Der Konflikt zwischen Ethik und Ästhetik in Tár und das Verhältnis von Kunst und Künstler*in

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Daniel
interpretiert
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Christiane
liest Gedichte

Eine Szenen-Analyse zum Film Tár und den Fragen, ob sich Kunst und Künstler*in trennen lassen und ob es legitim ist, Kunst aus ethischen Gründen abzulehnen

In einer Szene, die das Herzstück seines Films Tár darstellt, beschäftigt sich Regisseur und Drehbuchautor mit den Fragen, ob sich Kunst und Künstler*in trennen lassen und, was mehr Gewicht hat: Ethik oder Ästhetik. Nebenbei ist die Szene ein Meisterstück in sophistischer Gesprächsführung. Ich habe mir die Argumente detailliert angeguckt: Eine philosophische Szenenanalyse.

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Szenen-Analyse von Tár

Heute mache ich mal was anderes. Ich bespreche zwei Themen: Der Konflikt zwischen Ethik und Ästhetik sowie das Verhältnis von Kunstwerk zu Künstler*in anhand einer Szenen-Analyse von Todd Fields Film Tár aus dem Jahr 2022 mit Cate Blanchett als Lydia Tár in der Hauptrolle.

Aber keine Sorge, ich mache keine Film-Analyse, sondern bleibe wieder philosophische Dilletante. Auch wenn eine filmische Analyse hier spannend wäre. Daher kurz ein paar Eckdaten:  Die Szene, um die ich mich kümmere, beginnt nach 25 Minuten Laufzeit des Films. Es handelt sich um einen mehr als 10 Minuten dauernden Longtake, es gibt also keine Schnitte, stattdessen ist es eine zusammenhängende Kamerafahrt. In der Szene gibt Lydia Tár eine Masterclass in der Musikschule Juilliard. Sowohl Cate Blanchett als auch die Kamera bewegen sich dabei sehr frei durch den Vorlesungssaal, führen ein Ballett auf. Zugleich sorgen Kamera-Einstellungen und Schauspiel von Cate Blanchett durchgehend dafür, dass ein Ungleichgewicht in den Machtverhältnissen zwischen Tár und dem Schüler Max auftritt. Hier wird kein Dialog auf Augenhöhe geführt, sondern Tár spielt bewusst ihre Macht aus, um diesen Wortwechsel zu gewinnen. Entsprechend sind die vielen Sophismen, also rhetorischen Tricks, um das Argument zu gewinnen, die Tár begeht, kein Versehen, das Regisseur und Drehbuchautor Todd Field unterlaufen ist, stattdessen hat er sie bewusst eingebaut, um etwas über Társ Charakter zu erzählen.

Dennoch spricht auch hie und da meines Erachtens der Autor aus den Seiten, dann weise ich explizit darauf hin. Springen wir in die Szene mit einer kleinen szenischen Einführung:

Die Szene beginnt mit Max im Vordergrund Tár steht im Hintergrund, doch in dem Moment, in dem wir ihn zum ersten Mal erblicken, unterbricht Tár schon sein Dirigieren. Sie tritt an ihn heran, legt ihm kurz die Hand auf dem Arm.

Die Herabwürdigung als rhetorisches Mittel

Als nächstes fragt sie ihn, warum er sich für die Musikschule Juilliard entschieden hat. Max entgegnet, dass es die beste Schule sei und Tár stellt dieses Motiv in Frage und damit auch schon ein bisschen, ob er überhaupt ein Recht hat, da zu sein. Sie kitzelt heraus, wer ihn inspiriert hat. Er antwortet: Sarah Chang. Chang ist eine amerikanische Violinistin mit koreanischen Eltern, sie ist eine der erfolgreichsten Violinistinnen der Welt. Max selbst ist auch Violinist.

Tár beginnt, das Stück herabzuwürdigen, das Max ausgesucht hat: Da er Violinist ist, war er wohl daran gewöhnt, einem Haufen Streicher dabei zuzuhören, die sich verhalten, als würden sie ihre Instrumente stimmen.

Die Herabwürdigung ist eine sophistische Technik, welche Tár in der gesamten Szene immer wieder anstelle von inhaltlichen Argumenten einsetzt. Sie macht das, um diskursive Hegemonie herzustellen. Die Herabwürdigung erfüllt einen doppelten Zweck. Sie erniedrigt ihren diskursiven Kontrahenten Max, hält ihn klein und lässt ihn so argumentativ nicht die Oberhand gewinnen. Zugleich findet die Auseinandersetzung vor einem Publikum statt und diesem Publikum wird signalisiert, wer hier die Hoheit hat.

Tár nennt das von Max ausgesuchte Stück „very au courant“. Was ein fancy Ausdruck dafür ist, dass es hip ist. Die Anweisungen der Komponistin in der Partitur lesen sich laut Tár wie „René Redzepis Rezept für Rentier“. René Redzepi ist ein dänischer Koch. Sein Restaurant wurde mehrfach als das beste der Welt ausgezeichnet. Mit diesem Satz würdigt Tár nicht nur die Komponistin herab, indem sie ihr den Status einer Musikerin abspricht, es ist auch die erste latent stereotype Bemerkung. Da Redzepi Däne ist, kocht er bestimmt Rentier.

Schließlich schickt sie Max mit einem ironischen „It is exciting to play new music“ von der Bühne. Damit bezieht sie sich auf Neue Musik, eine Strömung in der klassischen Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, die versucht, zu erweitern, was klanglich, harmonisch, melodisch und rhythmisch in klassischer Musik ausdrückbar ist. Tár lässt durchblicken, dass sie nichts davon hält.

Nun nimmt Tár die Studentin Olive Kerr dran, fragt, was sie von dem „was wir gerade gehört haben“ hält. Olive findet das Stück pretty awesome, es habe große atonale Spannung. Tár stimmt zu – was die Spannung anbelangt, nicht, was das ästhetische Urteil betrifft. Die Glückseligkeit „So genannter“ atonaler Musik könne man intellektuell betrachten oder darauf intellektuell masturbieren. Aber die wichtige Frage sei, was man dirigiert.

Wichtig ist an dieser Stelle, dass Tár noch nicht ein inhaltliches Argument gebracht hat, was schlecht sei an Neuer Musik. Ich glaube nicht, dass Ästhetik rein subjektiv ist, ich glaube durchaus, dass man sich inhaltlich streiten kann, was schön ist und was nicht. Aber dafür muss man Argumente bringen. Tár hat das bislang nicht gemacht. Stattdessen hat sie nur Sophismen benutzt, sprachliche Tricks, um die Musik herabzuwürdigen.

Die Trias Künstler*in – Interpret*in – Rezipient*in

Tár spricht weiter und bringt jetzt erstmals ein Inhaltliches Argument. Gute Musik muss zwei Fragen beantworten: Was ist ihr Effekt? Und was macht sie mit mir? Sie wendet sich wieder Max zu und fragt: Max, was denkst du?

Max beruft sich auf die Komponistin des Stückes, das er dirigiert hat, selbst: Anna Thorvaldsdottir. Anna Thorvaldsdottir ist eine mehrfach ausgezeichnete isländische Komponistin, die mit renommierten Orchestern in der ganzen Welt gearbeitet hat. Laut Max sagt sie, dass sie von Form und Struktur der Landschaft beeinflusst wurde, in der sie aufwuchs.

Max hat hier seinerseits einen Sophismus eingesetzt: Namedropping. Er beantwortet die Frage von Tár nicht, sondern glaubt, wenn die Komponistin das gesagt habe, dann muss es ja stimmen. Zugleich schränkt er das wieder ein mit: Er sei nicht sicher, ob sich das auf „those actual sounds“ bezieht. Max macht das aber nicht aus einer Position der Stärke heraus sondern aus der Position der Unsicherheit.

Hier wird zum ersten Mal die Frage aufgemacht, wer eigentlich das Sagen hat, wie ein künstlerisches Werk zu verstehen ist: der*die Autor*in oder der*die Rezipient*in. Diese Frage ist eine von zwei, die die weitere Szene bestimmen werden.

Tár begeht den nächsten Sophismus, indem sie gar nicht auf Max Argument – so schwach er es auch selbst gemacht hat – eingeht, sondern nur kommentiert mit „Very Punkt Kontrapunkt“ (Deutsch im Film). Ein Kontrapunkt ist eine Gegenstimme zu einer Stimme in einer Komposition. Tár kommentiert also nur Max‘ eigene Performance, seine Unsicherheit und damit verbundene Unfähigkeit sein Argument vorzutragen. Sie demonstriert erneut, dass sie in einer Position der Macht ist.

Die Intention von Anna Thorvaldsdottirs Komposition sei vage, wenn man das überhaupt sagen könne. Erneut wird hier das Thema gestreift. Fragt euch selbst: Müsst ihr die Intention einer Musikerin kennen, die sie bei der Komposition hatte, um das Stück gut zu finden? Wenn die Intention der Komponistin vage sei, wie solle man als Dirigentin dann eine überhaupt eine Position dazu einnehmen können, fragt Tár rhetorisch.

Hier bringt sie ein weiteres Element in der Beziehung zwischen Autor*in und Rezipient*in ins Spiel. Denn Musik ist eine zweiphasige Kunst. Musik wird komponiert und dann (insbesondere klassische Musik) von anderen Menschen aufgeführt. Bei der Frage, was sie bedeutet, haben also Autor*in, Interpret*in und Rezipient*in ein Wörtchen mitzureden.

Tár räumt ein, dass es Zeiten geben kann, in denen man keine andere Wahl hat. Wenn man vor einem Orchester steht und so tun muss, als gäbe es diese unsichtbaren Strukturen. Aber sie betet die Studierenden an, dass sie sich die Peinlichkeit sparen sollen, ein Auto ohne Motor zu verkaufen.

Oh, boy! Das ist spannend. Denn Tár offenbart hier ein unglaublich altmodisches Kunst-Verständnis. Und mit alt meine ich nicht „OK, Boomer!“-alt sondern mindestens 100 Jahre alt und offen gesagt in der Ästhetik auch gar nicht mehr ernst zu nehmen. Sie sagt, dass ALLES, was zählt, die Frage ist: „Was hat sich der Autor dabei gedacht?“. Das ist schlicht falsch, insbesondere da sie von „unsichtbaren Strukturen“ spricht. Das scheint ein klarer Verweis auf den Strukturalismus zu sein, wonach die Bedeutung eines Kunstwerks sich nicht aus der Intention des*der Künstler*in ergibt (die BTW per Definition unsichtbar ist), sondern durch die Position des einzelnen Symbols im Symbolsystem. Durch die Strukturen, zu denen es in Beziehung und Kontrast steht.

