Wenn du Kinder hast, dann bekommt Ostern selbst in einem postreligiösen Lebensentwurf wieder eine Bedeutung. Das Feierwochenende wird durch den Nachwuchs dem Großelternbesuch geweiht.
Entsprechend zog es auch uns mit Kind und Kegel raus aus den versmogten Hochhausschluchten. Wir fuhren zur Osterfrische dorthin, wo statt Straßenbahnen getunte Mercedes mit Freiwildaufklebern rumtuckern: Aufs Land. Wir fuhren nach Schwabenland – wo die Menschen Schrebergärten haben, deren Lauben Solarzellen tragen. In eine Kleinstadt mit vielen Fachwerkhäusern und noch mehr Ordnung. Ins Ländle – dieser eigenartige Kombination aus geradezu italienisch anmutender Landschaft mit nicht mehr ganz sanften Hügeln und Weinreben auf der einen Seite und Menschen, die deutscher nicht sein könnten auf der anderen.
Viel ist schon gesagt worden über Ostern: Vom Tanzverbot bis zur Wiederauferstehung, von der Doppelidentität von Hasen bis zum Fernsehprogramm mit Charlton Heston und Mel Gibson. Doch ich möchte diesen Text dem vernachlässigten, wohlstandsverwarlosten Samstag widmen. Er ist weder ganz Kar- noch vollends Oster-. Eingequetscht zwischen dem ruhiggestellten Freitag und dem schokoladenkomatösen Sonntag steht er da, hibbelig in seiner Ecke wie der vom Lehrer gemaßregelte Klassenclown kurz vor der großen Pause.
Weil unsere Menschen-Beine am Freitag böswillig vom Tanzen abgehalten wurden, strebten sie am Samstag zwangsläufig gen Freiheit! Doch wohin sollten sie sich wenden? Sollten sie dem Ruf von Ginger Rogers und Fred Astaire folgen? Sollten sie sich mit Stollen bewehren und gegen das runde Leder treten? Nein, für unsere Lauffortsätze konnte es nur ein Ziel am Zwischensamstag geben: Den Einkauf. Ein Urinstinkt trieb unsere Beine und mit ihnen den Rest von uns an: Da auf den Unsamstag zwei Tage folgen, an denen wir dazu verdammt sind, nicht zu konsumieren, haben wir Menschen zwangsläufig den Drang, am Nachkarvorostersamstag Vorräte für zwei Wochen anzulegen. Ja, der Einkauf an jenem Tag ähnelt in deutschen Innenstädten daher der Belagerung Wiens durch das osmanische Reich nur mit weniger Kaffee – schon ausverkauft.
Wie die Langobarden nach Italien zog es uns mit vielen anderen in jenen autobefreiten Teil der Stadt, den Victor Gruen einst versehentlich dem Konsum gewidmet hatte. Die in den kommenden Tagen vor uns liegenden Gelage fest im Blick, wanderten wir auf den Wochenmarkt. Der Opa vorneweg, zielstrebig einen Stand nach dem anderen ansteuernd. Meine Töchter motiviert hintendrein, bereit zum Aufbruch in neue Welten. Die Dame tastete sich zögerlich voran, auf der Hut vor Geistern der Vergangenheit. Ganz hinten trottete mein Körper. Doch mein Geist war währenddessen auf einem Roadtrip mit David Foster Wallace – Although Of Course You End Up Becoming Yourself. Seit Wochen befand ich mich schon im Kaninchenbau der Gedanken dieses Autors. Hatte eine geistige Affäre mit Wallace. Rauchte Zigaretten, kaute Tabak: „I mean, most of the word surrealism is realism, you know?“. Und so schob ich auch an jenem Samstag den meist leeren Buggy über den schwäbischen Markt. Suchte Gelegenheiten das zu große Buch aus der Tasche meines abgetragenen Parkas zu ziehen, zu entknicken und Worte Welten werden zu lassen.
