Heute möchte ich mal nicht von Philosophie erzählen, sondern im fremden Revier wildern und über Psychologie sprechen, genauer gesagt über selektive Wahrnehmung und den Bestätigungsfehler. Ich hoffe, ich darf das.
Beides sind jedenfalls psychologische Erkenntnisse, die unglaublich nützlich sein können, um sowohl in der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie als auch in der Ethik nicht in bestimmte Fallen zu tappen. Ungefähr so nützlich wie ein Schweizer Taschenmesser dabeizuhaben, wenn du mal nicht gerade den Wein für 1,99 mit Schraubverschluss gekauft hast.
Selektive Wahrnehmung
Fangen wir mit der selektiven Wahrnehmung an: Jede von uns kennt das: Wir unterhalten mit Freunden über ein Thema, Beispielsweise über den Tractatus Logico-philosophicus und kurz darauf zeigt uns unser Handy Werbung dafür an. Okay, das ist zu weit hergeholt, das sehe ich ein. Aber ich wette, wenn ich jetzt von diesen super-bequemen Hosen erzähle, die total elastisch und widerstandsfähig sein und die sich super-duper reinigen lassen, dann bekommt ihr die angezeigt, sobald ihr das nächste Mal auf Instagram oder Facebook geht.
Einzig logische Schlussfolgerung: Dein Handy belauscht dich! Aber ist das die einzig logische Schlussfolgerung? Ich habe zwei verschiedene Sprachcomputer ausprobiert. Es scheint, als wäre die Spracherkennung gar nicht so gut, dass sie „super-bequeme Hosen, die total elastisch und widerstandsfähig sein und die sich super-duper reinigen lassen“ versteht.
Aber wieso bekomme ich die Werbung dann plötzlich angezeigt? Wenn wir nach Aristoteles uns der Philosophie des Mittelalters zuwenden, muss ich euch unbedingt von Ockhams Rasiermesser erzählen. Der gute alte Wilhelm von Ockham war nicht der Gründer von Gilette, sondern ein Philosoph, der für die Erkenntnistheorie folgenden Leitsatz aufgestellt hat: „Von mehreren hinreichenden möglichen Erklärungen für ein und denselben Sachverhalt ist die einfachste Theorie allen anderen vorzuziehen“. Warum das so ist, klären wir ein anderes mal. Aber gehen wir mal für heute davon aus, dass das stimmt. Was hieße das für uns?
Nun, was, wenn ich euch sage, dass ihr die Werbung überhaupt nicht so plötzlich auftaucht wie Jan Böhmermanns SPD-Mitgliedschaft. Sondern, dass sie schon immer da war. Dass sich in Wirklichkeit etwas anderes plötzlich geändert hat, nämlich eure Wahrnehmung. Das ist es, was man Selektive Wahrnehmung nennt.
Aufgrund der Fülle der Sinneseindrücke, die in jedem Moment auf uns einströmen, ist unser Gehirn gezwungen, einen Großteil davon auszublenden. Sonst kämen wir überhaupt nicht mehr klar. Unsere Aufmerksamkeit wird stattdessen auf die Dinge gelenkt, die im Augenblick für uns relevant sind. Im Straßenverkehr achtest du zum Beispiel auf die Straßenführung, Schilder, Ampeln und wie sich die Autos, Fahrräder und Fußgängerinnen rund um dich herum verhalten. Aber du blendest unzählige andere Faktoren aus. In der Regel wirst du wahrscheinlich nicht auf die Farbe von Autos oder Häuser achten, welche Markenkleidung die Menschen auf der Straße tragen, Wolkenkonstellationen, Streetart, Gesunder Salat und Vogelarten sind dir höchstwahrscheinlich auch egal. Es geht schließlich darum, dass du sicher an dein Ziel gelangst. Dafür blendet dein Gehirn alles aus, was im Augenblick nicht relevant ist.
Bei einem berühmt gewordenen Experiment von Daniel Simons und Christopher Chabris müssen die Probanden ein Video ansehen, in dem sich drei Menschen mit schwarzen T-Shirts und drei mit weißen Bälle zuwerfen. Ihre Aufgabe besteht darin, zu zählen, wie viele Pässe gemacht wurden. Doch der eigentliche Witz ist, dass mitten im Video ein Mensch in einem Gorillakostüm durchs Bild läuft. Die meisten Probanden sehen den Gorilla nicht. Und zwar nicht weil sie unter Affenblindheit aufgrund von zu viel Planet-der-Affen-Binge-Watching leiden, sondern weil ihre Aufmerksamkeit nur auf den Bällen und T-Shirts liegt.
