Sie sind Flüchtlinge

Täglich erreichen uns Zahlen, wie viele tausend Flüchtlinge wieder in Deutschland angekommen sind. Und ein paar dumme Menschen reagieren darauf mit Angst und Anschlägen auf die Schwächsten der Schwachen. Ich kann nur erahnen, was es heißt, meine Heimat zu verlassen, weil Krieg und Not mich vertreiben. Und es ist allzu einfach, nach unten zu treten, solange Flüchtlinge nur Zahlen sind, die uns Angst machen. Aber Vertriebene sind Menschen mit Gesichtern und Geschichten. Und die Flucht vor Krieg, Leid und Verfolgung ist auch kein neues Phänomen sondern existiert so lange, wie es Menschen gibt. Aus der Idee heraus, dem anonymen Flüchtling statt einer Zahl ein Gesicht zu geben, habe ich mal in die Geschichte geblickt und will euch die Gesichter und Geschichten von 25 berühmten Vertriebenen zeigen.

René Descartes wanderte 1629 in die Niederlande aus

Frans Hals - Portret van René Descartes
1596 – 1650

Der französische Philosoph René Descartes ist der Begründer der neuzeitlichen Philosophie. Sein „Ich denke, also bin ich“ kennt wahrscheinlich fast jeder. Mit seiner Methode des radikalen Zweifels überwandt er das starre und vom Christentum dogmatisierte Skelett der mittelalterlichen Philosophie, wo man sich nur so Fragen stellen durfte, wie „Woraus bestehen wohl die Flügel von Engeln?“. Jedenfalls war dieser radikale Skeptizismus seinem Heimatland Frankreich zu radikal, daher musste Descartes in die Niederlande gehen.

Heinrich Heine wanderte 1831 nach Frankreich aus

Heinrich-heine 1
1797 – 1856
Heinrich Heine war einer der wichtigsten Schriftsteller und Dichter des 19. Jahrhunderts. Die Wikipedia sagt, er habe die Romantik „überwunden“. Ich hoffe, das passiert mir nie! Jedenfalls war Heine eine ziemlich linke Socke, die sich stets über die Preußen lustig machte, die damals in seiner Heimat, dem Rheinland, das Sagen hatten. Das brachte ihm viel Ärger ein und seine Werke wurden zensiert, weshalb Heine nach Paris auswandern musste, um dort ungehindert weiter veröffentlichen zu können. Wie sehr er darunter gelitten hat, von seiner Familie getrennt zu sein, berichten seine Gedichte aus der Zeit, zum Beispiel die Nachtgedanken.

Kurt Tucholsky wanderte 1929 nach Schweden aus

TucholskyParis1928
1890 – 1935
Tucholsky ist eine der tragischsten Flüchtlingsgeschichten rund um Nazideutschland. Denn der satirische Schriftsteller hat während der Weimarer Republik immer massiv mit der Feder gegen die Nazis gekämpft. Er hat stets versucht, die Deutschen aufzurütteln und ihnen klarzumachen, auf welche Katastrophe sie da zusteuern. In Deutschland wurde er dafür immer wieder von den Nazis angegriffen. Das hielt er 1929 nicht mehr aus und ging nach Schweden. Der unter starken Depressionen leidende Schriftsteller verstummte schließlich ganz, als alles einzutreten begann, wovor er gewarnt hatte. Bis heute ist nicht klar, ob er sich das Leben genommen hat, oder die Überdosis Schlaftabletten ein Unfall waren. Das war der letzte Eintrag in seinem Tagebuch:
Tucholskys letzter Tagebucheintrag

 

Marlene Dietrich wanderte 1930 in die USA aus

Bundesarchiv Bild 102-14627, Marlene Dietrich
1901 – 1992
Die Dietrich war wahrscheinlich der größte Star des deutschen Kinos. Und ursprünglich ging sie aus Karrieregründen nach Hollywood und war gar nicht politisch verfolgt. Daher versuchten die Nazis sogar, sie für ihre Propaganda-Maschine zurückzugewinnen. Doch da hatten sie aufs falsche Pferd gesetzt. Zu viele Freunde und Kolleginnen aus Deutschland hatten vor den Barbaren fliehen müssen. Daher legte sie 1939 die deutsche Staatsbürgerschaft ab und unterstützte seitdem die US-Armee beim Kampf gegen Deutschland. Als sie 1960 erstmals nach Deutschland zurückkehrte, wurde sie dafür als Vaterlandsverräterin beschimpft. Wie nett!

