Aristoteles und die doppelte Verneinung

Mein Corona-Tagebuch der schönen Gedanken – Teil 2

Na, wie läuft euer Social Distancing? Keine Sorge, ich spreche auch heute nicht über das Corona-Virus. Um euch die Tage etwas aufzuheitern, möchte ich euch stattdessen regelmäßig-unregelmäßig schöne, spannende und interessante Gedanken präsentieren. Heute geht es um Logik! Bei meinen Vorbereitungen zu Aristoteles bin ich mit Ari auf ein kleines aber feines logisches Problem gestoßen!

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Schlaflieder

Mein Corona-Tagebuch der schönen Gedanken – Teil 1.

Wir alle hocken zuhause und lesen oder hören viel zu viel zum Corona-Virus. Um euch die Tage etwas aufzuheitern, möchte ich euch regelmäßig-unregelmäßig schöne, spannende und interessante Gedanken präsentieren. Anfangen möchte ich mit Schlafliedern und er Frage, warum sie so oft gruselige Texte haben.

Die Schönheit eines Liedes

Heute möchte ich mich einem Capoeira-Lied widmen.

Por favor não maltraté esse nego

Por favor não maltraté esse nego
Esse nego foi quem me ensinou
Esse nego na calça rasgada, camisa furada
Ele e meu proféssór

Es ist ein kleines Lied, vier Zeilen, nichts besonderes. Keine ausufernde Ballade und dennoch erzählt es viel. Grob von mir übersetzt, bedeutet es:

Bitte misshandelt nicht diesen Schwarzen
Diesen Schwarzen, der mir alles beigebracht hat
Dieser Schwarze mit zerrissener Hose und löchrigem Hemd
Er ist mein Lehrer

Mein Capoeira-Lehrer singt es gerne, wenn sein Lehrer in der Roda spielt. Also dem eigentlichen Spiel der Capoeira, wenn alle im Kreis stehen, singen und klatschen, während in der Mitte zwei Capoeirista den Kampftanz ausführen. Gesungen wird es dann klassisch, wenn der Lehrer einen „auf die Fresse“ bekommen hat“ Das muss nicht buchstäblich sein. Wenn du Capoeira ein Weilchen machst, siehst du, wer in der Roda dominiert, auch wenn beide sich nicht berühren. In diesem Kontext ist das Lied ein ironischer Kommentar des Sängers auf das Geschehen in der Roda: „Hey du, sei nett zu dem Typen da, der hat mir alles beigebracht!“

Was das Lied für mich gerade schön macht, ist der doppelte Boden, der oft in Capoeira-Liedern steckt. Denn es ist ja der Kampfsport der brasilianischen Sklaven. Und mit diesem Wissen bekommt das Lied etwas tragisch Schönes:

Jemand nicht weiter benanntes wird gebeten, einen Schwarzen nicht zu misshandeln. Dass der Sklaventreiber angesprochen wird, ist eine nicht zu fern liegende Interpretation. Mit ihm wird sich aber nicht lange aufgehalten. Stattdessen wendet sich das Lied „diesem Schwarzen“ zu:

Er hat mir alles beigebracht, wird da gesagt. Er mag nicht nach viel aussehen, da seine Kleidung zerschlissen ist. Die Assoziations-Tür zur täglichen Sklavenarbeit auf der Plantage wird mit dieser einen Zeile weit aufgerissen: „Dieser Schwarze mit zerrissener Hose und löchrigem Hemd„. Aber, egal, wie er aussieht, er ist mein Lehrer. Er ist jemand, der Respekt verdient. Bitte misshandle ihn nicht.

Dass das Lied also im Ritual der Capoeira eher in einem locker-ironischen Kontext gesungen wird und zugleich den Jahrhunderte alten Schmerz eines unterdrückten Volks transportiert, verleiht ihm etwas bittersüß Wunderschönes.

Abschließend möchte ich noch als „Warnung“ ausgeben, dass ich Capoeira zwar schon ein paar Jahre mache, aber nur ein kleiner Aluno (ein Schüler) bin. Da draußen gibt es unzählige Menschen, die viel mehr als ich wissen und vielleicht etwas ganz anderes über dieses Lied erzählen können. Wenn du einer von ihnen bist, würde ich mich über einen Kommentar sehr freuen.

