Platon – Das Recht des Stärkeren

Was ist Gerechtigkeit?

Heute beginne ich mit Platons Ethik, die uns zu seiner politischen Philosophie führen wird. Genauer gesagt, werde ich mit Platons Prüfung des Rechts des Stärkeren anfangen. Zu diesem Zweck blicken wir mal wieder in einen der Dialoge und zwar in keinen anderen als in „Der Staat“. „Der Staat“ beginnt mit einer der zentralen Fragen für Platon. Einer Frage, die ihn sein Leben lang umgetrieben hat: Was ist Gerechtigkeit? Wiiiiiiiiiiiieeeee immer könnt ihr euch die Erörterung als Video angucken oder unter dem Video weiterlesen …

Sokrates ist in der Geschichte beim wohlhabenden Kephalos zu Gast und fragt diesen, was der größte Vorteil seines Reichtums ist. Kephalos meint, dass er immer gerecht sein konnte und nie jemandem etwas schuldig blieb. Dies nimmt Sokrates – der offensichtlich sonst keine Hobbys hat – sogleich zum Anlass, den Begriff der Gerechtigkeit zu definieren.

Zurückgeben, was man empfangen hat

Die alte Hebamme erbittet von seinen Gesprächspartnern Kephalos, Simonides, Polemarchos und Thrasymachos einen Vorschlag zur Begriffsbestimmung, was denn bitteschön gerecht ist und erhält diesen auch von Simonides: Gerechtigkeit bedeutet, jedem das wiederzugeben, was man von ihm empfangen hat. Das ist quasi das alttestamentarische Gerechtigkeitsverständnis. Auge um Auge und Zahn um Zahn. Oder in einer positiven Wendung: Wenn du mir etwas gibst, dann ist es nur gerecht, wenn du auch von mir genausoviel zurückerhältst. Das klingt doch ganz einleuchtend, oder?

Ein wenig ungerecht lehnt unser alter Barfußgänger diese Definition aber umgehend ab. Allerdings hat er dafür gute Gründe: Sokrates bringt das Gegenbeispiel, dass jemand mir eine Waffe geliehen hat, doch als ich sie zurückgeben will, stelle ich fest, dass der Besitzer dem Wahnsinn verfallen ist. Wäre es gerecht, die Waffe dennoch zurückzugeben?

An dieser Stelle muss ich gleich mal einhaken. Denn es ist wirklich ungewöhnlich, dass Sokrates ausgerechnet dieses Beispiel als einen Fall von Ungerechtigkeit wählt. Ich würde nicht sagen, dass es ungerecht ist, sondern unverantwortlich. Dass also der Wert des verantwortlichen Handelns hier mit dem der Gerechtigkeit in einen Konflikt gerät. Darüber hinaus ist dieser sehr spezielle Fall auch eine gewaltige Ausnahme. Und als solche zeigt sie doch eigentlich, dass im Normalfall durchaus gilt: es ist gerecht, das zurückzugeben, was man erhalten hat, sofern es nicht triftige Gründe gibt, die dagegen sprechen.

Zugleich fällt mir ein viel besseres Beispiel ein als Sokrates‘ spezieller Fall. Ein Beispiel bei dem wir „jedem das wiedergeben, was man von ihm empfangen hat“ nicht als gerecht ansehen: Steuern. Reiche Menschen müssen mehr Steuern zahlen als Arme. Aber deshalb halten wir es nicht unbedingt für gerecht, dass Reiche auch mehr von den Investitionen des Staates profitieren, oder? Ich denke, wir können also trotz seiner merkwürdigen Argumentation mit Platon diese erste Definition als falsch ablehnen.

Jedem das Seine

Im Dialog springt Polemarchos Simonides zur Seite und schlägt eine neue Definition vor: Gerechtigkeit ist Freunden Gutes zu tun. Polemarchos zieht weiter den Schluss, dass daraus folge, seinen Feinden Schlechtes zu tun. Denn Feinde seien ja das Gegenteil von Freunden. Finde ich jetzt nicht unbedingt überzeugend, aber ich halte mich mal zurück. Denn Sokrates übernimmt die Schlussfolgerung zunächst einmal und stellt die nächste Definition auf: Gerechtigkeit ist, jedem das zu geben, was ihm zusteht. Diese berühmte platonische Gerechtigkeitsdefinition wird oft mit dem nicht minder berühmten wie unrühmlichen Spruch abgekürzt: Jedem das Seine. Das stand an der Tür des KZ‘ Buchenwald. Unser Menschenrecht „Alle Menschen sind gleich“ ist ein direkte Antwort auf diese Weltsicht. Doch das war 2.200 Jahre später, kehren wir nach Athen zurück, wo Sokrates erst einmal abschweift.

Denn Sokrates fragt sich als nächstes: Wenn Gerechtigkeit die Kunst ist, Freunden Nutzen zuzufügen und Feinden Schaden, was ist denn dann das Betätigungsfeld dieser Kunst? Zum Beispiel ist das Restaurant dass Betätigungsfeld des Kochens. Aber was ist das der Gerechtigkeit? Sokrates selbst bringt ein anderes Beispiel: Wenn ein Freund krank ist, dann ist es nach unserer Definition gerecht, ihn zu heilen. Aber im Gegensatz zur Kochkunst, die jemand ausüben kann, der sie gelernt hat, kann in unserem Beispiel dem kranken Freund nicht jemand helfen, der Gerechtigkeit studiert hat, sondern Medizin. Der Freund braucht keinen Gerechten sondern eine Ärztin. Was ist denn dann das Betätigungsfeld der Gerechtigkeit? Da der Dialog „Der Staat“ heißt, habe ich einen Verdacht, was sich am Ende als das Betätigungsfeld für die Gerechte herausstellen wird.

