen 50er-Jahre-Flachdachbungalow aufgewachsen und das war auf jeden Fall Mittelschicht. Auch der ehemalige Kanzlerbungalow in Bonn gibt dieser Art zu wohnen eine andere Geschmacksrichtung als sie sie für den Adorno der 40er Jahre hatte. Ein Bungalow ist definiert als ein eingeschossiges Haus. Ich kann jetzt nur spekulieren, aber ich vermute, dass Adorno im amerikanischen Exil die Kleinsthäuser aus Holz vor Augen hat, in denen die ärmere Bevölkerung auf dem Land untergebracht ist. Entsprechend hätte ich wohl eher von Hütten geschrieben, als von Bungalows. Aber diese Analyse ist wackelig wie die Hütte von Charlie Chaplin in Goldrausch. Wenn ihr eine andere Interpretation habt, freue ich mich auf einen Kommentar.

Adorno schließt jedenfalls, dass das Haus vergangen ist und kehrt mit seinem Blick nach Europa zurück: Durch den wütenden Krieg ist es in den europäischen Städten buchstäblich vergangen. Aber auch die Arbeits- und Konzentrationslager sorgen für den Untergang des Hauses. Wobei, so Adorno, das eine Entwicklung ist, die schon lange vor dem Krieg einsetzte.

Letzteres meint natürlich wieder den geistigen Untergang des Hauses. Die Entwicklung der Technik habe vor dem Krieg zum Untergang der Häuser geführt. Adorno argumentiert also, dass einerseits die Entfremdung des Menschen von der Welt durch Technik dazu geführt hat, dass wir Häuser nicht mehr als etwas irgendwie erhabenes oder schönes betrachten können, zum anderen, dass durch den Zwang des Wohnens in Konzentrations- und Arbeitslagern, diese Entwicklung verstärkt wurde.

Wir müssen uns bei diesen Sätzen ins Gedächtnis rufen, dass Adorno zum Zeitpunkt, als er sie schrieb, noch nichts vom Ausmaß des Holocausts wusste. Es war bekannt, dass die Nazis Juden in Lager zwangen. Aber im Rest der Welt war der Vernichtungscharakter dieser Lager noch unbekannt. Chaplin drehte zur gleichen Zeit „Der große Diktator“, in dem er alberne Witze auch über das Leben in Konzentrationslagern machte. Wofür er sich später entschuldigte, als er von der industriellen Vernichtung von Millionen von Menschen erfuhr.

Das Entfremdungsargument auf der anderen Seite ist ein klassisch kulturpessimistisches: Es gab mal eine ursprüngliche, natürliche Beziehung der Menschen zu ihren Häusern, die durch Technik nicht mehr gegeben ist. Normalerweise reagiere ich allergisch auf solche Argumente. Ich möchte behaupten, heutzutage haben wir wieder ein vertrauteres Verhältnis zur Technik in unseren Behausungen. Aber erneut kann ich nur sagen: Der Mann steht unter dem direkten Eindruck der größten Katastrophe der Menschheit. Wer will ihm da solch düstere Schlussfolgerungen krumm nehmen?

Als nächstes trauert Adorno dem Sozialismus nach. Die Möglichkeit des Wohnens ist genauso versäumt worden wie die sozialistische Gesellschaft, was der bürgerlichen Gesellschaft zum Unheil gerät. Joa, ich könnte jetzt tausend Sätze zum Sozialismus sagen oder keinen. Ich entscheide mich mit Blick auf die Uhr für letzteres. Das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden.

Adorno analysiert aber ganz richtig, dass ich als Individuum kaum eine Chance habe, etwas gegen all die falschen Arten zu wohnen zu tun. Ich kann ja nur Möbel kaufen, die irgendwo als Massenware hergestellt wurden. Aber selbst wenn ich Schreinerin wäre, wäre ich beim Entwurf meiner Möbel ja nicht frei, sondern würde mich immer an Trends des „Kunstgewerbes“ orientieren, selbst wenn ich dieses ablehne, wären meine Entwürfe als Opposition wieder Teil des Systems. Was er damit genau meint, wird sogleich klar:

Aus der Ferne könne man keinen Unterschied zwischen Bauhaus und Wiener Werkstätten ausmachen. Bauhaus und Wiener Werkstätten waren beides Ansätze zu Beginn des 20. Jahrhundert, das Kunstgewerbe neu zu denken. Sie wehrten sich gegen den Neoklassizismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Was moderne Großstadt-Hipster heute so lieben, verachteten sie: Die Altbauten in den deutschen und österreichischen Innenstädten, mit ihrem Stuck und Kronleuchtern. Ein Design längst vergangener Tage, das in ihren Augen noch immer mitgeschleppt wurde. Diesen Schnörkeln und Ornamenten wollten sie eine neue, klare Formsprache entgegensetzen, die den Geist der Moderne atmet.