Wesen, Familienähnlichkeit, Charakter

Ich hatte hier auf dem Blog mal eine Reihe angefangen: „50 Gedanken„. Das ist genauso schnell wieder versandet, wie ich es gestartet habe. Dies ist ein zweiter Versuch. Angedachte Fragmente, die mir durch den Kopf schwirren.

1. Gedanke

Aristoteles suchte in allem das Wesen, das, was ein Individuum im Innersten ausmacht. Das, wenn man es ändert, die Identität zum Verschwinden bringt. Wittgenstein zog in Zweifel, dass es dieses Wesen gibt. Er entwarf das Konzept der Familienähnlichkeit: Was, wenn die Dinge einer Kategorie kein Wesen gemeinsam haben, sondern sich ähneln wie die Mitglieder einer Familie?

Wenn man diesen Gedanken auf das Ich ausdehnt, dann gibt es kein Element, dass dich ausmacht, sondern nur ein Geflecht von Eigenschaften, die dich zu der Person machen, die du bist. Das heißt, dass du jede dieser Eigenschaften ändern kannst und dennoch der*die Gleiche bleibst. Lediglich wenn sich diese Eigenschaften rapide ändern, wie bei einem Unfall, einer Krankheit oder Demenz, erscheint es und, als ginge das Ich verloren.

Doch was sagt die Psychologie dazu? Was ist Charakter?

Gaulands Badehose

Kennt ihr den Gauland? Klar kennt ihr den! Das ist so ein unangenehm brauner Politiker und alle normalen Menschen schämen sich, dass der durch einen Verkehrsunfall, der sich Bundestagswahl nennt ins Parlament gekommen ist.

Also dem Gauland, dem sind die Klamotten geklaut worden, als er baden war. Und das Internet hat das mit sehr viel Häme abgefeiert. Kostprobe gefällig?

Wie immer, wenn etwas moralisch nicht astreines von mutmaßlich eher linken Menschen gemacht wird, wird das dann im Anschluss von ebenfalls mutmaßlich linken Menschen scharf kritisiert: Wenn du das gut findest, darfst du in Zukunft es auch nicht kritisieren, sobald Gauland in Zukunft mal wieder was Menschenverachtendes sagt. Kostprobe gefällig?

Das ganze ist sowas wie ein ethisches Spannungsfeld, daher möchte ich meine 5 Cent dazugeben. Okay: Es ist ein seeeeeeeeeeeeehr kleines ethisches Spannungsfeld. Das ist quasi die vorweggenommene Pointe dieses Blogposts.

Also: Ist das, was Gauland widerfahren ist, ein Angriff auf seine Menschenwürde? Nein. Es war ein Streich. Bedenkt mal wie „Streich“ im Deutschen verwendet wird. Man „spielt Streiche“! Ist es die Rettung der liberalen Demokratie? Nein. Es war ein Streich. Der macht nichts besser, nichts ungeschehen! Aber darf ich denn darüber lachen, dass Gaulands Badehose nun Republik-weit bekannt ist? Nun, Streiche sind lustig. Gebt einfach mal „Prank“ auf YouTube ein. Kostprobe gefällig?

Streiche sie besonders lustig, wenn sie zwar nicht gegen eine Autoritätsperson aber zumindest gegen eine autoritäre Person gerichtet wurden. Das wusste schon Pepe Nietnagel. Für die Jüngeren: Das war der eigentlich recht spießige Protagonist einer eigentlich recht spießigen Spielfilmreihe über Schulbuben, die ihre autoritären Lehrern Streiche spielen.

Aber ist es denn nicht kindisch, darüber zu lachen, dass Gauland in Badehose nach Hause gehen musste? Jepp! Es ist Schadenfreude. Aber wisst ihr was? Das ist nicht schlimm. Im Gegenteil: Bei der ganzen rassistischen Plörre, die wir uns tagtäglich von Herrn Gauland und seiner Partei anhören müssen, fühlen wir liberal und mitfühlend denkenden Menschen tagtäglich ein schlechtes Gefühl. Dass wir uns ein einziges Mal darüber freuen dürfen, dass Gauland ein Streich gespielt wurde, ist schlichtweg Psychohygiene. Es hilft, uns mal ganz kurz besser zu fühlen, in einem Land, das – mal wieder – unangenehm rechts geworden ist. Hinzu kommt, das schöne Meme „Karma is a bitch„. Denn wer hätte es mehr verdient, das ihm ein harmloser Streich gespielt wird, als Gauland und seine Badehose?

Wie nah bin ich noch an der Popkultur?

50 Gedanken – Gedanke 7

 

Ich freue mich jedes Jahr auf YouTube Rewind. Denn in dem wenige Minuten langen MasUp stecken unzählige Referenzen an YouTubes Blickwinkel auf die Popkultur. Ich zähle dann immer wie viele Referenzen oder Personen ich erkannt habe. 2017 waren es 10. Und bei euch? Ich frage mich auch, was das jetzt über mein popkulturelles Alter aussagt …

 

Ob Glyphosat Krebs verursacht, ist nicht die interessante Frage

50 Gedanken – Gedanke 6

In fast allen Beiträgen zur Glyphosast-Debatte, habe ich gelesen oder gehört, dass es unklar ist, ob Glyphosat Krebs verursacht. Dabei ist das gar nicht die interessante Frage. Warum bringt niemand die beiden folgenden Fakten zusammen?

„Glyphosat wird in Landwirtschaft, Gartenbau, Industrie und Privathaushalten eingesetzt. Es wirkt nicht-selektiv gegen Pflanzen, dies bedeutet, dass alle damit behandelten Pflanzen absterben. Ausnahmen bilden Nutzpflanzen, die gentechnisch so verändert worden sind, dass sie eine Herbizidresistenz gegenüber Glyphosat besitzen.“

Wikipedia

Und:

„27 Jahre wurden Schutzgebiete untersucht – die Ergebnisse sind erschreckend: Mehr als 75 Prozent weniger Biomasse bei Fluginsekten. Es stellt sich nicht mehr die Frage, ob die Insektenwelt in Schwierigkeiten steckt, sondern wie das Insektensterben zu stoppen ist.“

NABU

Oder rezipiere ich nur die falschen Medien?

Die Medien und ihre rechte Schuld

50 Gedanken – Gedanke 5

Sascha Lobo schrieb vor Kurzem in seiner Kolumne „Woran „die Medien“ wirklich schuld sind„:

„Die Medien sind schuld. Das ist die Universalschuldformel geworden, sie wird explizit verwendet oder implizit transportiert. Sie geht rechts wie links und überall dazwischen.“

Es folgt eine differenzierte Auseinandersetzung mit dieser These. Für diese Differenziertheit schätze ich Sascha Lobo sehr und höre auch sehr gerne seinen neuen Debattencast, in dem er sich noch einmal mit den Gegenargumenten, die auf seine Kolumnen folgen, auseinandersetzt. Lobo fährt fort:

„“Lügenpresse“ ist nur die offensichtlichste, aggressivste Ausprägung, mit Trump als Säulenheiligem der Generalschuld der Medien. Eine typische Erzählung von links lautet dagegen, dass die Medien die Schuld tragen am Aufstieg der AfD, zum Beispiel „die Talkshows“.“

Diesen Punkt greift er später wieder auf:

„Sich einfache Erklärungen zu wünschen für komplexe Probleme. Dahinter steht eine geradezu kindliche Hoffnung, denn in der Beschuldigung der Medien schwingt der Glaube mit, dass es eine simple Lösung gebe. Einfach keine AfDler mehr in Talkshows einladen – hurra, alle Probleme mit rechts gelöst!“

Und hier muss ich einhaken. Denn was Lobo wie ein Verschwörungstheorie aussehen lässt, lässt sich mit harten Fakten belegen. Monitor hat alles 141 Talkshows des Jahres 2016 ausgewertet. In 76 von ihnen ging es um Flüchtlinge, Islamismus, Terrrorismus und Rechtspopulismus. Gut, da könnte man mit Lobo jetzt sagen, dass die Medien doch nur der Überbringer der Botschaft sind. Die Welt ist halt so. Aber das ist eine sehr naive und unterkomplexe Weltsicht. Denn wir erschließen uns die Welt mit Hilfe der Medien. Wie viele von euch haben die Flüchtlingskrise, Islamismus, Terrorismus und sogar Rechtsradikalismus im Alltag zu spüren bekommen?

Ich glaube ganz sicher, dass die neuen Migrationsbewegungen ein drängendes Problem des 21. Jahrhunderts sind. Mir macht Terrorismus auch Angst und ich glaube, er wird uns weiter begleiten. Und ich weiß, dass jede von euch, die nicht weiß, männlich, heterosexuell ist, Diskriminierung erfährt. Aber vergleicht das mal mit Themen wie: hohe Mieten, Ärztemangel, schlechte Infrastruktur (Straßen, Bahn und Internet) oder Umweltbelastungen wie schlechte Luft und Klimaerwärmung. Das sind Themen, die wir alle täglich spüren und sie mussten sich mit unzähligen anderen Themen 2016 die 65 verbleibenen Slots in Talkshows teilen, weil in über der Hälfte von rechten Themen gesprochen wurde.

Um Lobo abzuschließen, möchte ich noch erwähnen, dass er später einschränkt: „Und dass Talkshows nicht die Alleinschuld für die AfD tragen heißt keinesfalls, dass nicht eine Mitverantwortung vorliegt, über die debattiert werden muss. “

Die Medien™ haben der AfD und ihren Themen überdurchschnittlich viel Aufmerksamkeit geschenkt und das hat den Betrachtern das Bild vermittelt, dass die AfD Lösungen auf Probleme unserer Zeit hat. Hätte man die Partei zum Klimawandel oder zu bezahlbaren Wohnraum 76-mal befragt, hätten die Wähler/innen gemerkt, dass die Partei keine Antworten hat.

Alles hängt mit allem zusammen

Ich glaube übrigens nicht, dass Die Medien™ das aus bösem Willen gemacht haben. Stattdessen ist es eine Entwicklung, die sich aus einem komplexen Geflecht an Ursachen ergeben hat. Ein Grund ist zum Beispiel das Internet. In diesem gibt es für Medienhäuser nur eine tragbare Einnahmequelle: Werbung. Werbung wiederum fordert hohe Klickzahlen und die werden durch Themen wie Terror besser erreicht als durch Ärztinnenmangel. Die privaten Medien sind daher immer am Rande einer Existenzangst und schimpfen deshalb wiederum auf die öffentlich-rechtlichen und ihre staatliche Finanzierung. Das setzt die Öffis unter einen Rechtfertigungsdruck, dem sie mit hohen Einschaltquoten begegnen. Wie erreichen sie die? Mit Terror …

Es ist zum Weinen.

Kuscheln in der Opferrolle

50 Gedanken – Gedanke 3

Ich fuhr heute Morgen auf meinem Rad am Main entlang zur Arbeit. Über dem Fluß hingen noch vereinzelte Nebelschwaden und die Sonne brach am Horizont durch die rissige Wolkendecke. Ich hörte derweil eine wirklich aufschlussreiche Folge von „This American Life“, die sich um die Neue Rechte in Amerika drehte. Nicht zuletzt weil seit zwei Tagen wieder eine rechtsextreme Partei im deutschen Bundestag sitzt, ist das ein Thema, das mir keine Ruhe lässt. Wie kommt es, dass die Feinde der offenen Gesellschaft überall im Westen auf dem Vormarsch sind? Nach wie vor glaube ich, dass unsere mediale Besessenheit von islamistischem Terror seit 2001 der wichtigste Grund ist. Doch darüber schreibe ein anderes Mal …

… Denn am oben erwähnten Podcast war am allerspannendsten ein Interview mit einem Initiator der rechtsradikalen Demo in Charlottesville – Jason Kessler. In diesem Gespräch kam irgendwann zur Sprache, was ihn denn zu einem White Supremacist hat werden lassen. Und die Antwort ist nahezu unglaublich: Er hat mal eine Stelle nicht bekommen, auf die er sich beworben hat. Stattdessen wurde eine Frau eingestellt. Er ist der Meinung, dass diese Frau weniger qualifiziert war als er und nur genommen wurde, weil sie eine Frau war. Das ließ ihn zu der Überzeugung kommen, dass weiße Männer in den USA unterdrückt werden.

WTF!?! Was für ein erbärmliches Gejammer! Ich kann nicht zählen, wie viele Absagen auf Bewerbungen ich in meinem Leben bekommen habe. Aber ich bin nie auf die absurde Idee gekommen, dass es daran liegt, dass ich ein weißer Mann bin. Wie widerlich diese Haltung ist, zu glauben, die Welt schulde einem etwas und nur weil man das nicht kriegt, mit Hass auf Schwächere zu reagieren! Allein, die unglaubliche Ignoranz dieser Aussage ist verblüffend, denn es gibt ja durchaus Statistiken zur Vergabe von Arbeitsplätzen. Uns diese sagen klipp und klar, dass es sich gerade andersherum verhält. Dass wir weißen Männer eben gerade auf dem Arbeitsmarkt bevorzugt werden! Doch der Typ stellt den Einzelfall seiner narzisstischen Kränkung über die objektiv erhobenen Fakten, die zeigen, wie die Welt wirklich ist.

Was er macht ist eine beliebte Strategie unter Rechtsextremen: Ich habe dies schon früher „Kuscheln in der Opferrolle“ genannt. Der Rechtsextremist verdreht die Fakten so, dass er nicht mehr Täter (geistiger Brandstifter, der anderen Menschenrechte aberkennt) ist, sondern Opfer – weil wir anderen seine persönliche Sonderstellung nicht anerkennen. Achtet mal darauf, es ist wirklich ein beliebter Sophismus in der Neuen Rechten.

 

Ailan Kurdi wurde gecrosst. Von der Macht der Bilder

Meer. Strand. Ein Junge liegt dort. Noch ganz deutlich im Kleinkindalter mit hoher Stirn und pausigen Backen. Er liegt auf dem Bauch. Er schläft. Er trägt eine kurze blaue Hose. Das rote T-Shirt ist ein wenig hochgerutscht. Ein Bild, das wir jungen Eltern im nahen Sommerurlaub dutzendfach sehen werden, wenn unsere Kinder am Strand schlafen. Doch etwas ist schief an diesem Bild. Der Kleine ruht nicht auf einem Handtuch, ist in keine Decke gehüllt. Nein, er liegt direkt an der Wasserkante. Er schläft nicht. Er wird nie wieder schlafen …

Ihr alle kennt das Bild. Es ist das Bild des toten Ailan Kurdi, der auf der Flucht nach Europa ertrunken ist. Es ist ein Bild von maximaler Traurigkeit und Schönheit. Ich weiß, diese Worte klingen unerhört: „Das Bild des toten Ailan Kurdi ist schön.“ Aber klickt diesen Text bitte noch nicht empört weg. Bestürmt mich nicht schon jetzt mit Scheiße, sondern lasst mich erklären.

Seit März fuhr ich fast täglich an diesem Bild vorbei. Denn es war hier in Frankfurt überlebensgroß an einen Brückenpfeiler gesprüht. Dort, wo der Osthafen vom Main abzweigt. Ich bewunderte oft die Kunstfähigkeit der mir unbekannten Streetartists, die Ailan an einer Stelle platziert hatten, an der jeder und jede, die den Main hinaufkam, ihn sehen musste. Aber zugleich war das Grafitto so angebracht, dass mit dem beginnenden Frühling ein austreibender Busch Ailans Gesicht verbarg, wenn man sich an der Mainpromenade ihm näherte. Als wollte die Natur Ailan im Tod die Würde zurückgeben, die wir Menschen ihm im Leben versagt haben. So habe ich Ailan Tag für Tag gesehen. Mal habe ich ihm mehr Beachtung geschenkt, mal weniger. Dies ist das einzige Foto, das ich je von dem Graffito gemacht habe:

Das Bild des toten Ailan Kurdi
Das Bild des toten Ailan Kurdi

Zumeist eilte ich nur vorüber, denn ich hatte es eilig. Musste zur Arbeit. Musste zu meinen eigenen Kindern. Dabei habe ich mir oft vorgenommen, stehenzubleiben. Ein Foto zu machen. Es euch auf Instagram zu zeigen. #Frankfurt #Streetart. Aber nicht heute. Nicht jetzt. Ich muss weiter. Ich nahm Ailans Bild für gegeben. Es war da. Garantiert. Bis gestern. Gestern wurde Ailan Kurdi gecrosst.

Ailan Kurdi wurde gecrosst
Ailan Kurdi wurde gecrosst

Dort, wo noch vor zwei Tagen sein Gesicht zu sehen war, steht jetzt „Grenzen retten Leben!“ Ich war geschockt. Aber nur ganz kurz. Dann dachte ich: „Ja, so ist es richtig“. Versteht mich bitte nicht falsch! Nicht der Spruch ist richtig, der ist total bekloppt. Ich komme gleich darauf zurück. Nein, dass dieses riesige, wunderschöne und unendlich traurige Graffito gecrosst wurde, das ist richtig. Denn es sagt ebenso viel über diese Kunstform aus, wie über das, was das Bild repräsentierte.

Erinnert ihr noch als „Deutschland einziger Banksy!!!“ gecrosst wurde? An den Aufschrei, der durch die Medien ging: Dass ein Vandale unseren(!) einziegen(!!) Banksy(!!!) gecrosst hat!!!! Keiner der Feuilletonisten, die sich damals aufregten, hat Streetart verstanden. Die Vergänglichkeit ist Teil der Streetart. Das Crossen eines Graffitos ist schon bei seiner Entstehung mitgedacht. Der oder die Unbekannte, die den hinter Plexiglas „geschützten“ Banksy crosste, war kein bloßer Vandale. Es war exakt der Punkt, den sie machen wollte. Das Medienspektakel, dass einem Stoß aus der Sprühdose folgte, war das eigentliche Kunstwerk. Eine Performanz, die Beuys nicht entlarvender hätte inszenieren können.

Diese der Streetart inhärente Vergänglichkeit haben auch die Künstler beim Sprühen mitgedacht, die Ailan an einem Brückenpfeiler und eben nicht im Museum gerade nicht verewigt haben. Das Crossen des Grafittos war von Anfang an intendiert. Denn so drückt Ailans Bild noch etwas aus, dass es in den vergangenen Monaten noch nicht zum Ausdruck brachte: Vergänglichkeit. Streetart ist so flüchtig wie das Leben eines kleinen Kindes, das wir dem Mittelmeer überlassen.

Und noch mehr drückt das neue Kunstwerk aus: Die Macht der Bilder. Ihr alle kennt die Phrase „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ und allzu oft ist sie bloß hohl. Je konventieller ein Bild ist, desto weniger sagt es. Die Piktogramme an Toiletten sagen genau ein Wort: „Frau“ beziehungsweise „Mann“. Aber es gibt Bilder, die stark sind. Bilder, die Macht haben. Das Bild des toten Ailan Kurdi ist ein solches Bild. Das zeigt nichts besser als der Spruch, der da jetzt verkündet: „Grenzen retten Leben!“

Da stehen diese drei Worte auf dem verstümmelten Kunstwerk und sind doch so viel jämmerlicher. Sie bringen keine Argumente. Jeder und jede, die vorbeigeht, fragt sich zwangsläufig: Warum? Dort ist doch sofort der Gegenbeweis zu sehen! Das Bild wiederum hatte es nicht nötig, so eine plumpe Botschaft hinauszukrakelen. Dort stand nicht unter dem gesprühten toten Körper „Öffnet alle Grenzen“. Nicht einmal „Refugees welcome“ stand dort. Das Bild war nur da. Es war nur das Bild eines toten Jungen. Keine Forderung, keine These war damit verbunden. Und doch war es so stark, dass es irgendjemand nicht mehr ausgehalten hat, diesen schönen toten Körper zu sehen. Irgendjemand fühlte sich so provoziert, dass er bei Nacht und Nebel auf die Landzunge hinunterkletterte und dort seine jämmerliche Botschaft platzierte.

Er wusste es vielleicht nicht, als er es machte. Doch als er den kläglichen Versuch, sein Weltbild zu verkünden, von Land aus betrachtete, muss ihm aufgefallen sein, wie verloren sein Sprüchlein war. Denn um so vieles stärker war, nein, ist das Bild: Ohne These, ohne dumme Forderung erzählt das Bild vom Scheitern Europas. Mit dem kläglichen Sprüchlein auf dem Gesicht ist es nur noch stärker. In seiner stummen Repräsentation entlarvt es, gerade weil es nie mit einer Botschaft verbunden war, den Spruch „Grenzen retten Leben!“.

Das Bild des toten Ailan Kurdi ist und bleibt ein stummer Vorwurf. Ohne Worte erzählt es die Geschichte eines Kindes, das vor Krieg und vor dem IS floh. Jenem IS, der uns so furchtbare Angst macht, wenn er mal eine Bombe in einer unserer Städte zündet. Es ist der gleiche IS, der täglich Ailans Heimat bombardiert. Doch weil wir zu kleingeistig, zu kleinherzig, zu mutlos, zu angstvoll sind, musste Ailan Kurdi sterben. Keine Worte können überpinseln, dass wir für Ailans Tod die Verantwortung tragen. Mit dieser ihm inneliegenden Macht ist das Bild vom toten Ailan Kurdi zugleich unendlich traurig und doch so schön.