Nördlich der Innenstadt von Frankfurt liegt der Stadtteil Dornbusch. Obwohl er einen biblischen Namen hat, ist dieser etymologisch wohl eher auf das ehemals ortsansäßige Gewächs zurückzuführen. Den Frankfurtern ist der Dornbusch fast ausschließlich ein Begriff, „desterwegen, weil da der HR is“. Manche kennen vielleicht noch den Sinaiipark mit seinem naturbelassenem Dickicht, aber das war es dann schon, was hier irgendwie erwähnenswert wäre.
Fast, denn der Frankfurter Dornbusch hat eine U-Bahn-Station, die sich auf den ersten Blick kaum von vielen anderen U-Bahn-Stationen dieser schönen Stadt unterscheidet. Obwohl die U-Bahn in diesem, wie in vielen anderen Teilen Frankfurts unsinnigerweise oberirdisch verläuft, mithin also eher eine O-Bahn ist, muss jeder, der die stählerne Raupe verlassen will, durch eine Unterführung. Denn die Schienen liegen inmitten der vierspurigen Eschersheimer Landstraße, die den Stadtteil von Süd nach Nord durchschneidet wie Aragorn die Kehle eines Orks.
Die Unterführung weist eine triste Kachelästhetik auf. Irgendwann in den 60ern oder 70ern kam wohl irgendein Frankfurter Beamter auf die glorreiche Idee, dass sich U-Bahnhöfe viel leichter reinigen lassen, wenn man sie komplett kachelt. Dass das ganze dann wirkt, als befände man sich in der Pathologie mithin Drunkene noch dazu animiert, ihr Innerstes nach Außen zu kehren, kam ihm offensichtlich nicht in den Sinn. Die Kacheln am Dornbusch sind noch „aufgehübscht“ durch eine Art Kindergartenkunst, mit der wahrscheinlich irgendjemand mal sehr viel Geld verdient hat. Am nördlichen Ende der Passage weist noch ein Überlebensgroßes Foto darauf hin, dass Anne Frank am Dornbusch geboren wurde.
So weit, so trostlos. Und doch hat der Dornbusch etwas besonderes. Etwas, das ihn einzigartig macht unter all den U-Bahnhöfen dieser Stadt. Wenn man die Unterführung durchschreitet, hört man unweigerlich und zu jeder Tages- und Nachtzeit „I’m sailing“ oder „Let it be“ durch den Tunnel schallen. In den verzerrten Harmonien eines Akkordeons. Das Akkodeon an sich ist für mich das minderwertigste aller Instrumente. Es ist schlichtweg nicht möglich, irgendetwas irgendwie auf dem Akkordeon zu spielen, sodass es sich gut anhört. Das Akkordeon ist quasi der Dieter Bohlen unter den Musikinstrumenten und Akkordeonspieler stehen in der Rangliste der Straßenkünstler nur knapp über den Pantomimen, was bedeutet, dass sie uns eigentlich Geld zahlen müssten dafür, dass sie uns ungefragt die Ohren bluten lassen.
Am Dornbusch aber ist das anders. Nicht das Akkordeonspiel. Gott bewahre! Die von Pfadfindergruppen und Mittelstufenmusikunterricht schon lange zur Volkstümelei verstümmelten Popstückchen zwischen den Beatles und Bob Dylan schallen derart schräg durch die Unterführung, dass sogar noch das gestrige Essen in deinen Innereien wieder zu grummeln beginnt. Aber es ist der Spieler, der den Unterschied macht…
Es ist ein langer, gerader Tunnel unterm Dornbusch und betrittst du ihn, so erblickt dich der Akkordeonspieler und er blickt dir direkt in die Augen. Er nimmt dich mit seinen Augen gefangen. Und lächelt. Er lächelt, als stünde er nur zum Lächeln dort unten. Er lächelt dich an, als wärest du sein alter Freund, der endlich nach viel zu langer Reise zurückgekehrt ist: „Da bist du ja. Wie ist es dir ergangen? Schön dich zu sehen…“ Ich kann nicht am Akkordeonspieler am Dornbusch vorbeigehen, ohne ihm ein paar Münzen in seinen Instrumentenkoffer zu werfen. Aber auch all den hektischen Pendlern, die keine Zeit haben oder die einfach nur vor Scham ob der zutage liegenden Vermögensunterschiede das Haupt gesenkt halten, schenkt er dieses Lächeln, wenn sie nur kurz – ganz verstohlen – aufblicken: Hallo, wie geht’s dir? Schön dich zu sehen…
Im Englischen gibt es einen schönen Ausdruck, der sich nicht verlustfrei übersetzen lässt: Der Akkordeonspieler am Dornbusch made my day. Jedesmal.
Ich bin raus.