Albert Einstein wanderte 1932 in die USA aus

Albert Einstein in later years
1879 – 1955
Der vielleicht wichtigste Physiker der Geschichte war seit 1932 eigentlich nur vorübergehend in den USA, als 1933 die Nazis die Herrschaft antraten. Als Jude war Einstein der Rückweg versagt, seine Werke wurden Opfer der Bücherverbrennung (Klar, diese Relativitätstheorie war ja auch voll antideutsch!!!111einself), er wurde ausgebürgert und aus dem Pazifisten Einstein wurde ein Befürworter der Atombombe. Traurig.

Bertolt Brecht floh 1933 über Frankreich, Dänemark, Schweden und Finnland in die USA

Bertolt-Brecht
1898 – 1956
Dass der alte Bert Brecht auch so eine linke Socke war, brauche ich ja niemandem zu erzählen. Aber wusstet ihr auch, dass ab 1930 die paramilitärischen Nazitruppen begannen, seine Theateraufführungen zu stören? 1933 gab Brecht auf und floh nach Frankreich. Von dort ging es noch weiter nach Dänemark. Doch als der Krieg ausbrach, fühlte er sich dort auch nicht mehr sicher und ging 1939 nach Schweden und 1940 nach Finnland. Bis es ihm endlich 1941 gelang einen Ozean zwischen sich und seine Verfolger zu bringen und er in die USA floh.

Billy Wilder floh 1933 über Frankreich in die USA

Billy Wilder - Kamerablick - Boulevard der Stars cropped
1906 -2002
Billy Wilder hat so Klassiker geschaffen wie Manche mögen’s heiß und Zeugin der Anklage. Das berühmteste Bild von Marilyn Monroe (das mit dem Rock) geht auf sein Konto. Wilder war österreichischer Jude. Und als die Nazis 1933 von den Deutschen an die Macht gewählt wurden arbeitete er in Berlin, was ja eines der wichtigsten Filmproduktionszentren der 1920er gewesen war. Wilder ahnte, was ihn erwartete und packte seine Koffer. Zunächst ging es nach Paris und 1934 dann in die USA, wo er seine Weltkarriere erst richtig durchstartete.

Hannah Arendt floh 1933 über Tschechien, Italien, die Schweiz, Frankreich und Portugal in die USA

1906 – 1975 (Es gab kein legales Bild)
Hannah Arendt ist wahrscheinlich die wichtigste politische Philosophin des 20. Jahrhunderts. Mit ihrer Berichterstattung vom Eichmann-Prozess hat sie zudem einen der wichtigsten Beiträge zur Aufarbeitung des Holocausts geschrieben. Und sie hatte die vielleicht dramatischste Flucht aller hier versammelten. Die Nazis trieben sie quasi vor sich her und zwischenzeitlich war sie sogar in einem Internierungslager in Frankreich gefangen. Doch ihr gelang die Flucht und über Portugal erreichte sie schließlich den sicheren Hafen in den USA.

Thomas Mann wanderte 1933 über die Schweiz in die USA aus

Thomas Mann 1929
1875 – 1955
Der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann hatte auch schon vor der sogenannten „Machtergreifung“ der Nazis vor einem NS-Regime gewarnt. Zwar blieben seine Bücher von der Bücherverbrennung verschont, nicht aber die seines Bruders und seines Sohnes. Daher ging die Familie Mann 1933 erst in die Schweiz und von dort 1939 in die USA. Auch von den USA aus kämpfte er mit seinen Mitteln gegen die Nazis, indem er Reden einsprach, die auf Schallplatte aufgezeichnet und dann von der BBC nach Deutschland hinein ausgestrahlt wurden. In diesen Reden versuchte Mann die Deutschen von ihrem Irrsinn zu überzeugen. Wie wir wissen, leider vergeblich.