Aber vor allem: Diese Strukturen sind gerade bei klassischer Musik nicht unsichtbar. Sie stehen auf dem fucking Notenblatt. Man kann Symbolsysteme auf einem Spektrum von komplett analog (Malerei) bist komplett digital anordnen. Und die Partitur ist komplett digital. Sie ist ein Code. Eine ein-eindeutige Zuordnungsvorschrift. Noten lassen sich in Töne transkribieren, und Töne in Noten ohne Informationsverlust. Tár tut so, als gäbe es diesen Code nicht, als gäbe es nur die Autorenintention. Bei der wir uns wieder fragen müssen: Wie gelangt die denn vom Kopf des Autors in unseren? Es kann nur einen Weg geben: Mit einem Symbolsystem, wie es zum Beispiel die Partitur ist.

Damit will ich nicht sagen, dass sich das gleiche Musikstück nicht verschieden interpretieren lässt, so, wie Tár es uns in Kürze zeigen wird. Aber die Interpretation liegt bei der Trias Künstler*in – Interpret*in – Rezipient*in eben in der Mittelposition, bei der Interpretin. Mit anderen Worten, genau das ist Társ fucking Job: Dem Auto einen Motor bauen.

Nun sei die Zeit, Musik zu dirigieren, die wirklich etwas von dir verlangt, sagt Tár. Musik, die jede*r kennt, aber anders hören wird, wenn die Studierenden sie für das Publikum interpretieren.

Das ist also das zentrale Verständnis von Tár als Dirigentin. Es ist eine konservative Position, aber nicht unerhört. Sie hat hier ihren zentralen Wert dargelegt, worauf es ihr als Dirigentin ankommt. Den müssen wir nicht teilen, aber da sie in dieser Szene als Lehrerin auftritt, ist das genau die Art von Wegweiserin, die wir uns wünschen. Schauen wir, wie sie fortfährt.

Ethik und Ästhetik: Wie schlimm war Johann Sebastian Bach?

Als nächstes fragt Tár: Warum nicht eine Kyrie? Kyrie eleison bedeutet „Herr erbarme dich!“ und ist der Beginn einer christlichen Litanei, also eines traditionellen, im Wechselgesang vorgetragenen Gebetes. Es gibt diverse klassische Stücke, die diese Litanei vertonen. Schon ziemlich random, warum Tár ausgerechnet das vorschlägt. Das ist eigentlich ein klassischer Whataboutism.

Ein Whataboutism ist ein Sophismus, bei dem ich vom Thema ablenke. Statt einen Punkt auszudiskutieren. Hier die Frage: Was sind die Qualitäten von Anna Thorvaldsdottirs Komposition. Statt das zu diskutieren, fragt Tár: Ja, okay. But what about Bach?

Und genau das brauchte das Drehbuch, denn Tár fragt Max, warum er nicht Bachs H-Moll-Messe erwählt hat. Weirdly specific.

Max: antwortet: „I’m not really into Bach.“ Tár quittiert das mit Unglauben.

Zur Einordnung: Da Tár faktisch kein inhaltliches Argument gebracht hat, das gegen Anna Thorvaldsdottir spricht, war alles, was sie bisher gesagt hatte, nichts anderes als „I’m not really into Anna Thorvaldsdottir.“ Sie hat bislang noch kein Argument vorgelegt, warum Bach Thorvaldsdottir überlegen ist. Sie setzt das einfach kontrafaktisch voraus.

Tár fragt als nächstes, ob Max das Schweitzer-Buch gelesen habe. Albert Schweitzer war ein deutsch-französischer Arzt, Philosoph, evangelischer Theologe, Organist, Musikwissenschaftler und Pazifist und hat ein Buch über Bach geschrieben. Max hat es nicht gelesen. Tár sagt, er sollte, es sei ein wichtiger Text.

Rhetorisch war das wieder der Sophismus des Namedroppings. Wenn Albert Schweitzer dachte, dass Bach gut war, dann muss es Max jawohl auch anerkennen. Und den verdoppelt Tár jetzt auch, indem sie sagt: Antonia Brico dachte auch, dass das Schweitzer-Buch ein wichtiger Text sei.

Die Quelle, die per Name-Dropping belegen soll, dass Bach gut ist, wir jetzt ihrerseits per Namedropping mit Relevanz versehen. Womit ich nicht sage, dass das Buch von Albert Schweitzer nicht tatsächlich gut ist, aber Tár liefert halt wieder keine inhaltlichen Argumente. Ihr geht es nur darum, die Oberhand in der Diskussion zu behalten.

Brico war eine amerikanische Dirigentin und wie wir von Tár erfahren, besuchte sie Albert Schweitzer in Afrika. Das stimmt, sie tat das wohl sogar mehrfach. Allerdings weiß ich nicht recht, ob das nur wegen seines Buches über Bach war. Denn sie kannte Schweitzer schon seit ihrer Kindheit und war mit ihm befreundet. Allerdings war Schweitzer Organist und als Brico ihn als Kind spielen hörte, motivierte sie das, mit dem Klavierspielen zu beginnen. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass Brico und Schweitzer sich in Afrika über Bach unterhielten.

Aber, dass sie den berühmten Arzt nur wegen des Buches besuchte, ist der nächste Sophismus von Tár, mit dem sie die Schüler*innen manipuliert: Der Fehlschluss der Akzidenz. Das Buch war sicher nur nebensächlich für die Besuche von Antonia Brico und bildete nicht ihr Wesen.

Tár meint, irgendwo habe sie ein Bild von Brico mit Tropenhelm. Ich bin mir nicht sicher ob das nur ein Blümchen ist, um ihre Anekdote auszuschmücken oder ob es den nächste Wortwechsel der Szene schon einleiten soll, der das zweite zentrale Thema der Szene setzt. Der Tropenhelm ist ein vielfach kritisiertes Symbol des Kolonialismus und Albert Schweitzer war berühmt dafür, ihn oft getragen zu haben, sein Denkmal in Weimar trägt ebenfalls einen Tropenhelm und ist nicht zuletzt deshalb kontrovers diskutiert worden.

Wie hängt das mit Tár zusammen? Nun, sie kehrt zu Bach zurück und fragt Max: Hast du denn schon einmal Bach gespielt oder dirigiert?

Max entgegnet: als eine bipoc pangender Person mache Bachs misogynes Leben es ihm unmöglich, seine Musik ernstzunehmen.

Bipoc steht für Black, Indigenous, and People of Color. Und Pangender bedeutet, dass Max sich nicht ins binäre Geschlechterschema einordnet, sondern seine Geschlechtsidentität sowohl traditionell als männlich als auch traditionell als weiblich klassifizierte Elemente umfasst.

Es ist schon auffällig, dass Todd Field hier die Geschlechtsidentität „Pangender“ gewählt hat. Versteht mich nicht falsch, ich unterstütze euer Recht auf das Ausleben eurer Geschlechtsidentität, wenn ihr euch als Pangender identifiziert. Gut für euch! Aber es ist – denke ich – fair, zu sagen, dass diese Geschlechtsidentität relativ selten ist. Das meine ich, damit, wenn ich sage: Es ist auffällig, dass Todd Field sich ausgerechnet für sie entschieden hat und nicht für geläufigere Identitäten wie Trans- Non-Binary oder Genderfluid. Denn – wie wir gleich im weiteren Verlauf der Szene sehen werden – geht es ihm nicht um die Repräsentation einer im Film unterrepräsentierten Geschlechtsidentität. Max‘ Geschlechtsidentität spielt nur noch ein einziges Mal in ein paar Minuten eine Rollen und da wird sie GEGEN ihn eingesetzt. Ich sehe hier einen alten weißen Cis-Mann, der sagt: Ah, ja, diese crazy Kids von heute, was die sich alles ausdenken! Ich glaube, wir hören unverhohlen den Autor aus Társ nächstem Satz sprechen:

„Come on. What do you mean by that.“

Aber bevor wir darauf eingehen, lasst uns noch über den Pudel sprechen!

Denn hier sind wir auf des Pudels Kern gestoßen. Max ist nicht bereit, die Kunst vom Künstler zu trennen. Seine These lautet, dass Bach misogyn war und er daher nicht bereit ist, ihn zu spielen. Damit hat Max etwas gemacht, was Tár uns bisher vorenthalten hat: Er hat ein inhaltliches Argument geliefert. Allerdings ist es ein ethisches Argument und kein ästhetisches. Wir stehen also vor zwei Fragen: 1. Ist das Argument stichhaltig? War Bach wirklich so schlimm, dass wir ihn nicht mehr spielen sollten? Und 2. Wann ist es legitim, Kunst aus ethischen Gründen abzulehnen?

Tár entgegnet: Come on. What do you mean by that. Schenken wir ihr höflich glauben, dann ist das eine Bitte an Max, seine These weiter auszuführen. Finde ich gut.

Max: Hat er nicht ungefähr 20 Kinder gezeugt?

Tár: Ja, das ist dokumentiert. Zusammen mit einer beachtlichen Menge an Musik.

Tár zweifelt also nicht die These an, dass Bach viele Kinder gezeugt hat. Maxens Schlussfolgerung, dass er deshalb misogyn war und damit meine Frage 1 (Ist das Argument stichhaltig?), wird nicht weiter thematisiert. Und auch in dieser Entscheidung, das einfach so stehen zu lassen, sehe ich wieder Todd Field vor mir, der die Augen über die woken Gen-Zler verdreht und sagt: „Come on. What do you mean by that?“ Aber diese Worte hat er ja selbst Max in den Mund gelegt und damit dessen Argument so schlecht gemacht.

Viele Kinder zu haben, ist kein Indikator für Misogynie. Dafür müssen wir uns nur einmal überlegen, wie lang die Begründungskette sein muss, um die These, dass Bach misogyn war, mit dem Indiz, dass er viele Kinder hatte, zu untermauern:

  1. Bach hatte 20 Kinder.
  2. Wenn ein Mann 20 Kinder zeugt, dann bedeutet das, dass eine (oder mehrere) Frauen diese 20 Kinder austragen mussten.
  3. Mit Blick auf Bachs beruflichen Erfolg und die Zeit, in der er lebte, ist es nicht unplausibel, dass er seinen beiden Frauen den Großteil der Care-Arbeit überließ.
  4. Ferner müssen wir als stützende These zusätzlich annehmen, dass die beiden Frauen selbst keine intrinsische Motivation hatten, so viele Kinder zu bekommen.
  5. Außerdem müssen wir ausschließen, dass bei der Familienplanung die hohe Kindersterblichkeit eine Rolle spielten, denn nur 10 der 20 Kinder erreichten das Erwachsenenalter.

Selbst wenn wir alle diese Thesen annehmen, ist es noch immer ein wackeliger Schluss, Bach nicht bloß sexistisch, also nicht an Frauenrechten interessiert, zu bezeichnen, sondern explizit als misogyn, also frauenhassend.

