Das Atheismus-Paradoxon

Ich lese auf Twitter und anderswo im Netz sehr oft, dass im Gegensatz zu den Religionen(tm) im Namen des Atheismus‘ noch nie ein Krieg geführt worden ist. Mit viel Wohlwollen ist das auch wahr – wenn wir der Sowjetunion, die ja ein explizit atheistischer Staat war, unterstellen, dass sie andere Motive für ihre Kriege hatte.

Andererseits wird auf Twitter und anderswo im Netz Andersgläubigen von Atheisten so viel Hohn und Verachtung entgegengebracht, dass ich mich manchmal frage, wie lange der Satz noch wahr sein wird, dass nie ein Krieg im Namen des Atheismus geführt wurde…

 

P.S.: Bevor ihr in den Kommentaren rumjammert: Ja, Atheismus ist auch ein Glaube. Wenn ihr euch mal zehn Minuten mit Erkenntnistheorie auseinandergesetzt habt, dürfte euch das auch klar sein. Ansonsten lest diesen Post.

Waffen töten keine Menschen, oder?

In der siebten Klasse hatten wir im Klassenzimmer hinter der Tafel eine große Leinwand sowie eine kleine Projektorkabine an der hinteren Wand. Erstaunlicherweise kann ich mich aber nicht erinnern, dass darauf je ein Film gezeigt wurde. Wenn wir Filme im Unterricht sahen, dann auf einem Röhrenfernseher, der auf einem eigenen Wagen durchs Schulgebäude gerollt wurde. Aber ich schweife ab…

Zum Leinwandensemble gehörte nämlich auch ein langer Zeigestab aus Fiberglas. Und dieser Zeigestab geriet bald ins Fadenkreuz unserer Klassenkonferenz. Der Stab wurde nämlich im jugendlichen Überschwang von den wilderen Jungs und Mädchen manchmal dazu benutzt, jemand anderen zu schlagen. Im Spiel war da keine böse Absicht dahinter, einfach nur Unbedachtheit. Jetzt ist so ein Fiberglasstab allerdings elastisch und bei einem etwa 1,50 Meter langen, schwingenden Stab ist der Schmerz des Schlages schon nicht ohne, auch wenn der Angreifer gar nicht so fest zuschlagen wollte.

Auf einer Klassenkonferenz jedenfalls sprach sich die Mehrheit dafür aus, den Stab in die Projektorkabine zu sperren, damit er nicht mehr als Waffe benutzt werden könnte. Ich war dagegen. Ich konnte nicht nachvollziehen, dass wir in der Klassengemeinschaft anscheinend zwar zu dem Konsens kommen konnten, dass das Schlagen mit dem Stab scheiße ist, wir uns aber nicht darauf einigen konnten, es einfach zu lassen. Als ginge eine magische Kraft von diesem Gegenstand aus, die den Träger zwingt, ihn als Waffe zu gebrauchen. Quasi ein tolkienscher Herrscherstab.

Bis heute vertrete ich die extrem liberale Position, dass Probleme im menschlichen Miteinander durch Kommunikation und nicht durch Verbote gelöst werden sollten. So ließ mich ein Update von Watchever unlängst entscheiden, ob ich eine maximale Fernsehdauer für meine Tochter (7) einstellen wolle. Ich entschied mich dagegen, übrigens wie gegen die Option in der Fritzbox jugendgefährdende Webseiten automatisch zu blockieren. Es wäre bequem für mich, per Knopfdruck meiner Tochter diese Verbote auszusprechen, hingegen wähle ich den komplizierten Weg, mit ihr zu diskutieren, warum sie nicht noch eine Folge von „Barbar, der Elefant“ sehen darf und den komplizierten Weg, ihr zu erklären, wie sie sich im Internet bewegen muss, ohne ungewollt auf Pornos oder gar Gewalt zu stoßen.

Allerdings ist diese Position nicht nur unbequemer, sie ist auch nicht ganz unproblematisch. Es ist – meine Überschrift deutete es an – der Slogan der amerikanischen Waffenlobby: Waffen töten keine Menschen, Menschen töten Menschen. Allein, alle Statistiken sagen das Gegenteil. In Europa haben wir viel strengere Waffengesetze und mit ihnen viel weniger Morde. Nun denke ich trotzdem, dass die amerikanische Waffenlobby mit ihrem Slogan im Grunde Recht hat. Allerdings ist ihre Lösung: dem Bad Guy mit einer Knarre einen Good Guy mit einer Knarre entgegenzusetzen, falsch. Die Probleme der amerikanischen Gesellschaft mit Gewalt haben so komplexe Ursachen (soziale Ungleichheit, mangelnde Bildung, Tradition, Sozialisation), dass letztlich wohl nur ein Verbot hier helfen kann. Auch wenn es den USA sicher gut tun würde, die Ursachen und nicht die Mittel zum Zweck zu bekämpfen.

Warum schreibst du das alles, Privatsprache?

Weil Caspar Clemens Mierau Tor verbieten will„, könnte ich sagen, tue ich aber nicht. Stattdessen sage ich: Leitmedium hat den Finger in einer dreckige, eitrige Wunde gelegt und bohrt darin herum. Und das kann er ziemlich gut. Was ist die Wunde in meiner Metapher? Wir haben in der Netzgemeinde ein Problem mit Hatern, mit der Kommentarkultur oder ganz generell mit unseren Umgangsformen.

Kleine Abschweifung: Ich lehne es – ähnlich wie Das Nuf – ab, in diesem Kontext von "Trollen" zu sprechen, da ich finde, dass das Wort Täter verniedlicht. Ein Troll ist jemand, der oder die in einer politischen Diskussion ein Katzenbild postet beziehungsweise der oder die in einem Supportforum jemanden rickrolled. Menschen, die andere Menschen systematisch fertigmachen, die Frauen mit Vergewaltigung drohen oder intime Details des Privatlebens ihrer Opponenten veröffentlichen, sind keine Trolle sondern soziopatische Arschlöcher oder eben Hater.

Aber was genau hat Mierau denn nun gesagt? Er hat darauf hingewiesen, dass der Anonymisierungsdienst Tor von Hatern genutzt werden kann, um sich – etwa im Falle einer Morddrohung – vor der Strafverfolgung zu verbergen. In den Kommentaren des Leitmediums wird noch darauf hingewiesen, dass Tor und ähnliche Anonymisierungsdienste noch zu ganz anderen Straftaten verwendet werden. Das berühmtesten Beispiel ist sicherlich Silk Road, eine Art ebay (auch) für schwere Drogen und sogar ekelige Sachen wie Auftragsmord. Ein Ort, den du tunlichst nur anonym aufsuchen solltest. Also ist ein Verbot von Tor eine logische Sache, wie der Verbot von Waffen, oder? Nun, es ist ein typischer Fall von Liberty Valence (Englisch für Valenz oder Wertigkeit der Freiheit).

Screenshot: The Man Who Shot Liberty Valance
Screenshot: The Man Who Shot Liberty Valance. Copyright: Paramount. Hier als Blueray bei Amazon*.

Noch eine kleine Abschweifung: Im Jahr 1962 drehte John Ford mit "Der Mann der Liberty Valance erschoss" ein Schlusskapitel zum Western. Ein großartiger Film, der schon mit epischen Vorausdeutungen wie der Eisenbahn und dem Automobil beginnt und damit endet, dass John Wayne an Altersschwäche stirbt. John Wayne! Im Bett! Ohne Schuhe! Im Film wird verhandelt, dass die Zeit der Outlaws vorbei ist und die Epoche der Anwälte und Politiker beginnt. Und es wird darauf verwiesen, dass mit der aufkommenden Sicherheit vor Gangstern eben auch ein Stück Freiheit dahin geht und kein Westernheld mehr am Ende in den Sonnenuntergang reitet. Freiheit ist eben ambivalent, verstehta?!

Freiheit und Sicherheit sind zwei widerstreitende Werte. Du kannst den einen nicht im gleichen Maße wie den anderen haben. Sie müssen stets in Balance gehalten werden. Absolute Freiheit ist Anarchie. Und das ist letztlich nur ein Naturzustand ohne Leviathan, in dem das Recht des Stärkeren gilt. Auf der anderen Seite pervertiert absolute Sicherheit zu Staatssicherheit und damit zum Totalitarismus. Denn wenn alles geregelt ist, brauchst du auch eine totale Überwachung um die Einhaltung dieser Regeln zu gewährleisten und drakonische Strafen, um Regelübertritte zu verhindern.

Nun hat sich seit 2001 die Balance in der Gesellschaft immer mehr in Richtung Sicherheit verschoben. In der gleichen Zeit jedoch wurde das Internet zum Massenmedium und hat sich seinen freiheitlichen Charakter noch weitgehend bewahrt. Und in diesem Spannungsfeld steht nun Mieraus Gedankenspiel zu einer Reglementierung von Tor. Er selbst spricht auch den Dual Use von Tor an, ohne jedoch auszusprechen, worin denn die zweite Seite besteht. Das möchte ich gerne nachholen: Im Schatten der Totalüberwachung durch Geheimdienste ist ein Mittel, um sich vor dieser zu schützen, vielleicht keine so schlechte Idee. Zwar weist CCM richtig darauf hin, dass die NSA keine Vergewaltigungsdruhungen verschickt und auch unsere Demokratie macht einen recht stabilen Eindruck, aber wir sollten nie vergessen, dass die zukünftige Geschichte noch nicht geschrieben ist, dass es keine Regeln oder Gesetze im Weltgeschehen gibt, aus denen abzuleiten wäre, dass unser Rechtsstaat auch morgen noch da ist: Improbable things happen. Vielleicht sehen wir uns in Kürze schon wieder mit einem Totalitarismus konfrontiert, der obendrein auch noch eine perfekte Überwachungsinfrastruktur vorfinden wird. Wollen wir da wirklich unsere Mittel zur Abwehr aus der Hand geben? Zudem gibt es auf dieser Welt schon heute viele totalitäre Regime, in denen Dissidenten, Widerstandskämpferinnen oder sogar komplette Zivilgesellschaften auf die Nutzung von Tor angewiesen sind, da sie ansonsten in Lebensgefahr sind.

Ich will hier nicht die psychische Unversehrtheit der einen gegen die physische der anderen aufwiegen, sondern den guten Usecase von Tor ausformulieren. Abschließend möchte ich zu bedenken geben, dass ich nicht glaube, dass ein Verbot oder eine Reglementierung von Tor einen gewünschten Effekt auf den Anstand der Hater hätte. Wäre es so, dann müsste das in seinen Klarnamenzwängen gefangene Facebook ein Hort der glücklichen Einhörner sein, doch auch dort sind Hass, Bedrohungen und psychische Gewalt an der Tagesordnung. Genauso wenig glaube ich, dass sich Menschen, wie der erst kürzlich von der FAZ portraitierte Uwe Ostertag überhaupt für Tor interessieren. Sie predigen ihre menschenverachtenden Botschaften auch trotz langer Features inklusive Klarnamennennungen.

