Platon – Erziehung und Zensur

Heute beginne ich, mich in Platons politische Philosophie hineinzustürzen. Bevor wir die Verfasstheit von Platons idealem Staat kennenlernen, beschäftigen wir uns zunächst mit den Grundbedingungen. Welche Maßnahmen müssen in der Erziehung getroffen werden, um den idealen Staat vorzubereiten? Das heißt für Platon vor allem eines: Zensur. Ihr könnt das als Video ansehen oder darunter das Transkript lesen.

Der Staat

Wir hatten den Dialog über die Frage verlassen, was Gerechtigkeit ist und werden über diese auch wieder zu ihm zurückkehren. In „Der Staat“ werden noch viele klassische Probleme und Thesen der Ethik besprochen: So zum Beispiel die später noch oft vertretene These, dass die Menschen von Natur aus egoistisch sind und sich nur deshalb auf gerechte Gesetze geeinigt haben, um zu verhindern, dass sie selbst einen Nachteil erleiden.

Doch, wie gesagt, für uns wird es nun Zeit, mal langsam in Platons Utopie hineinzuschauen. Also in Platons Vision für einen idealen Staat. Dieser Dialog ist übrigens die erste aller uns bekannten Utopien. Es ist also das erste Mal, dass das Modell einer idealen Gesellschaftsform entworfen wurde. Alle großen Entwürfe der Politikwissenschaft von Aristoteles über Machiavelli, Hobbes, Locke, Montesquieu und natürlich Thomas Morus bis hin zu Hegel, Marx und John Rawls stehen in seiner Tradition. Die Frage ist nur, ist dieser, Platons Staat auch wirklich so ideal? Lasst uns in den Text reinschauen:

Nachdem die Gesprächsrunde in Kephalos‘ Haus nicht so recht vorankommt mit ihrer Untersuchung, was denn Gerechtigkeit ist, macht Sokrates schließlich einen Vorschlag: Manchmal lassen sich Probleme besser klären, wenn man einen Schritt zurücktritt und versucht, das große Ganze zu betrachten. Statt zu sagen, was den einzelnen Menschen gerecht macht, lässt sich ja vielleicht klären, was für einen gerechten Staat wesentlich ist.

Wie das so seine Art ist, legt Platons Sokrates aber wieder einmal nicht gleich die Karten auf den Tisch, sondern dreht eine Extrarunde, ganz als ob er Kilometergeld bekommen würde. Bevor er beginnt, die Institutionen des idealen Staates zu beschreiben, fragt Sokrates sich also zunächst, was denn die Grundvoraussetzungen sind, unter denen ein solcher Staat überhaupt möglich ist. Dabei kommt er ganz schnell darauf, dass man bei Bildung und Erziehung ansetzen müsse, wenn man überhaupt irgendwas erreichen will.

Zensur

Diesen Ausgangspunkt nutzt Platon, um mal so richtig schön tief in die Kiste des Konservatismus zu greifen und auch ordentlich im Regal des Reaktionismus zu kramen. Denn Platon hielt es für problematisch, dass bereits Kinder in den Schulen Griechenlands mit Schundliteratur in Kontakt kamen oder zumindest dem, was Platon dafür hielt. Das erinnert mich übrigens sehr an meine Schulzeit und die Einstellung von so manchem Lehrer. Überhaupt ist es spannend, wie Kulturpessimisten in ihren Argumenten immer wieder zu Platon zurückkehren. Aber das nur am Rande, wir werden in einer anderen Folge darauf zurückkommen. Aus seiner Analyse heraus, dass es zu viel literarischen Schrott gibt, zog Platon jedenfalls die Schlussfolgerung, dass es für die Etablierung eines ideale Staates eine strenge Zensur von Literatur und Musik geben müsse. Mütter, Ammen und Lehrerinnen sollten Kindern nur von der Zensur genehmigte Geschichten oder Lieder vortragen dürfen, um sicherzustellen, dass sie die Erziehung nicht von vornherein versauen. Ich hoffe, euch wird bei diesen Worten ähnlich mulmig zumute wie mir.