Und diesen Mechanismus wendet dein Gehirn eben rund um die Uhr an. Wenn du dich im Internet bewegst, wird Werbung in den allermeisten Fällen als nicht relevant vom Gehirn ausgeblendet. Und wer könnte es ihm übel nehmen? Schließlich ist das Netz mit Werbung überfüllt und du bist darauf konzentriert, zischen all den blinkenden Bildern und flackernden Videos die besser als das Bernsteinzimmer versteckte Information zu bekommen, wegen der du eine bestimmte Webseite besucht oder eine bestimmte App geöffnet hast. Aber wenn dir dann eine spezielle Werbung zum Beispiel von einem depperten Blogger in dein Aufmerksamkeitsfeld geschoben wird, dann fängt dein Gehirn an, diese für dich zu selektieren, sobald du auf sie stößt. Sie taucht dann plötzlich überall für dich auf. Übrigens wissen Werbetreibende und Online-Medien sehr gut darum und legen alles daran, deine Aufmerksamkeit zu erlangen.
Das soll allerdings nicht heißen, dass euer Smartphone euch nicht überwacht, sondern nur, dass nicht jedes Phänomen mit dieser Überwachung erklärbar ist.
Die Gefahren von selektiver Wahrnehmung
Selektive Wahrnehmung ist oft eine harmlose Angelegenheit. Wenn du mal Krücken benutzen musstest, wird dir auffallen, wie viele Menschen „plötzlich“ mit Krücken rumlaufen. Ein anderes werdendes Elternteil sagte mal zu mir: Krass, dass auf einmal so viele Frauen schwanger sind. Aber wir können anhand von Geburtsstatistiken sehr gut nachvollziehen, dass ich Deutschland im 21. Jahrhundert nicht spontan viele Menschen mit Uteri schwanger wurde. Eher im Gegenteil.
Doch selektive Wahrnehmung kann auch problematisch sein. Zum Beispiel, wenn Menschen Angst vor der Islamisierung des Abendlandes haben, obwohl der Anteil von Menschen muslimischen Glaubens bei etwa 15% an der Gesamtbevölkerung liegt. Die 85% Atheisten, Christen und co. nehmen sie einfach nicht wahr. Auch kann es leicht passieren, dass Menschen wie ich (männlich, weiß, heterosexuell), also die vom Feuilleton tapfer betrauerten alten weißen Männer, nicht mit bekommen, wo andere Menschen, die nicht dieser privilegierten Gruppe angehören, diskriminiert werden. Da diese Barrieren für mich nicht relevant sind, blende ich sie einfach aus.
Deutsche schätzen Zahl der Muslime in Deutschland auf 17 Millionen
Ein weiteres Beispiel ist jemand, der in einer Diskussion zum Klimawandel sagt, „ach, warme Sommer hat es schon immer gegeben.“ Wobei, das geht schon eher in die Richtung des anderen Phänomens, das ich hier besprechen möchte. Gehen wir dafür noch einmal einen Schritt zurück.
Der Bestätigungsfehler
Diese neuen E-Scooter sind die Pest, oder?! Mich nervt tierisch, dass die Dinger immer und überall im Weg stehen. Rollstuhlfahrende, Menschen, die Kinderwagen schieben und Blinde müssen doch dauernd darüber fallen. Aber was, wenn ich euch erzähle, dass ich in der letzten Woche auf meinen Wegen durch die Stadt mal eine Strichliste gemacht habe: Was steht denn so auf den Bürgersteigen und Gehwegen?
Dabei kam heraus, dass Roller nur für knapp 29 % aller Hindernisse auf Trottoirs verantwortlich sind. 71% der Hindernisse bestanden aus Mülltonnen, Sperrmüll, Motorräder, Vespas, Fahrräder und Autos. Die E-Scooter waren zwar immer noch die größte Gruppe in meiner kleinen Stichprobe. Aber die Gruppe der Motorräder, Vespas und Fahrräder schenkte dem mit 24 % nicht viel. Was mich persönlich wunderte war, dass der Prozentsatz der unangenehm parkenden Autos mit 16% vergleichsweise gering war. Denn in meiner Wahrnehmung als Radfahrer stehen die IMMER im Weg!