Allerdings finde ich die Untersuchung des Begriffs bis hier hin noch recht wackelig. Ich würde sie fast schon sophistisch nennen und lasse das nur, weil Platon mich dafür wahrscheinlich zu einem Leben in der Höhle verdammen würde. Denn wieder einmal konstruiert Platon ein Problem dadurch, dass er alle Begriffe über einen Kamm schert. Schließlich müssen nicht alle „Künste“ immer gleich zu Berufen führen. Ich habe die Kunst der Radfahrens gelernt, dennoch bin ich von Beruf nicht Radfahrer. Diese Kunst kann mir aber in anderen Bereichen meines Lebens durchaus von Nutzen sein. Ihr Betätigungsfeld ist eben viel größer als das der Medizin. Vielleicht gibt es Situationen, in denen ein Arzt auch gerecht sein muss? Zum Beispiel in der Notaufnahme, wenn sich ihm die Frage stellt, welchen Patienten er als erstes behandeln soll. Oder bei der Frage, ob einer unheilbar kranken Patientin Sterbehilfe geleistet werden soll.

Während ihr über diesen Einwand nachdenkt, lässt Sokrates von diesem Pfad der Untersuchung schon wieder ab und kehrt zurück zur Frage, ob „Feinden Schaden zuzufügen“ wirklich  gerecht ist. Platon zeigt hier mal wieder, dass sein Akzeptieren dieser Definition vor allem dazu diente, uns zum Nachdenken anzuregen. Denn auf den zweiten Blick erkennt Sokrates: Wenn man jemandem etwas Schlechtes antut, wird die Person nur noch schlechter. Das leuchtet mir ein: Wenn mir jemand etwas Schlechtes antut, dann reagiere ich oft mit Trotz und denke nicht zuerst über meine eigenen Schwächen nach. Das kann doch wohl nicht im Sinne der Gerechtigkeit sein.

Das Recht des Stärkeren

Als nächstes gibt dann Thrasymachos seine Definition von Gerechtigkeit zum besten: Gerecht sei, was den Stärkeren nützt – also das Recht des Stärkeren. Sokrates gibt sofort zu bedenken, dass die Starken im Sinne von Machthabern in einem Staat sich irren können, was für sie von Nutzen ist. Thrasymachos gesteht dies Sokrates zu und präzisiert, dass gerecht nur das ist, was sie zu Recht als nützlich ansehen und von den Bürgern verlangen. Thrasymachos tappt in Sokrates’ Falle, als er die Analogie zum Arzt aufmacht: Ein Arzt ist nur dann ein gerechter, wir würden eher sagen: guter Arzt, wenn er die richtige Medizin verschreibt, nicht wenn er sich in seinen Anweisungen irrt. Jetzt hat Sokrates ihn am Haken, denn Platons Lehrer spinnt die Analogie weiter und sagt: Jatzt aber mal halb lang, Thrasymachos, der Arzt ist doch nur ein guter Arzt, wenn er dem Kranken hilft und nicht sich selbst. Dann kann doch der Staatsmann auch nur ein guter Staatsmann sein, wenn er etwas für die Bevölkerung tut und nicht nur zu seinem eigenen Vorteil regiert.

Thrasymachos will die Analogie zum Arzt jetzt aber doch lieber nicht mehr gelten lassen und schlägt stattdessen die Analogie zum Hirten vor: Der muss sich zwar um seine Herde kümmern, aber nicht zu deren Vorteil sondern zu seinem eigenen, denn er will ja am Ende durch Wolle, Milch oder Fleisch davon profitieren. Offensichtlich gerät er jetzt in Rage. Denn er redet sich um Kopf und Kragen. Seines Erachtens ist nämlich die Ungerechtigkeit eh viel cooler als die Gerechtigkeit. Das sieht man doch an einem Tyrannen, also einem Diktator. Der muss den Gesetzen, die er anderen auferlegt, selbst nicht folgen und wird dafür noch gefeiert. Das zeigt doch, dass Ungerechtigkeit nicht deswegen gefürchtet wird, weil man anderen gegenüber ungerecht ist, sondern nur weil man selbst Angst hat, Ungerechtigkeiten zu erfahren. Daraus ergibt sich für Thrasymachos das Recht des Stärkeren. Solange du nur an der Spitze stehst, brauchst du keine Angst zu haben und alles, was du machst ist gut.

Gerecht ist nicht Geschäftstüchtig

Nachdem es so aus Thrasymachos herausgeplatzt ist, will er eigentlich gleich den Abgang machen, aber Sokrates meint nur: Moooomentemal! Zunächst wirft er Thrasymachos vor, dass er zweierlei verwechselt: Zum einen den Beruf des Hirten und zum anderen seine Geschäftstüchtigkeit. Der Job des Hirten ist es, sich gut um seine Herde zu kümmern. Und ob er ein guter Hirte ist, das zeigt sich daran, ob es seiner Herde gut gehe. Ganz unabhängig davon ist die Frage zu beurteilen, ob er auch geschäftstüchtig ist, das zeige sich aus dem, was er aus seiner Herde rausholt. Im übrigen sei das ja beim Arzt nicht anders: Ob der Karriere macht, hängt von seiner Geschäftstüchtigkeit ab. Aber ob er ein guter Arzt ist, das zeigen seine Heilerfolgen. Und bei Regierenden sei es auch nicht anders. Die können zwar Geld und Ruhm erwerben, wenn sie geschäftstüchtig sind, aber das sagt noch nichts über ihre Qualität als Regierungschefs aus.