Insbesondere die Klassiker von Homer und Hesiod wollte Platon verbieten, weil sie die Götter zu negativ darstellen. Platon lehnte das klassische polytheistischen Weltbild der alten Meister ab. In Griechenlands Vielgötterreligion gab es quasi für jedes Phänomen auf der Erde einen passenden Gott. Platon vertrat hingegen die Ansicht, dass die Götter nur für das Gute in der Welt verantwortlich sind und die Menschen das Schlechte selbst zu verantworten haben. Meinungen zu verbreiten, die davon abweichen, hielt er für schädlich, weswegen Platon Gotteslästerung unter Strafe stellen wollte. Insbesondere war ihm die griechische Vorstellung ein Dorn im Auge, dass der Hades ein schlechter Ort ist. Die Erziehung müsse darauf abzielen, dass sich der Einzelne bereitwillig auf dem Schlachtfeld opfert, weswegen keine Angst vor dem Tod gelehrt werden dürfe.

Diese religiöse Zwecklehre, die Menschen zu Kriegsmaterial reduziert, ist schon schlimm genug, dennoch ist Platon noch nicht am Ende. Er beginnt vollkommen abzudrehen und will alles von der Zensur verbieten lassen, das nicht seinen persönlichen Idealvorstellungen entspricht. Zum Beispiel kritisiert er Homer, der schreibt, die Götter würden lachen. Das muss verboten werden, denn der Anstand verbietet lautes Gelächter! Außer den Regenten soll es ferner jedem verboten sein, zu lügen. Die Regenten dürfen gegenüber Feinden des Staates lügen. Aber die normalen Bürger nicht.

Die Funktion von Sprache

An dieser Stelle muss ich einhaken, meine moralische Empörung mal kurz beiseite legen und einfach mal bitten, euch vorzustellen, wie ein absolutes Lügenverbot in der Praxis aussehe. Sie würde beispielsweise zu folgenden Dialogen führen:

 

„Wie hat dir mein Essen geschmeckt?“

„Es war das widerlichste, was ich je gegessen habe!“

 

„War es für dich so gut, wie für mich?“

„Nein, du bist ein grauenhafter Liebhaber!“

 

„Mein Vater ist gestorben.“

„Zum Glück, der war ja ein Riesenarschloch!“

 

Platon hat hier eine komplett eindimensionale Vorstellung von Sprache. Die Wahrheit ist für ihn das einzige Gut im Gespräch. Dass es auch andere Ideale gibt, dass Sprache zum Beispiel auch eine soziale Funktion hat, übersieht er vollkommen.

Verbotswahn

Aber Platon geht in seinem Verbotswahn noch weiter als selbst ein CSU-Mitglied in der Einschränkung von Bürgerrechten: In der Literatur – so Platon, nicht die CSU – darf keine Textstelle vorkommen, in der jemand einen Vorgesetzten kritisiert, da dies zu ungehorsam gegenüber dem Staat führen könnte. Okay, vielleicht könnte das doch auch von der CSU kommen …

Anyway: Platon war außerdem, wie wir schon mehrfach gesehen haben, ein riesiger Lustfeind. Deswegen gehören Beschreibungen von Trunkenheit und Sex natürlich auch zensiert. Helden in Geschichten dürften ihre Heldentaten nicht gegen Geld anbieten, so fährt er fort, und es darf keine Geschichten geben, in denen der Schlechte glücklich, der Gute aber unglücklich ist.

Zu guter Letzt kritisiert Platon noch direkte Rede in Epen und Dramen. Und ich kann wirklich nur noch WTF sagen! Platon findet die direkte Rede kacke, weil bei ihr nachgeahmt wird. Das ist für ihn schon widerlich genug, erinnert es doch an die Welt der Erscheinungen, die die Ideen nur „nachahmt“. Was für Platon bedeutet, dass sie nicht wahr ist.

Am besten ist es also, wenn auf Nachahmung ganz verzichtet wird, aber wenn sie sich nicht komplett verbieten lassen, dann sollen in Dramen zumindest nur gute Menschen vorkommen, damit niemand in die Verlegenheit kommt, schlechte Menschen schauspielen zu müssen. Die Forderung nach griechischen Dramen, in denen alle lieb und artig sind, ist ungefähr so sinnvoll, als würden wir verlangen, dass heutzutage nur noch Horrorfilme mit einer Altersfreigabe ab 6 Jahren gedreht werden dürfen.

Auch für die Musik, die Justiz, die Medizin und sogar für das Essen hatte Platon ähnlich rigorose Vorstellungen. Aber darauf möchte nicht so detailliert eingehen. Insgesamt entsteht ein Bild von Erziehung und Kultur, mit dem sich auch der IS sehr gut anfreunden könnte. Platons Vorstellungen zur Zensur der Literatur aber finde ich mit am niederträchtigsten.