Auch hier wieder: Ich habe wenig Ahnung von Bach und will ihn nicht verteidigen. Aber „Weil Bach hatte 20 Kinder zeugte, deshalb war er misogyn“ ist kein logischer Schluss. Es ist noch nicht einmal ein plausibler Schluss, wenn wir Ockhams Rasiermesser bedenken, wonach eine Schlussfolge umso wackeliger ist, umso mehr Hypothesen sie hat. 5 teilweise sehr komplexe Hypothesen, machen die Schlussfolgerung sehr angreifbar.

Ich möchte auch nicht zu viel über Todd Fields Motivation spekulieren, wenn ich das anspreche. Denn es reicht vollkommen, zu sagen, dass es seinen Film schlechter macht, wenn er unsere Frage 2 (Wann ist es legitim, Kunst aus ethischen Gründen abzulehnen?) anhand so eines schwachen Falls bespricht. Es wirkt leider so, als wüsste er nicht genau, worüber er schreibt, wenn er das als Paradebeispiel für die woken Kids von heute annimmt. Denn, wenn ich mir tatsächliche Diskussionen, wie etwa die Debatte, ob Kant rassistisch war und wir seine Texte deshalb noch lesen sollten, betrachte, dann ist die Argumentation für das Canceln von Kant wesentlich stärker. Und es gehört zu einer guten Debatte und zu einem guten Film, der sich mit diesen Debatten auseinandersetzt, dass ich in hermeneutischem Wohlwollen das stärkstmögliche Argument meines Gegenübers annehme und mich damit auseinandersetze. Was Todd Field hier macht, ist ein Strohmann-Argument. Er legt der Gen Z Worte in den Mund, die so klingen, als könnte sie sie äußern. Aber bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass das nicht der Fall ist.

Na, ja. Lasst uns mal weiterschauen. Denn da steckt noch mehr drin.

Kann man die Kunst vom Künstler trennen?

Tár erwidert Max, dass ihr unklar ist, was Bachs Skillz im Ehebett mit der H-Moll-Messe zu tun haben. Ich folge ihr in dem Argument, aus den eben dargelegten Gründen, dass das eine nichts mit dem anderen zu tun hat. Aber worauf sie eigentlich hinaus will, ist die These, dass man die Kunst vom Künstler trennen soll.

Das ist eine der am heißesten diskutierten Fragen an der Schnittstelle zwischen Ästhetik und Ethik in der aktuellen Popkultur. Sie hier umfassend zu besprechen, würde den Rahmen sprengen dieser sowieso schon ausufernden Besprechung. Aber ich möchte hier mal ein paar Eckpfeiler einschlagen, warum die Frage so heiß diskutiert wird und warum sie so schwer zu beantworten ist.

Es hängt damit zusammen, dass wir hier einerseits ein Dilemma haben und andererseits so viele – auch intime – Lebensbereiche berührt werden.

Das Dilemma am Grunde der Frage ist: Was ist wichtiger: Ethik oder Ästhetik? Hier wie bei jedem Dilemma ist essentiell, dass sich diese Frage nicht ohne negative Konsequenzen beantworten lässt. Wenn du dich immer für Ethik entscheidest, droht unsere Welt zu verarmen. Denn wo ziehst du die Grenze? Wie schlecht muss ein*e Künstler*in sein, damit wir ihre oder seine Werke nicht mehr rezipieren dürfen? Es liegt im Wesen der Menschen, dass wir nicht nur gut handeln, dass wir böse, dumme, gemeine Dinge tun. Wie viel moralisch Schlechtes reicht, damit ein Kunstwerk zum Tabu wird? Und welche Moral legen wir an? Meine Werte unterscheiden sich von deinen!

Aber ein Dilemma wäre kein Dilemma, wenn nicht auch die andere Option, die strikte Trennung von Kunst und Künstler*in negative Konsequenzen hätte. Diese entspringen daraus, dass in unserer Welt Popkultur einen so hohen Stellenwert hat und mit Erfolg in der Kunst auch Macht einhergeht. Sollten wir Harvey Weinstein seinen jahrzehntelangen Missbrauch durchgehen lassen, weil so viele geile Filme von Miramax produziert wurden? Wenn J. K. Rowling öffentlich gegen trans Menschen agitiert, steigt das Risiko, dass trans Menschen zu Opfern von transfeindlicher Gewalt werden. Und jedes Mal wenn Roman Polanski einen Filmpreis erhält, führt dass dazu, dass die Frauen, die er vergewaltigt hat, sein Gesicht in den Medien sehen müssen – mit anderen Worten: Es führt zu Leid.

Das ist das Spannungsfeld, in dem diese große Frage sich befindet und deshalb ist es nicht möglich, sich klar und widerspruchsfrei für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Hinzu kommt, dass Kunst uns prägt und zugleich ein riesiges Geschäft ist. Entsprechend Fragen der Identität, des Erwachsenwerdens, der Macht und viele weitere Themenkomplexe hier mit hineinstrahlen.

Doch folgen wir weiter Tár in ihrer Argumentation:

The Soul selects her own Society

Tár sagt: Sure, Alright, whatever. Das ist deine Wahl.

Womit sie ihren vorgetäuschten Wunsch nach Verständnis schon wieder ad acta gelegt hat. Dann sagt Tár: After all a soul selects her own society.

Damit zitiert sie Emily Dickinsons Gedicht „The Soul selects her own society“.

Dickinson schreibt:

The Soul selects her own Society-

Then shuts the Door-

To her divine Majority-

Present no more-

Unmoved-she notes the Chariot-pausing

At her low Gate-

Unmoved-and Emperor be kneeling

Upon her Mat-

I’ve known her-from an ample nation-

Choose One-

Then-close the Valves of her attention-

Like Stone

Für Dickinson ist das ein Wert. Die Seele sucht sich eine Person aus, mit der sie etwas zu tun haben möchte. Der Rest der Welt muss draußen bleiben. Dickinson schreibt, dass die Seele nichts anderes braucht, als diese eine Gleichgesinnte, da mögen Streitwagen vor ihren Toren halten oder Imperatoren niederknien, die Seele bleibt ungerührt davon, hat sie ihre Wahl nach der besten Gesellschaft doch bereits getroffen. Dickinson fordert die gemeinsame Isolation und plädiert für das Schließen der Ventile, die die  Außenwelt aussperren.

Was Dickinson mit dem Prädikat göttlich belegt, wendet Tár ins Negative, versteht es nicht als ein Loblied auf das autonome Ich, das losgelöst von der Welt entscheiden kann, womit es sich umgibt, sondern sieht das Schließen der Ventile der Aufmerksamkeit als einen Verlust an.

Diesen kurzen Abschnitt in Társ quasi-monologischen Dialog mag ich sehr. Mit zwei Zeilen aus einem Gedicht, hat sie uns beide Lesarten zu ebenjenem Gedicht von Emily Dickinson hingeworfen. Denn ich kann sowohl einen Wert in der selbst geschaffenen Filterblase sehen – es ist ein Safe Space – als auch einen Verlust – es ist eine Echokammer, die nur meine eigene Stimme verstärkt und verhindert, dass ich für neue Einflüsse offenbleibe.

Doch, indem Tár das nur implizit andeutet mit einer Referenz, die man erst einmal verstehen muss, hat sie  in einem performativen Widerspruch selbst die Tore geschlossen. Sie will gar nicht, dass alle sie verstehen. Sie will sich über die Kretins erheben und damit macht sie genau das, was sie im nächsten Abschnitt wieder kritisiert:

Das Slippery-Slope-Argument

Viele Symphonieorchester würden sich heutzutage als Silos aufspielen, die entscheiden, was akzeptabel ist und was nicht. Sie sähen es als ihr imperiales Recht an, für dir Kretins zu kuratieren. Daher läge ein Gewinn darin, Maxens „Allergie“ zu untersuchen – slippery as it is.

Mit „Slippery as it is“, spielt Tár darauf an, dass sie ein Slippery-Slope-Argument macht. Das Argument besagt, dass man, wenn man einen bestimmten Schritt getan hat, auf eine schiefe und glatte Ebene gerät und nicht mehr anhalten kann. Im Grunde ist es das Argument, welches ich oben schon expliziert habe: Wenn du ein Kunstwerk, verbannst, da sein*e Schaffer*in etwas moralisch Schlechtes getan hat, gerätst du in Gefahr, alle Kunstwerke zu verbannen, da Menschen keine engelsgleichen Wesen sind und moralische Fehltritte in unserer Natur liegen. Wir bräuchten keine Ethik als Lehre von Gut und Böse, wenn es nicht den Menschen inhärent wäre, auch böse zu handeln.

Zugleich spricht Tár aber Max auch jedwede Legitimität ab, indem sie seine Haltung als „Allergie“ diskreditiert, also als krankhaftes Symptom. Sie leugnet damit, dass das von mir angesprochene Dilemma existiert – natürlich wieder einmal ohne Argument, sondern nur durch das sophistische Mittel der Herabwürdigung.

Gibt es Kunst die ihre*n Schaffer*in übersteigt?

Társ Examinierung von Maxens Allergie besteht in der Frage:

Kann klassische Musik, geschrieben von einem Haufen hetero, österreichisch-deutschen, zur Kirche gehenden weißen Typen für uns erhaben sein? Sowohl individuell als auch kollektiv? Und wer, wenn sie fragen darf, entscheidet das?

Das ist eine sehr gute Frage! Ich weiß, dass Pablo Picasso mit Sicherheit sehr misogyn war, er hatte eine Affäre mit der minderjährigen Francoise Gilot, erkannte die mit ihr gezeugten Kinder nicht an, erniedrigte sie so sehr, dass sie ihn verließ und überschüttete sie anschließend mit Hass.  Als Gilot  später mit Luc Simon verheiratet war, sorgte Picasso dafür, dass sie sich scheiden ließ, in der Annahme, Picasso werde sie heiraten, um so die Kinder anzuerkennen, nur um dann zu erfahren, dass der 72-jährige Picasso schon längst wieder mit der 27-Jährigen Jacqueline Roque verheiratet war. Alles Dinge, die ich zutiefst verachte.

Dennoch empfinde ich das Gefühl er Erhabenheit, wenn ich vor einem seiner Bilder stehe und kann mich des Genie-Kultes nicht entziehen, wenn ich an die Meisterleistung denke, die Zentralperspektive abzuschaffen.

Verurteilst du mich dafür? Mit welchem Recht entscheidest du, dass ich als Individuum oder wir als Gesellschaft dieses Gefühl der Erhabenheit nicht empfinden dürfen? Was ist dein Argument? Und wie löst du das von mir beschrieben Dilemma zwischen Ästhetik und Ethik auf. Doch vor allem, und am perfidesten: Wenn ich sage: Ich respektiere, dass du Picasso aus ethischen Gründen ablehnst, du mir aber nicht zugestehst, dass ich Bilder von Picasso dennoch toll finde, wer von uns beiden ist dann moralischer?

