Platon – Atlantis

Heute soll es hier mal nicht um Philosophie gehen sondern um einen Mythos. Ab dem nächsten Mal werden wir uns Platons Ethik und seiner politischen Philosophie widmen. Das wird ein neuer großer Themenblock. Doch davor möchte ich noch ein kleines und leichtes Thema hier behandeln: Atlantis. Ihr alle kennt sicher den Mythos von Atlantis, der untergegangenen Zivilisation. Aber wusstet ihr, dass das eine Erfindung von Platon ist? Hier ansehen oder darunter lesen:

Die Quellenlage

Es gibt für die Existenz dieser Insel keine anderen Quellen als zwei Dialoge von Platon: Kritias und Timaios. Beide Dialoge stammen aus Platons Spätwerk. Der Timaios befasst sich hauptsächlich mit Platons Naturphilosophie. Auf der erzählerischen Ebene schließt er an den Dialog „Der Staat“ an. Die gleichen Gesprächspartner kommen am nächsten Tag wieder zusammen. Nachdem Sokrates im Dialog „der Staat“ eben den idealen Staat entworfen hat, möchte er nun prüfen, wie er sich im Kriegsfall bewährt. Allerdings wird dies dann im Timaios zunächst noch zurückgestellt und wie schon erwähnt die Naturphilosophie besprochen. Die Prüfung des idealen Staates wollte Platon stattdessen im Dialog Kritias abhandeln. Dieser Dialog blieb allerdings unvollendet.

Was Platon über Atlantis zu sagen hat

Schauen wir doch einfach mal, was Platon in den beiden Dialogen zu Atlantis zu sagen hat: Er lässt Kritias dort erzählten dass es eine ägyptische Überlieferung gibt, wonach vor damals 9.000 Jahren (also vor mehr als 11.000 Jahren von uns aus betrachtet) sich Athen im Krieg mit Atlantis befand. Als Hintergrund: Das war die Epoche der Jungsteinzeit. Wir wissen heute, dass die Menschen damals erst anfingen, den Ackerbau zu erfinden und so aus nomadischen Jägern und Sammlern die ersten sesshaften Dorfgemeinschaften wurden.

Zurück zu Platon: Die Überlieferung von Atlantis soll Kritias von seinem Großvater erzählt bekommen haben, die der wiederum vom legendären Athener Staatsmann Solon gehört hat, der sie in Ägypten von einem Priester aufgeschnappt hat. Nun, das ist ja nicht unbedingt das, was wir eine sichere Quellenlage nennen würden …

Eine Insel vor den Säulen des Herakles

Atlantis war dem Mythos zufolge eine Insel „vor den Säulen des Herakles“, die aber mittlerweile im Meer versunken ist. Die Säulen des Herakles nennen wir heute den Felsen von Gibraltar und den Berg Dschebel Musa in Marokko – sie fassen die Straße von Gibraltar ein, die Grenze zwischen Mittelmeer und Atlantik. Der Legende nach soll Herakles an ihnen die Inschrift „Nicht mehr weiter“ angebracht haben, um das Ende der Welt zu markieren. Langer Rede kurzer Sinn: Atlantis soll eine Insel im – wait for it – Atlantik gewesen sein! Nein! Doch! Oh!

Kritias erzählt, dass es eine mächtige Seemacht war, die große Teile des Mittelmeers beherrschte, viele Inseln, Westeuropa bis Mittelitalien, das heutige Libyen und Teile Ägyptens sowie des Nahen Ostens. Atlantis habe versucht, auch Griechenland zu erobern, aber den Athenern gelang es, die Großmacht abzuwehren. Ich stelle mir das lustig vor, wie diese große Seefahrernation von einem Haufen Steinzeitmenschen mit Knüppeln und Steinäxten vermöbelt wurde. Anyway … Kurz nach dieser Niederlage sei dann Atlantis binnen nur eines Tages und einer Nacht bei Erdbeben total zerstört worden und im Meer versunken.

Die Insel soll reich gewesen sein und größer als die in der Antike bekannten Teile Nordafrikas und des Nahen Ostens zusammen. Die Insel war fruchtbar und die Atlanten verfügten über eine fortgeschrittene Landwirtschaft. Die Hauptstadt war unglaublich prächtig, supersymmetrisch und wies merkwürdige Ähnlichkeiten mit der griechischen Kultur in Platons Tagen auf. Wie jeder, der in der Antike was auf sich hielt, stammten das Volk von Atlantis natürlich von einem Gott ab, nämlich von Poseidon, dessen Halbgottsohn Atlas der Herrscher in Atlantis war.