Willy Brandt wurde 1934 erst nach Norwegen und später nach Schweden vertrieben

Bundesarchiv B 145 Bild-F057884-0009, Willy Brandt
1913 – 1992
Der spätere Bundeskanzler und Friedensnobelpreisträger war in der Weimarer Republik erst SPD und dann SAPD-Mittglied gewesen und hatte auch zunächst in Deutschland und ab 1934 dann von Norwegen aus versucht einen Widerstand gegen die Nazis zu organisieren. Als die Nazis 1940 Norwegen besetzten, geriet Brandt in Kriegsgefangenschaft. Da die Wehrmacht aber nicht erkannte, wen sie da festgenommen hatten, konnte er entkommen und nach Schweden fliehen.

Theodor W. Adorno floh 1934 über Großbritannien in die USA

Adorno
1903 – 1969
Adorno ist einer der wichtigsten Soziologen des 20. Jahrhunderts. Er war Mitbegründer der kritischen Theorie und verhalf der Frankfurter Uni mit der Frankfurter Schule zu Weltruhm. Da er einen jüdischen Vater hatte, wurde er zum Teil des großen deutschen Braindrains und da die Briten nicht erkannten, welches Juwel ihnen da zugewandert war, ging es für Adorno 1938 weiter in die USA.

Karl Popper wanderte 1937 nach Neuseeland aus

Karl Popper2
1902 -1994
Noch so eine Hausnummer des Soziologie ist Karl Popper. Mit dem Falsifikationsprinzip geht die wahrscheinlich wichtigste Erkenntnis der Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts auf ihn zurück. Außerdem war er immer leidenschaftlicher Demokrat und hat mit der „Offenen Gesellschaft und ihre Feinde“ so etwas wie die Bibel der Demokratie geschrieben – absolut lesenswert. Als Demokrat und Kind jüdischer Eltern erkannte der Österreicher 1937, dass der „Anschluss“ Österreichs an NS-Deutschland bevorstand und folgte einem Ruf nach Christchurch, Neuseeland.

Ludwig Wittgenstein wanderte 1938 nach Großbritannien aus

LudwigWittgenstein
1889 – 1951
Wittgenstein gehört wahrscheinlich zu den fünf größten Philosophen des 20. Jahrhunderts, wenn nicht gar aller Zeiten. Er hat einige der wichtigsten Erkenntnisse der formalen Logik und der Sprachphilosophie errungen und ist einer der Hauptvertreter des Linguistic Turns. Im ersten Weltkrieg hatte der olle Ludwig noch für Österreich gekämpft, doch als Jude wurde er dann 1938 während einer Irland-Reise vom „Anschluss“ Österreichs an Deutschland überrascht und zog es vor, nach Großbritannien auszuwandern. Während des zweiten Weltkriegs hielt er es nicht aus, als Philosophieprofessor zu arbeiten, während andere gegen die Nazis kämpften und arbeitete freiwillig als Pfleger in einem Hospital.

Sigmund Freud wurde 1938 nach Großbritannien vertrieben

Sigmund Freud Anciano
1856 -1939
Der nächste österreichische Jude, der unter der Anexion Österreichs zu leiden hatte, war Sigmund Freud. Freuds Lehre ist zwar umstritten, dennoch ist er fraglos der Urvater der Psychologie. Bereits 1933 wurden seine Bücher verbrannt, als 1938 die Nazis in Österreich an die Macht kamen, bekam Freud regelmäßig Besuch von der Gestapo. Zum Glück gelang es ihm, nach Großbritannien zu gelangen. Doch dort starb er nur ein Jahr später an Krebs.

Günter Grass geriet 1945 in Kriegsgefangenschaft und wanderte 1947 dann in die BRD ein

Nl-HaNA 2.24.01.05 932-1798 Günter Grass
1927 – 2015
Die CDU/CSU unterscheidet ja gerne zwischen Flüchtlingen und Vertriebenen. Ich nicht. Der Literaturnobelpreisträger Günter Grass war jung und dumm, als er 1943 der Wehrmacht und 1944 der SS beitrat. 1945 geriet er in amerikanische Kriegsgefangenschaft, aus der er 1947 entlassen wurde. Da seine alte Heimat Danzig nun in Polen lag, wo er als Nazi nicht länger erwünscht war, zog er nach Düsseldorf. Später wurde Grass Sozialdemokrat und linkspolitischer Autor. Auch wenn er im Greisenalter einige zweifelhafte Anwandlungen hatte.