Das ist ein sehr schöner und wichtiger Gedanke, der in unser heutigen Zeit allzu oft vergessen wird, da alles nur darauf ausgelegt ist, möglichst erfolgreich am Markt zu sein, möglichst viel Geld zu erwirtschaften. Ich kann zum Beispiel als Forstwirtin schnell viel Kohle machen, indem ich einfach ganze Wälder abholze oder Monokulturen anpflanze mit Bäumen, die schnell wachsen. Aber das macht mich zwar zu einer geschäftstüchtigen Volkswirtin, jedoch nicht zu einer guten.

Erst wenn ich einen Wald so bewirtschafte, dass ich das ökologische Gleichgewicht erhalte und auch noch in zwei, drei oder zehn Generation der Wald gesund sein wird und die nach mir kommenden Forstwirte davon profitieren. Erst dann bin ich auch ein gute Forstwirtin. Genauso verhält es sich bei der Politik: Deutschland profitiert gerade sehr von seiner strengen Finanzpolitik, die Schulden schrumpfen und der Staatshaushalt wächst. Aber das sagt noch nichts über die Qualität unserer Regierung aus, nur über ihr volkswirtschaftliches Geschick. Ob wir gut regiert werden, zeigt sich darin, wie das zur Verfügung stehende Geld investiert wird.

Selbst Diktatoren müssen gerecht sein

Aber Thrasymachos hatte ja nicht nur das Hirtenargument gebracht, sondern dann sogar gesagt, dass Ungerechtigkeit besser ist als Gerechtigkeit. Gerechtigkeit nennt er eine edle Einfalt. Da seht ihr mal, wie alt die Vorwürfe gegenüber „Gutmenschen“ sind. Aber mit so einem billigen sophistischen Trick ist er bei Sokrates an der falschen Adresse! Sokrates erwidert, dass die Ungerechtigkeit schon deshalb nicht besser sein kann als die Gerechtigkeit, da selbst ein Diktator nicht komplett auf sie verzichten kann: Er muss zumindest seinen Helfern gegenüber gerecht sein. Er braucht die Unterstützung einer Herrscherklasse oder eines Staatsapparats, um sich an der Macht zu halten. Wenn er gegen jeden, sogar gegen die eigenen Verbündeten ungerecht ist, dann wird er schnell soviel Unmut ernten, dass er gestürzt wird. Gerechtigkeit wenigstens einer Gruppe der Bevölkerung gegenüber ist eine notwendige Bedingung für einen stabilen Staat. Das ist ein sehr kluger machtpolitischer Gedanke, merkt ihn euch!

Aber unabhängig davon mache Ungerechtigkeit auch unglücklich. Jedes Ding habe seinen Zweck und der Zweck der Seele sei, gerecht zu handeln. Okay … Dieser Umschwung kam jetzt recht plötzlich. Das Argument, dass selbst Diktatoren nicht komplett ungerecht sein können, war sehr stark. Da hatte die alte Socke mich voll auf seiner Seite. Warum jetzt dieser esoterische Umschwung auf den Zweck der Seele? Nun, das bringt uns zum nächsten Aspekt, den ich beim nächsten Mal besprechen werde: Was ist der Sinn des Lebens?

Literatur

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Demut

eine Begriffsbestimmung

[Dieser Blogpost ist so lang, dass du schon wahnsinnig sein musst, wenn du ihn komplett liest. Daher kannst du einfach ans Fazit springen und den ganzen Schmonzes dazwischen auslassen. Dann wirst du feststellen, dass das Fazit so interessant ist, dass du auch das davor lesen willst und insgesamt noch viel mehr Zeit verplempern: Das Zeitreisenparadoxon.]

Zum Fazit springen

Besinnlich wird es zum Advent auch im deutschsprachigen Internet. Da kann es dann auch mal vorkommen, dass sich ein paar Blogger an den Begriff der Demut heranwagen. Ausgelöst wurde die Begriffsbestimmung vom Haltungsturnen, es folgten wirres.net und – logischerweise – Anmut und Demut.

Demut

Demut. Bild von mir. Lizenz: CC BY 3.0.

Ich finde es erstaunlich, dass auf der Klaviatur der ethischen Begriffe ausgerechnet auf diese Taste gedrückt wurde. Und das gleich drei Mal! Ich hätte vermutet, dass der Begriff schon längst vom Strom des Sprachwandels hinfortgespült worden ist. Zumindest in meinem abschließenden Vokabular spielt das Wörtchen keine Rolle mehr. Und fast noch erstaunlicher finde ich, dass alle drei Interpreten den Begriff der Demut positiv deuten, während ich es bei ihm eher mit Nietzsche halte. Doch eines nach dem anderen, schauen wir doch erst einmal, was die drei demütig zu verkünden haben. Denn das ist mein eigentliches Anliegen: hier kann man mal richtig schön Sprachanalyse betreiben und ganz im Sinne Wittgensteins „dem Volk“ aufs Maul schauen. Also: Was ist Demut?

Haltungsturnen + Pferde + Kinder = Demut

Ich musste schon ein wenig Schmunzeln, als ich über der Überschrift „Demut“ den Slogan von Wolfgang Luenenbuerger-Reidenbachs Seite las: „Niveau sieht nur von unten aus wie Arroganz“. Hmmm… Nicht gerade demütig, oder? Im Gegenteil: Ist nicht gerade das „Unten“ der Ort der Demut? Aber das nur am Rande…

Wolfgang Luenenbuerger-Reidenbach geht seine Definition in platonischer Tradition extensional an, indem er sich fragt, was unter den Begriff fällt beziehungsweise was ihn demütig macht:

„Kinder und Pferde machen demütig. Mich jedenfalls. Anderen wird es vielleicht mit anderem so gehen. Aber Kinder und Pferde erinnern mich immer wieder daran, wie zufällig so vieles ist, wie wenig binär, eindeutig, plan- und beherrschbar.“

Wolfgang Luenenbuerger-Reidenbach: Demut.