Die eigenen Existenzbedingungen ignorieren

Und zwar weil ich mich von Platon persönlich betrogen fühle. Denn was er hier tut und was noch viele Philosophen und Autorinnen nach ihm tun werden, ist, seine eigenen Existenzbedingungen zu ignorieren. Er selbst war ein Produkt der liberalen griechischen Kultur. Er selbst konnte seine Philosophie nur betreiben, weil es keine derartige Zensur gab. Und er selbst hatte in Syrakus am eigenen Leib gespürt, was es bedeutet, wenn Freidenker unterdrückt werden.

Dennoch macht er sich massiv für Zensur stark, solange es nur seine Zensur ist. Platon glaubt, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben. Irrtum ausgeschlossen. Im Namen der Gerechtigkeit darf er bestimmen, was andere zu sagen, ja sogar zu denken haben. Platon vertritt einen moralischen Doppelstandard: Das, was er für sich selbst einfordert, nämlich die herrschenden Verhältnisse zu kritisieren, das will er anderen nicht zugestehen, sobald er erst einmal an der Macht ist.

Das ist eine Denkweise, die heutzutage die AfD immer wieder an den Tag legt. Wenn sie die Errungenschaften der liberalen Demokratie wie Asylrecht, Gleichberechtigung der Frau oder ein geeintes friedliches Europa immer und immer wieder in Frage stellt, dann nutzt sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung über die Grenze des Erträglichen aus. Zugleich beschimpft sie die politischen Gegner, sobald diese das gleiche Recht für sich in Anspruch nimmt. Jammert über Meinungsdiktatur, sobald ihr klar wird, dass die Mehrheit in diesem Land anders denkt und will Religionen verbieten, Politikerinnen ausweisen und was weiß ich nicht noch alles.

Platon Motivation freilich war eine andere als der stumpfe Nationalismus der AfD: Er wollte das echte, wahre Gute erreichen und glaubte nur mit diesen Mitteln einen idealen Staat durchsetzen zu können. Aber seine angestrebten Mittel waren dabei die gleichen, wie sie später immer und immer wieder von reaktionären Kräften missbraucht wurden. Platon, der in einem freien Land ohne viel Zensur lebte, wollte die Zensur einführen, wodurch es unmöglich würde, so frei zu denken und zu reden, wie er selbst es tat. Vielen Dank fürs Mitspielen, Herr Platon, aber so nicht!

Der Urgrund der Philosophie

YEAH! PHILOSOPHY BITCH!

Ich habe mich mal an ein anderes Medium herangewagt. Das mit den bewegten Bildern:

Ich würde mich über euer Feedback freuen. Wenn ihr es nicht ganz schlecht fandet, werde ich noch mehr solche Videos produzieren. Gerne nehme ich dazu auch Wünsche entgegen. Alle, denen das da oben zu albern ist, finden hier noch einmal das Transkript:

Der Beginn der Philosophie

Wir können die Geburtsstunde der Philosophie ziemlich genau bestimmen. Die westliche Philosophie begann mit ein paar Typen, die wir heute die „Vorsokratiker“ nennen. Den Namen tragen sie folgerichtig, weil sie schon vor einem anderen Typen mit Namen „Sokrates“ philosophiert haben. Und dieser Sokrates sollte später dann eine ganz große Nummer werden, ein echter Game-Changer. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes mal erzählt werden.

Der erste Philosoph war mit ziemlicher Sicherheit ein gewisser Thales von Milet. Und dieser Thales hat einen Satz gesagt oder wahrscheinlich eher geschrieben, für den ihn heute die Philosophie-Profs noch immer abfeiern. Leider haben wir den Text nicht mehr, denn von den Texten der Vorsokratiker sind uns nur Fragmente und Zitate erhalten geblieben. In den Worten von Aristoteles (der auch so ein Superstar in der Philosophen-Community ist), lautet dieser entscheidende Satz so:

„Thales, der Begründer von solcher Art Philosophie, erklärt als den Urgrund das Wasser“

Aristoteles: Metaphysik I 3 983 b 6 ff.

O – kay … Aber was ist jetzt der Big Deal an diesem Satz? Ich meine Arnold Schwarzenegger hat mal gesagt:

„Ich werde mehr von meinen Vorstellungen gelenkt als von bewußtem Denken.“

Arnold Schwarzenegger

Aber ich bezweifle, dass wir uns in knapp 2.600 Jahren noch daran erinnern werden, obwohl die Worte von Arnie stammen!