Charlie Chaplin wurde 1952 die Wiedereinreise in die USA verwehrt, er wanderte in die Schweiz ein

Charlie Chaplin
1889 – 1977
Okay, es ist an der Zeit, den zweiten Weltkrieg hinter uns zu lassen und uns dem kalten Krieg zuzuwenden. DER Charlie Chaplin wurde dessen erstes berühmtes Opfer. Denn er wurde wegen seiner linken Gesinnung im Rahmen der Kommunistenhetze in den USA verfolgt. Und als der in den USA lebende Brite 1952 auf einer Reise auf die Insel war, verweigerten die USA ihrem größten Hollywoodstar die Wiedereinreise und Chaplin musste in die Schweiz ins Exil gehen.

Dieter Hallervorden wanderte 1958 in die BRD aus

Hallervorden
* 1935
Der Kabarettist Hallervorden war DDR-Bürger. Doch als die Einschränkungen der Meinungsfreiheit immer größer wurden, sah er sich nicht mehr in der Lage, seiner Profession nachzugehen. Daher machte er rüber …

Der (14.) Dalai Lama floh 1959 nach Indien

Dalai Lama at Syracuse University 01
*1935
Wer der Dalai Lama ist, brauche ich nicht zu erklären, oder? Das geistige Vorbild von (tibetischen) Buddhisten und Poesiealbumsschreibern halt … 1950 wurde sein Heimatland von China anektiert. Die kommunistischen Chinesen hatten so ihre Probleme mit den religiösen Tibetern und behandelten sie entsprechend schlecht. Daher brach 1959 ein Aufstand der Tibeter aus, der von China niedergeschlagen wurde und in dessen Zuge der Dalai Lama fliehen musste.

Freddie Mercury floh 1946 nach Großbritannien

Freddie Mercury performing in New Haven, CT, November 1977
1946 – 1991
Wusstet ihr, dass der Sänger der Band Queen nicht bloß euch rocken oder Bicycle fahren wollte, sondern aus Sansibar stammte? 1946 kam es dort zur Revolution und seine Eltern flohen mit ihrem 17-jährigen Sohn vor dem Blutvergießen nach Großbritannien.

Isabel Allende floh 1975 nach Venezuela und lebt seit 1988 in den USA

Isabel Allende - 001
* 1942
Die chilenische Bestseller-Autorin Isabel Allende ist die Nichte des früheren chilenischen Präsidenten Salvador Allende. 1975, nach dem Putsch durch Augusto Pinochet und der Ermordung Salvador Allendes floh Isabel nach Venezuela. Seit 1988 lebt sie ausgerechnet in den USA, deren CIA tatkräftig an der Ermordung ihres Onkels mitgewirkt hat. Leben im Exil ist eben immer schwierig.

Nina Hagen wanderte 1976 nach Großbritannien aus und kam 1986 in die BRD

NINA HAGEN 1981
* 1955
Nina Hagen hatte zwar den Farbfilm vergessen, aber nicht, dass sie mit Wolf Biermann befreundet war. Als dieser von der DDR zwangsausgebürgert wurde, bekundete Hagen öffentlich Solidarität mit Biermann, was zu Repressionen gegen sie führte, weswegen sie 1976 nach Großbritannien auswandern musste. Ab 1986 beschied sie sich dann mit einem Leben in der BRD.

Bob Marley floh 1976 nach Großbritannien

Bob Marley emancipated from mental slavery 1
1945 – 1981
1976 wollte der Großmeister des Reggeas in Jamaika auf einem Friedenskonzert der sozialdemokratischen PNP auftreten. Zwei Tage vorher drangen Bewaffnete, mutmaßlich im Auftrag der rechtsradikalen Partei JLP in sein Haus ein und schossen auf ihn und seine Familie. Seine Frau und sein Manager wurden schwer verletzt. Marley selbst wurde leicht verletzt, ließ es sich trotz des Mordanschlags nicht nehmen, das Konzert zu geben und kehrte anschließend Jamaika den Rücken, um nach Großbritannien zu gehen. Trotz des Regens da!!!