In diesem Absatz stecken schon drei spannende Aspekte des Begriffs:

  1. Demut ist ein innerer Zustand. Anders als zum Beispiel Freiheit hat die Gesellschaft darauf keinen Einfluss. Egal welchen äußeren Einflüssen ich unterliege, ich kann immer demütig sein.
  2. Demut bezieht sich auf etwas. Es ist kein alleinstehender Wert. Wieder verglichen mit der Freiheit zeigt sich der Unterschied. Freiheit ist absolut. Ein unveräußerliches Recht. Es gibt sowohl die Freiheit von etwas, als auch die Freiheit zu etwas. Demut hingegen steht immer in einer Relation zu einem anderen Wert.
  3. Demut hat etwas mit Bewusstmachen zu tun. Luenenbuerger-Reidenbach erinnert sich an etwas, das macht ihn demütig.

So weit, so gut.

Aus dieser ersten Annäherung an den Begriff zieht Wolfgang Luenenbuerger-Reidenbach aber sogleich einen falschen Schluss, indem er technikpositivistischen Menschen und Technokraten Demut abspricht. Aber warum sollte das so sein? Alle drei oben erwähnten Bedeutungsaspekte von Demut kann ich auch auf Technikpositivismus oder Technokratie anwenden. Es gibt keine intrinsischen Bedeutungsaspekte von Technikpositivismus oder Technokratie, die mit Demut im Widerspruch stehen. Ich kann sehr demütig daruf hoffen, dass der Replikator erfunden wird und mit ihm der Hunger der Welt endet. Genauso kann ich als Technokrat vor jeder Regierungsentscheidung Wissenschaftler befragen, um dann ganz demütig zu einer Entscheidung zu kommen. Luenenbuerger-Reidenbach zieht diesen Schluss, um damit implizit einen weiteren, zentralen Bedeutungsaspekt von Demut einzuführen:

„Ob es wirklich und ernsthaft Menschen geben kann, die sich nicht nur einzureden versuchen (ob aus Schwäche und Unsicherheit oder aus Kalkül), sie könnten die Zukunft vertraglich regeln oder die Funktionsweise von irgendwas mit Menschen oder der Natur mithilfe von Gesetzmäßigkeiten erklären und vorhersagen.“

Wolfgang Luenenbuerger-Reidenbach: Demut.

Demut ist das Gegenteil von Hybris, Arroganz und Hochmut. Sie ist verwandt mit Bescheidenheit. Allerdings muss ich noch einmal betonen, dass Luenenbuerger-Reidenbach keinerlei Argument liefert, warum Technikpositivismus oder Technokratie nicht auch demütig sein können. Seine vemeintliche Schlussfolgerung ist ein purer Sophismus. Karl Poppers Stückwerk-Sozialtechnik ist ein äußerst technokratischer Ansatz. Aber gerade im Wissen um seine eigene Fehlbarkeit erscheint er mir demütig, in dem Sinne in dem Luenenbuerger-Reidenbach den Begriff verwendet. Letzterer benutzt die Demut hier als nichts anderes, denn als Buzzword um seine Abneigung gegenüber Technokratie und Technikpostivismus zur Schau zu stellen. Technikpositivismus und Technokratie sind böse weil Demut! Eine Begründung lässt er aus.

Aus dieser Einstellung heraus folgt im Haltungsturnen ein Rant über den Begriff des Naturgesetzes, den wir hier vernachlässigen können, weil er m. E. auf einer falschen Definition des Begriffs aufbaut. Interessant ist noch dieses Zitat bevor wir uns den Wirren von wirres.net zuwenden:

„Nur Wesen, die wir gebrochen haben, ergeben sich in die Beherrschbarkeit“

Wolfgang Luenenbuerger-Reidenbach: Demut.

Denn meinem Verständnis nach gibt es noch etwas anderes, das Beherrschbarkeit über Jahrhunderte hinweg ermöglicht hat: Demut. Ich werde das später noch weiter ausführen.

Wahrheit und Fehlbarkeit

„Madame Kovarian: Good men have too many rules.
The Doctor: Good men don’t need rules. Today is not the day to find out why I have so many.“

Doctor Who: A Good Man Goes to War.

Da dieser Text schon jetzt langsam tl;dr wird, möchte ich zu Felix Schwenzel und seinem Demut-Text voranschreiten. Denn dieser bringt mein Problem mit der Demut sogleich auf den Punkt, auch wenn sein Autor es negiert:

„für mich spielt der bedeutungsaspekt [sic! Stellvertretend für jedes kleingeschriebene Substantiv, das noch kommt; db] der unterwürfigkeit weniger eine rolle, als die bescheidenheit. und zwar nicht bescheidenheit im sinne von understatement, sondern im sinne eines eingeständnisses der eigenen fehlbarkeit.“

Felix Schwenzel: Demut.

Hier haben wir also drei weitere Bedeutungsaspekte von Demut:

1. Unterwürfigkeit
2. Bescheidenheit
3. Eingeständnis der eigenen Fehlbarkeit

Schwenzel fährt fort, indem er auch wieder die innere Haltung ins Spiel bringt, kombiniert mit Toleranz und Respekt:

„eine haltung, die den austausch und die kommunikation mit anderen menschen erleichtert, aber auch den umgang mit und das verständnis der welt.“

Felix Schwenzel: Demut.