Die Niederlage gegen Athen und die anschließende Vernichtung von Atlantis sei eine Strafe der Götter gewesen, da die Atlanten zum einen ihr göttliches Blut mehr und mehr mit dem widerlichen Blut von Menschen vermischt hatten – Also mit Menschen in die Kiste gesprungen sind. Ekelhaft! Zum anderen wollten die Götter auch die Hybris der Atlantisbewohner bestrafen.

Hat es Atlantis wirklich gegeben?

Das ist es im großen und ganzen, was Platon uns von Atlantis berichtet. Was können wir als Philosophen damit anfangen? Und vor allem: Hat es Atlantis tatsächlich gegeben? Nun, Platon lässt Kritias mehrfach betonen, dass es sich um eine wahre Überlieferung handelt. Aber warum ist dann Platon unsere einzige Quelle für dieses sagenumwobene Land? Dieser glorreiche Sieg der Athener über Atlantis wäre doch sicher in Mythen und Legenden überliefert worden genau wie der Sieg über Troja. Platon behauptet, dass verschiedene Naturkatastrophen in Griechenland dazu geführt haben, dass sämtliche Aufzeichnungen vernichtet wurden. Klingt jetzt nicht sooo überzeugend.

Aber der wichtigste Grund, der gegen die Existenz von Atlantis spricht, ist ein anderer. Erinnert euch mal daran, was ich euch in beim Symposion über die Funktion des Mythos bei Platon erzählt habe: Platon erzählt immer wieder Mythen in seinen Dialogen und zwar oft dann, wenn er einen vertrackten Punkt in seiner Argumentation erreicht und von uns Lesern etwas Wohlwollen haben möchte. Nicht ohne Grund lässt er die Geschichte von Kritias vortragen, der sie von seinem Opa hat, der sie von einem Kumpel hat, der sie von einem ägyptischen Priester hat, der sie aus alten Texten übersetzt hat. Das heißt im Rahmen der Platonischen Dialoge nichts anderes als: Nehmt das, was ich euch gleich erzähle, nicht für bare Münze, es ist nur eine Beispielgeschichte. Mit dem Mythos vom Kugelmenschen und dem Höhlengleichnis haben wir auch bereits zwei weitere solche Beispielmythen kennengelernt. Glaubt ihr wirklich, dass Platon der Überzeugung war, dass wir einst Kugelmenschen waren und alle in eine Höhle sitzen? Das sind Allegorien. So wie etwa Matrix eine Allegorie ist und wir nicht buchstäblich Batterien für Maschinen sind … Was BTW überhaupt keinen Sinn macht, da man viel mehr Energie in menschliche Körper stecken muss, als man herausholen kann! Aber ich schweife ab …

Die Frage ist, welche Funktion hatte der Mythos? Dadurch, dass der Dialog Kritias unvollendet blieb, ist das natürlich nicht abschließend zu beantworten. Aber im Großen und ganzen geht es eben um ein Bild für den perfekten Staat und seine Probleme. So wie die Welt der Erscheinungen nur ein fehlerhaftes Abbild der perfekten Urbilder im Reich der Ideen ist, so sind die Staaten zu Platons Tagen nur fehlerhafte Abbilder des perfekten Urstaats Atlantis. Die Frage, die sich direkt hieran anschließt, lautet: Was macht denn diesen perfekten Staat aus? Und darum werden wir uns ab dem nächsten Mal kümmern, denn es ist nach der Ideenlehre der am meisten diskutierte Punkt in Platons Philosophie.

 

Die Quellen sind die gleichen wie bei den letzten 14 Texten zu Platon. 😉

Sokrates – Der Gamechanger – Teil 1: Der Prozess

Endlich geht es weiter mit meiner YouTube-Reihe zur Geschichte der Philosophie. Aber ich habe euch nur deshalb so lange warten lassen, weil ich gleich drei Folgen vorbereitet habe. Für alle, die lieber lesen, als Filme, die eigentlich nur Dia-Shows sind, zu gucken, gibt es unten wieder das Transkript sowie Literaturtipps und die Angaben zu den Bildquellen. Viel Spaß!