M. I. A. floh 1986 nach Großbritannien

Flickr - moses namkung - M.I.A. 2
*1975
Kennt ihr die aus Sri Lanka stammende Sängerin M.I.A.? Nein? Dann solltet ihr sie kennenlernen, es lohnt sich. Die Tamilin wurde 1986 wegen eines Bürgerkriegs in ihrem Heimatland nach Großbritannien vertrieben.

Herta Müller floh 1987 nach Westberlin

Herta Müller 1
*1953
Die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller gehörte zur deutschen Minderheit in Rumänien. Nachdem sie lange mit Zensur zu kämpfen hatte, gelang ihr 1987 endlich die Ausreise nach Westberlin, wo sie seither leben und schreiben kann.

Edward Snowden floh 2013 über Hongkong nach Russland

Edward Snowden-2
*1983
Tja, kennt ihr alle, wah? 2013 verrät uns Edward Snowden, dass wir alle von der NSA überwacht werden. Dafür wird er von den USA politisch verfolgt und landet nach einer Flucht über Hongkong in Russland. Wo er sicher ein ähnliches Grummeln im Bauch haben wird, wie Isabel Allende in den USA.

Das war meine kleine, viel zu kurze Liste. Ihr alle kennt sicher noch mehr Gesichter von Flüchtlingen. Teilt sie mit uns!

Bilderquellen

  • Edward Snowden von Laura Poitras / Praxis Films [CC BY 3.0], via Wikimedia Commons
  • Herta Müller von Lesekreis (Own work) [CC0], via Wikimedia Commons
  • M.I.A. von Moses (M.I.A. 2) [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons
  • Bob Marley von Caspiax [Public domain], via Wikimedia Commons
  • Nina Hagen von Dirk Herbert (Dirk Herbert) [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons
  • Isabel Allende von Mutari (Own work) [Public domain], via Wikimedia Commons
  • Freddie Mercury von FreddieMercurySinging21978.jpg: Carl Lender derivative work: Lošmi (FreddieMercurySinging21978.jpg) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons
  • Dalai Lama von VOA [Public domain], via Wikimedia Commons
  • Dieter Hallervorden von Der Sascha (Own work) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons
  • Charlie Chaplin von P.D Jankens (Fred Chess) [Public domain or Public domain], via Wikimedia Commons
  • Günter Grass von Marcel Antonisse, Anefo [CC BY-SA 3.0 ], via Wikimedia Commons
  • Sigmund Freud von David Webb from Alicante, Spain (Sigmund Freud Uploaded by Viejo sabio) [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons
  • Ludwig Wittgenstein von phil.uu.nl [CC0], via Wikimedia Commons
  • Karl Popper von Lucinda Douglas-Menzies link [No restrictions], via Wikimedia Commons
  • Theodor W. Adorno von Jeremy J. Shapiro [CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons
  • Willy Brandt von Bundesarchiv, B 145 Bild-F057884-0009 / Engelbert Reineke / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de], via Wikimedia Commons
  • Thomas Mann von Nobel Foundation [Public domain], via Wikimedia Commons
  • Billy Wilder von Billy_Wilder_-_Kamerablick_-_Boulevard_der_Stars.jpg: Times derivative work: Johannes Vogel [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons
  • Bertold Brecht von Bundesarchiv, Bild 183-W0409-300 / Kolbe, Jörg / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de], via Wikimedia Commons
  • Albert Einstein von John D. Schiff [Public domain], via Wikimedia Commons
  • Marlene Dietrich von Bundesarchiv, Bild 102-14627 / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de], via Wikimedia Commons
  • Kurt Tucholsky von Sonja Thomassen (Sonja Thomassen) [GFDL 1.2], via Wikimedia Commons
  • Heinrich Heine von Sonja Thomassen (Sonja Thomassen) [GFDL 1.2], via Wikimedia Commons
  • René Descartes nach Frans Hals (1582/1583–1666) [Public domain], via Wikimedia Commons

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Harry Potter und die Löcher des Plots

Gleis 9 3/4.
Gleis 9 3/4. Foto von SoxFan. Lizenz: CC-BY-SA-3.0.