Dann macht er etwas spannendes, nämlich die epistemologische Wende des Begriffs der Demut:

„…sogenannten wahrheiten immer differenziert, skeptisch und mit demut zu begegnen. denn ich bin überzeugt davon, dass menschen, die glauben im besitz der wahrheit zu sein, die welt zur hölle machen.“

Felix Schwenzel: Demut.

Er setzt hier Demut in Relation zu Skepsis und differenzierter Betrachtung in Bezug auf die Wahrheit. Das begründet er dann moralisch. Menschen, die sich im Besitz der Wahrheit wähnen, werden zu Tyrannen. Das ist ein spannender Punkt, den ich partiell teile, wenngleich ich ihn wesentlich vorsichtiger formulieren würde. Denn ich glaube nicht, dass die Gewissheit, dass ich jetzt eine Hand hochhalte, mich in die Gefahr bringt, tyrannisch zu werden. Da ich Felix Schwenzel auch nicht unterstellen möchte, dass er so weit gehen würde, ist mit der Gewissheit, also dem Besitz der Wahrheit, auf den er sich bezieht, wohl etwas anderes gemeint. Eine besondere Form der Gewissheit: das Wissen darum, was moralisch richtig ist. Menschen, die sich dessen gewiss sind, die ihre Handlungen nicht hinterfragen, sind gefährlich. Sie sind nicht demütig.

„das eingeständnis von fehlbarkeit bedeutet keinesfalls, dass man nicht felsenfest von etwas überzeugt sein kann. solange man diese überzeugung, wie ein guter wissenschaftler, als hypothese betrachtet, die durch neue fakten, andere blickwinkel oder perspektiven neu evaluiert oder formuliert werden muss.“

Felix Schwenzel: Demut.

So fährt Schwenzel fort. Auch das ist wieder ein sehr schöner Gedanke, denn er versteht Demut hier als moralische Falsifikation. Aber auch hier geht er wieder zu weit, indem er dann folgert:

„genaugesehen sind alle unsere urteile vorurteile. wir können versuchen unsere urteile auf eine möglichst breite basis zu stellen, aber niemals ausschliessen, dass wir etwas übersehen oder vergessen haben.“

Felix Schwenzel: Demut.

Es gibt vier Arten von Urteilen:

  1. die Abduktion (Schluss von einem Einzelfall auf etwas Allgemeines)
  2. die Induktion (Schluss von einer Reihe von Einzelfällen auf etwas Allgemeines)
  3. die Deduktion (Schluss vom Allgemeinen auf einen Einzelfall)
    und
  4. die Analogie (Schluss von einem Einzelfall auf einen anderen Einzelfall aufgrund einer Ähnlichkeit)

Und nur 1. und mit Einschränkungen noch 2. sind Vorurteile. Nicht hingegen, dass Sokrates sterblich ist, wenn er ein Mensch ist und alle Menschem sterben (3.). Oder dass die 1. Person singular im Futur I von „möpen“ „ich werde möpen“ lautet, weil die 1. Person singular im Futur I von „sagen“ genau so gebildet wird (4.).

Doch das nur am Rande, denn Felix Schwenzel liefert uns noch weitere Bedeutungsaspekte von Demut:

„demut muss man lernen. sie ist ein erkenntnisprozess und nichts schwermütiges oder trübsinniges.“

Felix Schwenzel: Demut.

Während er den Lernaspekt mit der Abduktion seiner eigenen Kindheit begründet, lässt Schwenzel den zweiten Teil der Hypothese etwas wirr unbegründet stehen. Das ist schade, denn das sind genau die Konnotationen von Demut, die mir den Begriff unangenehm machen. Genau diese Argumentation wäre also für mich die eigentlich spannende gewesen.

Platz halten: Demut!


Kommen wir zum letzten Teil unseres Triptychons: anmut und demut. Benjamin Birkenhake beginnt seinen Beitrag zur Demut etwas konfus:

„Im Titel dieses Blogs verwende ich „demut“ in zwei Bedeutungen: Zum einen als Platzhalter für alles Gute und Wahre – im Zusammenspiel mit „anmut“ als Platzhalter für alle Schöne und Faszinierende. Obschon mir die Demut eigentlich eine relative Tugend scheint, weil man jemandem, oder anderen gegenüber demütig ist, im Zweifel im Verhältnis zu seinem vorherigen Ich, scheint sie mir eine Primärtugend zu sein. Man kann nicht demütig sein und zugleich ein KZ führen. Sie ist eine der Tugenden, die uns vor der Barbarei rettet.“

Benjamin Birkenhake: Demut.

Zum einen fehlt mir das „zum anderen“ hier und zum anderen macht Birkenhake mehr als zwei Bedeutungen auf:

  1. Demut ist Platzhalter für alles Gute und Wahre. Hat also irgendetwas mit Erkenntnis und Moral zu tun.
  2. Demut ist eine relative Tugend – den Aspekt hatten wir oben schon bei Luenenbuerger-Reidenbach. Doch anders als beim Haltungsturnen wird hier die Demut nicht in Relation zu einem anderen Wert sondern zu einer anderen Person gesetzt. Sofern ich diesen wirklich konfusen Satz richtig auslege, kann die andere Person auch man selbst in der Vergangenheit sein. Was auch immer das bedeuten mag.
    Da Benjamin Birkenhake uns sicher nicht das Zeitreisenparadoxon erklären will, scheint er wohl zu sagen, dass man sich demütig gegenüber Positionen zeigen soll, die man selbst früher mal vertreten hat. Oder bin ich total auf dem Holzweg? Mir erschließt sich das überhaupt nicht: Wenn ich zu einer neuen Erkenntnis gelangt bin, etwa dass die Erde eine Kugel und keine Scheibe ist, warum soll ich dann Demut vor meinem Ich haben, das noch dem Irrglauben verhaftet ist, dass unsere Erde Pizzagestalt hat? Vielleicht meint er wohl doch das Zeitreisenparadoxon…
  3. Demut ist eine Primärtugend
  4. Demut schützt vor Barbarei

