Nach der langen Pause geht es heute nicht um Philosophie, sondern um einen Mythos: Atlantis. Was sagt ihr, wenn ich behaupte, dass es Atlantis nie gegeben hat? Stattdessen hat der Mythos eine Funktion im Rahmen der platonischen Philosophie. Hört selbst!
Heute soll es hier mal nicht um Philosophie gehen sondern um einen Mythos. Ab dem nächsten Mal werden wir uns Platons Ethik und seiner politischen Philosophie widmen. Das wird ein neuer großer Themenblock. Doch davor möchte ich noch ein kleines und leichtes Thema hier behandeln: Atlantis. Ihr alle kennt sicher den Mythos von Atlantis, der untergegangenen Zivilisation. Aber wusstet ihr, dass das eine Erfindung von Platon ist? Hier ansehen oder darunter lesen:
Die Quellenlage
Es gibt für die Existenz dieser Insel keine anderen Quellen als zwei Dialoge von Platon: Kritias und Timaios. Beide Dialoge stammen aus Platons Spätwerk. Der Timaios befasst sich hauptsächlich mit Platons Naturphilosophie. Auf der erzählerischen Ebene schließt er an den Dialog „Der Staat“ an. Die gleichen Gesprächspartner kommen am nächsten Tag wieder zusammen. Nachdem Sokrates im Dialog „der Staat“ eben den idealen Staat entworfen hat, möchte er nun prüfen, wie er sich im Kriegsfall bewährt. Allerdings wird dies dann im Timaios zunächst noch zurückgestellt und wie schon erwähnt die Naturphilosophie besprochen. Die Prüfung des idealen Staates wollte Platon stattdessen im Dialog Kritias abhandeln. Dieser Dialog blieb allerdings unvollendet.
Was Platon über Atlantis zu sagen hat
Schauen wir doch einfach mal, was Platon in den beiden Dialogen zu Atlantis zu sagen hat: Er lässt Kritias dort erzählten dass es eine ägyptische Überlieferung gibt, wonach vor damals 9.000 Jahren (also vor mehr als 11.000 Jahren von uns aus betrachtet) sich Athen im Krieg mit Atlantis befand. Als Hintergrund: Das war die Epoche der Jungsteinzeit. Wir wissen heute, dass die Menschen damals erst anfingen, den Ackerbau zu erfinden und so aus nomadischen Jägern und Sammlern die ersten sesshaften Dorfgemeinschaften wurden.
Zurück zu Platon: Die Überlieferung von Atlantis soll Kritias von seinem Großvater erzählt bekommen haben, die der wiederum vom legendären Athener Staatsmann Solon gehört hat, der sie in Ägypten von einem Priester aufgeschnappt hat. Nun, das ist ja nicht unbedingt das, was wir eine sichere Quellenlage nennen würden …
Eine Insel vor den Säulen des Herakles
Atlantis war dem Mythos zufolge eine Insel „vor den Säulen des Herakles“, die aber mittlerweile im Meer versunken ist. Die Säulen des Herakles nennen wir heute den Felsen von Gibraltar und den Berg Dschebel Musa in Marokko – sie fassen die Straße von Gibraltar ein, die Grenze zwischen Mittelmeer und Atlantik. Der Legende nach soll Herakles an ihnen die Inschrift „Nicht mehr weiter“ angebracht haben, um das Ende der Welt zu markieren. Langer Rede kurzer Sinn: Atlantis soll eine Insel im – wait for it – Atlantik gewesen sein! Nein! Doch! Oh!
Kritias erzählt, dass es eine mächtige Seemacht war, die große Teile des Mittelmeers beherrschte, viele Inseln, Westeuropa bis Mittelitalien, das heutige Libyen und Teile Ägyptens sowie des Nahen Ostens. Atlantis habe versucht, auch Griechenland zu erobern, aber den Athenern gelang es, die Großmacht abzuwehren. Ich stelle mir das lustig vor, wie diese große Seefahrernation von einem Haufen Steinzeitmenschen mit Knüppeln und Steinäxten vermöbelt wurde. Anyway … Kurz nach dieser Niederlage sei dann Atlantis binnen nur eines Tages und einer Nacht bei Erdbeben total zerstört worden und im Meer versunken.