Ich bin ein riesiger Harry-Potter-Fan. Ich habe die ganze Reihe schon mindestens drei Mal gelesen und mich mit der Dame gestritten, wer unserer Tochter (6) die Geschichte vom kleinen Zauberer mit der Blitznarbe vorlesen darf. Ich habe den Streit gewonnen. Mit dem Expelliarmus-Spruch. Natürlich. In diesem Advent war es endlich so weit. Meine Tochter (6) hatte endlich die geistige Reife erreicht, es mit den Schrecken und Freuden des ersten Bandes auf sich zu nehmen.

Das stellt uns natürlich vor ein Problem der künstlichen Verknappung: Wir haben damals Joanne K. Rowlings Schreibprozess mitbekommen. Kinder der 90er wuchsen gemeinsam mit Harry auf und konnten so die allmähliche Verschärfung der Story gewissermaßen natürlich miterleben. Kinder von heute hingegen stehen vor dem Problem, dass sie nach Band 1 unbedingt wissen wollen, wie es weitergeht, Band 2 und vielleicht auch 3 noch verkraften könnten, aber spätestens mit dem Ende von Band 4 die Geschichte so düster zu werden beginnt, dass ich sie noch nicht einer Sechsjährigen zumuten würde. Daher haben wir – meine Tochter und ich – die Vereinbarung getroffen, dass wir jedes halbe Jahr ein Buch lesen.

Spoiler Alert

Falls du, lieber Leser, in den letzten zwanzig Jahren tatsächlich unter einem Stein gelegen hast, beachte bitte: Ich werde spoilern…

Der Janusköpfige Auftakt des Epos

Diesen Advent ging es also los mit „Der Stein der Weisen“*. Und wisst ihr was? Es ist wahrlich verwunderlich, dass HP nach diesem Auftakt ein solcher Welterfolg wurde. Dem überdrehten Beginn mit den Dursleys, die sich den Briefen aus Hogwarts verweigern, kann ich noch einiges abgewinnen, auch wenn er stilistisch eigentümlich aus der Reihe rausfällt und eher zu Kishon, Tucholsky oder Lem passen würde. Das Buch wirkt wie zwei Geschichten: Erst die Satire um die spießige Familie, die das Waisenkind in grimmscher Manier schlecht behandelt. Jedoch kommen die Dursleys ihrer Vernachlässigung auf so überzogene Art und Weise nach, dass nicht recht Kummer über Harrys grausames Schicksal aufkommen mag. Dann kommt plötzlich der Umschwung, Harry taucht in die magische Welt ein und das Buch verliert jede Form von Satire, sondern nimmt sich und seine Protagonisten mit einem Mal sehr ernst.
Aber wie gesagt: Das finde ich zwar bemerkenswert aber nicht verwerflich. Was mich hingegen wahrlich stört, ist das Finale. Es steckt so voller Plottlöchern, dass ich es nicht ernst nehmen kann und dass es J. K. Rowling auch nicht würdig ist – zumal sie einige sehr schöne epische Vorausdeutungen auf den großen Erzählbogen in den ersten Band packt.

Wibbly Wobbly Timey Wimey

Fangen wir an: Der Stein der Weisen wurde nach Hogwarts gebracht, weil er in Gefahr ist. Woher Dumbledore und Nicholas Flamel (der Besitzer des Steins) das wissen, wird uns vorenthalten, denn der erste Versuch den Stein zu stehlen, findet ja erst statt, nachdem er aus der Bank Gringotts geholt wurde, um ihn noch sicherer aufzubewahren. Gut, das könnte ich noch akzeptieren, bei Doctor Who würde das mit „Wibbly Wobbly Timey Wimey“ begründet.