An einem Brunnen standen zwei Männer, die rhythmisch mit Kleingelddosen schüttelnd für den Erhalt ebenjenes Wasserspiels sammelten. Ihr Gruß war aggressiv fordernd, ihr Blick vorwurfsvoll, als ich vorbeiging, den meinen gesenkt. Die Scham über meinen eigenen Geiz schwelte ein wenig in meiner Brust. Doch ich wollte nichts geben, es ist nicht mein Brunnen. Schließlich kenne ihn nicht, weiß gar nicht ob er sympathisch ist. Vielleicht ist es ein extremistischer Brunnen. Weiß ich, ob er AfD wählt? Ob er „nichtschwäbische Brunnen raus!“ fordert? Wie kann ich so unverantwortlich für einen Brunnen spenden, der ein Arschloch sein könnte?
Doch das schlechte Gewissen quälte mich wie der Geist der zukünftigen Weihnacht. Während ich halb lesend halb schiebend voranschritt, hatte ich ständig das Gefühl etwas falsch zu machen. Von links und rechts schrie es mir unentwegt „Halloo!“ entgegen. Ich stand unentwegt im Weg. Ausweglos wegversperrend auf diesem verwegenen Wochenmarkt. „Tschuldigung“ murmelnd schob ich ein ums andere Mal weiter, nur um den nächsten „Halloo!“-Ruf zu vernehmen. Viel zu spät für das Käppsele, für das ich mich halte, wurde mir bewusst, dass ich mitnichten auf Fehler aufmerksam gemacht wurde, sondern ein Opfer des lokalen Dialekts geworden war. Vielleicht sogar ein Täter meiner eigenen Ignoranz. Was ich als Vorwurf vernommen hatte, waren nicht die Ermahnungen des aggressiven Bruders vom Meister Eder an seinen Kobold gewesen, sondern schlichtweg landesübliche Begrüßungen. Schwäbisch klingt wie Schimpfen.
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick wurden meine Tochter (2) und ich schließlich auf ein pathetisch-kleines Hubschrauberimitat vor einem abgekürzten Wortspiel-Drogeriemarkt aufmerksam, dessen Daseinsberechtigung darin bestand, sich zu heben und wieder zu senken, sobald einer oder eine einen Euro zu entbehren wagte. Meine Tochter stand mit ehrfürchtig staunenden Augen vor dem Maschinchen. Es ist immer wieder erstaunlich, wie Kinder die Orte und Dinge auf Anhieb erkennen, die für sie geschaffen wurden. Beziehungsweise deren Zweck es ist, den Eltern einen Euro zu entlocken. Nachdem frühaufgestandenere Kinder den Minihubschrauber freigegeben hatten, erklomm mein Minimensch den faszinierenden Apparat mit so viel Mühe, als handele es sich um einen Mil Mi-26. Nachdem sie standesgemäß im Cockpit platzgenommen hatte – Amelia Earhart hätte es nicht besser machen können – warf ich das Kupfernickel-Scheibchen mit dem Nickelmessing-Ring in den Automaten.
Mit mechanischem Brausen und Brummen, mit unheilvollem Knacken und einer blechernen Melodie, die nicht minder gespenstig klang als jene vom Eiswagen, der an Sommertagen durchs Frankfurter Ostend irrlichtert, begann das mitleiderregende Helikopterimitat sich zu heben und zu senken. Jeder Durchgang ein blechernes Ächzen ob der Sinnlosigkeit seiner Existenz. Geradezu tragisch war, dass die einzige Daseinsberechtigung des Lumpenhubschrauberle sich in dieser, unserer Geschichte in ihr Gegenteil verkehrte.
Was war denn seine Daseinsberechtigung?
Na, Spaß machen!
Wem den?
Na, meiner Tochter (2).
Denn das kleine Wunder, an dessen Erschaffung ich nicht ganz unbeteiligt war, begann zu weinen. Das ganze Auf und Ab, das Ächzen und Brausen und Brummen, das Knacken und die Geistermelodie waren schließlich doch zu viel für die kleinen, frischen Sinne, die es noch verstehen, sich schon an einer Ameise zu erfreuen. Das Mädchen streckte die kleinen Ärmchen aus in jener unmissverständlichen universalen Geste, auf die alle Menschen mit elterlichen Neuronen nicht anders können, als dem stummen Wunsch zu folgen und dem Minimensch einen Safespace auf dem Arm zu gewähren.
In den blinkenden Scheinwerferaugen des Blechbrummers stand indes ohne Frage der stumme suizidale Vorwurf: „Seht mich an. Ein Hirn von der Größe einer SD-Karte und man lässt mich einsam auf und ab steigen. Nennt man das vielleicht berufliche Erfüllung? Also ich nicht.“ Erneut ergriff mich die Scham, sprach der traurige Blick des verhinderten Freudespenders doch meine tiefste Unsicherheit an. Hatte ich – nun vielleicht keinen Menschen – aber doch ein Ding unglücklich gemacht? Panisch blickte ich mich um auf der Suche nach einem Ausweg aus dem Dilemma.
Keine Sorge: Dies ist keine Tragödie. Als mein Blick wirrend suchte, bemerkte ich, dass mittlerweile Scharen von Kindern uns umgaben, als wäre ich ein Rattenfänger und die Helikopterdepression meine Flöte. Einer Mutter, die mit zwei Kindern am nächsten stand, bot ich also den freigewordenen Platz an und die beiden Wachstumsphasen auf vier Beinen konnten ihr Glück nicht fassen. Sie eilten, sprangen, flogen in den Hubschrauber. Der alte Blechgesell dankte mir stumm mit einem fraternisierenden Blinken seiner Lampenaugen.
Aber als ich schon bereit war, dem Sonnenuntergang entgegenzureiten, fiel mein Blick auf zwei andere Kinder: ein Mädel und ein Bub. Auf ihren trauervollen Mienen stand der stumme Wunsch geschrieben, auch einmal mechanisch gen Himmel gehoben zu werden. Was oder genauer wer es ihnen versagte, war ein alter Mann, von dem ich einmal hoffen will, dass es ihr Opa war. Dieser hielt die Kleinen mit seinem Krückstock zurück während er in einer Zunge auf sie einsprach, die sich verdächtig nach Parsel anhörte. Wahrscheinlich handelte es sich aber eher um die Vorgenerationenvariante der natürlichen Sprache von Einwohnern des lokalen Habitats.
Mein Herz rutschte mir erneut in meine abgewetzten Jeans. Doch nicht lange da nahm das Schicksal die nächste Wendung, da kamen die Schiffe den Anduin hinaufgefahren. Der Vater der Balgen nahte! Meine Hoffnung teilend wand sich sogleich auch das Mädchen an ihren Erzeuger und wie sich bald herausstellen sollte Ernährer: „Babah, Babah, dr Fluhg koschtet nur oin Euro!“ Glücklich lächelnd konnte ich das stumm nickend abseits stehend bestätigen. Doch mein Lächeln gefror, als ich die Entgegnung des Vaters hörte: „Woisch, wie lang ma für oin Euro arbeide muss?“. Der Junge, älter und schon auf die richtige Antwort konditioniert, als wäre er der treue Gesell Pawlows, kannte die erwünschte Antwort: „Sehr lang“. Als ich diese Worte vernahm, schüttete meine Nebenschilddrüse Apfelweinfässer von Parathyrin aus. Ich wollte den Kleinen einen Euro in die Hand drücken. So wie es eigentlich die Pflicht von Omas und Opas ist: Vermeintlich unauffällig in einem nicht gekonnten Kleindealerhandschlag: „Hier. Ich muss nicht so lange dafür arbeiten. Und manchmal muss man auch einfach mal einen Euro ausgeben, damit sich der Hubschrauber hebt.“ Aber ich traute mich nicht. Denn hinter Mädchen und Junge stand der Opa, leise Parsel murmelnd, den Stock bereithaltend. Dies ließ nur die Konklusion zu, dass er seinen Zauberstab genauso aufbewahrte wie Lucius Malfoy.
Daher nahm ich meinen Wonneproppen bei der Hand und ging, ein wenig traurig, doch um eine Erfahrung reicher davon. Dem sonntäglichen Festgelage entgegen und bald darauf auch wieder zurück in meine Heimat, wo die Häuser höher sind als die Bäume und die Menschen zwar ein bisschen schlechtgelaunt und schnodderig wirken, aber zumindest einen Euro für ihr Herzblatt übrighaben.