Über Sokrates gibt es so viel zu erzählen, dass ich das ganze in drei Teile aufteilen werde: Erst ab dem zweiten Teil werde ich euch von der eigentlichen Philosophie von Sokrates erzählen. Aber – halt – bitte skippt dieses Video nicht, denn hier und heute wird es spannend. In meiner ersten Folge zu Sokrates wird es um einen Kriminalfall gehen. Denn Sokrates wurde im Jahr 399 v. Chr. zum Tode durch den Schierlingsbecher verurteilt. Die Anklage lautete: Dass er die Existenz der Götter geleugnet haben soll, die schwächere Rede zur stärkeren gemacht und obendrein auch noch die Jugend verdorben haben soll. Und wie es dazu kam und ob da vielleicht sogar noch mehr hinter dieser Anklage steckte, davon erzähle ich euch heute.

Teaser Philosophie

Doch bevor ich mit dem Thriller beginne, möchte ich euch noch kurz erklären. Warum dieser Sokrates und sein Tod überhaupt relevant sind. Denn die Frage liegt ja nicht fern, warum wir uns für den Tod eines einzigen Mannes vor 2.400 Jahren interessieren sollten.

Dafür müsst ihr folgendes wissen: In der Geschichte der Philosophie gibt es verschiedene Zeitwenden, in denen die alten Fragen als nicht länger relevant betrachtet wurden und sich der Mainstream der Philosophie stattdessen neuen Fragestellungen zuwandte. Berühmt sind etwa die Kantische Wende oder der Linguistic Turn. Aber eine erste solche Wenden leitete eben Sokrates ein, weswegen wir sie auch „Die Sokratische Wende“ nennen können.

Cicero, der Typ, mit dessen langweiligen Texten ihr alle im Lateinunterricht belästigt wurdet, sagte dazu mal: „Sokrates hat als erster die Philosophie vom Himmel heruntergerufen, sie in den Städten angesiedelt, sie sogar in die Häuser hineingeführt und sie gezwungen, nach dem Leben, den Sitten und dem Guten und Schlechten zu forschen.“ Mit dieser Aussage hatte er zwar nicht ganz Recht, aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden … Doch er hatte eben auch nicht ganz unrecht.

Es gibt viele Aspekte an Sokrates’ Philosophie, die beachtenswert sind, doch der wichtigste Aspekt ist nicht das Was sondern das Wie. Denn Sokrates betrachtete den Dialog als das wichtigste philosophische Instrument. Er glaubte, dass wir die Wahrheit ™ oder das Wissen um die Wahrheit alle bereits in uns tragen, und dass sie nur ans Tageslicht gebracht werden muss. Er selbst betrachtete sich als jemanden, der durch geschicktes Fragen dabei hilft, dieses Wissen ans Licht zu bringen und diese Technik nannte er „Mäeutik“, die Hebammenkunst. Da er dem Dialog solche Bedeutung beimaß, hat er selbst auch nie etwas aufgeschrieben, sondern stets nur mündlich philosophiert.

Ähm, Moment mal? Wenn er nie etwas aufgeschrieben hat, woher wissen wir dann, worin seine philosophische Lehre bestand und welche Methoden er verwendete? Das ist eine der spannenden Fragen, die es zu klären gilt. Mögt ihr mir also folgen ins fünfte Jahrhundert vor Christi Geburt auf den Spuren eines der berühmtesten Kriminalfälle der Geschichte?

Sokrates‘ Leben

Wie kennen Sokrates‘ Lebensdaten, da wir wissen, dass er im Jahr 399 v. Chr. zum Tode verurteilt wurde. Und sein berühmtester Schüler Platon berichtet, dass er zu diesem Zeitpunkt 70 Jahre alt gewesen sein soll. Dieser Platon sollte später übrigens zum vielleicht größten Philosophen aller Zeiten werden, aber – ihr ahnt es schon – das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden.

Sokrates war der Sohn eines Bildhauers und einer Hebamme. Moment da war doch was? Ach ja: Ich sagte eben, dass er seine philosophische Methode mit der Hebammenkunst verglich. Wie er da wohl drauf kam? Und auch die Metapher des Bildhauers, der die Skulptur vom überflüssigen Stein befreit, benutzte Sokrates manchmal wohl für die Philosophie. Sokrates war phänomenal hässlich, was deshalb erwähnenswert ist, da unter seinen Zeitgenossen der Aberglaube vorherrschte, dass man von der äußeren Schönheit auf die innere schließen kann. Und dieser abstoßende kleine Mann sollte die Griechen eines besseren belehren.