Ich glaube auch im Fall der Hater ist die Antwort kein Knopf zum Abschalten und kein Projektorraum zum Wegsperren, sondern der komplizierte Weg der Kommunikation. Wir müssen die aufklären und überzeugen, dass wir einen anderen Umgangston im Netz brauchen, die mit sich reden lassen und wir müssen denen die Plattformen und die Toleranz vorenthalten, die lernresistent sind. Das ist schwer! Das ist nichts, was sich von heute auf morgen ändern wird! Das ist nervenaufreibend! Aber das ist möglich!

Gesellschaftliche Änderungen sind schon früher eingetreten und sie werden sich auch in Zukunft erkämpfen lassen…

Intention und Intension – Der Gang der Gauchos

Deutschland diskutiert die sogenannte Gaucho-Affäre. Stein des Anstoßes war dieses Auftreten von Teilen der deutschen Nationalmannschaft.

Nun gibt es eine Fraktion, die sich gewaltig aufregt, wie rassistisch dieser Tanz war.

Quelle: Reactiongifs. Lizenz: fragwürdig.

Während die andere Fraktion sich gewaltig aufregt, dass die erste Fraktion keine Ahnung hat, weil der Tanz doch gar nicht rassistisch gemeint war.

Quelle: Reactiongifs. Lizenz: fragwürdig.

Ich finde hieran kann man sehr schon den Unterschied zwischen zwei Begriffen der Semantik erkennen: Intention und Intension. Der erste Begriff „Intention“ ist landläufig bekannt und meint in etwa:

  • Was ist mit einem Symbol gemeint
  • Was ist die Absicht eines Symbols

Und vielleicht auch noch:

  • Was denkt man sich bei einem Symbol

Wobei das schon in Richtung der Intension geht. Oder gar:

  • Was bezweckt man mit einem Symbol

Das wiederum spielt in Illokution und Perlokution hinein, aber das ist Sache der Pragmatik und wurde bereits ein andermal besprochen

Die Fraktion, die also meint, man soll sich mal locker machen, wäre doch alles halb so schlimm. Die begründet das mit der Intention. Das Symbol ist in diesem Fall der Gaucho-Tanz: Die DFB-11 hat diesen nicht rassistisch gemeint, es war nicht die Absicht der DFB-11, rassistisch zu wirken, sie hatten keine rassistischen Gedanken und der Tanz hatte auch nicht bezweckt, einen neuen Nationalismus zu promoten. Das alles gestehe ich den weltmeisterlichen Tänzern auch zu. Das von Einwanderern und Einwanderernachkommen geprägte Team hatte bestimmt nicht die Absicht Rassismus zu propagieren, dafür werden sie von den Fußballerverbänden zu oft und zu intensiv auf Toleranz eingeschworen.

Was ist gutes Bier?

Also ist alles super, oder? Na ja, ich hatte da ja noch diesen zweiten Begriff: die Intension. Der stammt aus der Semantik und ist weitaus weniger bekannt als die Intention. Was hat es mit ihm auf sich? Die Intension ist der Sinn eines Symbols, seine Bedeutung (aber nicht im Fregeschen Sinn (haha…)). Sie stammt aus dem Begriffspaar Extension und Intension. Jeder Begriff hat eine Extension, einen Begriffsumfang. Wenn ich von „Bier“ spreche, bezieht sich dieser Begriff auf alle Dinge in der Welt, die Bier sind. Diese Dinge sind die Extension des Begriffs. Wenn ich hingegen von „Pils“ spreche, wird die Erfüllungsklasse des Begriffs kleiner und es fallen nur noch Biersorten darunter, die auf eine bestimmte Art und Weise gebraut wurden – die Extension ist also kleiner. Und richtig kompliziert wird es, wenn ich den Begriff „gutes Bier“ verwende. Die Extension dieses Ausdrucks ist äußerst verworren und führt etwa zwischen Köln und Düsseldorf immer wieder zu heftigen Diskussionen. Woran liegt das? Meine steile These: An der weiten Hälfte des Begrifffspaars Extension und Intension: der Intension. Die Intension, also der Sinn von „gut“ ist äußerst verworren und vor allem im höchsten Maße subjektiv.

Das Standardbeispiel mit dem Philosophie- und Linguistikstudierende Intension und Extension erlernen müssen ist Freges berühmtes Beispiel von „Abendstern“ und „Morgenstern“. Beide Begriffe haben die gleiche Extension: den Planeten Venus. Aber höchst unterschiedliche Intensionen: Ich kann zwar vom Morgenstern sagen, dass er der letzte Stern ist, den ich morgens am Himmel sehe. Aber das kann ich nicht vom Abendstern sagen…

Kehren wir jetzt zum Gaucho-Tanz zurück. War der jetzt rassistisch? Wie, zur Hölle, soll ich das entscheiden?! Ihr habt gesehen, wie kompliziert die Intension von so simplen Symbolen wie „Morgenstern“, „Abendstern“ oder gar „gutes Bier“ ist, aber das ist nichts gegen die Bedeutung eines so komplexen Symbols wie eines Tanzes. Schon alleine weil ich dafür erst einmal ganz tief in die Metapherntheorie einsteigen müsste und so Sachen wie „Ausdruck“ erläutern müsste!

Aber eines ist wichtig: Nach Wittgenstein ist die Bedeutung (im Sinne von Intension) eines Begriffs, sein Gebrauch in der Sprache. Und wir können hier ohne Probleme „Begriff“ durch „Symbol“ und „Sprache“ durch „Symbolsystem“ ersetzen. Was Wittgenstein mit diesem lyrischen Satz meint, ist, dass die Regeln der Verwendung eines Symbols bestimmen, was das Symbol aussagt. Der Gaucho-Tanz nun hat auf jeden Fall rassistische Bedeutungskomponenten, denn es wird einer Bevölkerungsgruppe (Argentiniern) eine Eigenschaft zugesprochen (geknickt zu gehen). Die Frage ist jetzt, ob „Gaucho“ metaphorisch nur für die argentinische Nationalmannschaft verwendet wurde und ob die Gangart dieser Mannschaft oder gar der Bevölkerungsgruppe wirklich als Wesenszug oder nur als ephemeres Attribut in der Niederlage zugeschrieben wurde. Die Verwendungsweise des Symbols ist eben unklar. Dabei ich habe noch nicht einmal mit Konnotationen angefangen…

Und wissta was? Genau das handeln wir gerade in der laufenden Debatte aus. Denn die Bedeutung von Symbolen steht nicht fest, sondern wandelt sich ständig. Rosa symbolisierte noch im 19. Jahrhundert Männlichkeit, doch der Gebrauch des Symbols hat sich massiv gewandelt!

Imperial Art Appreciation: Pink

Imperial Art Appreciation: Pink von JD Hancock Lizenz: CC BY 2.0.

Daher ist die aktuelle Diskussion nicht nervig sondern wichtig und richtig, damit wir die Bedeutung solcher Symbole in unserer Gesellschaft aushandeln können.

P.S.: Für mich ist übrigens ganz unstrittig, dass der Tanz zumindest hämisch war und das macht ihn und die Tänzer mir unsympathisch. Nicht so unsympathisch, dass ich nie wieder Fußball ansehen werde, aber er trübt mein Bild von der Mannschaft ein bisschen. Und da hilft der Hinweis darauf, dass es sich um einen etablierten Fangesang handelt nur wenig, denn nicht alles was in Fußballstadien passiert gefällt mir. So war ich zum Beispiel ungläubig verwundert als beim letzten Derby zwischen meiner Eintracht und Mainz, eine Mutter zwei Reihen vor mir „Alle Mainzer sind Hurensöhne“ skandierte, obwohl ihre vielleicht 10-Jährige Tochter daneben stand. Vielleicht sollte für Fußballstadien gelten, was für Vegas gilt:

panorama (Bearbeitung von mir) von  Martin Abegglen . Lizenz: CC BY-SA 2.0
panorama (Bearbeitung von mir) von Martin Abegglen. Lizenz: CC BY-SA 2.0

 

Literatur

Austin, John L. 1966. “Three Ways of Spilling Ink.” The Philosophical Review 75, 427-440. Printed in 1961, James O. Urmson and Geoffrey J. Warnock (eds.), Philosophical Papers (pp. 272-287). Oxford: Clarendon Press.

– Habe ich leider nirgends im Netz gefunden, über Hinweise freue ich mich…

Gottlob Frege: Sinn und Bedeutung. Hier legal und umsonst.

Nelson Goodman: Sprachen der Kunst*

Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen*

 

*hinterhältiger Affili-Link: Kauft ihr das Buch, bekomme ich eine winzige Provision und freue mich

 

Die Umdeutungen des Herrn Matussek – Eine Analyse

Ich habe keine Lust alten Menschen, die der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts nachtrauern, die Moral des 21. Jahrhunderts zu erklären. Deswegen halte ich mich meist fern von Artikeln, die Homosexualität „kritisch“ sehen oder traditionelle Werte oder Familienbilder heraufbeschwören wollen. Doch diesmal war es anders. Diesmal ließ mich die Überschrift von Matthias Matusseks Text in der Welt aufhorchen:

„Ich bin wohl homophob. Und das ist auch gut so“

Zu Herrn Matusseks Gunsten muss man einräumen, dass die Überschriften bei Zeitungen in der Regel von Redaktionen gemacht werden. Somit ist sie mutmaßlich nicht auf seinen Mist gewachsen, sondern wurde fremdgedüngt. Allerdings ist sie ein Zitat aus Matusseks Fließtext.

Aber was ist so erstaunlich an dieser Überschrift? Zunächst einmal ist dies ein direkter Diss gegen Herrn Wowereits Outing, der, als er Bürgermeister von Berlin wurde, die Worte sprach: „Ich bin schwul. Und das ist auch gut so.“. Die Welt gibt hier zu verstehen, dass sie Wowereit verabscheut und zwar nicht wegen seiner Politik sondern wegen seiner sexuellen Orientierung.

Die Deutungshoheit

Aber auch sprachanalytisch ist diese Überschrift bemerkenswert. Da ist zunächst einmal das kleine Wörtchen „wohl“, das die Aufgabe hat, sich vom Ausdruck „homophob“ zu distanzieren. Dies ist die Wortwahl der anderen, dabei, so wird impliziert, ist es normal, gegen Schwule und Lesben was auch immer zu haben.