Die Antwort auf die Frage, was so toll an Thales Satz ist, lautet: Er ist der erste Beleg von wissenschaftlich-logischem Denken. Dieser Satz von Thales ist die erste wissenschaftliche Hypothese überhaupt. Das ist eine ziemlich steile These, und ich werde sie auch gleich noch begründen, aber zunächst will ich noch einmal einen Schritt zurückgehen und ein paar Worte dazu verlieren, wer dieser Thales überhaupt war.

Zur Person von Thales

Thales lebte in einer Hafenstadt namens Milet. Das lag im damaligen Kleinasien, was die heutige Türkei ist. Mit Blick auf unsere heutige politische Lage eigentlich eine ganz spannender Funfact, dass die europäische Philosophie von einem Griechen aus der Türkei erfunden wurde …

Wie viele Philosophen war Thales ein Rundum-Gelehrter, der auf vielen Gebieten forschte. Beispielsweise kennen wir auch den Zeitraum, in dem er lebte, da er eine Sonnenfinsternis im Jahr 585 v. Chr. voraussagte. Allerdings war diese Voraussage ist für sich genommen noch nicht so super krass, denn Astronomie wurde schon lange, vor allem in Babylon betrieben und die Babylonier hatten auch schon lange herausgefunden, dass Sonnenfinsternisse sich in gewissen Zyklen wiederholen.

Spannender ist da schon, dass Thales auch ein ganz schön gewiefter Mathematiker gewesen sein muss. Auch das ist keine Seltenheit in der Philosophiegeschichte, die Art zu Denken bei Mathematik und Philosophie, ist eben verwandt. Zumindest solange man Heidegger nicht beachtet.

Es gibt die Anekdoten, dass Thales einerseits die Distanz zu einem Schiff errechnet haben soll, indem er es von zwei verschiedenen Landpunkten aus beobachtete. Außerdem soll er die Höhe einer Pyramide anhand der Länge ihres Schattens bestimmt haben. Und wir alle kennen ihn nicht zuletzt, weil wir in der Schule in Mathe den Satz des Thales lernen mussten.

„Konstruiert man ein Dreieck aus den beiden Endpunkten des Durchmessers eines Halbkreises (Thaleskreis) und einem weiteren Punkt dieses Halbkreises, so erhält man immer ein rechtwinkliges Dreieck.“

Thales von Milet

Übrigens soll auch dieses mathematische Gesetz sowohl den Babyloniern als auch den Ägyptern schon bekannt gewesen sein.

Dann gibt es noch zwei Anekdoten über Thales, die eher ins Reich der Propaganda gehören. Propaganda für Philosophie ist wohl die Geschichte, dass er von seinen Mitmenschen gedisst wurde, weil Philosophie eine brotlose Kunst sei. Aber Thales hat dann mithilfe der Sterne herausgefunden, dass es eine fette Olivenernte geben soll und hat alle Olivenpressen der Gegend gekauft, die er dann zu horrenden Preisen vermieten konnte und so schweinereich wurde. Wie gesagt: Bloße Propaganda, denn den Sternen ist die Olivenernte so schnuppe wie dein Horoskop und mit Philosophie hat das schon mal gleich gar nichts zu tun.

Die andere Anekdote ist Propaganda kontra Philosophen: So soll Thales mal von einer „Thrakischen Magd“ ausgelacht worden sein, weil er beim Sternebeobachten in einen Brunnen fiel. Das ist eine typische Geschichte vom „zerstreuten Professor“, wie wir sie auch heute noch erzählen und Thrakien war damals für die Griechen das, was für den Berliner Hipster heute Brandenburg ist, wodurch die Demütigung für Thales natürlich nur noch größer wird.

Warum die Griechen?

Kehren wir zur Frage zurück – What’s the big deal about:

„Thales, der Begründer von solcher Art Philosophie, erklärt als den Urgrund das Wasser“

Aristoteles: Metaphysik I 3 983 b 6 ff.

Die nächste kurze Antwort, die ich euch darauf geben möchte, lautet: Thales hat als erster den Ursprung der Welt nicht dadurch erklärt, dass irgendein Gott sie erschaffen hat. Doch auch jetzt noch belasse ich es erst einmal bei dem Teaser und beantworte die Frage indirekt, indem ich zunächst frage: Warum haben jetzt ausgerechnet die Griechen mit der Philosophie angefangen? Ihr müsst dabei bedenken, dass zu dem Zeitpunkt, als Thales lebte, die Ägypter schon krasse 3.500 Jahre lang eine Hochkultur hatten. Das sind noch mal locker 1.000 Jahre mehr als von Thales zu uns heute. Und dennoch hatte niemand in Ägypten jemals das Bedürfnis gehabt, anzuzweifeln, dass irgendein Gott die Erde erschaffen hat.