Ich kann ich diese Fragen nicht beantworten. Das macht eben ein Dilemma aus und umso toller finde ich, das Tár sie hier aufwirft.

Eher Rhetorisch fragt Tár als nächstes: Was ist mit Beethoven? Mag Max ihn? Denn sie, Tár als U-Haul-Lesbe ist nicht so sicher, was „Old Ludwig“ betrifft.

Der Ausdruck U-Haul-Lesbe bezieht sich auf ein Stereotyp lesbischer Kultur, wonach manche Lesben bereits nach dem zweiten Date zusammenziehen. U-Hauls sind amerikanische Umzugswagen vergleichbar mit dem Status, den der Mercedes Sprinter bei uns hat. Das ist eine epische Vorausdeutung auf Társ Charakter und ihre Affären, die uns im Laufe des Films enthüllt werden und die ich hier nicht vorwegnehmen möchte.

Auch wenn Tár sich nicht so sicher über Beethoven ist, tritt sie ihm dennoch von Angesicht zu Angesicht gegenüber und findet sich Nase an Nase mit seiner Bedeutung und Tragweite wieder. Mit seiner Unausweichlichkeit.

Da stecken wieder zwei Dinge drin. Zum einen bringt hier Tár sich als Interpretin in der Trias Komponist*in – Dirigent*in – Publikum wieder ins Spiel. Deutet an, dass sie ein Wörtchen mitzureden hat, gibt einen Hinweis darauf, wie wir die Kunst vom Künstler trennen können und deutet die nächste Phase der Szene an, auf die wir gleich eingehen werden. Denn zunächst gilt es noch die Frage zu elaborieren, bei der wir es uns nicht zu einfach machen sollten:

Kann es Kunstwerke geben, die so bedeutend sind, dass sie ihren Schaffer, egal wie problematisch er gewesen sein mag, übersteigen?

Nehmen wir Richard Wagner: Er war ein glühender Antisemit. Aber Wagner veränderte auch die klassische Musik. Sie war nach ihm nicht mehr die gleiche wie vorher, hatte sich maßgeblich weiterentwickelt. Wagner erfand (nicht im Alleingang aber maßgeblich) das Leitmotiv. Eine Technik, die in jeder zweiten Filmmusik heute vorkommt. Denkt an die Hobbits aus dem Herrn der Ringe! Hört ihr die Melodie? Und die von Luke Skywalker? Können wir sowas ignorieren? Sollen wir verbieten, dass Leitmotive in Filmkompositionen verwendet werden, weil ein Antisemit sie erfunden hat?

Es ist kompliziert.

Die Macht der Interpretin: Aneignung, Variation und Etikettierung

Tár bittet jedenfalls Max, sich neben sie ans Klavier zu setzen, um einen ähnlichen Blick auf Bach zu wagen. Sie spielt das Präludium C-Dur BWV 846 von Bach. Rhetorisch fragt sie Max, ob ihr Spiel des Stücks nicht filigran sei.

Nun zeigt Tár uns, was es heißt, dass eine Interpretin ein Stück sich aneignet und spielt das Präludium erst, als stamme es von einem Klavier-Schüler aus dem ersten Jahr, dann wie Schroeder, der für Lucy spielt. Schroeder ist der Pianist aus den Peanuts. Als nächstes spielt sie es im Stile von Glenn Gould, einem der berühmtesten Pianisten des 20. Jahrhunderts.

Erst durch diese Variationen gelange man, so Tár, ins Innere des Stücks, verstehe, was es wirklich ist: Eine Frage. Und eine Antwort. Die eine weitere Frage hervorruft. In Bach stecke Demut. Bach tue nicht so, als wäre er sich über irgendetwas sicher. Denn er weiß, dass es immer die Frage ist, die die Hörenden involviert. Es ist niemals die Antwort. Und die große Frage für Max sei: Was denke er?

Bevor wir uns Maxens Antwort anschauen und damit den nächsten Abschnitt des Gesprächs. Lasst uns kurz durchatmen: Hammer! Ich liebe diese 1,5 Minuten! Allein darüber ließe sich eine Dissertation schreiben! Skizzieren wir es grob:

Was macht Tár? Sie spielt Variationen. Variationen zeigen uns einerseits, welche Macht die Interpretin in der von mir vielbesungenen Trias hat. Zumindest bei zweiphasigen Künsten hat die Interpretin ebenjene Macht, die Kunst vom Künstler zu trennen. Sie kann sich ein Stück aneignen, es zum eigenen machen. Deshalb konnte Daniel Barenboim Wagner in Israel spielen. Nicht, weil er dessen Antisemitismus ignorierte, sondern weil er sich die Musik aneignete, die wunderbaren Klänge nicht den Menschenfeinden überließ, die sie als Banner nur allzu gerne vor sich hertragen. Barenboim entriss den Nazis – den alten wie den neuen – Wagner und sagte: Seht her! Ihr kriegt uns nicht tot. Ich spiele diese Musik. Das ist die Macht des Interprets, die dabei helfen kann, die Kunst vom Künstler zu trennen – zumindest bei zweiphasiger Kunst. Wenn wir Roland Barthes folgen, dann bei jeder Kunst, denn wir sind alle Interpreten.

Zugleich ist eine Variation aber nicht losgelöst vom Text, den sie interpretiert. Ich sagte ja: Der ist digital, die Noten sind immer gleich. Doch in der Art wie sie sie spielt, eignet sich die Interpretin die Partitur nicht nur an, sie hilft uns auch, sie zu verstehen. Jede Variation fügt dem Urtext etwas hinzu. Und dann zeigt uns Tár auch noch, wie sie das macht, indem sie sich dem Mittel der Etikettierung bedient. Musik denotiert im Normalfall nichts. Im Gegensatz zu Sprache oder Bildern steht sie nicht für konkrete Dinge in der Welt. Sie ist zunächst einmal gegenstandslos. Es gibt Ausnahmen, wie etwa das Skywalker-Theme, das so fest mit dem Ding „Luke Skywalker“ verbunden ist, dass es Luke repräsentiert. Oder die Nationalhymne, die für das Ding Bundesrepublik Deutschland steht. Aber das sind seltene Fälle. In der Regel denotiert Musik erst einmal nichts. Dennoch ist Musik nicht bedeutungslos, denn sie exemplifiziert. Das heißt, Musik besitzt Eigenschaften, auf die sie sich bezieht.

Das sind einerseits buchstäbliche Eigenschaften: Das Präludium ist in C-Dur, im 4/4.-Takt und noch vieles mehr. Aber das Stück exemplifiziert auch metaphorische Eigenschaften. Wichtig ist, dass das Stück diese Eigenschaften besitzen muss. Ein Stück in Moll kann nicht Freude zum Ausdruck bringen. Aber dennoch sind die Möglichkeiten der Interpretation nahezu grenzenlos. Wie können wir sie einschränken? Zum Beispiel, indem wir Etiketten benutzen. Und genau das macht Tár! Indem sie das Stück mit Frage, Antwort und Anschlussfrage etikettiert, können wir diese Eigenschaften plötzlich hören! Das Gleiche geschieht zum Beispiel mit Nikolai Rimski-Korsakows Hummelflug. Dadurch, dass das Stück den Namen Hummelflug trägt, können wir den Hummelflug hören.

Und schlau, wie Tár ist, benutzt sie Etikettierung sogleich auch dazu, unser Bild von Bach zu ändern. Wir hatten ihn bislang – mehr oder weniger erfolgreich – mit dem Etikett „misogyn“ verbunden. Tár bietet uns nun „Demut“ an. Und sofort hören wir die Demut in Bach! Das Etikett ist dabei sehr clever gewählt, denn ich weiß nicht viel über Bach, außer „irgendwas mit Kirche“, aber in diese Sphäre passt das Etikett „Demut“ ganz exzellent.

Was Tár gemacht hat, ist: Sie hat uns exemplifiziert, welche Macht sie als Interpretin hat. Sie hat dem Auto einen Motor gebaut oder eben die Kunst vom Künstler getrennt – nicht vollkommen, aber eben weit genug für eine Aneignung. Jetzt sagt mir bitte, dass das nicht geil ist!

Und so wie ich Todd Field vorhin kritisiert habe, muss ich ihn hier loben. Denn er macht jetzt etwas verdammt schlaues. Diese 1,5 Minuten sind das Herzstück der Szene und wir wollen alle „Fuck, ja!“ rufen, Banner mit dem Namen Tár drauf schwenken und Max dazu zwingen, Bach zu spielen. Doch selbst in diesem brillant argumentierten Moment lässt Todd Field Tár einen Sophismus reinstreuen, wie eine bittere Wacholderbeere: Tár begeht einen Widerspruch.

Sie sagt:  Bach tue nicht so, als wäre er sich über irgendetwas sicher. Nur, um sich sofort zu widersprechen, dass Bach sich sicher ist, dass es immer die Frage und niemals die Antwort ist, die den Hörenden involviert.

Das ist ein logischer Fehler und zugleich zeigt der uns wieder einen Charakterzug von Tár auf. Denn sie war – von einigen rhetorischen Ausnahmen abgesehen – in dieser Szene nie in der bescheidenen Position der Fragenden. Sie wollte nie wirklich verstehen, was Max an Anna Thorvaldsdottir mag und genauso wenig, ob es ethische Gründe gibt, einen Komponisten abzulehnen. Stattdessen hatte sie immer gleich die Antworten parat.

Der Wechsel von Handlungsethik zum Essentialismus

Und genau darin ist sie Max sehr ähnlich, denn der hat keine Fragen, sondern sagt jetzt:

Sie spielen wirklich gut. Aber heutzutage sind weiße, männliche Cis-Komponisten nicht mein Ding. Cis bedeutet, dass man die sexuellen Organe des Gender hat, mit dem man sich identifiziert.

Das ist ein reines Geschmacksurteil. Oben sagte ich, dass ich nicht glaube, dass Kunst rein subjektiv ist. Tár hat eben fantastische Argumente gebracht, warum Bach gut ist, selbst, wenn er „nicht mein Ding“ ist. Doch Max zieht sich komplett auf den Subjektivismus zurück. Er bietet uns kein weiteres Argument an, sondern argumentiert nur damit, dass er es nicht mag. Dagegen kann niemand etwas sagen. Auf „Das ist nicht mein Ding“ mit „Doch!“ zu antworten ist eine Kategorien-Verwechslung, da ich einer anderen Person ihren Geschmack oder ihre Gefühle nicht vorschreiben kann. Aber eben darum ist es auch kein gültiger Zug in diesem Sprachspiel. Denn dann brauchen wir gar nicht mehr über Kunst zu sprechen, abgesehen von einem Daumen hoch oder Daumen runter wie im alten Rom.