Dies wird gleich durch den zweiten Teil der Überschrift unterstrichen „Und das ist auch gut so“. Dies ist ein normativer Satz, der daherkommt wie ein faktischer. Man kann diesen Satz umformulieren in „Und das sollte auch so sein“. Durch das „sollte“ sieht man, dass jemand hier seine moralischen Vorstellungen zum Ausdruck bringt und Moral ist immer diskutabel. Sie steht nicht fest sondern ist das Ergebnis der konsensualen Antwort auf die Frage „wie wollen wir leben?“. Aber auf diese Frage wollen Matussek und die Welt sich gar nicht erst einlassen (genauso wenig wie Wowereit seinerzeit), daher tauscht er das normative „sollte“ gegen das faktische „ist“. Er macht aus dem Werturteil ein Konstativa, eine Aussage über die Welt. Er versucht so, die Deutungshoheit zu bekommen. Wir sollen gar nicht erst auf die Idee kommen, dass Homophobie etwas Schlechtes ist.

Schattenboxen und Nazikeule

Auch im folgenden Abstrakt des Artikels stecken zwei schöne Sophismen:

„Wer nicht begeistert über Schwule spricht, ist gleich ein Schwulenhasser. Mittlerweile hat Homophobie dem Antisemitismus als schlimmste ideologische Sünde den Rang streitig gemacht“

Der erste Satz ist eine rhetorische Figur, die ich „Schattenboxen“ nennen möchte. Matussek und die Welt versuchen hier ihren Gegnern etwas in den Mund zu legen, was diese gar nicht gesagt haben. Aus der Forderung, die Realität zu akzeptieren, dass es verschiedene sexuale Orientierungen gibt, die natürlich vorkommen und die wir deshalb gesellschaftlich als normal anerkennen sollten, macht Matussek eine Begeisterung. Er versucht hier seine Leser an der Hand zu nehmen und zu der Überzeugung zu führen, dass diese Toleranten fordern, jeder müsse gleichgeseschlechtlichen Sex anstreben, ob das nun seinen sexuellen Vorlieben entspricht oder nicht.

Gefolgt wird dieses Argument von der Nazikeule. Ethiken sind nicht letztbegründbar, weswegen wir in ethischen Diskussionen als mahnendes Beispiel oft auf den Worst Case referieren. Das war zweifellos der Holocaust. Matussek weiß, dass er sich in diese Gefahr begibt, wenn er für Diskriminierung eintritt, deswegen versucht er Gegenargumenten sofort den Wind aus den Segeln zu nehmen: Er sagt, ich weiß, dass ihr mich gleich einen Nazi nennen werdet, aber dann seit ihr nicht besser als jene Menschen, die immer gleich „Antisemitismus“ schreien, also nicht ernst zu nehmen. Das ist aus vielerei Gründen ein garstiges Argument, aber vor allem weil es implizit zum Ausdruck bringt, dass nicht nur Homophobie, sondern auch Antisemitismus voll okay seien…

Das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen: Matussek sagt, das man jetzt nicht mehr bloß Juden nicht hassen darf, sondern auch noch Homosexuelle!

Man wird doch wohl noch sagen dürfen

Nachdem Herr Matussek nun also den Rahmen abgesteckt hat, kann er uns als nächstes direkt ansprechen, indem er uns eine Anekdote erzählt. Um sich dennoch in Sicherheit zu wiegen, ist das, was er nun erzählt, vorsichtshalber „einem Freund“ passiert. Dieser erlebte nämlich unter widrigen Umständen

„weit nach Mitternacht, die Selbstkontrolle schwand zusehends“

einen Moment der Klarheit. Indem ihm entfuhr, als in Maischbergers viel erwähnter Sendung vom Ideal der Vater-Mutter-Kind-Familie die Rede war, demnächst dürfe man wohl auch nicht mehr in Gegenwart eines Rollstuhlfahrers von einem Wanderurlaub erzählen.

Eingebettet in die Anekdote fährt hier Mattusek mit seiner Strategie aus der Überschrift fort, indem er versucht normative Sätze in faktische umzudeuten. Denn bei Maischberger geht es ja um ein Ideal, also die Frage, wie etwas sein sollte. Hingegen handelt die Urlaubs-Anekdote von Fakten, dort wird kein Werturteil gefällt, nicht vorgeschrieben, dass alle Menschen nur noch wandern dürfen (eine Horrorvorstellung für mich!), sondern lediglich dargestellt, wie etwas war: der Urlaub eines einzigen Menschen. Der Grund, warum Matussek diesen Haken schlägt, ist, dass er auf die beliebte „Man wird doch wohl noch sagen dürfen“-Argumentation hinaus will. Die er dann in den folgenden Absätzen rund um Spanien, die Kirche und die Bibel weiter ausführt. Der Abschnitt ist ansonsten wenig spannend, er argumentiert ein bisschen biologistisch von der natürlichen Ordnung der Dinge (Ob er sich der Ironie bewusst ist, dass das Ding, auf dem er diese Sätze schreibt, so ziemlich das Unnatürlichste ist, was man sich denken kann: der Computer?) – alles ziemlich egal und rhetorisch schwach.

Ein Unrecht mit einem anderen rechtfertigen

Rhetorisch spannend wird es erst wieder hier:

„Von allen autokratischen Fehlleistungen Putins gilt seine Kampagne gegen Homosexuelle als die allerniederträchtigste, egal, wen er sonst so ins Gefängnis steckt.“

Hier versucht er zunächst einmal wieder das Schattenboxen: Niemand hat jemals behauptet, dass Homosexuellendiskriminierung schlimm, alles andere aber egal ist. Aber was Matussek hier darüber hinaus tut, ist spannend: Er versucht ein Unrecht mit einem anderen Unrecht zu rechtfertigen. Aber das ist nicht zulässig. Du kannst in einer Ethik nicht so argumentieren, dass es okay ist, zu rauben, weil andere morden. Das eine legitimiert das  andere schlichtweg nicht, so sehr ich mich auch winde. Genauso wenig legitimieren Putins sonstige „autokratische Fehlleistungen“ die Diskriminierung von Homosexuellen.

Um uns dennoch mit diesem falschen Argument einzulullen, bettet Matussek es gleich wieder in eine Anekdote ein von seinen Nachbarn, die jetzt wegen der Homosexuellen kein Olympia gucken. Diese Deppen! Schließlich gucken wir alle doch die Spiele, also müssen seine Nachbarn ja irren! Und wir können beruhigt die Fernbedienung in der Hand behalten, weil der liebe Herr M. gesagt hat, dass das okay ist.

Umdeutung der Rollen

Der folgende Absatz glänzt vor allem durch Hohn und Spott:

„Homosexualität, Bisexualität, Transsexualität, alles völlig normaaaal. Alles wurscht.“

Das ist eine Strategie, die auch im Kindergarten meiner Tochter sehr beliebt ist. Wenn jemand etwas sagt, auf das ich nichts erwidern kann, dann mache ich mich eben mit Nonsense über das gesagte lustig-schmustig! Der Grund für diese Strategie, liegt darin, dass Matussek versucht sich und seinesgleichen in die Opferrolle zu schmuggeln, wie Stefan Niggemeier unlängst vorzüglich darlegte. Was fällt denn diesen unverschämten Toleranten ein, dass sie meine Intoleranz nicht tolerieren? Und dass wir die Intoleranten gefälligst tolerieren müssen, wird auch dem letzten klar, wenn wir ein bisschen Stalinismus-Rhetorik verwenden:

„Sie zielte ab auf eine innere Bejahung, auf den umerzogenen NEUEN MENSCHEN.“

Namedropping

Als nächstes führt Matussek das Namedropping ein: Max Weber mochte S&M ohne das an die große Glocke zu hängen, also haben Schwule und Lesben auch zu schweigen. Und die großen Philosophen Robert Spaemann und Aristoteles haben auch schon aus einem Sein ein Sollen gemacht, indem sie homosexuelle Liebe als defizitär ansahen, weil sie keine Kinder zeugen könne. Dann muss es ja stimmen, oder?

Nachdem sich Matussek noch einmal mit ironischer Selbstbezichtigung versucht, gegen Kritik abzusichern, endet er damit, ein letztes Mal sich auf die natürlich Ordnung zu berufen und damit von einem Sein auf ein Sollen zu schließen. Der Sein-Sollen-Fehlschluss aber ist ein logischer Fehler, das sollte jemand der Aristoteles zitiert schon wissen. Wenn ihr wissen wollt, warum, könnt ihr es hier nachlesen.

Ich bin raus.

Demut

eine Begriffsbestimmung

[Dieser Blogpost ist so lang, dass du schon wahnsinnig sein musst, wenn du ihn komplett liest. Daher kannst du einfach ans Fazit springen und den ganzen Schmonzes dazwischen auslassen. Dann wirst du feststellen, dass das Fazit so interessant ist, dass du auch das davor lesen willst und insgesamt noch viel mehr Zeit verplempern: Das Zeitreisenparadoxon.]

Zum Fazit springen

Besinnlich wird es zum Advent auch im deutschsprachigen Internet. Da kann es dann auch mal vorkommen, dass sich ein paar Blogger an den Begriff der Demut heranwagen. Ausgelöst wurde die Begriffsbestimmung vom Haltungsturnen, es folgten wirres.net und – logischerweise – Anmut und Demut.

Demut

Demut. Bild von mir. Lizenz: CC BY 3.0.

Ich finde es erstaunlich, dass auf der Klaviatur der ethischen Begriffe ausgerechnet auf diese Taste gedrückt wurde. Und das gleich drei Mal! Ich hätte vermutet, dass der Begriff schon längst vom Strom des Sprachwandels hinfortgespült worden ist. Zumindest in meinem abschließenden Vokabular spielt das Wörtchen keine Rolle mehr. Und fast noch erstaunlicher finde ich, dass alle drei Interpreten den Begriff der Demut positiv deuten, während ich es bei ihm eher mit Nietzsche halte. Doch eines nach dem anderen, schauen wir doch erst einmal, was die drei demütig zu verkünden haben. Denn das ist mein eigentliches Anliegen: hier kann man mal richtig schön Sprachanalyse betreiben und ganz im Sinne Wittgensteins „dem Volk“ aufs Maul schauen. Also: Was ist Demut?

Haltungsturnen + Pferde + Kinder = Demut

Ich musste schon ein wenig Schmunzeln, als ich über der Überschrift „Demut“ den Slogan von Wolfgang Luenenbuerger-Reidenbachs Seite las: „Niveau sieht nur von unten aus wie Arroganz“. Hmmm… Nicht gerade demütig, oder? Im Gegenteil: Ist nicht gerade das „Unten“ der Ort der Demut? Aber das nur am Rande…

Wolfgang Luenenbuerger-Reidenbach geht seine Definition in platonischer Tradition extensional an, indem er sich fragt, was unter den Begriff fällt beziehungsweise was ihn demütig macht:

„Kinder und Pferde machen demütig. Mich jedenfalls. Anderen wird es vielleicht mit anderem so gehen. Aber Kinder und Pferde erinnern mich immer wieder daran, wie zufällig so vieles ist, wie wenig binär, eindeutig, plan- und beherrschbar.“

Wolfgang Luenenbuerger-Reidenbach: Demut.