Diese Frage wurde früher oft mit dem „Griechischen Genius“ beantwortet. Eine Antwort, die nicht nur gefährlich ist, weil sie auf der „Europäer sind besser als andere“-Welle reitet, sondern auch mit ziemlicher Sicherheit falsch.

Was also war der Grund dafür, dass die Griechen nun plötzlich eine andere Antwort gaben auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest?

Einer der wichtigsten Gründe war sicherlich, dass es in Griechenland eine reiche Bürgerschicht gab: Alte, weiße Männer, die es sich leisten konnten, ihre Zeit mit Philosophie zu verschwenden, während Frauen und Sklaven für sie arbeiteten. Aber das kann noch nicht der einizige oder gar entscheidende Grund gewesen sein, den Aristokratien, die ihren Reichtum auf Sklaven aufbauten, gab es in der Antike zur Genüge. Aber Philosophie zunächst nur in Griechenland.

Nein, der wichtigste Grund für das Erwachen der Philosophie war wohl die Art und Weise, wie der griechische Staat und die griechische Gesellschaft damals aufgebaut waren. Ihr wisst das bestimmt: Es gab keinen starken Zentralstaat wie in Ägypten oder später in Rom. Stattdessen gab es jede Menge kleiner Stadtstaaten. Und dort gab es sehr repressive Stadtstaaten, so wie zum Beispiel Sparta, aber es gab auch andere, wie zum Beispiel Athen oder Milet, die ihren Bürgern (also den alten, weißen Männern) viele Freiheiten einräumten und die sich entsprechend auch nicht daran störten, wenn diese Bürger dann so gotteslästerliches Zeug von sich gaben.

Außerdem hatte dieses Stadtstaaten-Ding den Vorteil, dass du als aufsässiger Denker mal eben den Staat wechseln konntest, wenn das Kopfsteinpflaster unter deinen Füßen mal zu heiß wurde. Und diese Stadtstaaten-Struktur hatte noch weitere Vorteile. Dafür müssen wir uns ansehen, wie Griechenland aussieht: Griechenland ist bergig. Nicht ohne Grund sitzen die griechischen Götter auf einem Berg. Und die verschiedenen Stadtstaaten saßen zumeist, in fruchtbaren Tälern mit Meerzugang. Statt mühsam über die Berge zu kraxeln, bot es sich da an, mit dem Schiff zu fahren. So wurde Griechenland zu einer großen Seefahrernation und Seefahrt und Seehandel brachten viele kulturelle Einflüsse und andere Arten zu denken aus dem ganzen Mittelmeerraum – So etwas ist ein sehr fruchtbares Klima für innovatives Denken. Es ist kein Zufall, dass im gleichen Zeitraum in Griechenland auch die Geschichtsschreibung, die Mathematik und die Naturwissenschaften durch die Decke gingen.

Aber auch das war noch nicht alles: Es musste noch mehr hinzukommen, denn große Seefahrer waren zum Beispiel auch die Phönizier. Es mussten noch zwei Schäufelchen oder drei draufgelegt werden, damit die Griechen zu Philosophen werden konnten. Das erste Schäufelchen war dabei mit Sicherheit die griechische Sprache. Denn die hatte eine Tendenz zum Abstrahieren. So kann man im Griechischen ganz ähnlich wie im Deutschen ziemlich leicht aus den verschiedensten Worten Substantive machen. Und über den Sinn des Adjektives „wahr“ lässt sich eben nicht halb so gut spekulieren wie über den des sakralen Substantives „Wahrheit“.

Das zweite Schäufelchen war dann bestimmt die Alphabetschrift. Zwar hatte es Schriftsysteme schon lange vor den Griechen gegeben, aber keine der älteren Schriften war so vielseitig und leicht zu lernen gewesen, wie die griechische Alphabetschrift. So können wir heute mit Sicherheit sagen, dass die Mehrheit der griechischen Bürger (also der alten weißen Männer) lesen und schreiben konnte. Und das führte zu einigen spannenden Konsequenzen.