Die Insel soll reich gewesen sein und größer als die in der Antike bekannten Teile Nordafrikas und des Nahen Ostens zusammen. Die Insel war fruchtbar und die Atlanten verfügten über eine fortgeschrittene Landwirtschaft. Die Hauptstadt war unglaublich prächtig, supersymmetrisch und wies merkwürdige Ähnlichkeiten mit der griechischen Kultur in Platons Tagen auf. Wie jeder, der in der Antike was auf sich hielt, stammten das Volk von Atlantis natürlich von einem Gott ab, nämlich von Poseidon, dessen Halbgottsohn Atlas der Herrscher in Atlantis war.
Die Niederlage gegen Athen und die anschließende Vernichtung von Atlantis sei eine Strafe der Götter gewesen, da die Atlanten zum einen ihr göttliches Blut mehr und mehr mit dem widerlichen Blut von Menschen vermischt hatten – Also mit Menschen in die Kiste gesprungen sind. Ekelhaft! Zum anderen wollten die Götter auch die Hybris der Atlantisbewohner bestrafen.
Hat es Atlantis wirklich gegeben?
Das ist es im großen und ganzen, was Platon uns von Atlantis berichtet. Was können wir als Philosophen damit anfangen? Und vor allem: Hat es Atlantis tatsächlich gegeben? Nun, Platon lässt Kritias mehrfach betonen, dass es sich um eine wahre Überlieferung handelt. Aber warum ist dann Platon unsere einzige Quelle für dieses sagenumwobene Land? Dieser glorreiche Sieg der Athener über Atlantis wäre doch sicher in Mythen und Legenden überliefert worden genau wie der Sieg über Troja. Platon behauptet, dass verschiedene Naturkatastrophen in Griechenland dazu geführt haben, dass sämtliche Aufzeichnungen vernichtet wurden. Klingt jetzt nicht sooo überzeugend.
Aber der wichtigste Grund, der gegen die Existenz von Atlantis spricht, ist ein anderer. Erinnert euch mal daran, was ich euch in beim Symposion über die Funktion des Mythos bei Platon erzählt habe: Platon erzählt immer wieder Mythen in seinen Dialogen und zwar oft dann, wenn er einen vertrackten Punkt in seiner Argumentation erreicht und von uns Lesern etwas Wohlwollen haben möchte. Nicht ohne Grund lässt er die Geschichte von Kritias vortragen, der sie von seinem Opa hat, der sie von einem Kumpel hat, der sie von einem ägyptischen Priester hat, der sie aus alten Texten übersetzt hat. Das heißt im Rahmen der Platonischen Dialoge nichts anderes als: Nehmt das, was ich euch gleich erzähle, nicht für bare Münze, es ist nur eine Beispielgeschichte. Mit dem Mythos vom Kugelmenschen und dem Höhlengleichnis haben wir auch bereits zwei weitere solche Beispielmythen kennengelernt. Glaubt ihr wirklich, dass Platon der Überzeugung war, dass wir einst Kugelmenschen waren und alle in eine Höhle sitzen? Das sind Allegorien. So wie etwa Matrix eine Allegorie ist und wir nicht buchstäblich Batterien für Maschinen sind … Was BTW überhaupt keinen Sinn macht, da man viel mehr Energie in menschliche Körper stecken muss, als man herausholen kann! Aber ich schweife ab …
Die Frage ist, welche Funktion hatte der Mythos? Dadurch, dass der Dialog Kritias unvollendet blieb, ist das natürlich nicht abschließend zu beantworten. Aber im Großen und ganzen geht es eben um ein Bild für den perfekten Staat und seine Probleme. So wie die Welt der Erscheinungen nur ein fehlerhaftes Abbild der perfekten Urbilder im Reich der Ideen ist, so sind die Staaten zu Platons Tagen nur fehlerhafte Abbilder des perfekten Urstaats Atlantis. Die Frage, die sich direkt hieran anschließt, lautet: Was macht denn diesen perfekten Staat aus? Und darum werden wir uns ab dem nächsten Mal kümmern, denn es ist nach der Ideenlehre der am meisten diskutierte Punkt in Platons Philosophie.