Aber: Was wir hier hören, ist meines Erachtens wieder der Drehbuchautor, der einen perfiden kleinen Trick vollführt, der nur dazu dient, Társ großes Schlussargument vorzubereiten. Denn ursprünglich hatte Max auf der Basis von einer Handlung Bach abgelehnt: Bach sei misogyn. So schwach das Argument dafür auch war, so legitim ist die Position, Menschen für misogyne Handlungen abzulehnen. Doch hier argumentiert Max plötzlich essentialistisch. Er lehnt weiße, männliche Cis-Komponisten an sich ab. Das Prädikat „heutzutage“ ist in diesem Zusammenhang verräterisch. Denn so spricht doch kein Mensch. Ich lehne heutzutage Kartoffelpürree ab. Aber so schreibt ein alter Mann über die crazy Kids HEUTZUTAGE. Die Jugend von heute.

Das Snowflake-Argument

Társ Antwort: Sei nicht so eifrig dabei, dich verletzt zu fühlen.

Das wiederum ist das Schneeflocken-Argument. „Snowflake“ ist eine Beleidigung, die ihren Ursprung im Film Fight Club hat und zu einem rechten Kampfbegriff wurde. Als „Snowflake“ werden links-liberale Menschen von Rechten bezeichnet, mit der Intention, ihnen ein übertriebenes Gefühl der Einzigartigkeit, ein ungerechtfertigtes Anspruchsdenken, übermäßige Emotionen, leichte Kränkungen und die Unfähigkeit, mit anderen Meinungen umzugehen, zuzuschreiben. Das Ziel ist, den Diskurs so zu verschieben, dass nicht über Fragen der Gerechtigkeit gesprochen wird, sondern über die Rechtmäßigkeit von unterstellten Gefühlen, die Menschen haben, wenn man diskriminierende Positionen vertritt.

Es geht nicht darum, was Max fühlt, wenn er Bach hört. Es geht um Fragen der Macht. Weiße heterosexuelle CIS-Männer sind in dieser Welt an der Macht, seit wir Menschen angefangen haben, unsere Geschichte aufzuschreiben. Es ist eine berechtigte ethische Fragestellung: Ob diese Macht nicht mit anderen Bevölkerungsgruppen geteilt werden sollte.

Man kann das Argument führen – wie ich es hier mitunter getan habe –, dass die Frage, ob wir Bach spielen oder nicht, nichts daran ändert, wer an der Macht ist. Aber das hat nichts mit Max Gefühlen zu tun, und jeder Versuch, diese ethische Debatte darauf zu reduzieren ist der Sophismus der Diskursverschiebung.

Der Narzissmus der kleinen Differenzen

Tár fährt fort: Der Narzissmus der kleinen Differenzen führt zu den langweiligsten Konformitäten. Damit beruft sie sich auf  Sigmund Freud, der in Das Unbehagen in der Kultur schreibt, der Narzissmus der kleinen Differenzen sei „eine bequeme und relativ harmlose Befriedigung der Aggressionsneigung“. Missgunst unter ansonsten gleichgestellten Menschen sei nicht aufzuheben. Es erleichtere aber den gemeinschaftlichen Zusammenhalt, wenn die Aggression, statt nach innen, auf benachbarte, nahestehende Gemeinschaften gerichtet werde.

Tár unterstellt also Max, dass er in der gleichen Machtposition wie ein weißer heterosexueller CIS-Mann sei und nur aus Missgunst handele. Sorry, aber das ist einfach nur Bullshit. Tár kleidet hier ein Nicht-Argument in so pompöse Worte, dass es uns nicht auffallen soll.

Nichtdestotrotz steckt da ein winziger Wahrheits-Nugget drin. Ich beschäftige mich ja gerade mit Judith Butler und they stellt sich die Frage: Wenn wir unsere Geschlechtsidentitäten, unsere ethnischen Zugehörigkeiten, unsere sexuellen Orientierungen und unser körperlich-mentales Spektrum immer weiter ausdifferenzieren, wie schaffen wir es dann, die rassistisch CIS-hetero-normativen patriarchalen Machtstrukturen aufzubrechen? Und tatsächlich sehe ich in öffentlichen Debatten immer wieder, wie progressive Menschen sich in In-Fights verzetteln, weil die Volksfront von Judäa und die judäische Volksfront unterschiedliche Vorstellungen von progressiv haben, weshalb die Machtstruktur kalt lächelnd bestehen bleibt. Butler sagt – meinem Verständnis nach – betont eure kleinen Differenzen gerne im ersten Schritt, um euch im zweiten solidarisch zu zeigen.

Aber: Nichts, von dem, was Tár gesagt hat, zielt in die gleiche Kerbe, denn dann müsste sie sich mit Max solidarisieren und nicht mit den weißen Männern an der Macht.

Konnotierter Antisemitismus

Max räumt als Zeichen des Kompromisses ein: Ich vermute, Edgar Varèse ist okay. Ich mag Arcana. Edgar Varèse war ein in die USA immigrierter französischer Komponist des 20. Jahrhunderts. Arcana ist eine symphonische Dichtung für großes Orchester. Ich habe keine Ahnung, warum Max ausgerechnet Varèse okay findet. Da er in der Szene mittlerweile komplett eingeschüchtert ist, ist nicht verwunderlich, dass er keine Argumente liefert.

Aber ich höre hier auch mal wieder sehr stark die Blätter des Drehbuchs rascheln, denn Max kurzer Satz gilt nur als Stichwort für einen Redeschwall von Tár, der später im Film ihren Niedergang begründet.

Max müsse sich im Klaren sein, dass Edgar Varèse einmal berühmterweise gesagt habe: Jazz sei ein N-Wort-Produkt (im Film ausgesprochen), dass von den Juden ausgebeutet wurde. Das habe Jerry Goldsmith nicht daran gehindert, Varèse abzuzocken für seinen Planet-der-Affen-Score. Jerry Goldsmith war einer der berühmtesten Filmkomponisten aller Zeiten. Er war rumänisch-jüdischer Abstammung und hat sich von Edgar Varèse für seinen Planet-der-Affen-Score inspirieren lassen – ein alltäglicher Vorgang in der Musik, ich erwähnte ja auch bereits den Einfluss von Wagner. Dass Tár diesen Prozess der musikalischen Tradition als „Abzocke“ bezeichnet, bedient heftig ein antisemitisches Stereotyp vom kulturstehlenden Juden, das nicht zuletzt Wagner propagierte.

Tár begeht diese Stereotypisierung allerdings nicht intentional, denn sie erkennt Goldsmiths Leistung als „perfekte Beleidigung“ an. Nichtsdestotrotz sind auch in Konnotationen transportierte Antisemitismen gefährlich und sollten unterlassen werden, da seit Jahrtausenden so Erzählungen fortgeschrieben werden, die immer wieder zu großem Leid für Jüd*innen geführt haben.

Diskriminierung und Norm

Tár fährt fort: Das Problem, wenn man sich als ultraschallgesteuerter epistemischer Dissident einschreibt (was auch immer das bedeuten mag, klingt halt geil, nicht wahr?), das Problem dabei sei: Wenn man Bachs Talent reduzieren könne auf sein Gender, Geburtsland, Religion, Sexualität und so weiter, dann geht das auch mit Maxens Talent. Eines Tages, Max, wenn du in die Welt hinausgehst, und du Gastdirigent eines größeren oder kleineren Orchesters bist, wirst du feststellen, dass die Musiker Beurteilungsblätter auf ihren Notenständern haben, mit denen sie dich beurteilen werden. Was wünschst du dir, welches Kriterium sie anlegen, wenn sie das machen? Dein Partiturlesen und deine Stabtechnik? Oder lieber etwas anderes?

Wow, hier kann ich nur noch Slow-Clapping einfügen. Geil oder? Ich habe einige feiernde Kommentare auf Social Media dazu gesehen. Und ich muss euch sagen, das ist wirklich absolut genialer Bullshit!

Denn Tár tut hier so, als hätte Max soeben Diskriminierung erfunden! Aber in Wirklichkeit werden schon heute alle anderen auf dieser Welt neben ihren Handlungen auch für ihre Hautfarbe, ihre Nationalität, ihr Gender, ihre Sexualität und ihre Religion bewertet. Alle außer weißen heterosexuellen christlichen CIS-Männern. Die nehmen wir immer als Norm an. Wir Normis müssen uns für nichts rechtfertigen außer für unser Talent. Bei allen anderen fließt das immer schon in die Bewertung mit ein.

Und – ich sagte es bereits –, das ganze Argument kann an dieser Stelle überhaupt nur geführt werden, weil Todd Field den perfiden Shift von Handlungsethik hin zum Essentialismus gemacht hat.

Wir sind ja ursprünglich von der – schwachen – These ausgegangen, dass Bach misogyn war. Er wurde also nicht einmal auf irgendeinen der von Tár nun aufgezählten Marker reduziert, sondern auf eine Handlung. Und anhand dieser und nicht anhand des Wesens von Menschen kann man den bereits beschriebenen Konflikt zwischen Ethik und Ästhetik austragen.

Zwei verwobene Argumente

Eine Schlusspointe hat Tár noch: Sie Will Maxens „Ding“, seine Kriterien berücksichtigen: Anna Thorvaldsdottir wurde in Island geboren und Anna sei auf eine Waldorf-Lehrer-Art-und-Weise eine superheiße junge Frau. Wie könne man irgendetwas davon mit Max zusammenbringen, fragt Tár. Und an dieser Stelle kapituliert Max und verlässt mit „You fucking bitch“ den Raum.

Was Tár hier macht, ist „den Narzissmus der kleinen Differenzen“ selbst auf Max anzuwenden. Aber sie benutzt ihn als Strohmann. Lasst uns, um das zu verstehen, noch einmal zum Anfang der Szene zurückkehren: Wie sind wir gestartet? Max ließ eine Komponistin spielen. Tár wollte von ihm, dass er stattdessen einen alten weißen Mann aufführt.

Das gesellschaftspolitische Argument, das Todd Field verhandelt, ist auf Seiten der Gen Z: Wir haben jetzt 5000 Jahre lang in unserer Kulturgeschichte nur die Kultur alter weißer Männer vorgeführt, lasst uns doch AUCH MAL die anderer Bevölkerungsgruppen präsentieren. In einem perfiden Trick machte Todd Field in der Mitte der Szene daraus: Man darf auf gar keinen Fall mehr irgendeinen alten weißen Mann eine Bühne bieten. Und das wurde am Ende von ihm unglaublich glorreich widerlegt, indem er die von Judith Butler geforderte Solidarität zwischen diskriminierten Gruppen aufgab, sie gegeneinander ausspielte und sich auf die Seite der alten weißen Männer schlug. Sorry. Dieser Teil der Diskussion war leider von vorne bis hinten nichts weiter als Schattenboxen eines Dudes, der den Kern des Arguments nicht verstanden hat.