Spannend ist wohl vor allem 3. und die Frage, was Birkenhake unter „Primärtugend“ versteht. Leider lässt er den Begriff hier ganz isoliert ohne Erläuterung stehen. Möglicherweise meint er Kardinaltugend, aber das ist ein weiteres Mal bloße Spekulation. Und ein Blick in die Wikipedia genügt, um festzustellen, dass die Demut gerade nicht dafür bekannt ist, eine Kardinaltugend zu sein. Allerdings schreibt Birkenhake ja, dass sie für ihn eine Primärtugend ist. Jedoch ergibt sich daraus ein anderes Problem, dem ich mich gleich noch widmen werde.

„Zum anderen ist sie mir – wie ich oben schon erwähnt habe – vor allem eine Mahnung.“

Benjamin Birkenhake: Demut.

Ahhh, da ist „das andere“. Da schlägt jemand lange Bögen – das mag ich. Aber was lernen wir von ihm hier über die Demut? Demut ist eine Mahnung oder Lektion. Die Demut wird von ihm erneut in Relation zum Erinnern gesetzt. Aber Birkenhake erinnert nicht – wie oben Luenenbuerger-Reidenbach – ein Drittes an Demut. Stattdessen muss er sich selbst an sie, die Demut, erinnern: ermahnen. Demut ist ferner ein Prozess, eine Persönlichkeitsentwicklung. Allerdings er schließt an, dass diese Entwicklung nie abgeschlossen ist. Da stellt sich mir die Frage, ob man dann wirklich von einer „Entwicklung“ sprechen kann. Gehört es nicht zum Begriff der Entwicklung, dass sie irgendwann abgeschlossen ist? Zumindest wenn sie nicht gestört wird. Was Benjamin Birkenhake hier anspricht scheint eher ein innerer Kampf zu sein. Es gibt einen demütigen und einen hochmütigen Aspekt meines Charakters, die sich bekämpfen und ich muss mich zeitlebens bemühen, dass der Hochmut nicht gewinnt.

Mit Anmut und Demut fährt Benjamin Birkenhake fort, dass die Demut für ihn eine „säkulare“ Tugend ist. Diese Idee führt ihn stilistisch zur anfänglichen Konfusion zurück, denn Demut sei eine Überzeugung, nicht rational sondern ein Glaube. Er meint sogar, aus rationalen Gründen demütig zu sein, sei quatsch. Aber – und hier schreit die Kontradiktion schriller als Oskar Matzerath – die Demut sei ein „säkularer Glaube“.

„Es bedarf keiner Metaphysik, keinen religiösen Elementen, um Demut als Position zu wählen. Und das Praktizieren von Demut erfordert weder Glauben, noch Ritaule. Demut ist neben der Selbstbeurteilung zuerst ein Verhaltensmuster anderen gegenüber.“

Benjamin Birkenhake: Demut.

Sorry Herr Birkenhake, aber bitte kriegen Sie mal Ihre Terminologie auf die Reihe!

Zum ersten: Welchen Metaphysikbegriff hat er? Es liest sich so, als würde er „Metaphysik“ mit „Religion“ gleichsetzen, das aber ist eine steile These. Ich bediene mich hier mal der Wikipedia, die die Fragestellungen der Metaphysik folgendermaßen wiedergibt:

„Gibt es einen letzten Sinn, warum die Welt überhaupt existiert? Und dafür, dass sie gerade so eingerichtet ist, wie sie es ist? Gibt es einen Gott/Götter und wenn ja, was können wir über ihn/sie wissen? Was macht das Wesen des Menschen aus? Gibt es so etwas wie „Geistiges“, insbesondere einen grundlegenden Unterschied zwischen Geist und Materie (Leib-Seele-Problem)? Besitzt der Mensch eine unsterbliche Seele, verfügt er über einen Freien Willen? Verändert sich alles oder gibt es auch Dinge und Zusammenhänge, die bei allem Wechsel der Erscheinungen immer gleich bleiben?“

Wikipedia: Metaphysik.

Wie wir sehen, umfasst Metaphysik weit mehr als bloß Fragestellungen der Religion. Ferner widerspricht sich Birkenhake indem er plötzlich behauptet, Demut erfodere keinen Glauben. Also Demut ist ein Glaube erfordert aber keinen Glauben? Ich glaube wir sind hier wieder beim Zeitreisenparadoxon angelangt…

Statt dessen wird Demut in anmut und demut nun als Selbstbeurteilung und Verhaltensmuster anderen gegenüber erklärt. Dafür gibt es einen Terminus in der Philosophie: Ein Wert oder – wie es oben schon stand – eine Tugend. Nix mit Glaube oder so. Das sind zwei Paar Schuhe. Ich glaube… aber das ist einmal mehr bloße Spekulation … dass Benjamin Birkenhake hier auf die Letztbegründungsproblematik hinaus will. Ich kann eine Ethik nicht letztbegründen. Warum das so ist, habe ich bereits hier und hier ausgeführt. Den Weg, den die theistischen Religionen gehen, um ihre Ethik zu begründen ist das Dogma. Sie begründen jeden Wert und jede Norm mit: „Weil Gott es so will“. Möglicherweise versucht uns Birkenhake zu sagen, dass er auf diese Letztbegründung verzichten will, stattdessen will er die Demut selbst als letzten Grund ansetzen. Das wäre natürlich logisch keinen Deut besser als Gott, denn damit erhebt er sich selbst zum Maß aller Dinge. Und der belesene Platonkenner weiß, dass daraus der performative Widerspruch folgt. Aber das möchte ich hier nicht weiter ausführen, denn wie gesagt, ist das bloße Spekulation und ich habe nicht einen blassen Schimmer ob es das ist, was Birkenhake uns sagen will, oder ob er auf etwas ganz anderes hinaus will. Schauen wir mal, was er sonst noch zu sagen hat.