In diesem Absatz stecken schon drei spannende Aspekte des Begriffs:

  1. Demut ist ein innerer Zustand. Anders als zum Beispiel Freiheit hat die Gesellschaft darauf keinen Einfluss. Egal welchen äußeren Einflüssen ich unterliege, ich kann immer demütig sein.
  2. Demut bezieht sich auf etwas. Es ist kein alleinstehender Wert. Wieder verglichen mit der Freiheit zeigt sich der Unterschied. Freiheit ist absolut. Ein unveräußerliches Recht. Es gibt sowohl die Freiheit von etwas, als auch die Freiheit zu etwas. Demut hingegen steht immer in einer Relation zu einem anderen Wert.
  3. Demut hat etwas mit Bewusstmachen zu tun. Luenenbuerger-Reidenbach erinnert sich an etwas, das macht ihn demütig.

So weit, so gut.

Aus dieser ersten Annäherung an den Begriff zieht Wolfgang Luenenbuerger-Reidenbach aber sogleich einen falschen Schluss, indem er technikpositivistischen Menschen und Technokraten Demut abspricht. Aber warum sollte das so sein? Alle drei oben erwähnten Bedeutungsaspekte von Demut kann ich auch auf Technikpositivismus oder Technokratie anwenden. Es gibt keine intrinsischen Bedeutungsaspekte von Technikpositivismus oder Technokratie, die mit Demut im Widerspruch stehen. Ich kann sehr demütig daruf hoffen, dass der Replikator erfunden wird und mit ihm der Hunger der Welt endet. Genauso kann ich als Technokrat vor jeder Regierungsentscheidung Wissenschaftler befragen, um dann ganz demütig zu einer Entscheidung zu kommen. Luenenbuerger-Reidenbach zieht diesen Schluss, um damit implizit einen weiteren, zentralen Bedeutungsaspekt von Demut einzuführen:

„Ob es wirklich und ernsthaft Menschen geben kann, die sich nicht nur einzureden versuchen (ob aus Schwäche und Unsicherheit oder aus Kalkül), sie könnten die Zukunft vertraglich regeln oder die Funktionsweise von irgendwas mit Menschen oder der Natur mithilfe von Gesetzmäßigkeiten erklären und vorhersagen.“

Wolfgang Luenenbuerger-Reidenbach: Demut.

Demut ist das Gegenteil von Hybris, Arroganz und Hochmut. Sie ist verwandt mit Bescheidenheit. Allerdings muss ich noch einmal betonen, dass Luenenbuerger-Reidenbach keinerlei Argument liefert, warum Technikpositivismus oder Technokratie nicht auch demütig sein können. Seine vemeintliche Schlussfolgerung ist ein purer Sophismus. Karl Poppers Stückwerk-Sozialtechnik ist ein äußerst technokratischer Ansatz. Aber gerade im Wissen um seine eigene Fehlbarkeit erscheint er mir demütig, in dem Sinne in dem Luenenbuerger-Reidenbach den Begriff verwendet. Letzterer benutzt die Demut hier als nichts anderes, denn als Buzzword um seine Abneigung gegenüber Technokratie und Technikpostivismus zur Schau zu stellen. Technikpositivismus und Technokratie sind böse weil Demut! Eine Begründung lässt er aus.

Aus dieser Einstellung heraus folgt im Haltungsturnen ein Rant über den Begriff des Naturgesetzes, den wir hier vernachlässigen können, weil er m. E. auf einer falschen Definition des Begriffs aufbaut. Interessant ist noch dieses Zitat bevor wir uns den Wirren von wirres.net zuwenden:

„Nur Wesen, die wir gebrochen haben, ergeben sich in die Beherrschbarkeit“

Wolfgang Luenenbuerger-Reidenbach: Demut.

Denn meinem Verständnis nach gibt es noch etwas anderes, das Beherrschbarkeit über Jahrhunderte hinweg ermöglicht hat: Demut. Ich werde das später noch weiter ausführen.

Wahrheit und Fehlbarkeit

„Madame Kovarian: Good men have too many rules.
The Doctor: Good men don’t need rules. Today is not the day to find out why I have so many.“

Doctor Who: A Good Man Goes to War.

Da dieser Text schon jetzt langsam tl;dr wird, möchte ich zu Felix Schwenzel und seinem Demut-Text voranschreiten. Denn dieser bringt mein Problem mit der Demut sogleich auf den Punkt, auch wenn sein Autor es negiert:

„für mich spielt der bedeutungsaspekt [sic! Stellvertretend für jedes kleingeschriebene Substantiv, das noch kommt; db] der unterwürfigkeit weniger eine rolle, als die bescheidenheit. und zwar nicht bescheidenheit im sinne von understatement, sondern im sinne eines eingeständnisses der eigenen fehlbarkeit.“

Felix Schwenzel: Demut.

Hier haben wir also drei weitere Bedeutungsaspekte von Demut:

1. Unterwürfigkeit
2. Bescheidenheit
3. Eingeständnis der eigenen Fehlbarkeit

Schwenzel fährt fort, indem er auch wieder die innere Haltung ins Spiel bringt, kombiniert mit Toleranz und Respekt:

„eine haltung, die den austausch und die kommunikation mit anderen menschen erleichtert, aber auch den umgang mit und das verständnis der welt.“

Felix Schwenzel: Demut.

Dann macht er etwas spannendes, nämlich die epistemologische Wende des Begriffs der Demut:

„…sogenannten wahrheiten immer differenziert, skeptisch und mit demut zu begegnen. denn ich bin überzeugt davon, dass menschen, die glauben im besitz der wahrheit zu sein, die welt zur hölle machen.“

Felix Schwenzel: Demut.

Er setzt hier Demut in Relation zu Skepsis und differenzierter Betrachtung in Bezug auf die Wahrheit. Das begründet er dann moralisch. Menschen, die sich im Besitz der Wahrheit wähnen, werden zu Tyrannen. Das ist ein spannender Punkt, den ich partiell teile, wenngleich ich ihn wesentlich vorsichtiger formulieren würde. Denn ich glaube nicht, dass die Gewissheit, dass ich jetzt eine Hand hochhalte, mich in die Gefahr bringt, tyrannisch zu werden. Da ich Felix Schwenzel auch nicht unterstellen möchte, dass er so weit gehen würde, ist mit der Gewissheit, also dem Besitz der Wahrheit, auf den er sich bezieht, wohl etwas anderes gemeint. Eine besondere Form der Gewissheit: das Wissen darum, was moralisch richtig ist. Menschen, die sich dessen gewiss sind, die ihre Handlungen nicht hinterfragen, sind gefährlich. Sie sind nicht demütig.

„das eingeständnis von fehlbarkeit bedeutet keinesfalls, dass man nicht felsenfest von etwas überzeugt sein kann. solange man diese überzeugung, wie ein guter wissenschaftler, als hypothese betrachtet, die durch neue fakten, andere blickwinkel oder perspektiven neu evaluiert oder formuliert werden muss.“

Felix Schwenzel: Demut.

So fährt Schwenzel fort. Auch das ist wieder ein sehr schöner Gedanke, denn er versteht Demut hier als moralische Falsifikation. Aber auch hier geht er wieder zu weit, indem er dann folgert:

„genaugesehen sind alle unsere urteile vorurteile. wir können versuchen unsere urteile auf eine möglichst breite basis zu stellen, aber niemals ausschliessen, dass wir etwas übersehen oder vergessen haben.“

Felix Schwenzel: Demut.

Es gibt vier Arten von Urteilen:

  1. die Abduktion (Schluss von einem Einzelfall auf etwas Allgemeines)
  2. die Induktion (Schluss von einer Reihe von Einzelfällen auf etwas Allgemeines)
  3. die Deduktion (Schluss vom Allgemeinen auf einen Einzelfall)
    und
  4. die Analogie (Schluss von einem Einzelfall auf einen anderen Einzelfall aufgrund einer Ähnlichkeit)

Und nur 1. und mit Einschränkungen noch 2. sind Vorurteile. Nicht hingegen, dass Sokrates sterblich ist, wenn er ein Mensch ist und alle Menschem sterben (3.). Oder dass die 1. Person singular im Futur I von „möpen“ „ich werde möpen“ lautet, weil die 1. Person singular im Futur I von „sagen“ genau so gebildet wird (4.).

Doch das nur am Rande, denn Felix Schwenzel liefert uns noch weitere Bedeutungsaspekte von Demut:

„demut muss man lernen. sie ist ein erkenntnisprozess und nichts schwermütiges oder trübsinniges.“

Felix Schwenzel: Demut.

Während er den Lernaspekt mit der Abduktion seiner eigenen Kindheit begründet, lässt Schwenzel den zweiten Teil der Hypothese etwas wirr unbegründet stehen. Das ist schade, denn das sind genau die Konnotationen von Demut, die mir den Begriff unangenehm machen. Genau diese Argumentation wäre also für mich die eigentlich spannende gewesen.

Platz halten: Demut!


Kommen wir zum letzten Teil unseres Triptychons: anmut und demut. Benjamin Birkenhake beginnt seinen Beitrag zur Demut etwas konfus:

„Im Titel dieses Blogs verwende ich „demut“ in zwei Bedeutungen: Zum einen als Platzhalter für alles Gute und Wahre – im Zusammenspiel mit „anmut“ als Platzhalter für alle Schöne und Faszinierende. Obschon mir die Demut eigentlich eine relative Tugend scheint, weil man jemandem, oder anderen gegenüber demütig ist, im Zweifel im Verhältnis zu seinem vorherigen Ich, scheint sie mir eine Primärtugend zu sein. Man kann nicht demütig sein und zugleich ein KZ führen. Sie ist eine der Tugenden, die uns vor der Barbarei rettet.“

Benjamin Birkenhake: Demut.

Zum einen fehlt mir das „zum anderen“ hier und zum anderen macht Birkenhake mehr als zwei Bedeutungen auf:

  1. Demut ist Platzhalter für alles Gute und Wahre. Hat also irgendetwas mit Erkenntnis und Moral zu tun.
  2. Demut ist eine relative Tugend – den Aspekt hatten wir oben schon bei Luenenbuerger-Reidenbach. Doch anders als beim Haltungsturnen wird hier die Demut nicht in Relation zu einem anderen Wert sondern zu einer anderen Person gesetzt. Sofern ich diesen wirklich konfusen Satz richtig auslege, kann die andere Person auch man selbst in der Vergangenheit sein. Was auch immer das bedeuten mag.
    Da Benjamin Birkenhake uns sicher nicht das Zeitreisenparadoxon erklären will, scheint er wohl zu sagen, dass man sich demütig gegenüber Positionen zeigen soll, die man selbst früher mal vertreten hat. Oder bin ich total auf dem Holzweg? Mir erschließt sich das überhaupt nicht: Wenn ich zu einer neuen Erkenntnis gelangt bin, etwa dass die Erde eine Kugel und keine Scheibe ist, warum soll ich dann Demut vor meinem Ich haben, das noch dem Irrglauben verhaftet ist, dass unsere Erde Pizzagestalt hat? Vielleicht meint er wohl doch das Zeitreisenparadoxon…
  3. Demut ist eine Primärtugend
  4. Demut schützt vor Barbarei

Spannend ist wohl vor allem 3. und die Frage, was Birkenhake unter „Primärtugend“ versteht. Leider lässt er den Begriff hier ganz isoliert ohne Erläuterung stehen. Möglicherweise meint er Kardinaltugend, aber das ist ein weiteres Mal bloße Spekulation. Und ein Blick in die Wikipedia genügt, um festzustellen, dass die Demut gerade nicht dafür bekannt ist, eine Kardinaltugend zu sein. Allerdings schreibt Birkenhake ja, dass sie für ihn eine Primärtugend ist. Jedoch ergibt sich daraus ein anderes Problem, dem ich mich gleich noch widmen werde.