Wir wissen, dass Sokrates eine gute Schulbildung genoss, was aber nicht ungewöhnlich war für einen Bürger Athens. Er lernte Lesen und Schreiben, Gymnastik, Musikerziehung, Geometrie und Astronomie. Nicht zuletzt gehörte es zum Standardrepertoire eines gebildeten Griechens, dass er sich mit den Werken der großen Dichter auseinandersetzte, allen voran Homer. Und die Kritik an Homer und anderer Dichter blieb auch eines von Sokrates‘ philosophischen Betätigungsfelder. Allerdings war dies keine Literaturkritik im heutigen Sinne, denn die Griechen lasen Homer noch viel mehr wie ein Geschichtswerk.

Wir wissen außerdem, dass Sokrates während des Peloponnesischen Kriegs an mehreren militärischen Einsätzen beteiligt war. Er soll an der Belagerung von Potidaia 431–429 v. Chr. genauso teilgenommen haben, wie an den Schlachten von Delion 424 v. Chr. und Amphipolis 422 v. Chr. Sein Rang war der eines Hopliten, eines Kämpfers in der Phallanx. Dieser Information können wir auch entnehmen, dass Sokrates nicht ganz arm gewesen sein kann, den ein Hoplit musste seine schwere Ausrüstung selbst beschaffen. Sokrates hat sich wohl einigen Ruhm erworben bei den Schlachten. So berichteten der Feldherr Laches und der Sokrates-Schüler Alkibiades, dass der Philosoph Kälte, Hunger und sonstige Entbehrungen ertragen konnte. Und aus der Schlacht von Delion, in der die Athener verloren, soll er nicht wie viele andere Hals über Kopf geflohen sein, sondern ging „gemessenen Schrittes, jederzeit bereit, sich zu verteidigen“.

Sokrates‘ Entbehrungsfähigkeit zeigte sich auch in seinem restlichen Leben. So soll er im Winter wie im Sommer barfuß unterwegs gewesen sein. Ferner soll er auch seinen Job hingeschmissen haben (er war wie sein Vater Bildhauer), um sich ganz der Philosophie zu widmen. Das ist aber weniger heroisch als es jetzt klingt sondern eher ein Arschloch-Move, denn er hatte Frau und Kinder. In „bester“ frauenfeindlicher Tradition ist uns aber Sokrates‘ Frau Xanthippe nur als sein zänkisches Weib in Erinnerung geblieben und nicht als die Person, die eine Familie durchbringen musste, während ihr Mann auf dem Athener Marktplatz rumstand und mit anderen über Ethik quatschte.

Dieser über Ethik quatschende Typ hatte übrigens auch noch die Eigenschaft manchmal wie erstarrt stehenzubleiben und nachzudenken. Es gibt eine Anekdote, in der er während des Krieges den ganzen Tag so rumstand und die Jonier abends ihre Betten neben ihm aufschlugen, aus Neugier, wann er denn aus seinem tranceartigen Zustand wieder erwachen würde. Sokrates habe noch die ganze Nacht reglos dagestanden und als die Sonne aufging, habe er sein Morgengebet gesprochen und sei dann kommentarlos abmarschiert.

Der Prozess

Doch es wird langsam mal Zeit, uns dem Prozess zu widmen. Denn dieser Prozess ist so etwas wie der Gründungsmythos der Philosophie.

Wie bereits gesagt: Sokrates wurde im Jahr 399 v. Chr. angeklagt, die Jugend zu verderben, die schwächere Rede zur stärkeren zur machen und die Götter zu leugnen, stattdessen solle er neumodische Dämonen predigen. Wie kam es zu dieser Anklage? Schauen wir uns doch zunächst einmal die Ausgangslage an:

Ich sagte beim letzten Mal ja noch, dass die Athener cool waren mit gotteslästerlichem Zeug. Das stimmte auch, mehr oder weniger. Allerdings nur bis zum Jahr 432 v. Chr. Da setzten sich die Konservativen durch, denen das zu weit ging mit diesen neumodischen, radikalen und verlotterten Philosophen, die so komisches Zeug behaupteten, wie dass die Sonne ein glühender Stein sei. Und es wurde ein Gesetz gegen Gottlosigkeit erlassen.