Wie kommt es, dass wir das Gefühl haben, dass E-Scooter überall rumstehen, während wir knapp 3/4 der anderen Hindernisse ignorieren? Nun, hier spielt sicher auch wieder selektive Wahrnehmung eine Rolle. Aber da es im Augenblick zum guten Ton gehört, E-Scooter scheiße zu finden, solange man nicht gerade selbst auf einen steht, kommt wohl noch der sogenannte Bestätigungsfehler hinzu.
Der Bestätigungsfehler oder Confirmation Bias ist unsere Neigung, Informationen tendenziell eher so auszuwählen oder zu interpretieren, dass sie die These bestätigen, der wir anhängen. Habe ich mir mein Urteil über E-Scooter gebildet, dann wird jeder Roller, der im Weg steht, meine These bestätigen. Mülltonnen oder Autos umlaufe ich hingegen so galant als wären sie die Gegenspieler in einem Fußballspiel. Dieser Fehler kann uns beim Sammeln von Informationen, beim Erinnern und beim Interpretieren von ihnen unterlaufen. Und der Effekt ist umso stärker, je stärker ein Thema emotional aufgeladen ist.
Philip E. Tetlock machte zum Beispiel eine Langzeitstudie über zwei Jahrzehnte mit 284 Probanden, allesamt politische und wirtschaftliche Berater. Tetlock bat sie immer wieder die Wahrscheinlichkeit vorherzusagen, dass verschiedene Situationen eintreten würden oder nicht eintreten würden, er untersuchte Situationen aus dem Fachgebieten der Testpersonen genauso wie solche, zu denen sie keine Experten waren. Insgesamt sammelte er 82.361 Prognosen. Tetlock stellte fest, dass es „Füchse“ gab, wie er sie nannte: Menschen, die immer verschiedene Hypothesen in Betracht zogen. Und es gab „Igel“: Menschen die an ihrer Hypothese tendenziell festhielten. Bei letzteren konnte Tetlock feststellen, dass ihre Vorhersagen schlechter waren, als die der Füchse. Der Grund dafür war der Confirmation Bias. Die Igel werteten Indizien für ihre Hypothese höher als solche, die dagegen sprachen.
Das ist ein Muster, das uns in öffentlichen ethischen Debatten regelmäßig begegnet. So wird zum Beispiel jede Straftat durch eingewanderte Menschen und deren Nachfahren viel breiter ausgewalzt, als es mit Straftaten von Menschen ohne Migrationshintergrund gemacht wird. Obwohl statistisch betrachtet, letztere den größeren Anteil an der Gesamtheit aller Straftaten ausmachen. Doch jede Straftat durch einen AUSLÄNDER(!!!) wird als Bestätigung angesehen, dass kriminelle Einwanderer ein großes gesellschaftliches Problem seien.
Der Bestätigungsfehler in der Philosophie
Aber auch in der Philosophie kann der Bestätigungsfehler problematisch sein. Beispielsweise ist ein beliebtes Instrument in philosophischen Diskussionen das Gedankenexperiment. Ich stelle mir eine Situation vor: Sprachforscher im Gespräch mit einem indigenen Volk, Gehirne in einem Tank oder eine Verfassungsversammlung unter dem Schleier des Nichtwissens. Dann versuche ich, Schlüsse daraus zu ziehen, wie sich die Menschen beziehungsweise Gehirne in dieser Situation verhalten. Das birgt natürlich die immense Gefahr, dass ich nur Argumente finde, die meine These bestätigen. Okay, vielleicht handelt es sich dabei eher um falsche Schlussfolgerungen als um Bestätigungsfehler.
Aber auch – und das ist der entscheidende Punkt – wenn ich meine philosophischen Thesen empirisch absichere, kann mir der Confirmation Bias unterlaufen. Beispielsweise vertritt der Philosoph Philipp Hübl die These, dass konservative Menschen sich neben anderen Markern unter anderem leichter ekeln als progressive Menschen. Daher verfangen bei Ihnen eher Botschaften rechter Demagogen, die Menschen anderer Kulturen, anderer Religionen oder politischen Ansichten als dreckig, unrein und widerlich darstellen.