Aber warum wird der Stein nach Hogwarts gebracht? Ist eine Schule wirklich der beste Ort um ein Objekt aufzubewahren, auf das es jemand (mutmaßlich der gefährlichste Schwarzmagier aller Zeiten) abgesehen hat? Hagrid liefert uns die Begründung, dass Hogwarts „der sicherste Ort der Welt“ wäre. Fragt sich, wie schrecklich diese Welt ist. Denn so unglaublich sicher kann es in Hogwarts nicht sein, wenn da zum Beispiel einfach mal ein Troll ausgesetzt werden kann… Ich meine: so einen Troll bringst du ja nicht mal eben in der Hosentasche mit, oder? Irgendwo muss das Vieh doch herkommen… Und keiner hat’s gesehen?!?
Im weiteren Verlauf der Reihe erfahren wir zwar noch von Zauberbännen und ähnlichem (Wibbly Wobbly Timey Wimey) Gedöns, das Hogwarts schützt, aber nicht im ersten Band. Da steht erstmal nur, dass Hogwarts so unglaublich sicher ist. Doch die Sicherheitsvorkehrungen, die wir dann im Laufe des Buches kennenlernen, sind alle so billig, dass Erstklässler sie überwinden können. WTF?
Der ganze Plott des Heist of the Stone ist – so wird uns erzählt – überhaupt nur möglich, weil Dumbledore nicht da ist, sondern mit seinem Besen zum Ministerium geflogen ist. Dorthin wurde er gelockt durch eine falsche Nachricht. Mensch, wäre das praktisch, wenn Dumbledore hätte schneller reisen können. Etwa mit so etwas ausgefuchsten, wie einem Netzwerk von Kaminen oder wenn er sich gar hätte beamen können („apparieren“ im Potter-Jargon). Man merkt hier wie öfter mal, dass Rowling sich so manches Element ihrer Welt erst „on the fly“, im Laufe der Jahre beim Schreiben ausgedacht hat. Making up the rules as we go along. Zwar könnte man den Beginn des Buches und Dumbledores allererstes Erscheinen so deuten, als hätte er sich appariert, aber ich glaube nicht, dass Rowling den Satz:

„An der Ecke, die sie beobachtet hatte, erschien ein Mann, so jäh und lautlos, als wäre er geradewegs aus dem Boden gewachsen.“

wirklich schon so meinte, dass sie dort das Apparieren andeutet, das sie dann aber erst in Band 5 einführt. Ich glaube eher, der Satz sollte in die Stimmung etwas Wibbly Wobbly Timey Wimey reinbringen. Wir haben mit Dumbledore natürlich das klassische Superheldenproblem: Er wird uns als nahezu allmächtig beschrieben. Also muss seine Macht irgendwie künstlich begrenzt werden, damit überhaupt eine spannende Geschichte möglich wird. Zu dieser Begrenzung – Dumbledores Kryptonit – erwählt Rowling seine Abwesenheit. Aber genau das finde ich eben höchst unplausibel…

Erstklässlerhindernisparkour

Kommen wir zu den Fallen, die den Stein schützen: Dumbledores Trick mit dem Spiegel, das Schachbrett von McGonagall und Hagrids dreiköpfiger Hund sind die einzig würdigen Schutzmechanismen. Alle anderen sind einfach nur billig. Unsere drei Protagonisten kommen an dem Hund vorbei, weil sie dem naivem Hagrid das Geheimnis entlockt haben, dass das Vieh einschläft, sobald es Musik hört. Sogar wenn diese Musik von ungeübten Flötenspielern stammt. Daraufhin treffen Harry, Ron und Hermine auf Professor Sprouts Falle: Eine Pflanze, deren Bekämpfung auf dem Lehrplan für das erste Schuljahr steht. Ernsthaft? In der ganzen magische Welt mit ihren Drachen und schrumpfhörnigen Schnarchkacklern gab es nichts gefährlicheres als diese olle Teufelsschlinge, die jeder Zauberer mit ein bisschen Feuer überwinden kann? Ich meine, wenn ich Zauberer und gefangen in einer Schlingpflanze wäre, dann wäre Feuer wahrscheinlich einer der ersten Tricks, die ich einfach mal auf gut Glück ausprobieren würde…
Kaum hat Hermine ihre praktische Prüfung bestanden, kommt das Trio Infernale zu Professor Flitwicks Falle. Diese besteht faktisch nur aus einer Tür. Okay, eine Tür, die sich magisch nicht öffnen lässt. Das wäre eigentlich ein ziemlich cooler Schutzmechanismus, aber was macht Flitwick? Er legt den Schlüssel vor die Tür. Okay, okay, der Schlüssel fliegt mit einem Haufen anderer Schlüssel, rum, damit man nicht rankommt, außer man hat zufällig einen Besen dabei. Aber nein, das ist auch nicht nötig: denn Flitwick hat im Raum ein ganzes Arsenal von Besen bereitgelegt. Der kleine Zauberlehrer bettelt ja förmlich darum, dass seine Falle überwunden wird. Wäre es nicht cleverer gewesen, den Raum mit den fliegenden Schlüsseln an einem ganz anderen Ort als die Tür zu installieren? Zum Beispiel in Gringotts oder am Südpol? Und wäre es nicht auch cleverer gewesen, dass niemand von den fliegenden Schlüsseln weiß und so auch keinen Besen hat, um den richtigen Schlüssel zu fangen? Das ganze wirkt wie das eindimensionale Dungeon eines Jump-and-Run-Spiels.

Hinter der nächsten Tür des Dungeons finden wir das Schachfeld. Das ist so weit okay, wenn der „Schachcomputer“ stark genug ist, gibt es wohl nicht viele Leute, die daran vorbeikommen. Was passiert, wenn man einfach, ohne zu spielen, am Schachfeld vorbeiläuft, verschweigt Rowling zwar, aber bestimmt „böse Dinge“.
Nun kommen wir wieder mal zu einem Troll, den aber Quirrel dankenswerter Weise schon ausgeschaltet hatte, denn den Trollquest hatten unsere Helden ja schon in der Mitte des Buches bestanden. Woraufhin sie sich im Raum von Snape wiederfinden. Ein cooles Setting: rotes Feuer bildet die Tür um voranzuschreiten, schwarzes Feuer bildet die Tür um zurückzukommen und nur der richtige Zaubertrank lässt einen durchs Feuer treten. Nun gut, auch hier könnten wir wieder ganz dezent fragen: Warum, lieber Severus, müssen die Tränke gleich an Ort und Stelle liegen? Aber geschenkt, denn Snape würzt das ganze ja dadurch, dass neben den richtigen Tränken auch Nieten und sogar Todbringer sich im Raum befinden. Soweit, so gut, er und Dumbledore wissen, welchen Trank sie nehmen sollen, der Stein ist sicher. Sollte man meinen… Aber Snape legt einen Zettel neben die Tränke, auf dem ein billiges kleines Rätsel steht, wie man den richtigen Trank findet. ARE YOU FUCKING KIDDING ME? Du bettelst doch geradezu darum, dass wir dich auslachen, Snape!!!

Zum Schluss kommt dann der Spiegel Nerhegeb (Mirror of Erised) von Dumbledore, der den Stein nur preisgibt, wenn man ihn haben will aber nicht benutzen. Das ist eine coole Idee auch wenn Flamel ihn dadurch nie wiederbekommen könnte. Und technisch betrachtet bleibt auch fragwürdig, ob Flamel Dumbledore bitten könnte, den Stein aus dem Spiegel zu holen, den dann würde Dumbledore ihn ja mit der Intention aus dem Spiegel holen, ihn zu benutzen, wenn auch nicht für sich selbst… Aber ich will hier nicht Haare spalten, das ist halt Wibbly Wobbly Timey Wimey.

Ich bin allerdings froh, dass sich Rowling im weiteren Verlauf der Reihe in ihrer erzählerischen Kraft noch wesentlich steigern wird. Denn trotz dieser gigantischen Plottlöcher bleibt Harry Potter und der Stein der Weisen ein lesenswertes Kinderbuch. Besonders wenn man sich ansieht, gegen welche Konkurrenz Rowling im Bücherregal mit den zeitgenössischen Kindergeschichten so antritt. Aber das ist eine andere Geschichte…

Ich bin raus!

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