Doch Adorno sagt zurecht, dass die Kurve der Zweckform oder der Kubismus ihrerseits auch nur wieder Ornamente werden, wenn sie im Mainstream angekommen sind. Mode und Trends sind etwas, dem du nicht entkommen kannst.

Bitter folgert Adorno, eigentlich bleibt nur der Rückzug ins Private. Halt irgendwie leben, sich den gesellschaftlichen Zwängen und eigenen Bedürfnissen unterwerfen. Aber wir dürften dann nicht glauben, dieses Leben wäre „substantiell oder individuell angemessen“. Er zitiert Nietzsches Fröhliche Wissenschaft:

„Es gehört selbst zu meinem Glücke, kein Hausbesitzer zu sein“.

Adorno ergänzt das mit:

„Es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein.“

Denn der Einzelne befinde sich in einem schwierigen Verhältnis zu seinem Eigentum – sofern er überhaupt etwas besitzt. Auf der einen Seite ist die Fülle der Konsumgüter so groß geworden, dass ich eigentlich nicht mehr wirklich von Besitz sprechen könne. Oh da klingelt gerade der Amazon-Bote. Einen Moment bitte. Im Deutschen gibt es ja die Redewendung „meine Siebensachen“ für Besitz, da schwingt ja die Idee mit von Habseligkeiten, wenige Dinge, die mir gehören, und die dadurch einen ideellen Wert haben. Dieses Verhältnis geht verloren in einer Zeit, in der Konsum im Überfluss möglich ist. Das gilt für unsere Ecke der Welt heutzutage sicher noch mehr als es für Adornos Zeit der Fall war.

Andererseits – so Adorno – ist auch der Verzicht auf Besitz keine Option, denn dadurch gerate ich in Abhängigkeit und Not. Werde ein Baustein im Fortbestand der Besitzverhältnisse. Die Reichen und Mächtigen bleiben also reich und mächtig, ob ich als Individuum nun am Konsum-Spiel des Kapitalismus teilnehme oder nicht.

Und so geht Adorno abschließend mit Hegelscher Dialektik an das Problem heran: Aus der eben formulierten Paradoxie folgt die These, dass eine lieblose Nichtachtung der Dinge, die wir besitzen, sich letztlich auch gegen Menschen wendet. Wir also auch anfangen Menschen lieblos nicht zu achten.

Die Antithese dazu ist dann – vielleicht ahnt ihr es schon: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Doch gewissermaßen als letzten Twist, der beim Wiedergeben dieses Zitats immer unter den Tisch gefallen lassen wird, sagt Adorno, dass diese Antithese eine Ideologie ist für diejenigen, die mit schlechtem Gewissen ihren Besitz behalten wollen.

Aber, was machen wir jetzt mit Adornos Geschwafel?

Puh, das waren jetzt eine Menge hart orakelnder Worte. Kehren wir zu den Ausgangsüberlegungen zurück: Zunächst einmal war die Frage, ob wir „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“ auf einen größeren Kontext anwenden können, oder ob das Zitat streng genommen nur fürs Wohnen gilt. Da Adorno diesen größeren Kontext selbst aufmacht und am Ende über Besitz und Konsum schreibt, können wir diese Frage getrost bejahen.

Dann ist bemerkenswert, dass Adorno sagt: Es gibt kein richtiges Leben im falschen, ist die Ideologie derjenigen, die mit schlechtem Gewissen nichts an ihrem Leben ändern wollen. Denn, wenn wir uns diesen vollständigen Satz angucken, wirkt er viel negativer, rät ja fast schon davon ab, die Redewendung zu benutzen.

Aber wenn wir den Blick weiten, dann müssen wir eben auch sehen, dass dieser Satz die Antithese ist zu: Wenn wir unsere Habseligkeiten nicht achten, wird diese Ignoranz sich irgendwann auf Menschen übertragen, und wir werden auch sie nicht mehr achten. Und auch das ist ja nichts, für dass du dich entscheiden willst. Den Schritt, den Adorno uns überlässt, ist, jetzt, entsprechend der Hegelschen Dialektik eine Synthese herzustellen.

Ja, ich habe mich eben tatsächlich auf Hegel bezogen. Ernsthaft und ohne einen dummen Spruch zu machen. Bitte streicht euch den heutigen Tag im Kalender an!

Anyway … Die Synthese könnte sein, dass „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“ einerseits wahr ist. Denn gerade in unserer Spät-Neoliberalen Zeit wird Verantwortung gerne auf das Individuum abgewälzt anstatt systemische Lösungen zu finden: Ernähre dich gesund, sorge privat für die Rente vor, fahr mit deinem Lastenrad zum Biobauernhof vor der Grenze der Stadt und schlachte dort dein Schwein selbst.