Aber! Mit einem dicken Ausrufezeichen versehen! Clever verwoben damit war ein Diskussion über die Trennung von Kunst und Künstler mithilfe der Mittelstellung der Interpretin. Und diese Debatte war Zucker! Lasst und dafür noch Társ letzten Worten lauschen:

Tár ruft Max hinterher: Und du bist ein Roboter. Unglücklicherweise ist der Architekt deiner Seele Social Media. „You wanna dance the mask, you must service the composer.“ Der Spruch wird auch im Trailer verwendet, was auch immer er bedeuten mag. Man müsse sich als Dirigent sublimieren, sein Ego und seine Identität. Man müsse vor der Öffentlichkeit und Gott stehen und sich selbst auslöschen.

Und damit zeigt Lydia Tár am Ende noch einmal, dass sie ihre eigene Rolle, die sie uns in der Mitte der Szene mit den Variationen so wunderbar vor Augen führte, nicht verstanden hat. Denn der oder die Dirigent*in macht nichts weniger als sich selbst auszulöschen er oder sie eignet sich das Stück an und führt so einen Dialog mit diesem. Dass Tár das und ihre eigene Rolle nicht versteht, trägt im Laufe des Films zu ihrem Niedergang bei.

Wie finde ich Tár jetzt? Mein Urteil ähnelt dem, das Denis Scheck mal über die Bücher von Papst Benedikt 16. gesagt hat: Ich habe mich viel geärgert, aber das stets auf hohem Niveau. Und da ich keine Schneeflocke bin, wählt meine Seele trotz meines Narzissmus der kleinen Differenzen dennoch die göttliche Gesellschaft eines – nicht unproblematischen – aber dennoch sehr spannenden Filmes.

Philosophie-Videos:

Zur weiteren Recherche:

 

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Selektive Wahrnehmung und der Bestätigungsfehler

Heute möchte ich mal nicht von Philosophie erzählen, sondern im fremden Revier wildern und über Psychologie sprechen, genauer gesagt über selektive Wahrnehmung und den Bestätigungsfehler. Ich hoffe, ich darf das.

Beides sind jedenfalls psychologische Erkenntnisse, die unglaublich nützlich sein können, um sowohl in der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie als auch in der Ethik nicht in bestimmte Fallen zu tappen. Ungefähr so nützlich wie ein Schweizer Taschenmesser dabeizuhaben, wenn du mal nicht gerade den Wein für 1,99 mit Schraubverschluss gekauft hast.

Selektive Wahrnehmung

 

Fangen wir mit der selektiven Wahrnehmung an: Jede von uns kennt das: Wir unterhalten mit Freunden über ein Thema, Beispielsweise über den Tractatus Logico-philosophicus und kurz darauf zeigt uns unser Handy Werbung dafür an. Okay, das ist zu weit hergeholt, das sehe ich ein. Aber ich wette, wenn ich jetzt von diesen super-bequemen Hosen erzähle, die total elastisch und widerstandsfähig sein und die sich super-duper reinigen lassen, dann bekommt ihr die angezeigt, sobald ihr das nächste Mal auf Instagram oder Facebook geht.

Einzig logische Schlussfolgerung: Dein Handy belauscht dich! Aber ist das die einzig logische Schlussfolgerung? Ich habe zwei verschiedene Sprachcomputer ausprobiert. Es scheint, als wäre die Spracherkennung gar nicht so gut, dass sie „super-bequeme Hosen, die total elastisch und widerstandsfähig sein und die sich super-duper reinigen lassen“ versteht.

Aber wieso bekomme ich die Werbung dann plötzlich angezeigt? Wenn wir nach Aristoteles uns der Philosophie des Mittelalters zuwenden, muss ich euch unbedingt von Ockhams Rasiermesser erzählen. Der gute alte Wilhelm von Ockham war nicht der Gründer von Gilette, sondern ein Philosoph, der für die Erkenntnistheorie folgenden Leitsatz aufgestellt hat: „Von mehreren hinreichenden möglichen Erklärungen für ein und denselben Sachverhalt ist die einfachste Theorie allen anderen vorzuziehen“. Warum das so ist, klären wir ein anderes mal. Aber gehen wir mal für heute davon aus, dass das stimmt. Was hieße das für uns?

Nun, was, wenn ich euch sage, dass ihr die Werbung überhaupt nicht so plötzlich auftaucht wie Jan Böhmermanns SPD-Mitgliedschaft. Sondern, dass sie schon immer da war. Dass sich in Wirklichkeit etwas anderes plötzlich geändert hat, nämlich eure Wahrnehmung. Das ist es, was man Selektive Wahrnehmung nennt.

Aufgrund der Fülle der Sinneseindrücke, die in jedem Moment auf uns einströmen, ist unser Gehirn gezwungen, einen Großteil davon auszublenden. Sonst kämen wir überhaupt nicht mehr klar. Unsere Aufmerksamkeit wird stattdessen auf die Dinge gelenkt, die im Augenblick für uns relevant sind. Im Straßenverkehr achtest du zum Beispiel auf die Straßenführung, Schilder, Ampeln und wie sich die Autos, Fahrräder und Fußgängerinnen rund um dich herum verhalten. Aber du blendest unzählige andere Faktoren aus. In der Regel wirst du wahrscheinlich nicht auf die Farbe von Autos oder Häuser achten, welche Markenkleidung die Menschen auf der Straße tragen, Wolkenkonstellationen, Streetart, Gesunder Salat und Vogelarten sind dir höchstwahrscheinlich auch egal. Es geht schließlich darum, dass du sicher an dein Ziel gelangst. Dafür blendet dein Gehirn alles aus, was im Augenblick nicht relevant ist.

Bei einem berühmt gewordenen Experiment von Daniel Simons und Christopher Chabris müssen die Probanden ein Video ansehen, in dem sich drei Menschen mit schwarzen T-Shirts und drei mit weißen Bälle zuwerfen. Ihre Aufgabe besteht darin, zu zählen, wie viele Pässe gemacht wurden. Doch der eigentliche Witz ist, dass mitten im Video ein Mensch in einem Gorillakostüm durchs Bild läuft. Die meisten Probanden sehen den Gorilla nicht. Und zwar nicht weil sie unter Affenblindheit aufgrund von zu viel Planet-der-Affen-Binge-Watching leiden, sondern weil ihre Aufmerksamkeit nur auf den Bällen und T-Shirts liegt.

 

Und diesen Mechanismus wendet dein Gehirn eben rund um die Uhr an.  Wenn du dich im Internet bewegst, wird Werbung in den allermeisten Fällen als nicht relevant vom Gehirn ausgeblendet. Und wer könnte es ihm übel nehmen? Schließlich ist das Netz mit Werbung überfüllt und du bist darauf konzentriert, zischen all den blinkenden Bildern und flackernden Videos die besser als das Bernsteinzimmer versteckte Information zu bekommen, wegen der du eine bestimmte Webseite besucht oder eine bestimmte App geöffnet hast. Aber wenn dir dann eine spezielle Werbung zum Beispiel von einem depperten Blogger in dein Aufmerksamkeitsfeld geschoben wird, dann fängt dein Gehirn an, diese für dich zu selektieren, sobald du auf sie stößt. Sie taucht dann plötzlich überall für dich auf. Übrigens wissen Werbetreibende und Online-Medien sehr gut darum und legen alles daran, deine Aufmerksamkeit zu erlangen.

Das soll allerdings nicht heißen, dass euer Smartphone euch nicht überwacht, sondern nur, dass nicht jedes Phänomen mit dieser Überwachung erklärbar ist.

Die Gefahren von selektiver Wahrnehmung

Selektive Wahrnehmung ist oft eine harmlose Angelegenheit. Wenn du mal Krücken benutzen musstest, wird dir auffallen, wie viele Menschen „plötzlich“ mit Krücken rumlaufen. Ein anderes werdendes Elternteil sagte mal zu mir: Krass, dass auf einmal so viele Frauen schwanger sind. Aber wir können anhand von Geburtsstatistiken sehr gut nachvollziehen, dass ich Deutschland im 21. Jahrhundert nicht spontan viele Menschen mit Uteri schwanger wurde. Eher im Gegenteil.

Doch selektive Wahrnehmung kann auch problematisch sein. Zum Beispiel, wenn Menschen Angst vor der Islamisierung des Abendlandes haben, obwohl der Anteil von Menschen muslimischen Glaubens bei etwa 15% an der Gesamtbevölkerung liegt. Die 85% Atheisten, Christen und co. nehmen sie einfach nicht wahr. Auch kann es leicht passieren, dass Menschen wie ich (männlich, weiß, heterosexuell), also die vom Feuilleton tapfer betrauerten alten weißen Männer, nicht mit bekommen, wo andere Menschen, die nicht dieser privilegierten Gruppe angehören, diskriminiert werden. Da diese Barrieren für mich nicht relevant sind, blende ich sie einfach aus.

Deutsche schätzen Zahl der Muslime in Deutschland auf 17 Millionen

Ein weiteres Beispiel ist jemand, der in einer Diskussion zum Klimawandel sagt, „ach, warme Sommer hat es schon immer gegeben.“ Wobei, das geht schon eher in die Richtung des anderen Phänomens, das ich hier besprechen möchte. Gehen wir dafür noch einmal einen Schritt zurück.

Der Bestätigungsfehler

Diese neuen E-Scooter sind die Pest, oder?! Mich nervt tierisch, dass die Dinger immer und überall im Weg stehen. Rollstuhlfahrende, Menschen, die Kinderwagen schieben und Blinde müssen doch dauernd darüber fallen. Aber was, wenn ich euch erzähle, dass ich in der letzten Woche auf meinen Wegen durch die Stadt mal eine Strichliste gemacht habe: Was steht denn so auf den Bürgersteigen und Gehwegen?

Dabei kam heraus, dass Roller nur für knapp 29 % aller Hindernisse auf Trottoirs verantwortlich sind. 71% der Hindernisse bestanden aus Mülltonnen, Sperrmüll, Motorräder, Vespas, Fahrräder und Autos. Die E-Scooter waren zwar immer noch die größte Gruppe in meiner kleinen Stichprobe. Aber die Gruppe der Motorräder, Vespas und Fahrräder schenkte dem mit 24 % nicht viel. Was mich persönlich wunderte war, dass der Prozentsatz der unangenehm parkenden Autos mit 16% vergleichsweise gering war. Denn in meiner Wahrnehmung als Radfahrer stehen die IMMER im Weg!

Wie kommt es, dass wir das Gefühl haben, dass E-Scooter überall rumstehen, während wir knapp 3/4 der anderen Hindernisse ignorieren? Nun, hier spielt sicher auch wieder selektive Wahrnehmung eine Rolle. Aber da es im Augenblick zum guten Ton gehört, E-Scooter scheiße zu finden, solange man nicht gerade selbst auf einen steht, kommt wohl noch der sogenannte Bestätigungsfehler hinzu.

Der Bestätigungsfehler oder Confirmation Bias ist unsere Neigung, Informationen tendenziell eher so auszuwählen oder zu interpretieren, dass sie die These bestätigen, der wir anhängen. Habe ich mir mein Urteil über E-Scooter gebildet, dann wird jeder Roller, der im Weg steht, meine These bestätigen. Mülltonnen oder Autos umlaufe ich hingegen so galant als wären sie die Gegenspieler in einem Fußballspiel. Dieser Fehler kann uns beim Sammeln von Informationen, beim Erinnern und beim Interpretieren von ihnen unterlaufen. Und der Effekt ist umso stärker, je stärker ein Thema emotional aufgeladen ist.

Philip E. Tetlock machte zum Beispiel eine Langzeitstudie über zwei Jahrzehnte mit 284 Probanden, allesamt politische und wirtschaftliche Berater. Tetlock bat sie immer wieder die Wahrscheinlichkeit vorherzusagen, dass verschiedene Situationen eintreten würden oder nicht eintreten würden, er untersuchte Situationen aus dem Fachgebieten der Testpersonen genauso wie solche, zu denen sie keine Experten waren. Insgesamt sammelte er 82.361 Prognosen. Tetlock stellte fest, dass es „Füchse“ gab, wie er sie nannte: Menschen, die immer verschiedene Hypothesen in Betracht zogen. Und es gab „Igel“: Menschen die an ihrer Hypothese tendenziell festhielten. Bei letzteren konnte Tetlock feststellen, dass ihre Vorhersagen schlechter waren, als die der Füchse. Der Grund dafür war der Confirmation Bias. Die Igel werteten Indizien für ihre Hypothese höher als solche, die dagegen sprachen.

Das ist ein Muster, das uns in öffentlichen ethischen Debatten regelmäßig begegnet. So wird zum Beispiel jede Straftat durch eingewanderte Menschen und deren Nachfahren viel breiter ausgewalzt, als es mit Straftaten von Menschen ohne Migrationshintergrund gemacht wird. Obwohl statistisch betrachtet, letztere den größeren Anteil an der Gesamtheit aller Straftaten ausmachen. Doch jede Straftat durch einen AUSLÄNDER(!!!) wird als Bestätigung angesehen, dass kriminelle Einwanderer ein großes gesellschaftliches Problem seien.

Der Bestätigungsfehler in der Philosophie

Aber auch in der Philosophie kann der Bestätigungsfehler problematisch sein. Beispielsweise ist ein beliebtes Instrument in philosophischen Diskussionen das Gedankenexperiment. Ich stelle mir eine Situation vor: Sprachforscher im Gespräch mit einem indigenen Volk, Gehirne in einem Tank oder eine Verfassungsversammlung unter dem Schleier des Nichtwissens. Dann versuche ich, Schlüsse daraus zu ziehen, wie sich die Menschen beziehungsweise Gehirne in dieser Situation verhalten. Das birgt natürlich die immense Gefahr, dass ich nur Argumente finde, die meine These bestätigen. Okay, vielleicht handelt es sich dabei eher um falsche Schlussfolgerungen als um Bestätigungsfehler.

Aber auch – und das ist der entscheidende Punkt – wenn ich meine philosophischen Thesen empirisch absichere, kann mir der Confirmation Bias unterlaufen. Beispielsweise vertritt der Philosoph Philipp Hübl die These, dass konservative Menschen sich neben anderen Markern unter anderem leichter ekeln als progressive Menschen. Daher verfangen bei Ihnen eher Botschaften rechter Demagogen, die Menschen anderer Kulturen, anderer Religionen oder politischen Ansichten als dreckig, unrein und widerlich darstellen.

Der Bestätigungsfehler birgt nun die Gefahr, dass ich, wann immer ich einen Menschen, der oder die sich leicht ekelt, treffe, ihn oder sie direkt ins rechte Lager stecke. Beziehungsweise dass ich jeden Konservativen, der eine hohe Neigung zu Ekel hat, als Bestätigung meiner These ansehe, während ich alle alle Menschen, die nicht in dieses Muster passen, keine Beachtung schenke. Ich will übrigens nicht sagen, dass Hübls These, die ich hier gewohnt verkürzt dargestellt habe, falsch ist. Ich will nach wie vor nur auf die Gefahren von selektiver Wahrnehmung und Confirmation Bias aufmerksam machen.

Mittel gegen Selektive Wahrnehmung und Bestätigungsfehler

Doch, was können wir denn dagegen tun, uns von unseren kleinen fehlbaren menschlichen Hirnen austricksen zu lassen?

Öfter mal eine Strichliste führen, ist ein Rat, den man nicht oft genug wiederholen kann. Eigentlich sollten empirische Sozialforschung und Statistik Schulfächer sein. Denn unsere Gesellschaft ist chronisch abhängig von Daten und Statistiken, aber eine Ahnung davon, wie diese richtig zu interpretieren sind, haben die wenigsten Menschen.

Außerdem lege ich euch ans Herz, euch mit Karl Popper und dem Falsifikationsprinzip zu beschäftigen. Irgendwann muss ich euch mal vom Neopositivismus, kritischen Rationalismus und dann auch noch vom Positivismusstreit erzählen. Aber heute mal wieder nur so viel: empirische Wissenschaften können nicht beweisen. Krass oder? Das scheint das exakte Gegenteil  von dem zu sein, was man gemeinhin der Wissenschaft unterstellt. Aber es ist so: Die Wissenschaft stellt Theorien auf und sammelt dann Daten, um diese Theorien zu stützen. Aber wenn die Daten ergeben, dass eine Theorie nicht stimmt, dann muss man sie zumindest modifizieren. Es gibt Extremfälle, bei denen ein Datum ausreicht, um eine Theorie zum Fall zu bringen. Das Bespiel, das alle Soziologiestudierenden im ersten Semester lernen, ist: Alle Schwäne sind weiß. Dann schipperte James Cook nach Australien und entdeckte den Trauerschwan. Ich bin überzeugt, er war das persönlich. Damit war die These widerlegt. Daraus ergibt sich ein systematisches System. Denn es ist ja prinzipiell immer möglich, dass ich zukünftig noch ein Datum finde, das meine Theorie widerlegt.

Wenn die empirische Wissenschaft aber nicht beweisen kann, dann das ist ein krasses Problem, denn wir landen damit wieder mitten im erkenntnistheoretischen Skeptizismus gegen den Platon sich so sehr wehrte. Was mache ich, wenn es kein sicheres Wissen gibt? Wenn alle meine Erkenntnisse widerlegt werden können? Ich mache es wie Popper und erhebe genau das zum Prinzip der Wissenschaft. Das Falsifikationsprinzip besagt: Eine Theorie gilt genau solange als wahr, bis sie widerlegt wurde. Und das ist unser stärkstes Mittel gegen selektive Wahrnehmung und Bestätigungsfehler.

Moderne Wissenschaft versucht nicht, Theorien zu beweisen. Sie setzt alles daran, sie zu widerlegen. Und je öfter das scheitert, desto bewährter ist eine Theorie, desto gewisser ist sie. Das ist ganz nebenbei auch der Grund, warum es überhaupt keinen Sinn macht, wenn Klimaskeptiker behaupten, der menschengemachte Klimawandel sei nicht bewiesen. Das ist ein sinnloser Satz. Denn man kann den Klimawandel nicht beweisen, man könnte ihn nur widerlegen und alle Versuche, das zu tun, sind bislang so dermaßen bescheiden, dass die Theorie vom menschengemachten Klimawandel sich ziemlich gut bewährt hat.

So, das war mein kleiner Ausflug in Psychologie und empirische Sozialforschung. Ich hoffe, er hat euch gefallen.

Verschwörungstheorien widerlegen

Jemand gelangte mit der Suchanfrage „Logische Fehlschlüsse Verschwörungstheorien“ auf mein Blog. Das ist ein spannendes Thema, dem ich mich hier widmen möchte. Doch vorweg muss ich die Suchende enttäuschen, denn die Logik kann uns hier nur bedingt weiterhelfen.

Der Mond
Der Vollmond, fotografiert in Hamois (Belgien). Urheber: Luc Viatour. Lizenz: CC BY-SA 3.0.

Das liegt in ihrer Natur: Die Logik ist die Lehre vom formal richtigen Schließen. Dass heißt, sie untersucht Schlussfolgerungen nur anhand ihrer sprachlichen Form, um zu prüfen, ob in dieser Fehler stecken. Der Inhalt der Äußerung interessiert die Logik dabei überhaupt nicht, sie überlässt es der Empirie, der Wissenschaft, zu prüfen, ob dieser Inhalt wahr ist.

Daraus folgt natürlich, dass ich fantastische Welten ohne einen einzigen logischen Fehler erschaffen kann, die dennoch nicht wahr sind. Ein Beispiel: Mit dem klassischen Syllogismus kann ich beweisen, dass es keine Klimakatastrophe gibt…

P1 Ein Klimawandel ist ein ganz natürlicher, ungefährlicher Vorgang.
P2 Wir erleben gerade einen Klimawandel.

C Wir erleben gerade einen ganz natürlichen ungefährlichen Vorgang.

Mit anderen Worten: Diese Wissenschaftler regen sich ohne Grund auf. Es gibt nichts zu befürchten, tanken Sie bitte voll!

Ich kann Verschwörungstheorien aufbauen, die in sich komplett schlüssig sind, daher ist hier die Logik als Waffe oftmals stumpf. Natürlich bleibt der Satz vom Widerspruch wie immer unser wichtigstes Werkzeug. Denn auch in einer Verschwörungstheorie kann etwas nicht zugleich der Fall sein und nicht der Fall sein. Beispielsweise liegt der Widerspruch offen wie der Quellcode von Linux, wenn Nazis einerseits Arier als Über- und Juden als Untermenschen stilisieren, andererseits aber von einer jüdischen Weltverschwörung sprechen, denn wie soll diese denn gegen die vermeintlichen Übermenschen möglich sein?

Aber, auch wenn solche Dummheiten viele Anhänger finden können, sind die spannenden Verschwörungstheorien eben jene, die logisch schlüssig sind. Und bei diesen begehen Kritiker oft den Fehler, sie logisch widerlegen zu wollen, doch für jeden abgeschlagenen Kopf der Hydra wachsen ihr zwei nach. Nein, wollen wir sie zu Fall bringen, dann müssen wir ihr die Beine wegschlagen. Statt zu prüfen, ob in einer Verschwörungstheorie die richtigen Schlüsse gezogen werden, ist viel erfolgsversprechender, zu prüfen, ob von den richtigen Prämissen ausgegangen wird. Das wiederum ist nicht mehr Sache der Logik, sondern jene von Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie.