Eine dieser Konsequenzen war sicher, dass so Typen wie Hesiod und Homer anfingen die religiösen Mythen aufzuschreiben. Bis dahin waren diese Geschichten immer mündlich weitergegeben worden. Und ein mündlicher Vortrag hat die Eigenschaft und zugleich soziale Funktion, dass er angepasst werden kann. Wenn etwas aufgeschrieben wurde, dann steht es hingegen fest. Schwarz auf weiß. Jeder kann es hervorholen und mit der Welt vergleichen. Und möglicherweise ergeben sich einige Widersprüche zwischen dem, was in den Büchern über die Götter und die Welt steht und dem, was man selbst wahrnimmt. Fest steht zumindest, dass die Griechen nicht sehr hoch von ihren Göttern dachten. Wenn ihr Homer oder Hesiod lest, dann sind die Olympier ein ziemlich rüder Haufen.

Nun werfe man in diese Situation die schon erwähnte Seefahrt mit all ihren fremdartigen Einflüssen. Da war es kein Wunder, dass in Griechenland Sekten aus dem Boden schossen, die andere, neue Religionen versprachen. Die berühmtesten waren sicher der Dionysos-Kult und die daraus hervorgehenden Orphiker. Und in diesem Klima wirkt jemand wie Thales, der statt die einen Götter durch andere zu ersetzen, die Götter einfach durch ein abstraktes Prinzip wie Wasser ersetzt, vielleicht nicht ganz so überraschend. Und damit kommen wir nun endlich zur Beantwortung der Frage:

What’s the big deal?

Ich sagte schon, dass Thales mit seinem Spruch, dass der Urgrund der Welt Wasser ist, das logisch-wissenschaftliche Denken gewissermaßen erfunden hat. Außerdem sagte ich, dass er erstmals den Ursprung der Welt nicht mit Religion begründet hat. Aber das sind ja nun ersteinmal nichts weiter als Worthülsen. Was bedeutet das? Schauen wir uns den Schöpfungsmythos der Griechen doch einmal an: Da ist am Anfang das Chaos. Aber das ist nicht das, was wir heute darunter verstehen, auch wenn es gewisse Eigenschaften teilt. Stattdessen wurde dieses Chaos von den Griechen als ein denkendes, fühlendes Wesen gedacht, das dann folgerichtig auch ein Kind gebären kann: Gaia, die Erde. Auch Gaia ist wiederum beseelt. Wir nennen diese Art zu denken Animismus, dass also Dinge wie die Erde denken können, denen wir heute kein Bewusstsein zuschreiben. Dem gegenüber meint nun Thales, dass die Welt einfach aus Wasser entstanden ist. Ohne dass er Wasser irgendeine Seele oder ähnliches zuschreibt. Und diese Antwort unterschiedet sich auch zum Beispiel vom jüdisch-christlichen Schöpfungsmythos, in dem zwar die Erde nicht beseelt ist, aber von einem denkenden und fühlenden Gott geschaffen wurde.

Aber noch etwas ist anders zwischen Thales’ Antwort und jener der Religionen: Es handelt sich um eine Hypothese, die sich überprüfen lässt. Religion hingegen ist ein Dogma. Alle Fragen werden etwa im Christentum einfach mit „Es steht in der Bibel“ beantwortet. Das kann die Philosophie im besonderen und die Wissenschaft im Allgemeinen nicht. An die Stelle von „Steht in der Bibel“ muss nachdenken und beobachten treten. Natürlich geht aus Aristoteles Zitat nicht hervor, wie Thales seine Hypothese begründet hat, aber er hat damit eine Tradition begündet, in der eben dieses logische Begründungsspiel gespielt wird.

Schließlich ist noch ein dritter Aspekt an Thales Hypothese spannend. Denn er hat damit ein Frage gestellt, ein Thema eröffnet, dem wie in Philosophie, Physik und Biologie noch immer hinterherjagen. Eine der großen Fragen: Was ist das Prinzip oder der Ursprung der Welt, des Lebens etc.? Thales Antwort ist natürlich nicht sonderlich spannend oder auch nur kreativ. Ich sagte ja schon, dass er in einer Stadt lebte, die im höchsten Maße abhängig vom Meer war. Nein, Thales Hypothese war nicht ausgereift, aber sie regte zu weiterem Nachdenken an. Sie war eben der Urgrund der Philosophie.

Quellen

Zur Recherche habe ich verwendet:

* Hinterhältiger Afiliate-Link: Wenn ihr das Buch kauft, bekomme ich eine winzige Provision und freue mich.

Bildquellen

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