Die Quellen sind die gleichen wie bei den letzten 14 Texten zu Platon. 😉
Hier bekommt ihr einen kleinen Prolog zur nun startenden Platon-Staffel meines YouTube-Kanals. Unter dem Video findet ihr, wie immer ein Transkript und die Angaben zu den Bilderquellen.
Na, dachtet ihr schon, ich hätte dieses Projekt aufgegeben? Nein? Gut so, denn ich habe das Gegenteil getan, ich war sehr fleißig und habe für euch 32 Folgen zu Platon vorbereitet. Ja, ihr habt richtig gehört: 32 Folgen und vielleicht ergibt es sich unterwegs, dass ich noch die eine oder andere Folge einschieben muss. Natürlich ist das ein gewaltiger Sprung von vier Folgen zu Sokrates auf 32 Folgen zu Platon. Aber dass muss so, den Platon ist nicht bloß der erste Philosoph, von dem wir fast das komplette Lebenswerk überliefert bekommen haben, er war auch ein verdammtes Genie und ich hatte ihn in der Sokrates-Staffel nicht ohne Grund den „Philosophenkönig“ genannt.
Platons Bedeutung für die westliche Philosophie lässt sich gar nicht überschätzen. Der Philosoph Alfred North Whitehead brachte dies einmal prägnant mit folgendem Zitat auf den Punkt:
„Die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas lautet, daß sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht.“
Platon ist für die Philosophie das, was Pelé für den Fußball war, Michael Jordan für den Basketball, Churchill für den zweiten Weltkrieg, Leonardo da Vinci für die Kunst, Counter Strike für die Egoshooter, Tempo für die Taschentücher oder Sascha Lobo für die Netzgemeinde.
Es gibt Philosophen, die ich lieber mag, aber keinen Philosophen, der wichtiger ist. Einige Fachmenschen schätzen Aristoteles‘ Beitrag zur Philosophie noch höher ein, aber niemand kann bestreiten, dass schon Ari viele seiner Theorien nur als Antwort auf Platon entwickelt hat.
Wir werden bei weitem nicht alle philosophischen Themen hier angucken, mit denen Platon sich auseinandergesetzt hat, aber wir werden die wichtigsten Stationen nacheinander kennenlernen und ihr werdet sehen, wie ein ums andere Mal Platons geniale Gedanken der Ausgangspunkt waren für Debatten, die bis heute anhalten.
Ich werde erzählen, was wirklich hinter Klassikern wie dem Höhlengleichnis und der Platonische Liebe steckt, wir werden Platons Beitrag zu den drei großen Disziplinen der Philosophie besprechen: der Erkenntnistheorie, der Ethik und der Ästhetik. Wir werden eingehend die bahnbrechende Ideenlehre von Platon anschauen und ich werde Platons politische Philosophie hart kritisieren. Wir werden sehen, ob es Platon gelingt, zu beweisen, dass die Seele unsterblich ist oder dass Gott existiert, wir werden seine Sprachphilosophie, seine Schriftkritik und sogar so etwas abwegiges wie den Atlantis-Mythos unter die Lupe nehmen. Aber beginnen möchte ich in der nächsten Folge wie schon bei Sokrates mit dem Lebenslauf, denn schon der ist so kurios, dass ich auf eine Verfilmung durch die Coen-Brothers warte.
Bilderquellen
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