„Ich denke hinter der Demut steht vor allem die Überzeugung und Erfahrung, dass eine ganze Reihe von Glücksversprechen mit denen wir aufwachsen nichts als Irrlichter sind. Karriere, Wohlstand, Ansehen, Macht …“

Benjamin Birkenhake: Demut.

Hier kommen wieder die Bescheidenheit und die Skepsis zum Vorschein. Demut sei ein Wegweiser, der auf die kleinen Freuden im Leben verweise. Weniger ist mehr, mit anderen Worten: Genügsamkeit wird hier als ein Bedeutungsaspekt von Demut hervorgehoben. Birkenhake fährt fort, dass demütig Interagieren mit anderen bedeutet, „Rücksicht und Gnade“ walten zu lassen. Und schließlich charakterisiert er die Demut als diejenige Tugend, die hinter Rawls „Schleier des Nichtwissens“ steckt.
Puuuh… That’s a tough one. Denn Rawls Schleier basiert ja auf der Idee, dass alle Akteure in einer Gesellschaft zunächst einmal nicht demütig sondern egoistisch agieren. Erst wenn sie nicht wissen, wo sie in der Gesellschaft stehen, sind sie bereit anderen Güter zukommen zu lassen, aus Angst selbst benachteiligt zu werden. Aber das heißt ja nicht, dass Birkenhake unrecht hat. Gewissermaßen könnte man den Schleier als Metapher für die Demut verstehen. Das würde Demut eine altruistische Bedeutungskomponente geben…

Benjamin Birkenhake schließt, indem er zu Luenenbuerger-Reidenbachs Kindern und Pferden zurückgekehrt. Er übersetzt diese, indem er demütig noch einmal darauf hinweist, dass er (und ich möchte ergänzen: „und ich und du“) nur einer (drei) Menschen von sieben Milliarden sind.

Die Quintessenz: Was ist Demut?

So, nun haben wir die drei Blogposts erfolgreich analysiert. Schauen wir also mal, was hinten raustropft, wenn wir den Begriff der Demut auswringen. Welche Bedeutungsaspekte hat „Demut“?

  1. Demut ist ein innerer Zustand
  2. Demut ist eine Relation, kein alleinstehender Wert
  3. Zur Demut gehört, sich etwas bewusst machen
  4. Demut ist das Gegenteil von Hybris, Arroganz und Hochmut
  5. Zur Demut gehört Bescheidenheit
  6. Unterwürfigkeit
  7. Eingeständnis der eigenen Fehlbarkeit
  8. Skepsis
  9. Differenzierte Betrachtung in Bezug auf die Wahrheit
  10. Zweifel, was moralisch richtig ist
  11. moralische Falsifikation
  12. Demut muss man lernen
  13. Demut ist Platzhalter für alles Gute und Wahre. Hat also irgendetwas mit Erkenntnis und Moral zu tun.
  14. Demut kann eine Relation zu einem anderen Wert oder zu einer anderen Person sein
  15. Demut ist eine Primärtugend
  16. Demut schützt vor Barbarei
  17. Demut ist eine Mahnung oder Lektion
  18. Demut ist ein Prozess, eine Persönlichkeitsentwicklung oder ein innerer Kampf
  19. Eine Überzeugung
  20. Ein Glaube
  21. Selbstbeurteilung und Verhaltensmuster anderen gegenüber
  22. Ein Wegweiser
  23. Genügsamkeit
  24. demütig Interagieren mit anderen bedeutet, „Rücksicht und Gnade“ walten zu lass
  25. Rawls „Schleier des Nichtwissens“
  26. Altruismus

Diese allzu unordentlich Liste kann man in drei Bedeutungsfelder einteilen:

Zunächst einmal haben alle drei Autoren Bedeutungsaspekte hervorgearbeitet, die allgemein für Werte gelten und die die Demut im Wertespektrum verordnen. Das gilt allem voran für „Demut schützt vor Barbarei“. Uns vor Barbarei zu schützen, ist die grundsätzliche Aufgabe einer jeden Ethik. Die Decke der Zivilisation ist äußerst dünn und allen voran der Nationalsozialismus aber auch – in jüngerer Zeit – der Bosnien-Krieg oder der Völkermord in Ruanda haben gezeigt, wie leicht sie abgestreift ist. Ethische Regeln haben genau diese Aufgabe: Die zivilisatorische Decke schön festzurrren, um somit Barbarei möglichst zu verhindern. Dass Demut ein Wegweiser und eine Überzeugung ist, eine Mahnung oder Lektion, dass man sie lernen muss, dass sie eine Selbstbeurteilung und Verhaltensmuster anderen gegenüber ist und in ihrer Unbegründbarkeit sogar einem Glauben ähnelt, teilt die Demut mit allen anderen normativen Sätzen. Eben das machen sie zu einem Wert, einer Norm, einer Tugend. Demut als einen Prozess, eine Persönlichkeitsentwicklung oder ein innerer Kampf zu charakterisieren bedeutet genau ihren Kern als Tugend (und wie wir mit Tugenden umgehen) zu definieren.
Kommen wir zur Einordnung der Tugend im Wertespektrum: Als Tugend bezieht sich die Demut dann auf einen inneren Zustand. Sie verhält sich da genau wie etwa der Verzicht auf Neid, Missgunst oder Hass. Sie gibt weniger konkrete Handlungsanweisungen im Miteinander mit anderen Menschen wie die Gerechtigkeit oder die Freiheit (im Sinne vom Zugestehen von Freiheiten) sondern bezieht sich auf unsere Gefühle unsere Einstellungen der Welt und unseren Mitmenschen gegenüber. Das kombiniert die Demut mit ihrem relationalem Charakter. Man ist in Bezug auf etwas oder jemanden demütig. Was dieses andere ist, demgegenüber man demütig ist, ist nun sehr schwer zu fassen, denn es scheint weitgehend eine subjektive Entscheidung zu sein.