Der Bestätigungsfehler birgt nun die Gefahr, dass ich, wann immer ich einen Menschen, der oder die sich leicht ekelt, treffe, ihn oder sie direkt ins rechte Lager stecke. Beziehungsweise dass ich jeden Konservativen, der eine hohe Neigung zu Ekel hat, als Bestätigung meiner These ansehe, während ich alle alle Menschen, die nicht in dieses Muster passen, keine Beachtung schenke. Ich will übrigens nicht sagen, dass Hübls These, die ich hier gewohnt verkürzt dargestellt habe, falsch ist. Ich will nach wie vor nur auf die Gefahren von selektiver Wahrnehmung und Confirmation Bias aufmerksam machen.
Mittel gegen Selektive Wahrnehmung und Bestätigungsfehler
Doch, was können wir denn dagegen tun, uns von unseren kleinen fehlbaren menschlichen Hirnen austricksen zu lassen?
Öfter mal eine Strichliste führen, ist ein Rat, den man nicht oft genug wiederholen kann. Eigentlich sollten empirische Sozialforschung und Statistik Schulfächer sein. Denn unsere Gesellschaft ist chronisch abhängig von Daten und Statistiken, aber eine Ahnung davon, wie diese richtig zu interpretieren sind, haben die wenigsten Menschen.
Außerdem lege ich euch ans Herz, euch mit Karl Popper und dem Falsifikationsprinzip zu beschäftigen. Irgendwann muss ich euch mal vom Neopositivismus, kritischen Rationalismus und dann auch noch vom Positivismusstreit erzählen. Aber heute mal wieder nur so viel: empirische Wissenschaften können nicht beweisen. Krass oder? Das scheint das exakte Gegenteil von dem zu sein, was man gemeinhin der Wissenschaft unterstellt. Aber es ist so: Die Wissenschaft stellt Theorien auf und sammelt dann Daten, um diese Theorien zu stützen. Aber wenn die Daten ergeben, dass eine Theorie nicht stimmt, dann muss man sie zumindest modifizieren. Es gibt Extremfälle, bei denen ein Datum ausreicht, um eine Theorie zum Fall zu bringen. Das Bespiel, das alle Soziologiestudierenden im ersten Semester lernen, ist: Alle Schwäne sind weiß. Dann schipperte James Cook nach Australien und entdeckte den Trauerschwan. Ich bin überzeugt, er war das persönlich. Damit war die These widerlegt. Daraus ergibt sich ein systematisches System. Denn es ist ja prinzipiell immer möglich, dass ich zukünftig noch ein Datum finde, das meine Theorie widerlegt.
Wenn die empirische Wissenschaft aber nicht beweisen kann, dann das ist ein krasses Problem, denn wir landen damit wieder mitten im erkenntnistheoretischen Skeptizismus gegen den Platon sich so sehr wehrte. Was mache ich, wenn es kein sicheres Wissen gibt? Wenn alle meine Erkenntnisse widerlegt werden können? Ich mache es wie Popper und erhebe genau das zum Prinzip der Wissenschaft. Das Falsifikationsprinzip besagt: Eine Theorie gilt genau solange als wahr, bis sie widerlegt wurde. Und das ist unser stärkstes Mittel gegen selektive Wahrnehmung und Bestätigungsfehler.
Moderne Wissenschaft versucht nicht, Theorien zu beweisen. Sie setzt alles daran, sie zu widerlegen. Und je öfter das scheitert, desto bewährter ist eine Theorie, desto gewisser ist sie. Das ist ganz nebenbei auch der Grund, warum es überhaupt keinen Sinn macht, wenn Klimaskeptiker behaupten, der menschengemachte Klimawandel sei nicht bewiesen. Das ist ein sinnloser Satz. Denn man kann den Klimawandel nicht beweisen, man könnte ihn nur widerlegen und alle Versuche, das zu tun, sind bislang so dermaßen bescheiden, dass die Theorie vom menschengemachten Klimawandel sich ziemlich gut bewährt hat.
So, das war mein kleiner Ausflug in Psychologie und empirische Sozialforschung. Ich hoffe, er hat euch gefallen.