„Zum anderen ist sie mir – wie ich oben schon erwähnt habe – vor allem eine Mahnung.“

Benjamin Birkenhake: Demut.

Ahhh, da ist „das andere“. Da schlägt jemand lange Bögen – das mag ich. Aber was lernen wir von ihm hier über die Demut? Demut ist eine Mahnung oder Lektion. Die Demut wird von ihm erneut in Relation zum Erinnern gesetzt. Aber Birkenhake erinnert nicht – wie oben Luenenbuerger-Reidenbach – ein Drittes an Demut. Stattdessen muss er sich selbst an sie, die Demut, erinnern: ermahnen. Demut ist ferner ein Prozess, eine Persönlichkeitsentwicklung. Allerdings er schließt an, dass diese Entwicklung nie abgeschlossen ist. Da stellt sich mir die Frage, ob man dann wirklich von einer „Entwicklung“ sprechen kann. Gehört es nicht zum Begriff der Entwicklung, dass sie irgendwann abgeschlossen ist? Zumindest wenn sie nicht gestört wird. Was Benjamin Birkenhake hier anspricht scheint eher ein innerer Kampf zu sein. Es gibt einen demütigen und einen hochmütigen Aspekt meines Charakters, die sich bekämpfen und ich muss mich zeitlebens bemühen, dass der Hochmut nicht gewinnt.

Mit Anmut und Demut fährt Benjamin Birkenhake fort, dass die Demut für ihn eine „säkulare“ Tugend ist. Diese Idee führt ihn stilistisch zur anfänglichen Konfusion zurück, denn Demut sei eine Überzeugung, nicht rational sondern ein Glaube. Er meint sogar, aus rationalen Gründen demütig zu sein, sei quatsch. Aber – und hier schreit die Kontradiktion schriller als Oskar Matzerath – die Demut sei ein „säkularer Glaube“.

„Es bedarf keiner Metaphysik, keinen religiösen Elementen, um Demut als Position zu wählen. Und das Praktizieren von Demut erfordert weder Glauben, noch Ritaule. Demut ist neben der Selbstbeurteilung zuerst ein Verhaltensmuster anderen gegenüber.“

Benjamin Birkenhake: Demut.

Sorry Herr Birkenhake, aber bitte kriegen Sie mal Ihre Terminologie auf die Reihe!

Zum ersten: Welchen Metaphysikbegriff hat er? Es liest sich so, als würde er „Metaphysik“ mit „Religion“ gleichsetzen, das aber ist eine steile These. Ich bediene mich hier mal der Wikipedia, die die Fragestellungen der Metaphysik folgendermaßen wiedergibt:

„Gibt es einen letzten Sinn, warum die Welt überhaupt existiert? Und dafür, dass sie gerade so eingerichtet ist, wie sie es ist? Gibt es einen Gott/Götter und wenn ja, was können wir über ihn/sie wissen? Was macht das Wesen des Menschen aus? Gibt es so etwas wie „Geistiges“, insbesondere einen grundlegenden Unterschied zwischen Geist und Materie (Leib-Seele-Problem)? Besitzt der Mensch eine unsterbliche Seele, verfügt er über einen Freien Willen? Verändert sich alles oder gibt es auch Dinge und Zusammenhänge, die bei allem Wechsel der Erscheinungen immer gleich bleiben?“

Wikipedia: Metaphysik.

Wie wir sehen, umfasst Metaphysik weit mehr als bloß Fragestellungen der Religion. Ferner widerspricht sich Birkenhake indem er plötzlich behauptet, Demut erfodere keinen Glauben. Also Demut ist ein Glaube erfordert aber keinen Glauben? Ich glaube wir sind hier wieder beim Zeitreisenparadoxon angelangt…

Statt dessen wird Demut in anmut und demut nun als Selbstbeurteilung und Verhaltensmuster anderen gegenüber erklärt. Dafür gibt es einen Terminus in der Philosophie: Ein Wert oder – wie es oben schon stand – eine Tugend. Nix mit Glaube oder so. Das sind zwei Paar Schuhe. Ich glaube… aber das ist einmal mehr bloße Spekulation … dass Benjamin Birkenhake hier auf die Letztbegründungsproblematik hinaus will. Ich kann eine Ethik nicht letztbegründen. Warum das so ist, habe ich bereits hier und hier ausgeführt. Den Weg, den die theistischen Religionen gehen, um ihre Ethik zu begründen ist das Dogma. Sie begründen jeden Wert und jede Norm mit: „Weil Gott es so will“. Möglicherweise versucht uns Birkenhake zu sagen, dass er auf diese Letztbegründung verzichten will, stattdessen will er die Demut selbst als letzten Grund ansetzen. Das wäre natürlich logisch keinen Deut besser als Gott, denn damit erhebt er sich selbst zum Maß aller Dinge. Und der belesene Platonkenner weiß, dass daraus der performative Widerspruch folgt. Aber das möchte ich hier nicht weiter ausführen, denn wie gesagt, ist das bloße Spekulation und ich habe nicht einen blassen Schimmer ob es das ist, was Birkenhake uns sagen will, oder ob er auf etwas ganz anderes hinaus will. Schauen wir mal, was er sonst noch zu sagen hat.

„Ich denke hinter der Demut steht vor allem die Überzeugung und Erfahrung, dass eine ganze Reihe von Glücksversprechen mit denen wir aufwachsen nichts als Irrlichter sind. Karriere, Wohlstand, Ansehen, Macht …“

Benjamin Birkenhake: Demut.

Hier kommen wieder die Bescheidenheit und die Skepsis zum Vorschein. Demut sei ein Wegweiser, der auf die kleinen Freuden im Leben verweise. Weniger ist mehr, mit anderen Worten: Genügsamkeit wird hier als ein Bedeutungsaspekt von Demut hervorgehoben. Birkenhake fährt fort, dass demütig Interagieren mit anderen bedeutet, „Rücksicht und Gnade“ walten zu lassen. Und schließlich charakterisiert er die Demut als diejenige Tugend, die hinter Rawls „Schleier des Nichtwissens“ steckt.
Puuuh… That’s a tough one. Denn Rawls Schleier basiert ja auf der Idee, dass alle Akteure in einer Gesellschaft zunächst einmal nicht demütig sondern egoistisch agieren. Erst wenn sie nicht wissen, wo sie in der Gesellschaft stehen, sind sie bereit anderen Güter zukommen zu lassen, aus Angst selbst benachteiligt zu werden. Aber das heißt ja nicht, dass Birkenhake unrecht hat. Gewissermaßen könnte man den Schleier als Metapher für die Demut verstehen. Das würde Demut eine altruistische Bedeutungskomponente geben…

Benjamin Birkenhake schließt, indem er zu Luenenbuerger-Reidenbachs Kindern und Pferden zurückgekehrt. Er übersetzt diese, indem er demütig noch einmal darauf hinweist, dass er (und ich möchte ergänzen: „und ich und du“) nur einer (drei) Menschen von sieben Milliarden sind.

Die Quintessenz: Was ist Demut?

So, nun haben wir die drei Blogposts erfolgreich analysiert. Schauen wir also mal, was hinten raustropft, wenn wir den Begriff der Demut auswringen. Welche Bedeutungsaspekte hat „Demut“?

  1. Demut ist ein innerer Zustand
  2. Demut ist eine Relation, kein alleinstehender Wert
  3. Zur Demut gehört, sich etwas bewusst machen
  4. Demut ist das Gegenteil von Hybris, Arroganz und Hochmut
  5. Zur Demut gehört Bescheidenheit
  6. Unterwürfigkeit
  7. Eingeständnis der eigenen Fehlbarkeit
  8. Skepsis
  9. Differenzierte Betrachtung in Bezug auf die Wahrheit
  10. Zweifel, was moralisch richtig ist
  11. moralische Falsifikation
  12. Demut muss man lernen
  13. Demut ist Platzhalter für alles Gute und Wahre. Hat also irgendetwas mit Erkenntnis und Moral zu tun.
  14. Demut kann eine Relation zu einem anderen Wert oder zu einer anderen Person sein
  15. Demut ist eine Primärtugend
  16. Demut schützt vor Barbarei
  17. Demut ist eine Mahnung oder Lektion
  18. Demut ist ein Prozess, eine Persönlichkeitsentwicklung oder ein innerer Kampf
  19. Eine Überzeugung
  20. Ein Glaube
  21. Selbstbeurteilung und Verhaltensmuster anderen gegenüber
  22. Ein Wegweiser
  23. Genügsamkeit
  24. demütig Interagieren mit anderen bedeutet, „Rücksicht und Gnade“ walten zu lass
  25. Rawls „Schleier des Nichtwissens“
  26. Altruismus

Diese allzu unordentlich Liste kann man in drei Bedeutungsfelder einteilen:

Zunächst einmal haben alle drei Autoren Bedeutungsaspekte hervorgearbeitet, die allgemein für Werte gelten und die die Demut im Wertespektrum verordnen. Das gilt allem voran für „Demut schützt vor Barbarei“. Uns vor Barbarei zu schützen, ist die grundsätzliche Aufgabe einer jeden Ethik. Die Decke der Zivilisation ist äußerst dünn und allen voran der Nationalsozialismus aber auch – in jüngerer Zeit – der Bosnien-Krieg oder der Völkermord in Ruanda haben gezeigt, wie leicht sie abgestreift ist. Ethische Regeln haben genau diese Aufgabe: Die zivilisatorische Decke schön festzurrren, um somit Barbarei möglichst zu verhindern. Dass Demut ein Wegweiser und eine Überzeugung ist, eine Mahnung oder Lektion, dass man sie lernen muss, dass sie eine Selbstbeurteilung und Verhaltensmuster anderen gegenüber ist und in ihrer Unbegründbarkeit sogar einem Glauben ähnelt, teilt die Demut mit allen anderen normativen Sätzen. Eben das machen sie zu einem Wert, einer Norm, einer Tugend. Demut als einen Prozess, eine Persönlichkeitsentwicklung oder ein innerer Kampf zu charakterisieren bedeutet genau ihren Kern als Tugend (und wie wir mit Tugenden umgehen) zu definieren.
Kommen wir zur Einordnung der Tugend im Wertespektrum: Als Tugend bezieht sich die Demut dann auf einen inneren Zustand. Sie verhält sich da genau wie etwa der Verzicht auf Neid, Missgunst oder Hass. Sie gibt weniger konkrete Handlungsanweisungen im Miteinander mit anderen Menschen wie die Gerechtigkeit oder die Freiheit (im Sinne vom Zugestehen von Freiheiten) sondern bezieht sich auf unsere Gefühle unsere Einstellungen der Welt und unseren Mitmenschen gegenüber. Das kombiniert die Demut mit ihrem relationalem Charakter. Man ist in Bezug auf etwas oder jemanden demütig. Was dieses andere ist, demgegenüber man demütig ist, ist nun sehr schwer zu fassen, denn es scheint weitgehend eine subjektive Entscheidung zu sein.