Über Gewissheit

Die Wissenschaftstheorie gibt uns eine ganze Reihe von Werkzeugen an dir Hand mit denen wir dem Verschwörungstheoretiker begegnen können. Und um mit meinem Muster zu brechen und meine Texte nicht zu vorhersehbar zu machen, fange ich mal mit Wittgenstein an, statt mit ihm zu enden. Die für uns fruchtbaren Gedanken Wittgensteins finden sich in „Über Gewissheit„. Dort setzt sich Wittgenstein mit erkenntnistheoretischem Skeptizismus auseinander. Das ist kein Skeptizismus im Sinne der GWUP, sondern in gewissem Sinne die Verschwörungstheorie der Philosophie, nämlich die philosophische Lehre, dass Erkenntnis prinzipiell unmöglich ist. Dass wir uns also nie sicher sein können, ob die Welt wirklich existiert oder alles nur in deinem Kopf existiert, Thomas D.

Wittgensteins Antwort darauf lautet, salopp gesprochen: wenn du an allem zweifelst, dann musst du auch dein Maul halten. Denn warum zweifelst du am Rest, wenn du nicht an der Bedeutung deiner Worte zweifelst? Sätze stehen nie so isoliert da wie Will Smith in I am Legend, statt dessen ist der Kontext wichtig. Sie erhalten erst in einem komplexen Geflecht mit anderen Sätzen ihre Bedeutung.

Zurück zu unserem Problem: Wenn der Verschwörungstheoretiker einen Aspekt der Tagesschau-Wikipedia-Realität leugnet, dann liegt auch die Beweislast bei ihm. Er muss zeigen, wie seine Theorie sich in diese Realität einfügt. Und dabei ist es wichtig, dass es seine Theorie ist, die sich einfügen muss. Er kann sich nicht lutherisch hinstellen und nicht anders können. Schon Paul [Carl; korrigiert am 11.10.14] Sagan wusste zu sagen: „Außergewöhnliche Behauptungen bedürfen außergewöhnlicher Beweise„. Oder in den Worten Spidermans: „Aus großer Kraft entspringt große Verantwortung“. Es reicht nicht, zu sagen: „Du kannst eine außergewöhnliche Sichtung am Loch Ness nicht erklären, also gibt es Nessi!“ Die Fakten sprechen zunächst einmal gegen die Existenz eines Monsters im Loch Ness, wenn du also beweisen willst, dass es doch existiert, reicht nicht ein einziges außergewöhnliches Phänomen. Nein, du musst alle meine Argumente entkräften, denn dein Satz ist es, der nicht ins Sprachspiel passt, nicht meiner.

Zahlen und Fakten statt Anekdoten

Oft verläuft das Plädoyer für eine Verschwörungstheorie wie im Falle der Homöopathie und als Argument dafür wird angeführt: „Also mir hat’s geholfen.“ Das aber ist eine Abduktion. Aus dem Einzelfall einer wie auch immer zustande gekommenen Heilung wird auf die Allaussage, dass Homöopathische Mittel wirken, geschlossen. Das ist kein Fehlschluss, sondern eine Schlussform, die wir im Alltag ständig anwenden und die uns auch meistens gute Dienste leistet. Aber es ist dennoch eine sehr unsichere Schlussform. In einem Experiment hat man mal Wölfen den Geschmack an Schafsfleisch verdorben, indem man diesem ein starkes Abführmittel beifügte. Aus dem einmaligen Magenproblemen schlossen die Tiere falsch, dass Schafsfleisch immer unverträglich ist (Leider finde ich den Lin nicht mehr, weswegen ich das hier mal als Anekdote stehen lasse…). o.O

Ein Einzelfall ist letztlich nichts anderes als eine Anekdote, was uns in einer Diskussion mit einem Verschwörungstheoretiker aber weiterbringt, sind Zahlen und Fakten. Im Falle des Klimawandels wären das zum Beispiel die Menge an Kohlendioxid, die die Menschheit jährlich produziert, der genaue chemische Prozess, wie Kohlendioxid das Klima beeinflusst und das Ausmaß des aktuellen Klimawandels verglichen mit solchen aus der Vergangenheit.

Das besten Mittel, um einen Fakt von einer Anekdote zu unterscheiden, kennt jede, die schon einmal eine Grundlagenvorlesung in empirischer Sozialforschung besucht hat: Reliabilität, Validität und Objektivität. Und weil dieses YouTube-Video das viel besser erklärt, als ich es je könnte, gebe ich das Wort an Stephan Georg:

Ockhams Rasiermesser

Ockhams Rasiermesser wird oft auch englisch Ockham’s Razor oder Occam’s Razor genannt, da es auf den englischen Philosophen William of Ockham zurückgeht, der, da er bereits 1288 zur Welt kam vielleicht auch of Occam hieß. Wer weiß das heute schon so genau. Das Prinzip ist ganz einfach und besagt, dass wir, wenn wir zwei oder mehr Erklärungen für ein Phänomen haben, diejenige bevorzugen sollten, die mit weniger Hypothesen auskommt.

Angenommen

P1 Omas gutes Porzellan ist zerbrochen und den Scherben finden sich Kakaoreste.

Und du hast jetzt die Wahl zwischen

P2 Dein Kind wollte sich einen Kakao machen

C Dein Kind hat die Tasse zerbrochen.

oder

P2 Möglicherweise ist dein Nachbar ein Mafiaboss
P3 Daher wurden Ninjas ausgesandt um ihn zu ermorden
P4 Die Ninjas haben sich in der Wohnung geirrt
P5 Die Ninjas sind in deine Wohnung eingedrungen, ohne Spuren zu hinterlassen
P6 Das Kakaopulver ist eigentlich ein seltenes Gift
P7 Die Ninjas wurden irgendwie gestört
P8 Die Ninjas haben überstürzt den Rückzug angetreten

C  Ninjas haben die Tasse zerbrochen

Welche Erklärung ist dann plausibler? Wichtig ist: Erklärung Nummer Zwei ist nicht ausgeschlossen. Es gibt durchaus eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Ninjas das gute Porzellan deiner Oma zerbrochen haben, aber sie ist eben seeeeeeeeeehr klein. Doch warum ist das so? Was macht die einfachere Theorie zur besseren? Nun darüber haben die Philosophen lange und oft diskutiert. Die Antwort, die ich hier geben möchte, führt uns zur letzten und stärksten Waffe gegen Verschwörungstheorien. Quasi zum Herrscherring der Wissenschaftstheorie. Für jede unserer Prämissen muss nämlich gelten: dass sie zumindest prinzipiell auch widerlegbar ist. [Edit: Und mit der Zahl der Prämissen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass eine davon dem Falsifikationsvorbehalt nicht genügt]

Der Falsifikationsvorbehalt

David Hume hat uns in seinem „A Treatise of Human Nature“ das Induktionsproblem hinterlassen: Aus der Tatsache, dass die Sonne bis jetzt jeden Morgen aufgegangen ist, kann ich nicht schließen, dass sie bis in alle Ewigkeit jeden Morgen aufgeht. Denn, wenn sie morgen nicht aufgehen sollte, kann ich meinen Schluss in die Tonne kloppen. Andererseits ist aber die Induktion (das ist der Schluss von einer Reihe von Einzelfällen auf eine allgemeine Regel) unser einziges Mittel in der empirischen Wissenschaft, um wirklich neues Wissen zu gewinnen. Wie kann ich denn dann sicher sein, dass ich mich nicht geirrt habe? Die Antwort lautet einfach: gar nicht, aber genau das kann ich zum Prinzip erheben. Um die Induktion sicherer zu machen, muss ich zunächst alle oben angeführten Prinzipien befolgen:

1. Meine Induktion muss sich ins Geflecht bestehenden Wissens einfügen
2. Meine Induktion muss objektiv sein
3. Meine Induktion muss valide sein
4. Meine Induktion muss reliabel sein
5. Ich muss die Komplexität möglichst weit reduzieren

Wenn ich diese Schritte durchgeführt habe, dann habe ich die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass mein Schluss richtig ist. Aber er könnte ebenso falsch sein… Daher gilt für ihn der Falsifikationsvorbehalt. Karl Popper hat uns diesen vererbt, indem er das Prinzip einführte, dass eine Theorie nur so lange als wahr gilt, bis ihr Gegenteil bewiesen wurde. Das Beispiel mit den schwarzen Schwänen kennt wahrscheinlich jeder: Lange Zeit war die Aussage wahr: Alle Schwäne sind weiß. Dann schipperte James Cook nach Australien und entdeckt dort den Trauerschwan und – Booooom! – Unsere Wahrheit zerfiel zu Staub wie ein Vampir im Sonnenlicht (nein, die glitzern nicht!). Ein Schwarzer Schwan reicht, um den Satz „Alle Schwäne sind weiß“ zu falsifizieren.

Doch wie können wir Poppers geheime Superkraft gegen unsere Verschwörungstheoretiker zu Felde führen? Ganz einfach: Wie ich schon sagte, wir erheben sie zum Prinzip. Denn wahr kann nur sein, was auch falsch sein kann. Eine Theorie muss widerlegbar sein, sonst ist sie nur noch eine Geschichte ohne jeglichen Wahrheitsanspruch. Brian kann nicht der Messias sein…

Klassisches Beispiel für den Nicht-Theorie-Status ist die Freudsche Psychoanalyse. Eine psychoanalytische Hypothese kann ich prinzipiell nicht widerlegen, denn wann immer ich ein Argument gegen sie anführe, wird mir der Analytiker entgegenhalten, dass ich das jetzt nur sage, weil mein Unterbewusstsein mir einflüstert, dass ich das jetzt sagen soll. Aber das heißt nichts anderes als:

Vielen Dank fürs Mitspielen aber Sie haben sich eben im großen Wahrheitsquiz disqualifiziert, denn wenn Ihre Theorie nicht falsifizierbar ist, dann kann sie auch nicht wahr sein.

In der Verschwörungstheorie kommt das Argument oft in der Gestalt daher, dass ich jedesmal, wenn ich ein Argument gegen die Verschwörung vorbringe, ebenjenes angeblich nur sage, weil ich Teil der Verschwörung bin. Aber das ist eben kein gültiges Argument, es besitzt keinen Wahrheitswert sondern ist rein sophistisch. Doch das ist eine andere Geschichte, der ich mich schon einmal hier gewidmet habe…

Wenn ihr meine Ausführungen mal in der Praxis erleben wollt, empfehle ich euch Hoaxilla. Alexander und Alexa (die Namen zeigen eindeutig, dass sie Teil der Verschwörung sind!!!11einself) haben schon so manche Verschwörungstheorie unter die Lupe genommen.

Literatur:

Ludwig Wittgenstein: Über Gewissheit (bei Amazon)
David Hume: A Treatise of Human Nature (umsonst und legal bei Gutenberg.org)
Karl Popper: Logik der Forschung (bei Amazon)

Update:

Das Buch gibt’s hier.

 

Ich bin raus!