Dann hatte ich ja schon erwähnt, dass Krieg herrschte. Von 431 v. Chr. bis 404 v. Chr. fand der Peleponesische Krieg statt. Und doof für Athen war, dass es am Ende gegen Sparta verlor. Athen war zu jenem Zeit eine Demokratie und das war den Spartanern ein Dorn im Auge. Ich meine: Puuh! Kann man sich was schlechteres vorstellen, als das Volk regieren zu lassen? Daher machten die Spartaner dem Spuk ein Ende und setzten „Dreißig Tyrannen“ ein, die jetzt erst einmal richtig aufräumen sollten in diesem Saustall. Doch bereits ein Jahr später, 404 v. Chr. gelingt es den Athenern, die Demokratie wieder zu reinstallieren und 399 v. Chr. schließlich wird Sokrates angeklagt.

Die Anklage

Die Anklage lautete, wie gesagt: Sokrates verderbe die Jugend, sei ein Worteverdreher und sei gottlos. Was ist da dran? Wenn wir der Darstellung von Platon in der Apologie des Sokrates glauben, dann gar nichts. Anderererseits … Der Anklagepunkt vom Verderben der Jugend ist nicht ganz von der Hand zu weisen, wenn man bedenkt, dass gleich drei Schüler des Sokrates antidemokratische Tendenzen zeigten: Alkibiades betrieb erst auf Seiten Athens Kriegstreiberei und wechselte dann mal eben flugs auf die Seite von Sparta, um gegen Athen Krieg zu führen. Kritias gehörte den dreißig Tyrannen an und auch Platon hasste die Demokratie und schrieb später mit dem Dialog „Der Staat“ gewissermaßen die Bibel der Feinde der offenen Gesellschaft.

Sokrates verglich die Politik gerne mit anderen Berufen und meinte, so wie man zum Schuhflicken einen ausgebildeten Schuster brauche, so brauche man zur Staatslenkung auch ausgebildete Staatsmänner und nicht vom Volk gewählte. So plausibel das im ersten Moment klingt, so problematisch ist diese Lehre, die später von Platon ausgebaut wurde. Denn zwar ist da etwas dran: Sicher sollte nur jemand Bundeskanzlerin werden, die auch weiß, wie man Gesetzesentwürfe formal richtig in den Bundestag einbringt. Aber andererseits geht diese Einstellung davon aus, dass es nur eine Art von Wissen gibt. Aber das ist nicht der Fall, denn Politik ist zunächst einmal Ethik: Hinter den allermeisten politischen Entscheidungen steht die Frage, wie wir leben wollen. Und bei der Antwort auf diese Frage gibt es kein richtig oder falsch im gleichen Sinne wie bei der Frage, ob 2 + 2 = 4 ergibt. Wie Sokrates dazu stand, das erzähle ich, wie gesagt, in den nächsten Folgen.

Aber fairerweise muss ich noch erzählen, dass Sokrates aus genau den gleichen Gründen aus denen er die Demokratie kritisierte auch ein Kritiker der 30 Tyrannen war, die er für genauso unqualifiziert hielt wie das Volk. Er soll sich sogar einmal offen einem Befehl der 30 widersetzt haben. Er sollte zusammen mit anderen einen Demokraten verhaften, doch statt dies zu tun ging Sokrates einfach nach Hause und nur der Sturz der Tyrannei ersparte Sokrates wohl einen noch früheren Tod.

Doch zurück zur Anklage: der zweite Vorwurf war, Sokrates würde die schwächere Rede zur stärkeren machen. Dazu muss ich etwas weiter ausholen. Es gibt eine vorsokratische philosophische Strömung, die „die Sophistik“ genannt wird. Und Sophisten lehrten unter anderem auch Rhetorik. Das war nützlich, da es in Athen keine Anwälte gab, sondern man sich vor Gericht genau wie Sokrates selbst verteidigen musste. Mit den richtigen winkeladvokatischen Kniffen und Tricks konnte man da seinen Kopf aus der Schlinge ziehen, oder in den Worten der unterlegenen Ankläger: Die schwächere Rede zur stärkeren machen. Von seinen Zeitgenossen wurde Sokrates zu den Sophisten gezählt wie uns das Theaterstück die Wolken berichtet, in dem Sokrates als Sophist eine große Rolle spielt. Und wir wissen auch, dass er unterrichtete, wenngleich er sich anders als die Sophisten nicht dafür bezahlen ließ.