Diese subjektive Entscheidung spiegelt sich im zweiten Bedeutungsfeld, das unsere Autoren aufgemacht haben, in dem sie sich mit den Zweifeln und der Bewusstmachung herumgeschlagen haben. Auf der Suche nach etwas, demgegenüber ich demütig sein sollte oder sein kann, muss ich zunächst meine eigene Fehlbarkeit eingestehen. Das ist eine Krux, denn das impliziert natürlich auch, dass der Wert der Demut ein Irrtum sein kann. Ich muss gegenüber meinen eigenen Überzeugungen und gegenüber den (moralischen) Gewissheiten anderer immer Skepsis an den Tag legen. Ich muss stets bereit sein, vermeintliche Wahrheiten differenziert zu betrachten, Zweifel haben, was moralisch richtig ist und in eben diesem Zweifel meine moralischen Werte auch falsifizieren.

Und diese Einstellung, der Zweifel und die Vorsicht führen uns dann zum dritten Bedeutungsfeld der Demut. Denn aus ihnen folgt die Bescheidenheit, die Genügsamkeit und der Altruismus. Ich muss mich vor der eigenen Hybris, Arroganz und dem eigenen Hochmut in Acht nehmen. Meinen Mitmenschen gegenüber „Rücksicht und Gnade“ walten lassen, auch wenn es sich arg mittelalterlich-christlich anhört. Doch genau das führt uns zu der letzten Bedeutungskomponente der Demut, die zweifellos da ist, auch wenn sie wie das ungeliebte Kind in den Keller gesperrt wird. Vielleicht wird sie sogar nur von der Demut konnotiert, doch sie lässt sich nicht verleugnen, selbst wenn unsere Autoren betonen, dass sie ihnen nicht so wichtig ist. Zur Demut gehört eben auch die Unterwürfigkeit. Und sie ist die „dunkle Seite der Macht“. Sie ist genau jener Aspekt an der Demut der mich stört und der sie aus meinem abschließenden Vokabular verbannt hat.

Doch bevor ich zu diesem letzten Kapitel dieses langen, allzu langen, Textes voranschreite, möchte ich noch eines zur Bedeutung der Demut sagen: Aus alldem – besonders aus der Relationseigenschaft und dem inneren Wert, schließe ich, dass die Demut gerade keine Primär- oder Kardinaltugend ist, sondern immer nur gut und wichtig, wenn sie richtig eingesetzt wird.

Demut und Unterwürfigkeit

Die Dame und meine Tochter (6) lesen gerade „Der Kleine Ritter Trenk und fast das ganze Leben im Mittelalter“* von Kirsten Boje. Meine Tochter erzählte mir daraufhin, dass die meisten Menschen im Mittelalter so arm waren, dass sie sich nicht einmal Feuerholz leisten konnten und im Winter frieren mussten.

Darauf ich so: Warum sind sie dann nicht einfach in den Wald gegangen und haben Holz gesammelt.
Sie so: Weil der Wald dem Fürsten gehört.
Ich so: Wenn sie keine Bäume fällen, sondern einfach sammeln, was am Boden liegt, merkt der Fürst das doch gar nicht.
Sie so: Aber der Fürst ist doch von Gottes Gnaden. Das darf man deshalb nicht.

Das ist Demut. Das ist die Unterwürfigkeit, die mit der Demut einhergeht. Das ist der Grund, warum Nietzsche das Christentum „Sklavenmoral“ nannte. Demut bedeutet nämlich auch immer, sich mit den herrschenden Verhältnissen zu arrangieren. Bloß nicht aufbegehren, sondern bescheiden sein. Wenn das Volk kein Brot hat, soll es doch demütig auf ein besseres Leben im Jenseits hoffen. Natürlich ist das kein Problem wenn alle kategorisch-imperativ demütig wären.

Aber wissta was? Die Welt ist nicht so.

Wir können uns nicht hinstellen, guten Willens demütig sein und uns dann wundern, dass die Welt dafür noch nicht bereit ist. Wir müssen verantwortungsethisch auch damit rechnen, dass es in der Welt auch Arschlöcher gibt, die versuchen die Ethik der Anständigen auszunutzen. Und dann heißt es aufstehen und dagegen rebellieren. Doch diese Rebellion ist eben nicht mit Demut vereinbar. Daher möchte ich auf die Demut verzichten. Skepsis, Zweifel, Altruismus, Genügsamkeit, Bescheidenheit sind Teil meines abschließenden Vokabulars, aber eben nicht die Demut. Weil Demut Unterwürfigkeit zumindest konnotiert.

Ich bin raus.

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