Diese subjektive Entscheidung spiegelt sich im zweiten Bedeutungsfeld, das unsere Autoren aufgemacht haben, in dem sie sich mit den Zweifeln und der Bewusstmachung herumgeschlagen haben. Auf der Suche nach etwas, demgegenüber ich demütig sein sollte oder sein kann, muss ich zunächst meine eigene Fehlbarkeit eingestehen. Das ist eine Krux, denn das impliziert natürlich auch, dass der Wert der Demut ein Irrtum sein kann. Ich muss gegenüber meinen eigenen Überzeugungen und gegenüber den (moralischen) Gewissheiten anderer immer Skepsis an den Tag legen. Ich muss stets bereit sein, vermeintliche Wahrheiten differenziert zu betrachten, Zweifel haben, was moralisch richtig ist und in eben diesem Zweifel meine moralischen Werte auch falsifizieren.

Und diese Einstellung, der Zweifel und die Vorsicht führen uns dann zum dritten Bedeutungsfeld der Demut. Denn aus ihnen folgt die Bescheidenheit, die Genügsamkeit und der Altruismus. Ich muss mich vor der eigenen Hybris, Arroganz und dem eigenen Hochmut in Acht nehmen. Meinen Mitmenschen gegenüber „Rücksicht und Gnade“ walten lassen, auch wenn es sich arg mittelalterlich-christlich anhört. Doch genau das führt uns zu der letzten Bedeutungskomponente der Demut, die zweifellos da ist, auch wenn sie wie das ungeliebte Kind in den Keller gesperrt wird. Vielleicht wird sie sogar nur von der Demut konnotiert, doch sie lässt sich nicht verleugnen, selbst wenn unsere Autoren betonen, dass sie ihnen nicht so wichtig ist. Zur Demut gehört eben auch die Unterwürfigkeit. Und sie ist die „dunkle Seite der Macht“. Sie ist genau jener Aspekt an der Demut der mich stört und der sie aus meinem abschließenden Vokabular verbannt hat.

Doch bevor ich zu diesem letzten Kapitel dieses langen, allzu langen, Textes voranschreite, möchte ich noch eines zur Bedeutung der Demut sagen: Aus alldem – besonders aus der Relationseigenschaft und dem inneren Wert, schließe ich, dass die Demut gerade keine Primär- oder Kardinaltugend ist, sondern immer nur gut und wichtig, wenn sie richtig eingesetzt wird.

Demut und Unterwürfigkeit

Die Dame und meine Tochter (6) lesen gerade „Der Kleine Ritter Trenk und fast das ganze Leben im Mittelalter“* von Kirsten Boje. Meine Tochter erzählte mir daraufhin, dass die meisten Menschen im Mittelalter so arm waren, dass sie sich nicht einmal Feuerholz leisten konnten und im Winter frieren mussten.

Darauf ich so: Warum sind sie dann nicht einfach in den Wald gegangen und haben Holz gesammelt.
Sie so: Weil der Wald dem Fürsten gehört.
Ich so: Wenn sie keine Bäume fällen, sondern einfach sammeln, was am Boden liegt, merkt der Fürst das doch gar nicht.
Sie so: Aber der Fürst ist doch von Gottes Gnaden. Das darf man deshalb nicht.

Das ist Demut. Das ist die Unterwürfigkeit, die mit der Demut einhergeht. Das ist der Grund, warum Nietzsche das Christentum „Sklavenmoral“ nannte. Demut bedeutet nämlich auch immer, sich mit den herrschenden Verhältnissen zu arrangieren. Bloß nicht aufbegehren, sondern bescheiden sein. Wenn das Volk kein Brot hat, soll es doch demütig auf ein besseres Leben im Jenseits hoffen. Natürlich ist das kein Problem wenn alle kategorisch-imperativ demütig wären.

Aber wissta was? Die Welt ist nicht so.

Wir können uns nicht hinstellen, guten Willens demütig sein und uns dann wundern, dass die Welt dafür noch nicht bereit ist. Wir müssen verantwortungsethisch auch damit rechnen, dass es in der Welt auch Arschlöcher gibt, die versuchen die Ethik der Anständigen auszunutzen. Und dann heißt es aufstehen und dagegen rebellieren. Doch diese Rebellion ist eben nicht mit Demut vereinbar. Daher möchte ich auf die Demut verzichten. Skepsis, Zweifel, Altruismus, Genügsamkeit, Bescheidenheit sind Teil meines abschließenden Vokabulars, aber eben nicht die Demut. Weil Demut Unterwürfigkeit zumindest konnotiert.

Ich bin raus.

*hinterhältiger Affili-Link

Recht auf Remix

Die Idee zu Blackbox Urheberrecht II / Noch 19 Tage…

… Ich war im letzten Post dabei, zu erzählen, wie ich darauf kam „Blackbox Urheberrecht“ zu veröffentlichen. Hiermit will ich fortfahren, aber dann abbiegen und über ein verwandtes Problem nachdenken… Anfang 2012, als ich auf der Suche nach einem Thema für mein Buch war, brach in der Urheberrechtsdebatte die Zeit der großen Worte an:

„Netzgemeinde, ihr werdet den Kampf verlieren!“

Urteilte Ansgar Heveling im Januar 2012. Mit Blick auf #PRISM erscheint mir das fast schon prophetisch, auch wenn er es damals anders meinte …

Am 30. Januar 2012 machte der CDU Politiker Ansgar Heveling den Anfang indem er in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt die Netzgemeinde mit großen Geschützen angriff und für ein starkes Urheberrecht eintrat. Die Netzgemeinde schoss nicht weniger scharf zurück. Dann kam der Februar und die Lage beruhigte sich wieder, bis am 21. März ein Reporter vom BR Sven Regener leichtsinnigerweise zum Urheberrecht befragte, woraufhin der Autor von „Herr Lehmann“ explodierte und sich zu seiner mittlerweile schon fast zur sagenumwobenen Wutrede aufschwang:

Eine gute Woche später legten 51 Tatortautoren nach und schrieben einen offenen Brief an die Netzgemeinde. Der Verfasser, Tatort-Autor Pim Richter stellte sich mir für „Blackbox Urheberrecht“ im Interview. Und erklärte sehr aufschlussreich, unter anderem, wie es zu diesem offenen Brief kam und warum ausgerechnet die öffentlich-rechtlich finanzierten Tatort-Autoren ihn verfassten.

Das führt mich zum Titel dieses Blogposts zurück…

Everything is a remix

Ich weiß nicht, ob Kirby Ferguson den Spruch „Everything is a remix“ erfunden hat, er hat ihn aber auf alle Fälle mit seiner Doku-Serie berühmt gemacht. Ich glaube übrigens nicht daran, dass ALLES nur eine Kopie von zuvor schon dagewesenem ist, sondern glaube durchaus an Originalität. Das ist eine schwierige Debatte, die ich auch gerne noch einmal führen möchte, aber nicht heute. Denn Fakt ist, es gibt Remixe, sehr viele Remixe und sie können ganz wundervoll sein. Wenn vielleicht auch nicht alles ein Remix ist, so stehen wir Zwerge aber auf jeden Fall auf den Schultern von Riesen.

Allerdings gibt es ein Problem mit dem Remix, ein rechtliches Problem: Ohne die explizite Erlaubnis der Rechteinhaber darf ich nicht remixen. Der spektakulärste Fall, der die Grenzen des Rechts auf Remix gezeigt hat, war der Fall des „Grey Albums“ von Danger Mouse.

Brian Joseph Burton, alias DJ Danger Mouse mixte 2004 das White Album der Beatles mit dem Black Album von Jay-Z zusammen und schuf ein großartiges Mashup. Allein, er hatte vorher nicht die Rechte dafür eingeholt. EMI, die Plattenfirma der Beatles, ging daher gegen das Grey Album vor und Burton wurde gezwungen, den Vertrieb einzustellen. Als Protest dagegen, dass eine Plattenfirma ein grandioses Kunstwerk der Öffentlichkeit vorenthalten wollte, fand am 24. Februar 2004 der Grey Tuesday statt. 170 Webseiten färbten sich an diesem Tag grau ein und boten das Album zum Download an.

Nun kann man sicher streiten, ob die gefährliche Maus nicht die Genehmigung hätte einholen können, bevor er seinen Remix anfertigte. Aber der Fall ist vor allem eine Parabel für ein ganz grundlegendes Problem im Internet. Dienste wie YouTube und Tumblr basieren auf Remix. Das sehr populäre „When you live in Berlin„-Tumblr macht nichts anderes als bekannte animierte GIFs mit Überschriften zu versehen, die sie in einen Berlin-Kontext setzen und schafft so etwas neues. Die Referenz, die hergestellt wird ist manchmal so einleuchtend, dass erst durch die Kombination mit der Überschrift das GIF wirklich lustig wird.

Etwa hier:

„When you walk against the traffic on Warschauer Bruecke“

Soweit ich das sehe, wird das Tumblr von Josie Thaddeus-Johns privat betrieben. Sie scheint ferner keinen Cent damit zu verdienen, zumindest sehe ich keine Werbung oder sonstige Monetarisierungsversuche. Es ist jetzt vollkommen weltfremd, von Thaddeus-Johns zu erwarten, dass sie für jedes einzelne GIF die Rechte einholt und womöglich auch noch teuer bezahlt. Denn wie soll sie etwa herausfinden, wer die Rechte zu diesem GIF hält?