Schließlich ist da noch der Vorwurf der Gottlosigkeit, auch mit dem scheint es im wahrsten Sinne des Wortes nicht allzu weit her zu sein. Zwar legte Sokrates während seines Prozesses in einer sehr sophistischen Argumentation dar, dass er nicht zugleich die Götter leugnen könne und neuartige Dämonen predigen, da jeder wisse dass Dämonen die Kinder der Götter sind. Nachdem dann aber das Todesurteil feststand, offenbarte er uns in seinen Abschlussworten seinen wahren Glauben: Der stets kritische Sokrates war Agnostiker, also nicht sicher, ob es Götter bzw. ein Leben nach dem Tod gibt oder nicht.

Ein Schauprozess

Also ist alles klar? Sokrates was schuldig im Sinne der Anklage? Nun … Der Punkt ist, dass Sokrates vielleicht formal die Anklagepunkte erfüllte, aber dass diese Anklagepunkte zugleich nur vorgeschoben waren. Denn in Wirklichkeit war Sokrates ein Pain in the Ass, eine echte Nervensäge, die Athener Oberschicht wollte ihn loswerden und suchte einen Grund dafür. Es spricht sogar einiges dafür, dass sie Sokrates gar nicht umbringen wollten, sondern sich mit seiner Verbannung oder einem Versprechen, dass er in Zukunft das Maul hält, zufrieden gegeben hätten: Denn der Prozess hatte zwei Phasen: Im Ersten Teil wurde Sokrates Schuld festgestellt und zwar äußerst knapp: Von 501 Richtern stimmten 281 für schuldig und 220 für unschuldig. Im zweiten Teil der Verhandlung ging es um die Festlegung des Strafmaßes und die Kläger plädierten für die Todesstrafe. Doch mit reuigen Worten und einem Versprechen sich zu bessern, hätte Sokrates bestimmt den Kopf aus der Schlinge ziehen können, oder … äh … den Schierling aus dem Becher. Aber Sokrates plädierte, dass die Strafe für ihn, entweder die Speisung im Prytaneion sein solle. Das war im damaligen Athen eine besondere Ehre und kam der heutigen Ehrenbürgerwürde gleich. Oder man solle ihm eine Geldstrafe von 30 Minen auferlegen. Das war wohl ein so lächerlich niedriger Betrag, dass Sokrates gewusst haben muss, dass die Richter ihn nicht akzeptieren würden.

Außerdem machte er klipp und klar, dass er gar nicht daran denke, in Zukunft nicht mehr seine nervigen Fragen zu stellen. Das führte dazu, dass am Ende sogar 361 Richter für seinen Tod stimmten. Also sogar noch einmal 80, die zuvor noch für unschuldig plädiert hatten. Wir können davon ausgehen, dass Sokrates bewusst war, dass sein Plädoyer auf die Todesstrafe hinauslief. Aber sich vom Tod freizukaufen, empfand er wohl als Eingeständnis seiner Schuld.

Doch selbst nach seiner Verurteilung zum Tode sah es nicht so aus, als wollten die Athener ihn wirklich hinrichten. Zunächst wurde die Hinrichtung aus religiösen Gründen verzögert und dann ermöglichten Verbündete Sokrates sogar noch die Flucht, aber Sokrates lehnte dies aus ethischen Gründen ab. Seiner Auffassung von Gerechtigkeit nach, wäre es Willkür gewesen, sich der Strafe zu entziehen und wenn die Athener der Meinung waren, dass das Urteil ungerecht sei, dann müssten sie die Gesetze ändern. So trank er den Schierlingsbecher und wurde zum ersten Märtyrer der Philosophie.

Aber warum waren die Athener so genervt von Sokrates? Das und noch vieles mehr, wie zum Beispiel die Frage, woher wir eigentlich von Sokrates wissen, wenn er nie etwas aufgeschrieben hat, das klären wir beim nächsten mal …

Literatur

Weitere Literaturangaben gibt es bei den nächsten beiden Teilen.

Bilderquellen

Alle Bilder, die ich verwendet habe und die nicht hier auftauchen, sind entweder gemeinfrei oder stammen von mir persönlich. Alle Angaben in chronologischer Reihenfolge.

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