Aber ich kann mich noch so gesund ernähren, wenn die Feinstaubbelastung in der Frankfurter Innenstadt mich krank macht. Ich kann für die Rente vorsorgen und dann kommt die nächste Finanzkrise und alles ist futsch. Und wie sind eigentlich die Arbeits- und Umweltbedingungen im Werk, das mein Lastenrad gebaut hat und in der Eisenhütte, aus der der Stahl für den Rahmen kam. Musste Regenwald für den Kautschuk weichen, aus dem die Reifen meines Rads gefertigt sind? Es gibt kein richtiges Leben im falschen.

Zugleich ist das Bonmot natürlich eine Ausrede! Ich bestelle nicht bei Amazon, weil ich mir der Fatalität des Systemfehlers bewusst bin. Okay, ich bin mir dessen schon bewusst, aber bei Amazon bestelle ich, weil es verdammt nochmal bequem ist. Weil ich nie Problem mit dem Umtausch habe. Weil ich nicht in die Hölle der Frankfurter Zeil hinabsteigen muss, weil der Amazonbote immer kommt und ich nicht am Ende zwei Stunden anstehen muss, um das Paket von der einen Kilometer entfernten Postfiliale abzuholen, obwohl buchstäblich um die Ecke von meiner Wohnung ein DHL-Kiosk ist, lieber DHL-Bote!

So bleibt das Zitat in einem ambivalenten Spannungsverhältnis, wir können es weder vollends unterschreiben, noch können wir es mit Bausch und Bogen verdammen. Es ist zugleich wahr und eine Ausrede. Es gibt eben kein richtiges Leben im falschen.

17 Gedanken zu „Theodor Adorno – Es gibt kein richtiges Leben im falschen“

  1. Des Öfteren verselbstständigen sich aus dem Kontext gerissene Zitate, vor allem solche, welche einen Tiefgang haben. So ist es auch mit diesem Wunderschönen Zitat Adornos. Seine Perspektiven auf das Wohnen kann ich nur zum Teil annehmen. Wohne selbst im alten Bauernhaus meiner Stieftochter, in den Bergen. In Massenmenschhaltung werde ich nicht mehr leben, dort bin ich aufgewachsen.
    Ich verwende sein Zitat um die Lebenslügen anzuprangern, die mir ständig vor Augen kommen. Zum Beispiel bei den gierigen Geldfans, welche üblich das reale Leben nicht kennen.

  2. „Von den 11,7 Millionen Hektar Ackerland in Deutschland werden auf etwa 3,9 Mio. Hektar Futtergetreide und Silomais geerntet.“
    Um 1 kg Fleisch zu bekommen, muss man 10 kg Getreide verfüttern. Also wer produziert wohl mehr Kollateralschäden bei der Ernte?

      1. Weil du wohl glaubst, es wäre qualitativ und quantitativ das gleiche den Tod eines Tieres absichtlich oder zufällig herbeizuführen. (Mehr zum Thema Stichwort: „crop deaths“)

        1. Wie kommst du darauf, dass ich das gleichsetze? Zudem ist das schon wieder ein ganz anderes Argument, als du eben hier fragmentarisch in den Raum geworfen hast.

          1. „Ich kann Fleischessern keinen Vorwurf machen, denn ich weiß genau, dass zum Beispiel das Korn aus meinem Brot von einem Mähdrescher geerntet wurde, der ziemlich viele Tiere auf dem Gewissen hat.“
            Du setzt Herbivore mit Omnivoren gleich.

            Mein erste Kommentar war zur Erklärung, dass es eben nicht das Gleiche ist. Eine Verteidigung des vielgebrachten Angriffs von Omnivoren: „crop deaths“.

          2. Ah, endlich fängst du mal an, zu argumentieren, statt einfach nur Sätze in den leeren Raum zu brüllen. Leider geht dein Argument komplett an „es gibt kein richtiges Leben im falschen“ vorbei. Ich habe nämlich nichts gleichgesetzt, sondern ein Beispiel gegeben, warum du als Vegetarier noch lange kein richtiges Leben führst. Dein Argument lautet: Aber bei Fleischkonsum sterben mehr Tiere.
            Da hast du recht. Aber was ist mit deiner Kleidung, deinen Möbeln oder dem Device, auf dem du deine Zeilen tippst? Du kannst nicht in dieser „falschen“ Gesellschaft „richtig“ leben. Solange das System ist, wie es ist, wirst du dich immer mitschuldig machen, darin liegt der Kern des Arguments. Zugleich ist „es gibt kein richtiges Leben im falschen“ eine bloße Ausrede, um eben nicht die richtigen Schritte zu tun, wie etwa auf Fleischkonsum zu verzichten. Das ist die Dialektik dahinter.

    1. 😂😂😂

      Ich glaube, du hast gar kein Interesse an philosophischen Fragen, sondern willst dich einfach nur selbst bestätigen. Gönn dir!

      Es bleibt aber dabei: Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.

  3. In größeren Kontext, könnte es heisen:
    achte auf dem Weg, der Weg ist wichtiger als das Ziel.
    Wenn ich falsches tue um ein Ziel zu erreichen, dann lebe ich nicht richtig.

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