Mit dem Anspruch hier die Situation zu verbessern ist die Digitale Gesellschaft angetreten und hat die Kampagne „Recht auf Remix“ ins Leben gerufen. Ich finde die Kampagne sehr gut und wichtig und sie hat meine volle Unterstützung. Doch dann führte ich das oben erwähnte Interview mit Pim Richter und Herr Richter sagte dort folgendes:

„Das Urheberecht ist […] ein unveräußerliches Recht, zu dem auch gehört, dass ausschließlich ich, also der Urheber, über die Integrität meines Werkes bestimmen darf. Wenn also jemand mein Werk nimmt und es in gewissem Sinne verfremdet, etwa ein faschistisches Stück damit „anreichert“, dann will ich weiterhin das Recht haben, diesen Menschen zu zwingen, das zu unterlassen. Das muss möglich sein. Wenn Menschen unberechtigterweise mein Werk in einem weltanschaulichen Zusammenhang verwenden, der meinem zuwider läuft, muss ich doch das Recht haben, ihnen das zu verbieten.“

Das brachte mich ins Grübeln, denn es ist ein verdammt gutes Argument. Ich schreibe hier auf diesem Blog ja auch immer wieder gegen Intoleranz an. Was würde ich sagen, wenn etwa ein Rassist jetzt daherkäme und meinen Sophistenartikel für seine Argumentation verwenden würde… Ich wäre sicher nicht amused. Ich habe aber keine Antwort auf dieses Dilemma: auf der einen Seite bin ich dafür, Hürden abzubauen, um Remixe zu fördern und damit ja auch irgendwie Meinungsfreiheit und eine schönere, buntere Welt. Auf der anderen Seite möchte ich aber eben auch wehrhaft demokratisch mich den Demagogen in den Weg stellen können.

Und wie immer, wenn ich etwas nicht weiß, habe ich eben jemanden gefragt. In diesem Fall die DigiGes und geantwortet hat mir Leonhard Dobusch.

Dobusch nannte mir drei Argumente:

„- Die befürchtete Nutzung in neonazistischen Kontexten ist in der Regel mehr als hypothetisch denn tatsächlich praktische zu verstehen.

– Für den unwahrscheinlichen Ernstfall bleiben jedoch bestehende Verhetzungs- und Wiederbetätigungsverbote von einem Recht auf Remix unberührt.

– Und wenn alle Stricke reißen, handelt es sich wahrscheinlich um einen Fall, auf den das Voltaire zugeschriebene Zitat von S.G. Tallentyre passt: ‚Ich missbillige, was du sagst, aber würde bis auf den Tod dein Recht verteidigen, es zu sagen.'“

Das erste Argument finde ich nicht sonderlich stark, denn auch gegen hypothetische Bedrohungen muss ich mich schützen, sonst wache ich eines Morgens auf und die NSA überwacht das komplette Internet…

Das zweite Argument hingegen stellt mich schon eher zufrieden. Das Urheberrecht sollte nicht als meine persönlich-willkürliche Ersatzzensur herhalten, dafür haben wir andere, sorgsam ausgehandelte Gesetze. Und dennoch bin ich da auch noch nicht ganz glücklich mit. Wie verfahrt ihr denn, wenn ein Hater versucht, euch in den Kommentaren eures eigenen Blogs fertigzumachen? Schaltet ihr den Kommentar frei? Und ist dieser Fall überhaupt zu vergleichen mit einem Remix, der meiner Weltanschauung zuwider geht?

Das dritte Argument hingegen ist sehr stark und hat eine große Schnittfläche mit meinem persönlichen Wertekanon gemeinsam. Es erinnert mich an eine Episode aus Salman Rushdies Autobiographie, in der er beschreibt, dass er sich bei der britischen Regierung dafür eingesetzt hat, dass ein (ich glaube philippinischer) Film, der Rushdie persönlich verunglimpft, in Groß Britannien gezeigt werden durfte. Rushdie, selbst Opfer der Zensur in allzu vielen Staaten war, hielt das Recht auf freie Meinungsäußerung höher als seine Persönlichkeitsrechte.

Dobusch fuhr übrigen noch fort, indem er erklärte, dass es schon heute Fälle gibt, in denen jemand mein Werk in mir nicht genehmer Weise bearbeiten darf:

„Parodie und Satire: dafür gibt es eine Ausnahme im Urheberrecht. Und Parodien und Satiren entstehen besonders häufig aus einer anderen Weltanschauung heraus als derjendigen des Urhebers der parodierten Werke. Der Grund für die Ausnahme ist aber klar: das Urheberrecht soll Meinung-, Ausdrucks- und Kunstfreiheit nicht behindern.“

Dobusch schloss seine E-Mail an mich damit, dass es eine Frage von offener Gesellschaft und Liberalität ist. Dem stimme ich voll und ganz zu. Und dennoch hat die Offene Gesellschaft auch ihre Feinde und ich bin noch immer zu keinem Entschluss gekommen, wo ich den Strich ziehe und sage: „Hier stehe ich und kann nicht anders„.

Daher will ich sokratisch offen schließen und sagen, dass ich noch länger über dieses Dilemma nachdenken muss. Wenn ihr eine Lösung habt, dann teilt sie mir mit, ansonsten lest mein Buch und besucht natürlich die Webseite von „Recht auf Remix“ für weitere Informationen…

Bekenntnis eines Fans

Ich bin Fußballfan und habe nicht das geringste Problem mit schwulen Fußballern. Ich finde das muss mal gesagt werden. Am besten laut und in aller Öffentlichkeit. Aber da die Medien den Fan lieber als Untermenschen darstellen, tue ich es halt. Jetzt und hier.

„Fußballfans sind Menschen, was immer uns die Medien weismachen wollen, […] Die meißten Fußballfans [haben] kein Vorstrafenregister, tragen keine Messer, urinieren nicht in Taschen oder veranstalten sonst irgendwelche von den Dingen, die man ihnen immer nachsagt.“
Nick Hornby: Fever Pitch

Spätestens seit dem anonymen Interview eines schwulen Fußballers geistert das Thema durch die Medien. Dabei wird ein Mythos beschworen, dass der Fußball die letzte harte Männerbastion ist und die bösen Fans das Outing eines Fußballers nicht zulassen würden.

Meine These lautet: Fußballfans werden vorgeschoben als Alibi für eine gesellschaftlich viel weiter verbreitete Homophobie. Letzte Woche hörte ich 10 Minuten eines Interviews mit Lothar Matthäus, in dem dieser ernsthaft sagte, Schwule sollten lieber mit Fußball aufhören als sich zu outen, weil ‚die Fans‘!

Feiernde Fußballfans des Dynamo Dresden. Urheber: Ulrich Häßler. Lizenz: CC-BY-SA-3.0-DE.
Feiernde Fußballfans des Dynamo Dresden. Urheber: Ulrich Häßler.
Lizenz: CC-BY-SA-3.0-DE.

Es passt einfach wunderbar ins Bild des unterentwickelten Proll, der volltrunken im Stadion der Gewalt frönt. Verbal wie physisch. Ich war schon oft im Stadion. Und wisst ihr was? Ich habe mich noch nie bedroht gefühlt. Das Schlimmste an Fangewalt, was ich bisher erlebt habe, war, als in Aachen sich die Fans von meiner Eintracht durch die Alemannen provoziert fühlten und heftig am Zaun wackelten. Sicher gibt es intelligenteres Verhalten, aber in Anbetracht der Tatsache, dass Nazis zehn Jahre mordend durch dieses Land zogen oder auch ’nur‘, dass Frankfurter Polizisten einen Afrodeutschen krankenhausreif schlugen, ist das bisschen Zaunwackeln jetzt nicht unbedingt die Ausgeburt menschlicher Niedertracht.

Sicher, auch ich kenne die Medienberichte über brutale Fans. Aber setzt das mal in Relation: da passiert alle paar Monate mal was. Demgegenüber gehen aber jede Woche mehrere Millionen Menschen in deutsche Stadien. Frankfurt hat nur 600.000 Einwohner und hier passiert täglich mehr.

Eine Situation, die ich bei meinem letzten Waldstadionbesuch erlebte:
Fan 1 sprizt versehentlich Fan 2 am Imbiss Ketchup vom Spender direkt auf die Schuhe.
Fan 1: Oh Mann, das tut mir jetzt leid.
Fan 2: Das ist überhaupt kein Problem.
Fan 1: Nein, ernsthaft, soll ich dir nicht Kohle für die Reinigung geben?
Fan 2: Quatsch, ist doch halb so schlimm, schönes Spiel noch!

Entspricht irgendwie nicht dem Klischee, oder?

Rassismus findet in deutschen Stadien nicht statt

Ich will nicht sagen, dass es gar keine Rassisten unter den Fans gibt. Es gibt Rassisten in deutschen Stadien im gleichen Ausmaß wie in der Gesellschaft. Ich habe hirnlose Sprüche im Stadion nicht öfter oder seltener erlebt wie auf der Straße, in der Bahn oder der Kneipe. Aber in der Organisation der Fans spielt Rassismus keine nennenswerte Rolle. Mir ist nicht ein rassistischer Fangesang bekannt. Warum sollte das mit Homosexuellen Spielern anders sein?

In Stammesmanier werden zwar Bayern die Lederhosen ausgezogen und Bremer in eigenwillige Relationen zu Fisch gesetzt, aber ausländische Spieler werden nicht kollektiv verunglimpft. Ich habe so gut wie nie Kritik unter Fußballfans gehört, dass unsere Nationalmannschaft unsere multikulturelle Gesellschaft widerspiegelt. Hingegen sind die YouTube-Kommentare voll von rassistischen Beschimpfungen. Unter Fans habe ich viel öfter die Meinung angetroffen, dass Boateng, Khedira und Co. seit ihrer Kindheit durch Vereine und DFB gefördert werden, warum sollten sie da nicht für Deutschland spielen? Das hört sich jetzt irgendwie beschissen gönnerhaft an, aber so ist es nicht gemeint, sondern eher so, dass Herrkunft keine Rolle spielt: Wer das Team voranbringt, ist willkommen.

Jugendliche Fußballfans von Rot-Weiß Erfurt. Urheber: Heinz Hirndorf. Lizenz: CC-BY-SA-3.0-DE.
Jugendliche Fußballfans von Rot-Weiß Erfurt. Urheber: Heinz Hirndorf.
Lizenz: CC-BY-SA-3.0-DE.

Fans interessiert, ob einer gut kicken kann

Dafür lieben wir ihn oder hassen ihn, wenn er für die anderen spielt. Ich glaube nicht, dass das bei einem schwulen Spieler soviel anders wäre. Ich will hier nichts beschönigen und kein Idealbild zeichnen, das nicht existiert. ein Homosexueller würde sicherlich im Stadion auch mal als ’schwule Sau‘ oder ähnliches beschimpft, aber ich bezweifle, dass es irgendeine Form von Kampagne gegen ihn geben würde, eben weil es dergleichen auch nicht gegen ausländische Spieler gibt.

Sicher war das nicht immer so, Rassismus war früher in Stadien weiter verbreitet als heute, es war ein langer Weg. Und sicher wird auch ein offen homosexueller Spieler nicht nur mit Flausch empfangen, sondern von den gegnerischen Fans angegangen werden. Aber ich glaube nicht, dass das so menschenverachtend ablaufen würde, wie es von den Medien dargestellt wird. Und ich bin mir sicher, dass wir ihn lieben würden, wenn er für unser Team spielt, für die Nationalmannschaft und wenn er vor allem gut spielt. Denn letztlich wollen wir nur guten Fußball sehen. Wir wollen tolle Spielzüge, ausgefeilte Taktik und fantastische Tore sehen. Was der Spieler dann in seiner Freizeit treibt, interessiert doch Bild, Bams und Glotze mehr als die Fans.

Mythos Männlichkeit

Kommen wir zum letzten Mythos: der Männlichkeit. Vielleicht ist es ein Schock für euch, aber ich kenne niemanden, der Messut Özil als Ausgeburt der Männlichkeit ansieht, genauso wenig wählen wir einen Phillip Lahm oder einen Marco Reuß zum männlichen Rollenbild des Jahres. Das ist Quatsch. Wir lieben Özil für seine Spielintelligenz, Lahm für seine Zerstörungskraft der gegnerischen Angriffe und Reuß für seine brillante Technik, nicht weil wir sie für besonders männlich halten, nicht weil sie heterosexuelle Ideale sind. Klar herrschen im Stadion nicht immer die sittlichsten Verhältnisse, aber es ist nicht so, dass da eine Horde Kerle auf den Rängen ihrer Männlichkeit frönt. Es geht in erster Linie um Fußball und in zweiter Linie um das Stadionerlebnis, um die Gesänge und das Gruppengefühl, um die Stimmung und auch um die Party. So wie man auch in oder vor Discos auf rassistische oder homophobe Trottel trifft, so kann dies auch im Stadion passieren, aber das sind nicht die Fans.

Ich kann und will einfach nicht glauben, dass ich als einziger so denke, dass ich eine total verzerrte Wahrnehmung habe und deshalb finde ich, liebe Leser, ist es an der Zeit für einen Aufstand der Anständigen. Das Aufstehen der toleranten Fans vermisse ich. Steht auf und sagt, dass ihr Fußballfans seid und dass euch die sexuelle Orientierung von Spielern einfach schnuppe ist! Zeigt mir und der Welt, dass ich nicht alleine bin. Schreibt auf eure Blogs, auf Facebook und Twitter, haut es mit Edding an die Wände und singt es in den Stadien. Das Bild, das die Medien von uns zeichnen ist falsch!

Ich bin Fan und habe kein Problem mit schwulen Spielern.

Freiheit und Toleranz

So, so, auf Youtube wurde also ein Video veröffentlicht, das den Islam beleidigt. Ich habe es persönlich nicht gesehen. Aber es diente in Einigen wenigen Islamischen Ländern als Aufhänger für einige wenige Menschen, mal ordentlich auf den Putz zu hauen. Gegen die Amerikaner, gegen den Westen und überhaupt.

 

 

Die Ausschreitungen gegen westliche Botschaften in Nordafrika führten letzte Woche zu einer Welle der Empörung, die leider allzubald in allgemeines Islam-Bashing und schließlich in Spot, Häme und Hass gegenüber jeder Form von Glauben ausartete. Grund genug mich mal dem Thema zu widmen.

 

 

1. „Wie kann man nur so doof sein, an einen Gott zu glauben“, hieß es auf Twitter.

2. „Die Meinungsfreiheit ist unser höchster Wert“, hieß es weiter, und: „Was bilden sich diese Gläubigen eigentlich ein, uns diesen uns verbieten zu wollen?“

3. „Und überhaupt hat Religion immer nur Verderben und Krieg über uns gebracht und soll endlich ad Acta gelegt werden“, war das dritte meistgenannte Argument im kleinen, blauen Vogelland.

Gehen wir dies der Reihe nach durch.

1. Ist einfach. Ich habe mich weitgehend damit schon hier beschäftigt.

Das Gegenargument: Auch Atheismus ist ein Glaube, denn logisch betrachtet, kann man die Existenz Gottes weder belegen noch widerlegen. Der große, wenngleich wohl etwas schrullige Immanuel Kant kam als erstes auf diesen Trichter und hat – mehr oder weniger – der langen philosophischen Tradition des Gottesbeweis das Spiel verdorben. Wenn ihr meine analytisch, nicht kantisch tradierte Argumentation diesbezüglich en détail nachlesen wollt, so könnt ihr das hier.

2. Zunächst einmal: Ist das so? Wo steht das geschrieben? Im Grundgesetz? Nun, ich bin keine Jurist, aber soweit ich mich erinnere sind die Grundrechte Rechte des einzelnen gegenüber dem Staat nicht gegenüber einer Religionsgemeinschaft. Aber diese Rechte sind natürlich nicht in einem Vakuum entstanden, sondern basieren auf einem Wertekanon. Und mir fällt da zunächst einmal auf, dass ich hier von Rechten und Werten schreibe. Plural. Und da kommen wir schon zum Hebel um die Argumentation ins Wanken zu bringen.

 

 

Denn in unserem komplexen Wertesystem gibt es nicht nur diesen einen Wert der Meinungsfreiheit. Sondern auch andere, diesem zuwiderstreitende Werte. Ich will hier gar nicht die Religionsfreiheit bemühen, denn die sehe ich nicht gefährdet. Ein schlechter Film verbietet noch niemandem, seine Religion auszuüben (Im Gegensatz dazu sehe ich das allgemeine Klima in der Gesellschaft, den Islam grundsätzlich als ablehnungswürdig anzusehen, schon problematischer).

 

 

Aber es gibt Persönlichkeitsrechte, wenn ich den thorschen Hammer rausholen wollte, könnte ich gar die unantastbare Menschenwürde zu Felde führen. Frei nach Kant: die Freiheit des einzelnen endet dort, wo sie die Freiheit des nächsten einschränkt. Daraus folgt in unserem Wertesystem, dass nicht jede Meinung schützenswert ist. Wer einen anderen als Arschloch bezeichnet, kann sich nicht auf die Meinungsfreiheit berufen. Denn wir erachten das Äußern von Beleidigungen nicht als schützenswerte Meinungen. Ferner haben wir ganze Themenkomplexe, die wir von der Meinungsfreiheit ausschließen.

 

 

Sei es nun Kinderpornographie, Die Ablehnung unserer demokratischen Grundordnung oder etwa Antisemitismus. Oh. Moment. Ja stimmt. Letzteres ist — Gott sei Dank — ein Konsens. Nämlich, dass die unsachgemäße Verunglimpfung dieser Religion nicht durch die Meinungsfreiheit geschützt sein sollte. Nun frage ich euch: warum sollte, was für die eine Religion gilt, nicht auch für die anderen gelten?

Wie gesagt, habe ich das Video nicht gesehen, und weiß nicht, ob es nun sehr ehrverletztend war. Ich habe ein paar der Karrikaturen vor zehn Jahren gesehen und fand sie jetzt nicht so dramatisch, aber ich wollte diese Sätze mal allen mitgeben, die im braveheartartigen Reflex gleich „Freiheit“ schrien.

3. Was mich zum Letzten und wichtigsten Punkt bringt. Wer von euch hat eigentlich den Koran gelesen? Da ihr ja alle so genau wisst, dass er Hass und Intoleranz propagiert. Klar, habe ich auch schonmal vom Djihad und der Scharia gehört. Aber das sind nur quotenbringende Labels von Clash-of-Cultures-Propagandisten.

Ich glaube gern, dass es Stellen im Koran gibt, die Hass predigen, aber ich bin mir fast sicher, dass sich dort genauso Stellen finden, die Liebe predigen. Genauso wie ich weiß, dass in der Bibel genauso Backen hingehalten werden, wie an anderer Stelle Augen und Zähne fliegen. Denn beide Bücher sind komplexe Systeme, die nicht nur die Existenz Gottes behaupten. Darüber hinaus waren sie vor allem Handlungsanweisungen für das Zusammenleben von Gesellschaften, die schon 1.000 respektive 2.000 Jahre alt sind. Das heißt nicht, dass sie komplett obsolet sind, sondern, dass sie differenziert betrachtet werden müssen.

Im Bezug auf die Bibel haben wir hier im Westen durch Reformation, Renaissance, Aufklärung und Revolution regelmäßige Updates geliefert, die leider im Islam fehlen. Das wiederum ist ein Tatbestand, an dem wir, der Westen, durch Imperialismus, Kolonialismus, Kalten Krieg und Globalisierung nicht unschuldig sind.

Denn, im Ernst, wer sind denn die zornigen jungen Männer, die religiöse Beleidigungen durch uns zum Anlass nehmen, ordentlich auf den Putz zu hauen? Es sind die Verlierer der Globalisierung. Ohne Bildung, ohne Eigentum und ohne Zukunft.

Und der Hass fällt dort auf fruchtbaren Boden, wo wir den Acker bestellt haben. Wir haben die Grenzen dieser Staaten oft willkürlich gezogen, wir haben die arabischen und afrikanischen Diktatoren jahrzehntelang protegiert, solange sie uns nur Sicherheit und Rohstoffe lieferten. Wir haben Afghanistan in einen nunmehr 30 Jahre währenden Krieg getrieben. Wir? Nein, nicht wir. Denn genau das ist das Problem, der auf 140 Zeichen verkürzten Antiislamstatements auf Twitter genauso, wie das Problem der Botschaftszerstörer im Maghreb. Sie setzen die Untaten einzelner, kleinerer und größerer Gruppen mit „dem Westen“ oder eben „dem Islam“ gleich.

 

 

Der Islam ist nicht unser Problem. Die moslemische Erzieherin in der Kita bringt unseren Kindern Liebe und keinen Hass bei. Der moslemische Autor in meinem Verlag lächelt, wenn er mich sieht und streckt mir freundlich die Hand entgegen. Mein moslemischer Obsthändler verkauft freundlichere Äpfel als der laizistische Discounter nebenan und mein moslemischer Schulfreund hat mich nicht gehasst, sonst wäre er ja nicht mein Freund gewesen. Machen wir einmal die Gegenprobe: wenn Religion angeblich Hass und Krieg befördern. Wie sieht es denn dann mit dem Atheismus aus. Der fördert dann Frieden. Immer. Auch zwischen den Jahren 1939 und 1945? Ja, jetzt komme ich mit der Nazikeule, aber nicht zum Todschlagen, sondern um zu zeigen, dass komplexe Systeme immer interne Widersprüche aufweisen. Und so kann auch der Atheismus genauso zur Dialektik der Aufklärung führen wie zu so etwas so wundervollem wie dem Russellschen Pazifismus! Unser Problem sind nicht die Gläubigen oder die Atheisten. Unser Problem sind die Hassprediger auf allen Seiten. Und wenn ihr wollt, dass keine Botschaften brennen, dann dürft ihr nicht den Islam verteufeln, sondern dann müsst ihr Krankenhäuser und Schulen bauen und diesen zornigen jungen Menschen eine Zukunft bieten.

 

Ich bin raus.

 

 

Falls es euch interessiert, ich persönlich bin Agnostiker, denn das ist die einzig logisch stringente Position. Siehe 1.

Literatur:

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung.

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft.

Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten.