Der Klassismus von Bibi und Tina

Darüber habe ich neulich schon getwitter. Ich habe nie genug Beachtung geschenkt, wie unglaublich klassistisch „Bibi & Tina“ ist (Danke an Becci, die mich korrigierte, da ich fälschlicherweise von ‚klassizistisch‘ schrieb).

Die eine Hälfte der Protagonist*innen ist so arm, dass sie immer drauf und dran sind, den Pferdehof dicht zu machen. Die andere Hälfte sind die von Falkensteins, denen alles gehört (auch der Hof, den sie an Familie Martin zu einem so horrenden Preis verpachten, dass diese immer an der Pleite kratzt). Es stört den Grafen dabei auch nicht, dass sein Sohn mit der Tochter der Martins in einer langjährigen Beziehung ist und alles darauf hinausläuft, dass die beiden heiraten werden. Trotzdem quetscht er jeden Cent aus seiner zukünftigen Schwiegertochter. Der Sohn ist da keinen Deut besser und versucht nie irgendwas an der Situation seiner angehend Schwiegerfamilie zu ändern.

Zwei Aspekte sind dabei besonders Perfide:

  1. Frau Martin, die Hofpächterin, ist immer zu stolz, Hilfe anzunehmen und zu sagen, dass sie arm ist. Der tollste aller kapitalistischen Tropes: Wenn sich die Unterdrückte aus Stolz selbst um jeden revolutionären Gedanken bringt. Bloß nichts ändern daran, wie es ist. So muss es sein. Das wird dann durch den anderen Aspekt vollends zementiert.
  2. Denn in diese Konstellation kommt ja die Hexe Bibi, die sämtliche Probleme der Familie Martin mit Magie lösen könnte. Doch Frau Martin mag nicht, wenn Bibi zaubert. Das wird auch nie irgendwie begründet. Frau Martin mag das halt nicht. Bibi soll schön die Füße still halten, damit auch noch alle kommenden Kindergenerationen klar vor Augen geführt bekommen, wer hier in der natürlichen Ordnung die Kohle hat und wer nicht, das aber voller Stolz.

Meine Fresse …

Roland Barthes – Der Tod des Autors

Ich habe ja auch noch einen Podcast: den Spätfilm. Wie der Name unschwer erraten lässt, sprechen wir dort über Filme. Und eine wiederkehrende Frage, der wir uns dort stellen müssen, lautet: Kann man das Werk vom Autor trennen? Konkret: Darf ich Filme von Hitchcock oder Kubrick gut finden, auch wenn ich weiß, dass diese Regisseure ihre Schauspieler*innen mitunter extrem schlecht behandelten? Darf ich Filme von und mit mutmaßlichen oder nachgewiesenen Sexualstraftätern wie Bryan Singer, Roman Polanski, Harvey Weinstein oder Kevin Spacey schauen? Und wie ist es mit Filmen, von Tom Cruise, die dazu beitragen Scientology zu finanzieren?

Es gibt gute moralische Gründe, derlei Filme nicht zu gucken. Das Argument dafür ist hingegen zumeist: Man muss Autor und Werk trennen. Wie soll das gehen? Nehme ich eine Schere und schneide einfach Woody Allen aus dem Vorspann all seiner Filme? Wie kommt man auf diese Idee?

Nun, ich kann mich irren, aber ich denke, alles geht zurück auf den berühmten Aufsatz von Roland Barthes: Der Tod des Autors. Doch was genau schrieb Barthes damals, im Jahr 1968 eigentlich? Lasst uns in den Text blicken!

Balzac und die Frauen: Wer spricht hier?

Barthes beginnt den nur acht Seiten und sieben Abschnitte langen, aber unglaublich dichten Aufsatz mit einem Zitat aus Balzacs Novelle ‚Sarrasine.‘ Honoré de Balzac war, auch wenn er aussah wie Sigmar Gabriel, ein französischer Autor der 19. Jahrhundert. In ‚Sarrasine‘ heißt es, so Barthes, von einem als Frau verkleideten Kastraten:

„Es war das Weib mit seinem plötzlichen Ängsten, seinen grundlosen Launen, seinen instinktiven Verunsicherungen, seinen unwillkürlichen Kühnheiten, seinen Prahlereien und seinem köstlichen Zartgefühl.“

Roland fragt daraufhin: Wer zum Henker spricht so? Und er gibt uns mehrere Optionen zur Auswahl, als säßen wir bei Wer wird Millionär vor der alles entscheidenden Frage:

  • Spricht hier A) Der Held der Novelle?
  • Ist es B) das Individuum Balzac mit seiner persönlichen Philosophie der Frau?
  • Oder C) der Autor Balzac, der die literarische Idee der Weiblichkeit vorträgt?
  • Ist es D) eine universale Weisheit?
  • Oder, äh, irgendwie passt das nicht mehr ins WWM-Schema, egal: E) ist es die romantische Psychologie?

Roland Bartes meint nun – und das ist der Kern des gesamten Aufsatzes, also legt das Handy mal ganz kurz weg und passt auf –, es lässt sich nicht sagen, wer spricht. Denn

„Das Schreiben ist Zerstörung jeder Stimme, jedes Ursprungs. Das Schreiben ist Neutrum, zusammengesetzt, Schrägheit, der Identität verlorengeht.“

Das ist ein medientheoretisches Argument. Und zwar ein verdammt gutes! Die Frage, wer hier spricht, kann sich überhaupt erst im Medium der Schrift stellen. Denn sie trennt die Botschaft von der Stimme des Urhebers. Die Schrift macht aus einem Vollzug, der die gesprochene Sprache ist, etwas Stillstehendes. Auch die Idee, dass Sprache etwas zusammengesetztes ist, kommt erst so richtig mit dem Schriftbild auf, das Sätze, Wörter und Buchstaben segmentiert.

Dadurch, dass die Urheberin der Worte und die Worte selbst über Raum und Zeit getrennt sind, haftet der Schrift oft etwas Neutraleres an, als es bei der gesprochenen Sprache der Fall ist, die immer auch Emotionen transportiert, als wäre sie eine andauernde Diskussion, ob es die Nutella oder das Nutella ist. Nebenbei: Es ist DIE Nutella und jeden, der was anderes sagt den blocke ich!!! Anyway … Mit dieser Trennung geht eben auch die Identität von Autor und Werk zumindest ein Stück weit verloren.

So, jetzt könnt ihr euer Handy wieder zur Hand nehmen und weiter Candy Crush spielen. Spielt das heute überhaupt noch jemand?

Woher kommt der Autor eigentlich?

Schauen wir uns mal an, wie Roland Barthes im zweiten Abschnitt fortfährt. Er widmet sich ganz im Stile Indiana Jones‘ als nächstes der Geschichte, stellt sich die Frage, wie es überhaupt zu einem solchen Konzept wie dem Autor kommen konnte.

Denn zunächst einmal ist es ja eigentümlich für eine Erzählung, dass sie gerade keine andere Absicht verfolgt, als das Erzählen. Wodurch ja gerade der Autor dieser Geschichte in den Hintergrund tritt, unwichtig wird, oder wie Barthes es ausdrückt: stirbt. Nehmen wir demgegenüber zum Beispiel ein Versprechen, dann ist es bei diesem Spechakt von wesentlicher Bedeutung, wer die Autorin, die Versprecherin ist. Wenn ich euch verspreche, morgen hier einen Text über Heidegger zu veröffentlichen, dann könnt ihr mich und nur mich daran messen, ob ich das auch wirklich mache. Gut, eher würde ich mir ohne Narkose einen Zahn ziehen lassen, als euch so ein Versprechen zu geben, aber eine solche Rückbindung an den Autor gibt es bei einer Erzählung erst einmal nicht.

Barthes fragt sich also, wieso wir dem Autor dann paradoxerweise doch so eine wichtige Rolle zuschreiben. Seine Überlegungen zu diesem Punkt beginnen nicht ganz bei Adam und Eva aber kurz danach: In oralen Gesellschaften. Wie werden hier Geschichten weitergegeben? Sie werden erzählt. Das Interessante ist, dass der Autor dabei überhaupt keine Rolle spielt. Denn die Erzählung erfolgt durch einen Mittelsmann. Du kannst bei ihm vielleicht die Performanz des Vortragens bewundern. Nicht aber sein Genie. Denn die Geschichte hat er sich selbst ja gar nicht ausgedacht, ähnlich wie Karl-Theodor zu Guttenberg seine Doktorarbeit. Und oft wissen wir gar nicht mehr, wer sie sich ausgedacht hat. Ähnlich wie Karl-Theodor zu Guttenberg bei seiner Doktorarbeit.

Der Autor ist eine moderne Erfindung, folgert Barthes daraus. Philosophisch würden wir von einer neuzeitlichen Erfindung sprechen. Denn Barthes glaubt dass er im ausklingenden Mittelalter entstanden ist,  als (Zitat)

„mit dem Englischen Empirismus und dem Französischen Rationalismus und dem persönlichen Glauben der Reformation das Individuum entdeckt wurde.“

An dieser Stelle muss ich eine kleine Warnmeldung einbauen, denn die meisten Zitate von Barthes in dieser Folge habe ich radikal vereinfacht. Ich liebe die Art zu Schreiben des ollen Franzosen, aber sie ist komplizierter als die Position der Labour-Partei zum Brexit.

Zurück zum Text: Was Barthes hier anspricht, ist das zweite Paradigma der Philosophie. Schaut dazu gerne noch einmal in meinen Text zu den drei Paradigmen. Mit Beginn der philosophischen Neuzeit wurde die erkenntnistheoretische Frage ‚Was ist Die Welt?‘ abgelöst durch die Frage ‚Was kann ich erkennen?‘. Wittgenstein sagt an einer Stelle schön: Philosophische Problem werden eigentlich nie gelöst, sondern zum Verschwinden gebracht. Mit dem zweiten Paradigma der Philosophie kam das Individuum ins Blickfeld. In der Frage „was kann ich erkennen?“ steckt ja schon das Ich. So ist es nicht verwunderlich, dass der erste neuzeitliche Philosoph Descartes auch das Ich findet, als er sich fragte, wessen er sich gewiss sein kann: Ich denke, also bin ich.

Was mir an Barthes Satz beim ersten Lesen nicht klar war:  Inwiefern ist die Reformation individualistisch? Daher machte ich, was ich immer in einer solchen Situation mache, ich fragte Twitter und die Antworten zeigen, was ich an Twitter mag:

 

Die Konsequenz daraus ist, so Barthes,

„dass der Positivismus, diese Kurzfassung und Vollendung der kapitalistischen Ideologie, im Bereich der Literatur der „Person“ des Autors die größte Bedeutung beigemessen hat.“

Was zum Millennium Falcon soll das denn schon wieder bedeuten? Damit spielt Barthes wohl auf Auguste Comte an, einen der Begründer der modernen Soziologie. Comte wollte alles metaphysische, alles geisteswissenschaftliche in der Sozialforschung loswerden und eine soziale Physik rein auf Beobachtbarem aufbauen. Wie Barthes es orakelt, als säße er in Delphi über einer Erdspalte, korrespondiert das stark mit dem Materialismus des Kapitalismus, in dem andere Werte als materielle keine Rolle mehr spielen. Okay, vielen Dank für diesen zusammenhangslosen Einwurf, alter Mann.

Wichtiger ist da schon: Dieser positivistische Ansatz wirkte sich Anfang des 20. Jahrhunderts auch auf die zeitgenössische Literaturwissenschaft aus. Hier versuchte der Positivismus ebenfalls kausale Gesetzmäßigkeiten auszumachen und konzentrierte sich daher auf die Beziehung zwischen Autoren und Publikum, um so aus der Entstehung von literarischen Werken ihre Wirkung zu folgern. Ob dies wirklich erst zur Erfindung des Autors führte oder zumindest zu seiner Erhöhung als entscheidend für die Interpretation, kann ich nicht beurteilen. Denn ich bin kein Literaturwissenschaftler. Ich habe von Literaturwissenschaft in etwa so viel Ahnung wie Trump von Staatsführung. Barthes aber glaubt, dass seine zeitgenössische Literatur, Kultur und Gesellschaft der 60er Jahre als Ergebnis der geschilderten Entwicklung auf den Autor fixiert ist.Er sagt:

„Die Kritik besteht meistens noch darin, zu sagen, das Werk Baudelaires sei das Scheitern des Menschen Baudelaire, das Van Goghs sein Wahnsinn, Tschaikowskys sein Laster: Die Erklärung des Werks wird immer auf Seiten desjenigen gesucht, der es hervorgebracht hat.“

Der Niedergang des Autors

Nachdem Roland Barthes uns nun gezeigt hat, was zum Aufbau des Autors geführt hat, beginnt er im dritten Abschnitt mit seinem Niedergang, als wäre der Autor ein Elb, der Mittelerde verlassen muss. In Frankreich habe Stéphane Mallarmé als erster versucht, weg vom Autor zu gehen und den Text selbst ins Zentrum zu stellen. Dieser Mallarmé war Symbolist, so verrät mir die Wikipedia. Ja, höher als die Wikipedia ist mein Niveau nicht. Schließlich bin ich ein Typ, der „die Nutella“ sagt.  Der Symbolismus war wiederum eine literarische Strömung, die sich gegen Realismus, Naturalismus und den schon erwähnten Positivismus stellte. In dieser steht wenig überraschend das Symbol im Zentrum. Statt – wie zum Beispiel der Realismus – sich mit gesellschaftlichen Problemen rumzuschlagen oder sich mit dem Innenleben zu beschäftigen, wie es Romantik und Impressionismus taten, war der Symbolismus … äh … Ja was? Irgendwie anders halt. Fragt da besser mal eine Literaturwissenschaftlerin als einen Philosophie-Dilletanten.

Kehren wir zu Roland Barthes zurück: Der sagt, die Sprache spreche, nicht der Autor. Schreiben ist unpersönlich, nicht ich sondern die Sprache allein agiert, performiert. Das ist wieder ein medientheoretisches Argument, da fühle ich mich wieder zuhause. Erst dadurch, dass die Schrift und die Schreiberin im Gegensatz zur oralen Sprache getrennt voneinander auftreten können, kann die Schrift alleine, aus sich heraus etwas bedeuten. Und, so Barthes, Wenn man den Autor ausblendet, erhält der Leser seinen Platz. Die Lesende muss anfangen, sich selbst Gedanken über die Bedeutung zu machen.

Der nächste Schritt zum Tod des Autors war dann Paul Valéry. Valéry verspottete den Autor und zweifelte ihn an, schreibt Barthes. Valéry trat für die verbale Voraussetzung der Literatur ein, ein Rückgriff auf die Innerlichkeit des Schriftstellers erschien ihm als reiner Aberglaube. Ich habe natürlich auch recherchiert, wer Paul Valéry war. Google und ich sind nach acht Seiten Roland Barthes so unzertrennlich, dass wir bald zusammen bei Ikea einkaufen gehen. Valéry war ebenfalls ein Französisch Schriftsteller, was euch wahrscheinlich wenig überrascht. Er stand wohl anfangs den Symbolisten nahe. Doch seine späteren Werke werden als „reine Poesie“ bezeichnet, sie verzichten auf die Darstellung von Gefühlen und äußerer Realität. Stattdessen streben sie formale Vollendung an. Es ist leicht zu sehen, dass hier nicht viel Raum für die Frage „Was will uns der Autor damit sagen?“ bleibt.

Als französischer Philosoph und Literaturwissenschaftler kommt Roland Barthes natürlich nicht an Marcel Proust vorbei. Und das stellt ihn vor ein argumentatives Problem, denn „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ gilt wohl als Paradebeispiel für einen autobiografisch geprägten Roman. Plötzlich steht also der Autor wieder im Fokus. Doch Barthes leugnet das mit einem Twist, der unerwarteter kommt als der in Parasite: In Prousts Epos verwische die Beziehung zwischen dem Schriftsteller und seinen Figuren. Der Erzähler sei nicht der, der empfunden hat, nicht einmal der der schreibt, sondern der, der schreiben wird. Joa, ich lass das einfach mal so stehen, da ich die Bücher nicht gelesen habe und mir diesmal sogar der Wikipedia-Artikel zu lang ist. Doch dann wird es wieder spannend, denn Barthes schreibt:

Nicht Charlus imitiert Montesquiou sondern Montesquiou ist in seiner anekdotischen, historischen Wirklichkeit ein sekundäres, aus Charlus abgeleitetes Fragment.

Wissta bscheid! Robert de Montesquiou war ein Schriftsteller, der nicht zuletzt dadurch bekannt wurde, dass er als Vorbild für die Figur des Charlus aus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ fungierte. Was Barthes hier wohl sagen will, ist, dass wir uns die historische Person des Montesquiou nur über die Romanfigur erschließen können. Dass, was wir glauben, über Montesquiou zu wissen, wir letztlich nur aus Charlus ableiten können. Die literarische Figur hat das Primat.

In seinem historischen Abriss wendet sich Barthes als nächstes dem Surrealismus zu und urteilt: In diesem habe die Sprache keinen souveränen Stellenwert. Okay, das kam jetzt unerwartet wie der Tod von Snoke in Episode 8. WER WAR DENN NUN DIESER SNOKE?!?! Tschuldigung. Barthes sagt, die Sprache ist ein System und die romantische Bewegung des Surrealismus versuchte, dieses zu untergraben. Doch Barthes meint, dass das illusorisch sei, denn Code kann nicht zerstört, nur „gespielt“ werden. Ah, hier scheint die strukturalistische Schule des Franzosen durch. Der Strukturalismus ist eine ursprünglich sprachwissenschaftliche Strömung, die sich auf viele weitere Kulturwissenschaften ausdehnte. Ihr Begründer war Ferdinand de Saussure und die Grundidee ist, dass sich Bedeutung erst in einem System aus der Differenz zu anderen Bedeutungseinheiten auftut. Beispielsweise können wir nur sagen, was Rot ist, wenn wir wissen, was die Alternativen sind. Sind sie Grün und Blau, wird unsere Antwort anders ausfallen, als wenn wir ein System haben, in dem wir uns zwischen Rot, Weinrot, Zinnober, Purpur und Orange entscheiden müssen. Worauf Barthes hier abzielt, ist, dass du dem System nicht entkommen kannst. Selbst wenn du versuchst ganz neue, revolutionäre Verwendungsweisen von Sprache zu etablieren,  werden diese zwangsläufig nur in Differenz zu dem, was sie nicht sind, Bedeutung erhalten und so letztlich wieder Teil des Systems. Doch auch, wenn dieser Versuch des Surrealismus  gescheitert ist, so trug aber dazu bei, das Bild eines Autors zu profanisieren, diagnostiziert Barthes. Der Surrealismus empfahl, erwartete Bedeutung zu unterlaufen. Mit der Technik des automatischen Schreibens ignorierte die Hand den Kopf. Und das Schreiben zu zweit oder zu dritt trug dazu bei. So, so, interessant …

Da er schon beim Strukturalismus ist, kann Barthes gleich mit der Linguistik fortfahren: Diese trug ebenfalls dazu bei, den Autor zu zerstören, indem sie klarmachte, dass das Ich keine Person, sondern ein grammatisches Subjekt ist. Frei nach Wittgenstein könnte man hier ergänzen, dass Descartes Satz „Ich denke, also bin ich“ Nicht die Existenz des Ichs beweist, sondern dass die Notwendigkeit eines grammatischen Subjekts für das Prädikat „denken“ bewiesen wird. Ich habe in meinem philosophischen Adventskalender darüber geredet. Ihr findet das in der Folge zu „Cogito ergo sum“.

Schreiben ist eine flüchtige Performanz

Im 4. Abschnitt stellt Barthes die These auf, dass die Entfernung des Autors gleichbedeutend ist mit Verfremdung im Sinne Brechts. Bertold Brecht war nicht nur ein lustiger kleiner Mann mit Mütze. Er machte strange Theaterstücke. Brecht verfremdete dabei das Schauspiel absichtlich, um es als Schauspiel für das Publikum erkennbar zu machen. Er richtete also die Aufmerksamkeit auf die Bedingungen des Mediums, um so sein Publikum in die Lage zu versetzen, über das Medium zu reflektieren. Man kann leicht sehen, dass Ähnliches mit dem Text passiert, sobald ich aufhöre, ihn einfach als die Stimme des Autors zu verstehen. Denn dann muss ich anfangen, mir Gedanken zu machen, wie anders der Text denn Bedeutung erlangt.

Während klassisch der Autor als zeitlich vor dem Text betrachtet wurde, wie ein Vater zu seinem Kind. Entsteht der moderne Schreiber zeitgleich mit seinem Text, fährt Barthes fort.

 Er besitzt kein Sein, das vor oder über seinem Buch wäre. Er ist nicht das Subjekt, dessen Prädikat das Buch ist. Es gibt keine andere Zeit als die der Äußerung, und jeder Text ist ewig hier und jetzt geschrieben.

Das klingt ein bisschen, wie ein Song aus Frozen 2. Es ist aber ein Gedanke, den ich gut nachvollziehen kann. Ich habe ihnim Zusammenhang mit Platon schon geäußert: Ich kann Platon philosophiegeschichtlich betrachten als ein Produkt seiner Zeit. Dann kann ich mir Gedanken machen, wie er auf die Ideen kommen konnte, die er hatte. Aber das ist keine philosophische Betrachtung im eigentlichen Sinne. Wenn ich mich für Platons Philosophie interessiere, dann frage ich mich, was seine Texte zu den philosophischen Problemen unserer Zeit beitragen können. Wie ich sie verstehe und nicht wie Platon sie gemeint hat.

Als Nächstes nimmt Barthes Bezug auf die Sprechakttheorie insbesondere auf die von John L. Austin.

Schreiben ist ein Performativ. Eine seltene, verbale Form der Äußerung, die keinen anderen Inhalt besitzt als den Sprechakt selbst,

sagt Barthes. Austin unterscheidet in seiner Theorie der Sprechakte zunächst zwischen Konstativa und Performativa. Die Philosophie hat sich traditionell nur für erstere interessiert, die klassischen Aussagen über die Welt. Austin hingegen kümmert sich um die Performativa: Sprechakte, die eine Handlung darstellen. Etwa ein Versprechen geben, oder das Urteil eines Richters. Ws ist spannend, dass Barthes den Akt des Schreibens dazuzählt. Denn das Ergebnis, der Text ist im Normalfall wahrscheinlich das Paradebeispiel für ein Konstativum. Doch durch die Hervorhebung, dass das Schreiben eine Performanz ist, macht Barthes klar, dass der Akt etwas flüchtiges ist, das nur im Moment des Schreibens existiert. So wie ein Tanz nur in dem Moment existiert, in dem er ausgeführt wird. Folglich fährt Barthes fort:

Der moderne Schreiber kann nicht glauben, dass seine Hand zu langsam für sein Denken oder Fühlen sei. Sodass er nachträglich sein Werk kommentieren müsse.

Man merkt, dass der Text aus einer Zeit stammt, in der es Social Media noch nicht gab. Ich schaue dich an, J. K. Rowling. Und dich George R. R. Martin! Allerdings ist das Argument gut: Das Schreiben ist eine Handlung. Das Ergebnis dieser Handlung ist der Text. Die Idee, dass der Text selbst nicht ausreiche, sondern zu interpretieren sei, indem man sich um die Gedanken des Autors kümmert, ist unter diesem Aspekt fragwürdig. Man stelle sich vor, jedesmal wenn ein Richter jemanden zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, müssten wir uns zunächst überlegen: Wie hat er das gemeint? Oder stellt euch vor, ich verspreche euch, nie wieder über Heidegger zu lästern – was ich nicht tue – und wenn ich dieses Versprechen breche, sage ich dann: Aber meine Intention war eine ganz andere! Austin selbst bringt das Beispiel, am Grab sein Beileid auszudrücken. Bei dieser Handlung ist es vollkommen egal, ob ich mich wirklich schlecht fühle oder dies nur sage, um den Hinterbliebenen irgendwas zu sagen. Die Handlung selbst bringt zum Ausdruck, was sie bedeutet.

Auch das Nächste, was Barthes schreibt, ist wieder spannend, denn er lenkt unsere Aufmerksamkeit wieder auf die medialen Bedingungen, die sich bei Rede und Text unterscheiden:

Die Hand zieht mit der Geste der Einschreibung ein Feld, das von der Stimme gelöst ist, das keinem Ursprung hat, zumindest keinen anderen als die Sprache selbst.

Während ich einem Sprecher Fragen stellen kann, muss der Text für sich alleine stehen. Dass ich überhaupt die Möglichkeit habe, den Autor zu fragen, wie er etwas gemeint hat, stellt beim Lesen die absolute Ausnahme dar und nicht die Regel. Der Autor kann im Normalfall nicht erläutern, was seine Intention war. Ich als Leser muss mir die Bedeutung selbst erschließen.

Everything is a Remix

Den 5. Absatz beginn Barthes mit:

Der Text ist nicht bloß eine Wortzeile, die nur dem Zweck dient, die Botschaft des Autors freizusetzen. Der Text ist stattdessen ein mehrdimensionaler Raum, in dem vielfältige Schreibweisen miteinander harmonieren und ringen. Keine davon ist vorrangig. Der Text ist ein Geflecht von Zitaten, die aus den Tausend Brennpunkten der Kultur stammen.

Im Studium habe ich die schöne Formulierung gelernt, dass der Autor nur ein Interpret seines Werkes ist, aber nicht der vorrangige. Wenn Beispielsweise Shakespeare über Liebe schreibt, dann basiert das auf einem Konzept der Liebe aus dem 16. Jh. Wenn ich das im 21. Jh. lese, bringe ich zwangsläufig ein ganz anderes Konzept der Liebe in den Text ein. Warum sollte die Idee, die Shakespeare von Liebe hatte vorrangig sein? Und wenn sie es ist, warum sollte ich den Text dann heute überhaupt noch lesen? Sind es nicht gerade die Texte, die zeitlos sind, welche wir als besonders wertvoll betrachten? Also gerade nicht diejenigen, die auf die konkreten Gedanken und Gefühle nur eines einzigen Menschen, der Autorin Bezug nehmen?

Barthes sagt, der Autor gleiche Bouvard und Pécuchet. Das sind die zwei Protagonisten des gleichnamigen unvollendeten Schelmenroman von Gustave Flaubert. Worauf Barthes anspielt, ist, dass die beiden Kopisten sind. Bevor es Kopierer gab, mussten Texte von Hand kopiert werden, das war der Job von Kopisten. Und der Autor, so Barthes, ist letztlich auch nur ein Kopist.

Der Schriftsteller kann nur eine frühere, aber niemals eine ursprüngliche Geste nachahmen. Seine einzige Macht besteht darin, frühere Schreibweisen zu mischen.

Das ist die „Everything is a Remix“-These, demnach gibt es keine genuine Originalität. Sondern alles, was wir kulturell erschaffen, ist letztlich durch Vorhergehendes beeinflusst. Als wären wir alle mitteltalentierte Rapper, können wir zwar kreativ neu zusammensetzen, aber nicht neu aus dem Nichts erschaffen. Wenn ihr wüsstet, bei wem ich überall für dieses Video geklaut habe, ihr wärt sehr enttäuscht von mir. Barthes fährt fort:

Sein Inneres kann der Autor nur insofern ausdrücken, wenn er sich bewusst ist, dass sein Inneres selbst ein zusammengesetztes Wörterbuch ist, dessen Wörter sich nur durch andere Wörter erklären lassen, und dies ad infinitum.

Das ist wieder Wittgenstein in Reinform. In seinem berühmten Privatsprachenargument legt er unter anderem dar, dass innere Zustände immer erst in sozialem Kontext gelernt werden müssen. Meinen inneren Schmerz kann ich erst benennen, wenn ich gelernt habe, was äußerer Schmerz ist. Das habe ich als Kleinkind gelernt, indem meine Eltern auf meine Verhaltensweisen mit dem Wort „Schmerz“ reagiert haben. Erst Jahre später kann ich ein deprimierter Teenager werden. Der Autor steht selbstverständlich ebenso in einem solchen sozialen Kontext.

Dann kommen zwei Verweise auf Baudelaires „die künstlichen Paradiese“ und auf Thomas De Quincey, die sich mir nicht erschließen. Wenn ihr die erklären könnt, macht das gerne in den Kommentaren. Ich kann an dieser Stelle nur lächeln und winken. Barthes schließt den Abschnitt mit:

Der Schreiber, der Nachfolger des Autors hat keine Leidenschaften, Stimmungen, Gefühle oder Eindrücke mehr in sich, sondern jenes gewaltige Wörterbuch, aus dem er ein Schreiben schöpft, das keinen Stillstand kennen kann.

Das fasst noch einmal die vorhergehenden Thesen zusammen. Nicht die inneren Zustände der Schreibenden sind entscheidend. Sondern die Worte. Denn wie sollten wir auf diese inneren Zustände zugreifen? Letztlich geht das nur sprachlich. Aber die Sprache liegt uns in Form des Textes ja bereits vor. Und weiter noch: Sowohl die Interpretationsmöglichkeiten des Textes als auch die Autorin haben sich seit dem Schreiben weiterentwickelt, sie kennen keinen Stillstand.

Das Leben imitiert immer nur das Buch,

so Barthes.

Das Buch ist selbst nur ein Geflecht aus Zeichen, verlorene, endlos aufgeschobene Imitationen.

Er beschwört also noch einmal, dass es dem Medium immanent ist, dass der Text für sich selbst stehen muss und dass jedes neue Werk immer schon Inspirationsquellen hatte. Mal größere Inspirationsquellen und mal kleinere, möchte ich süffisant zur Spiegelbestsellerliste rüberschielend hinzufügen.

Was bleibt, wenn der Autor tot ist?

In Abschnitt 6 ist der Autor nun bereits zu Grabe getragen und Barthes stellt sich der Frage, was danach kommt:

Ist der Autor entfernt, wird der Anspruch, einen Text zu entziffern, völlig überflüssig.

Echt jetzt? Das schreibst ausgerechnet du? Hast du mal deine eigenen Texte gelesen? Ich meine, ich liebe sie, aber wenn man etwas entziffern muss, dann diesen Text! Anyway … Barthes fährt fort: Wenn man sagt, ein Text habe einen Autor, dann riegelt man ihn ab, versieht ihn mit einem letzten Signifikat. Damit verweist er wieder auf seine strukturalistische Tradition, insbesondere auf Saussure, den Gründer des Strukturalismus. Signifikat ist die Inhaltsseite, die Bedeutung eines Zeichens. Signifikant hingegen ist die Ausdrucksseite, die Zeichengestalt. Die Frage, was die Bedeutung ist, ist natürlich immer die entscheidende, bei einer Analyse. Und sie zu beantworten ist schwerer als einen Film von David Lynch zu verstehen. Wenn man jetzt sagt, die Bedeutung eines Textes ist die Intention des Autors, dann macht man es sich bei dieser schwierigen Frage sehr einfach.Das diagnostiziert auch Barthes, wenn er schreibt:

Der Buchkritik passt das sehr gut, die es sich zur Aufgabe macht, hinter dem Werk den Autor zu entdecken oder seine Hypostasen: die Gesellschaft, die Geschichte, die Psyche, die Freiheit.

Da frage ich mal ganz eloquent: Hä? Hypo-was? Hypostasen sind verschiedene Gesichtspunkte der gleichen Sache. Danke Wikipedia, was würde ich nur ohne dich machen! Unter diesem Gesichtspunkt ist der Satz ein ziemlich hemdsärmeliges draufschlagen von Barthes auf alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Ich kann verstehen, wenn er den Autor zu Grabe tragen möchte, seine Argumente bis hierhin erschlossen sich mir, die Psyche schenke ich ihm auch noch. Aber Gesellschaft und Geschichte? Das ist doch ein Widerspruch zu seiner „Everything is a Remix“-These weiter oben im Text. Denn wovon sollen denn Texte Remix sein, wenn nicht von anderen Texten, die wiederum Teil von Gesellschaft und Geschichte sind. Was es wiederum heißen soll, dass die Buchkritik hinter dem Werk die Freiheit entdecken will, erschließt sich mir überhaupt nicht. Ein weiteres Mal stehe ich hier, ich armer Tor und bin so schlau als wie zuvor.

Schauen wir mal weiter. Barthes greift nun die Autorität der Literaturkritik an:

Ist der Autor gefunden, dann ist der Text erklärt und der Kritiker hat gesiegt. Daher ist historisch mit der Herrschaft des Autors auch die  des Kritikers verbunden. Und mit  dem Autor gerät auch der Kritiker ins Wanken.

Wenn es keine letztendlich gültige Interpretation mehr gibt, weil die Autorität des Autors sie nicht mehr abnicken kann, dann gerät damit auch die Stellung des Kritikers ins Wanken. Was mir zunächst kontraintuitiv erscheint, macht aber vielleicht doch Sinn, wenn ich mir die Entwicklung der Filmkritik ansehe, denn sie geht immer weiter weg von einem kleinen Kreis von Kritikern, die in Feuilletons über einen Film urteilen, hin zu einem vielstimmigen Chor aus Bloggern, Podcasterinnen, Youtuberinnen und Fans, die Filme kritisieren und interpretieren und dabei ganz eigene Beurteilungsschemata anlegen. Die Frage ist, für was davon ist der tote Autor verantwortlich und wie viel geht auf das Konto des Internets? Barthes sah die Entwicklung aber voraus, als er schrieb:

Indem die Literatur oder das Schreiben sich weigert dem Text (und der Welt als Text) ein Geheimnis, einen letzten Sinn, zuzuweisen, setzt sie eine Tätigkeit frei, die man als kontratheologisch oder revolutionär bezeichnen kann.

Und:

Die Weigerung den Sinn festzulegen, ist gleichbedeutend mit der Ablehnung Gottes und seiner Hypostasen Vernunft, Wissenschaft, Gesetz.

Ah, da sind sie wieder, die Hypostasen. Das sind große Worte und der Strukturalist wirkt hier schon sehr poststrukturalistisch. Aber inhaltlich hat er einen Punkt: In unserer atheistischen, Post-vernünftigen und mit Verschwörungstheorien und Esoterik flirtenden Zeit sind uns so manche ehemals gewisse Autoritäten abhanden gekommen. Man möchte fast den Autor wieder exhumieren.

Die Geburt des Lesers

Kommen wir zum letzten Absatz und kehren in ihm mit Barthes zu Balsacs Satz am Anfang zurück. Wer sagte ihn denn jetzt? Barthes schließt:

Niemand, keine Person sagt ihn. Sein Ursprung liegt im Lesen nicht im Schreiben.

Die lesende Person selbst muss sich also erschließen, was dieser Satz zu bedeuten hat. Barthes schreibt, dass der Altphilologe Jean-Pierre Vernant gesagt habe:

Die griechische Tragödie ist konstitutiv doppelsinnig. Ihr Text ist aus doppeldeutigen Worten gesponnen, die jede Figur einseitig versteht. Dieses ständige Missverstehen ist das Tragische. Es gibt aber jemanden, der die Doppeldeutigkeit versteht und das Missverstehen der Figuren: der Leser.

Mit anderen Worten, schon in der Antike lag die Autorität gar nicht beim Autor sondern bei der Leserin eines Textes. Barthes fast zusammen:

 Der Text besteht aus vielfachen, mehreren Kulturen entstammenden Schreibweisen, die untereinander in einen Dialog, eine Parodie, ein Gefecht eintreten. Der Ort, der diese Vielfalt sammelt, ist nicht der Autor sondern der Leser. Die Einheitlichkeit des Textes liegt nicht an seinem Ursprung sondern an seinem Bestimmungsort. Aber dieser Bestimmungsort kann nicht mehr personal sein.

Okay Boomer, aber warum jetzt noch gleich?

Der Leser ist ein Mensch ohne Geschichte, Biographie, Psychologie. Ein jemand, der alle Spuren zusammenhält, aus denen das Geschriebene besteht.

Ähm, erschließt sich mir jetzt nicht 100%-ig ich bin Leser und habe all das. Ich vermute eher, dass Barthes darauf hinaus will, dass es viele verschiedene Leserinnen gibt, die alle verschiedene Geschichten, Biographien, Psychologien haben. Somit gibt es am Ende auch viele verschiedene Signifikate des Textes und nicht mehr die eine kanonische Interpretation, die auf den Autor zurückzuführen ist. Auch bin ich notwendig beim Lesen immer an einem ganz bestimmten Zeitpunkt in meiner Geschichte, Biografie und Psychologie. Wenn ich heute noch einmal die weirde Kindersex-Stelle in Steven Kings ‚Es‘ lesen würde, würde sie für mich mit Sicherheit eine ganz andere Bedeutung haben als für mein 12-Jähriges Ich. So kann ich mir da zumindest einen Reim draus machen und dann auch mit Barthes zusammen schließen:

Die Geburt des Lesers muss mit dem Tod des Autors bezahlt werden.

Das war er! Der berühmte Essay über den Tod des Autors, vielleicht seid ihr jetzt in eurer Urteilsfindung ein Stück weiter, ob sich das Werk vom Autor trennen lässt. Ich möchte euch abschließend noch mit auf den Weg geben, dass ich hier gerade über weite Strecken versucht habe, die Frage zu beantworten, was uns der Autor Roland Barthes mit seinem Text eigentlich sagen will. Vielleicht habe ich aber auch beim Schreiben die Bedeutung des Textes überhaupt erst erzeugt. Und ihr erzeugt gerade beim Lesen eine ganz andere. Denkt mal darüber nach …

Die Philosophie von Fridays for Future

Heute geht es hier um ein Thema, das in aller Munde ist: Friday for Futures. Im Augenblick kann ich ja noch darüber sprechen, so lange uns AKK das noch machen lässt. Aber weil es mir hier um Philosophie geht, möchte ich nicht nur blöd meine Meinung zu FFF rausposaunen, sondern die Philosophie von Fridays for Future ergründen.

Unter philosophischer Betrachtung ist die Bewegung nämlich durchaus spannend. Denn interessant wird Ethik (was Friday for Futures zugrunde liegt) immer dann, wenn ein Wertekonflikt existiert. Dann muss man eine Güterabwägung vornehmen und sich überlegen, welchen Wert man höher einstuft als welchen anderen. Und je nachdem, welchen Wert ich wie gewichte, komme ich zu meinem Urteil über FFF.

Moralisch eindeutige Fragen sind ethisch betrachtet zumeist recht langweilig. Niemand wird ernsthaft diskutieren wollen, ob Danaerys im Recht war, die Bevölkerung von Kings Landing abzufackeln, nachdem diese bereits kapituliert hatte. Hingegen ist es interessanter, ob ich das Recht hatte, eben GoT zu spoilern, um hier ein philosophisches Argument zu machen.

Also wie ist das bei FFF? Was spricht dafür und was dagegen? Oder sollte ich noch einmal einen Schritt zurückgehen und erklären, was FFF überhaupt ist?

Was ist Fridays for Future?

Alles fing an mit Greta Thunberg, die jeden Freitag die Schule bestreikte, um auf die Gefahren des Klimawandels und unser aller Untätigkeit im Klimaschutz aufmerksam zu machen. Das hat sich mittlerweile zu einer internationalen Bewegung gemausert, bei der Schüler*innen Freitags blau machen und für Klimaschutz demonstrieren.

Man könnte sich sehr ausführlich damit beschäftigen, mit welcher Rhetorik FFF in der Öffentlichkeit begegnet wird. Aber das würde hier zu weit führen. Wir wollen das lieber den Experten überlassen. Jedenfalls muss sich Fridays for Future eine ganze Menge Kritik anhören und darunter sind auch ein paar inhaltliche Argumente. Um die geht es mir hier und heute. Eigentlich sollte es doch eine super Sache sein, dass sich Schüler*innen für Umweltschutz engagieren. Also: Was spricht dagegen?

Die Kritik an Fridays for Future

Der Hauptkritikpunkt ist zumeist, dass dieser Protest während der Schulzeit stattfindet. Dass die Kinder doch nur die Schule schwänzen wollen. Aber was ist eigentlich so schlimm daran? Ist die Schule nicht dafür gemacht, geschwänzt zu werden? Nun, dass das so viele Menschen stört, hängt mit der Schulpflicht zusammen.

Schulpflicht? Was ist denn das nun wieder? A long time ago in a galaxy far far away… Beziehungsweise vor ein paar Jahrhunderten auf diesem Kontinent. Im Zuge von Reformation und Aufklärung entstand der Gedanke, dass der Staat dafür zu sorgen habe, allen Kindern eine Grundbildung zu verschaffen. Diese Entwicklung beschleunigte sich durch die Industrialisierung und führte in Deutschland dazu, dass es seit der Weimarer Republik eine allgemeine Schulpflicht gibt.

Doch warum gibt es die, was soll das? Zunächst einmal hat eine Gesellschaft ein generelles Interesse daran, dass ihre Mitglieder Zugang zu Bildung haben. Wenn es niemand gäbe, die Ärztin werden könnte, wäre das schön doof, oder? Der Aufklärungsphilosoph Jean-Jacques Rousseau brachte die Idee hervor, dass es so etwas, wie einen Gesellschaftsvertrag gibt. Menschen leben in Gesellschaften zusammen, da sie sich davon versprechen, dass diese Gesellschaft das Wohl aller vergrößert. Die Details von Rousseaus Philosophie können wir außer Acht lassen, wichtig ist hier, dass so ein Gesellschaftsvertrag nur funktioniert, wenn sich mehr oder weniger alle mehr oder weniger an ihn halten.

Und hier kommt dann erstmals die Schulpflicht ins Spiel. Denn es gibt zu ihr noch ein Gegenstück. Alle Schüler*innen haben die Pflicht zur Schule zu gehen. Dies ist ihr Beitrag zur Einhaltung des Gesellschaftsvertrags. Doch auch der Staat hat eine Pflicht: Die Beschulungspflicht. Diese resultiert darin, dass Bildungseinrichtungen zu den größten Institutionen des Staates gehören. Egal, ob du in einer Großstadt wohnst, in einem Dorf in der Eifel, auf einer Alm in den Alpen, auf einer Nordseeinsel oder sogar in Katzenelnbogen. Der Staat sorgt dafür, dass du Zugang zu schulischer Bildung hast und möchte im Gegenzug, dass du diese auch wahrnimmst.

Okay, soviel zu den Pflichten. Aber niemand würde die Einhalten, wenn er oder sie nicht auch etwas davon hätte. Was spricht denn für die Schulpflicht? Was macht sie zu einer nicht ganz doofen Idee? Dafür müssen wir noch einmal zum Ziel von Rousseaus Gesellschaftsvertrags zurückkehren: Er soll das Wohl aller vergrößern. Damit das geschehen kann, muss es eine weitere Grundbedingung geben: Es muss Gerechtigkeit herrschen. Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass sich wirklich für alle das Wohl mehr oder weniger vergrößert, sonst haben sie keine Veranlassung, den Gesellschaftsvertrag einzuhalten.

Das ist nun wieder ein riiiiiiiiesiges Fass, das ich gar nicht richtig aufmachen will, aber eine kleine Tasse möchte ich zumindest daraus schöpfen: Denn eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen für Gerechtigkeit ist Chancengleichheit. Und an dieser Stelle kommt wieder die Schulpflicht ins Spiel. Die Idee dahinter ist, dass es egal ist, ob deine Eltern Millionäre oder Hartzer sind: Alle sollen die gleiche Ausgangssituation haben. Durch den gleichen Zugang zu Bildung soll ihnen ermöglicht werden, als Erwachsene den Beruf zu ergreifen, den sie möchten und so ihr persönliches Wohl zu mehren. Selbst wenn sie sich am Ende entscheiden, SPD-Spitzenkandidaten zu werden.

Aber würde es hier nicht reichen, dass der Staat einfach die Schulen hinstellt? Wer Lust hat, später fett Kohle zu verdienen, geht halt hin und wem das egal ist, lässt es bleiben? Nun, ohne jemanden hier zu nahe treten zu wollen: Schüler*innen wissen vielleicht nicht immer, was das Beste für sie ist und leben im hier und jetzt. Und Ja: Mir ist klar, wie absurd dieses Argument ist gegen Demonstrationen, die sich nur um die Zukunft drehen. Aber ich zumindest habe die Schule allzu oft lieber geschwänzt und mit Freunden rumgehangen als dass ich dem Unterricht aufmerksam gefolgt bin. Und seht, was aus mir geworden ist! Darüber hinaus spielt das Elternhaus hier eine große Rolle: Wenn deinen Eltern wichtig ist, dass du dich in der Schule anstrengst, wirst du es wahrscheinlicher tun, als wenn deine Eltern eher für „Netflix & chill“ sind.

Damit die Menschen unabhängig vom Engagement ihrer Eltern Chancengleichheit haben, gibt es die Schulpflicht. Es gibt sogar noch einen anderen Grund für die Schulpflicht. Früher gab es den Feudalismus, das war das Gesellschaftssystem vor der Aufklärung. Damals gab es Grundbesitzer – den Adel – die den ganzen Tag rumhingen, chillten und andere für sich arbeiten ließen. Diese Anderen waren die Leibeigenen und wie der Name schon sagt gehörten die buchstäblich dem Adel. Damals war es vollkommen Normal, dass Kinder mitarbeiteten, sobald sie dazu in der Lage waren. Mit der Industrialisierung verschärfte sich dieser Zustand sogar noch, als mehr und mehr Menschen, in die Städte zogen, um für einen Hungerlohn in Fabriken zu arbeiten. Damals war es total normal, dass Kinder mitarbeiten, um die Familie zu ernähren. Den Menschen blieb schlichtweg nichts anderes übrig.

Die Schulpflicht hat jetzt den äußerst wünschenswerten Nebeneffekt, dass sie Kinderarbeit faktisch ausschließt. Denn wer zur Schule gehen muss, kann nicht gleichzeitig arbeiten. Und wir Gutmenschen glauben heute, dass die Kindheit etwas Besonderes und Schützenswertes ist. Dass jedes Kind ein Recht auf eine Kindheit frei von Arbeit hat. Das spricht also gegen FFF. Wobei ich gleich dazu sagen muss, dass meine Darstellung hier äußerst idealisiert und vom Geist der Aufklärung geprägt ist. Michel Foucault zum Beispiel sah das eher so:

„Schulen haben die gleichen sozialen Funktionen wie Gefängnisse und Irrenhäuser – sie definieren, klassifizieren, verwalten und regulieren Menschen.“

Michel Foucault – Überwachen und Strafen.

Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden. Denn nachdem ich euch nun erzählt habe, was gegen Fridays for Future spricht,  muss ich natürlich auch noch darüber reden, was dafür spricht. Und das möchte ich aufspalten. In zwei Fragen. Denn einerseits ist interessant, was die Motive für FFF sind. Andererseits muss aber auch ein Blick darauf geworfen werden, ob die jungen Leute ™ die richtigen Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele ergriffen haben.

Es gibt den menschengemachten Klimawandel

Auch wenn es mich traurig macht, so muss ich doch zunächst einmal klarstellen, dass es den menschengemachten Klimawandel gibt, selbst wenn ein paar Lunatics das bezweifeln. Wenn ihr mir das nicht glaubt, dann fragt einfach mal bei Scientists for Future nach oder lutscht an eurem Diesel oder was euch sonst feuchte Träume beschert.

Wen also unsere Prämissen sind, dass es dem Klimawandel gibt und dass wir ihn beeinflussen können, dann folgt daraus aber noch nicht, dass wir das auch sollten. Aus der Tatsache des Klimawandels kann man nicht zwingend darauf schließen, dass Umweltschutz erstrebenswert ist. Dies ist eine ethische Entscheidung, die wir treffen müssen. Die Antwort auf die Frage, wie wir leben wollen, die jeder Ethik immer zugrunde liegt. Wir könnten auch sagen: Fuck it! No Future! Mir sind meine Mercedes S-Klasse und der Wochenendtrip nach Malle wichtiger!

Aber auch wenn Ethik immer etwas Kontingentes ist (das bedeutet, nur eine von mehreren verschiedenen Möglichkeiten), so ist sie dennoch nicht willkürlich, sondern in unserer Geschichte, unserer Gesellschaft, unseren Wünschen und Zielen begründet. Schauen wir uns also mal an, woher die Idee kommt, dass Klimaschutz etwas Erstrebenswertes ist.

Die Argumente für Fridays for Future

Der Klimaschutz ist eine Unterkategorie des Umweltschutzes. Und auch der war wieder eine Idee, die im Zuge der Industrialisierung entstand, als das Leben in den Städten durch Umweltverschmutzung teilweise sogar lebensgefährlich wurde. Alleine in London kam es bis 1952 immer wieder zu Smogkatastrophen, bei denen die Abgase aufgrund der Wetterlage nicht mehr aus der Stadt abziehen konnten und es im Zuge dessen zu zahlreichen Todesfällen kam.

In der Romantik kam es zu einer — nun ja — Romantisierung der Natur, in Zuge der sie mehr ins Zentrum der menschlichen Aufmerksamkeit geriet. Die Nazis machten sich diese Mode zu eigen mit ihrem Blut und Boden Schwachsinn. Wahrscheinlich war das auch ein Grund dafür, dass das Thema nach dem Zweiten Weltkrieg erst einmal wieder hintan gestellt wurde. Erst in den 1960er Jahren kam es wieder im Zuge der links-progressiven Jugendbewegungen zurück auf die Tagesordnung. Hier oftmals mit einer stark antikapitalistischen Haltung, bei der Umweltschutz und Kapitalismus als etwas Konträres gesehen wurde. In den 80ern schließlich, als in Deutschland alle Angst vorm Waldsterben hatten, sprangen dann auch die Konservativen mit auf den Zug. Sie kamen auf den Trichter, dass sich Umweltschutz hervorragend religiös begründen lässt: als Bewahrung der Schöpfung. 1994 wurde der Umweltschutz schließlich sogar ins Grundgesetz der BRD aufgenommen. Übrigens unter einer CDU-Regierung, der von Helmut Kohl.

Soviel zur Geschichte. Aber warum ist Umweltschutz so wichtig, dass er sogar offizielles Staatsziel der BRD ist? Warum steht nicht zum Beispiel das Recht auf gesunden Salat im Grundgesetz? Ist Umweltschutz einfach ein Wert an sich, weil Blumen und Kaninchen so schön sind? Oder lässt sich dieser Wert aus einem anderen herleiten? Ich denke, letzteres ist der Fall. Es geht schlicht und einfach darum, dass dieser Planet, so wie er ist, ziemlich ideal für Menschen ist, um darauf zu leben. Eine Erwärmung des Klimas hingegen könnte das Überleben wesentlich schwerer machen. Das Recht auf Leben aber gehört zu einem der ganz wenigen Werte, auf die sich so ziemlich alle Menschen als erstrebenswert einigen können. Denn mal ehrlich: Leben ist schon ziemlich geil, oder?

Ein anderer Wert spielt hier aber noch mit hinein, denn ich und meine Generation können wahrscheinlich pupsende Kühe essen, bis wir umfallen, wir werden nicht mehr erleben, dass unser Planet zum Mad-Max-Fanclub wird. Dieses Schicksal trifft die nachfolgenden Generationen. Der Wert, der also noch zu Umweltschutz und Recht auf Leben hinzukommt, ist die Generationengerechtigkeit. Ich hatte vorhin schon den Gesellschaftsvertrag erwähnt. Dessen Ziel ist soziale Gerechtigkeit. Er versucht zu erreichen, dass es keinem Teil der Gesellschaft so richtig kacke geht. Diese Idee lässt sich jetzt natürlich nicht nur auf die derzeit lebenden Menschen anwenden. Man kann auch noch die Menschen miteinbeziehen, die noch gar nicht geboren sind. Wenn wir sagen, wir wollen nicht, dass zukünftige Generationen unter dem Scheiß zu leiden haben, den wir verbockt haben. Dann ist das Generationengerechtigkeit.

Und jetzt wird es richtig absurd. Denn ihr habt bestimmt schon einmal was von der schwarzen Null gehört. Das ist die Idee, dass sich Deutschland nicht immer weiter Verschulden soll, damit zukünftige Generationen auch noch genug Spielraum mit den Staatsfinanzen haben. Diese Idee ist nichts anderes als Generationengerechtigkeit. Und absurderweise wird sie am vehementesten von den Parteien vertreten, die beim Umweltschutz auf Generationengerechtigkeit scheißen: CDU und SPD. Schon ein bisschen inkonsequent, oder?

Der Wertekonflikt am Grunde von Fridays for Future

Damit haben wir unseren Wertekonflikt beisammen: Wir haben also auf der einen Seite Werte wie die Schulpflicht, den Gesellschaftsvertrag, die Chancengleichheit, das Verbot auf Kinderarbeit und das Recht auf eine Kindheit. Demgegenüber stehen die Werte des Umweltschutzes, der Erhaltung der Schöpfung, die Generationengerechtigkeit und vor allem das Recht auf Leben.

Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber wenngleich beide Seiten gute Argumente haben, so habe ich dennoch eine eindeutige Antwort, welcher Wert bei dieser Abwägung am höchsten zu gewichten ist.

Das Mittel zum Zweck von Fridays for Future

Denn wir müssen noch die Frage beantworten, ob das Mittel, das FfF gewählt hat, das richtige ist. Zunächst einmal steht außer Frage, dass die Schüler*innen ein Recht auf die Demos haben. Die Versammlungsfreiheit steht in Artikel 8 des Grundgesetzes. Es ist eines der Grundrechte, der höchsten Rechte, die man in der BRD hat.

Doch müssen die unbedingt während der Schule demonstrieren? Sie könnten das doch auch Samstags machen. Diese gemeinen Schulschwänzer nennen ihre Demos „Streik“. Was ist denn das, ein Streik? Das Wort kommt vom englischen „strike“ und leitet sich wohl ursprünglich von „to strike sails“ her, also „die Segel streichen“. In diesem Satz steckt auch schon die Essenz eines Streiks. Denn dabei nutzen Arbeiter*innen die einzige Macht, die sie ihrem Arbeitgeber gegenüber haben: Die Verweigerung der Arbeitskraft. Doch, Moment: Schüler*innen haben keine Arbeitskraft, die sie durch ihren „Streik“ verweigern können. Wenn sie nicht zur Schule gehen, schaden sie damit niemand anderem als sich selbst.

Nein, „Streik“ ist eigentlich das falsche Wort. Hier ist etwas kategorial anderes im Gange. Die Schüler*innen demonstrieren deshalb während der Schulzeit, um dadurch die Öffentlichkeit auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen. Und wenn ich mir die Reaktionen von konservativer Seite angucke, funktioniert das auch ganz wunderbar! Dieses Konzept ist nicht ohne Vorbilder: Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King und die indische Unabhängigkeitsbewegung um Mahatma Gandhi haben das Konzept weltberühmt gemacht: Was die Schüler*innen hier durchziehen, ist ziviler Ungehorsam.

Bei zivilem Ungehorsam begeht man einen kalkulierten Regelbruch: in diesem Fall wird die Schulpflicht gebrochen. Dies geschieht aber nicht als Selbstzweck wie beim Schulschwänzen, sondern als Mittel zum Zweck: Um auf ein höheres Gut aufmerksam zu machen. In diesem Fall auf das Recht auf Leben. Wesentlich für zivilen Ungehorsam ist, dass er gewaltlos abläuft, dass die Bestrafung für den Regelverstoß wissentlich in Kauf genommen wird und dass er aus einer Position der Schwäche gegenüber der Staatsmacht geschieht, da den zivil Ungehorsamen kein anderes Mittel zur Verfügung steht. All dies trifft auf FfF zu. Und die Geschichte zeigt, dass ziviler Ungehorsam ein legitimes Mittel sein kann, wenn das Anliegen gewichtig genug ist: Etwa bei der Segregation, der Besetzung Indiens oder eben beim Klimawandel.

Damit haben wir es, oder? Das ist sie, die Philosophie von Fridays for Futur. Ich hoffe, ihr konntet ein bisschen was mitnehmen …

Zeitkapsel vom 1. Juli 2015

Von kämmenden Affen, Griechenland und Sandkästen

Mir ist eine schöne Idee gekommen, worüber ich schreiben kann. Die eine oder der andere meiner Leserinnen und Leser hat es vielleicht schon mitbekommen, ich habe zwei Töchter (7) und (0). Und als Vater gehört es ja zu meinem Job, den beiden die Welt zu erklären: Wie du feste Nahrung isst, wie du Müsli isst, ohne dass du anschließend duschen musst, dass es zwar okay ist, Altpapier zu zerrupfen, aber nicht okay, das mit Büchern zu tun und dass drei Minuten Zähneputzen schneller vorbei sind, als eine halbe Stunde Diskussion, warum du die Zähne putzen musst  etc. …

Aber das ist ja nur ein sehr kleiner Ausschnitt der Welt. Daneben gibt es noch die größere Welt mit der Euro-Krise, den Arbeitnehmerrechten, dem Internet, dem neuen James-Bond-Film usw. Ganz zu schweigen von der ganz großen Welt mit dem Urknall, den DNA-Strängen, der Wahrheit und dem ganzen Rest, von der wir gar nicht sagen können, ob wir sie jemals verstehen werden. Oder in den Worten von Douglas Adams:

„Es gibt eine Theorie, die besagt, wenn jemals irgendwer genau herausfindet, wozu das Universum da ist und warum es da ist, dann verschwindet es auf der Stelle und wird durch noch etwas Bizarreres und Unbegreiflicheres ersetzt. – Es gibt eine andere Theorie, nach der das schon passiert ist.“

Douglas Adams: Das Restaurant am Ende des Universums. Zitiert nach Wikiquote.

Und für diese Aspekte der Welt sind meine Töchter ja nun noch etwas zu klein. Daher möchte ich ihnen eine Zeitkapsel schicken. Ich habe vor regelmäßig unregelmäßig (wie ich mich kenne) ihnen einen Einblick zu schreiben, was uns Menschen derzeit bewegt. Und WordPress ermöglicht es mir ja, den Veröffentlichungszeitpunkt zu bestimmen. Daher werde ich den Artikel zweimal veröffentlichen: Einmal jetzt für euch und dann noch einmal in zwanzig Jahren für meine Töchter.

Warum ich das mache?

Ich war in den 80ern so alt wie es meine Töchter jetzt sind. Und natürlich kann ich mir historische Ereignisse wie den NATO-Doppelbeschluss, Tschernobyl, Terminator, Blade Runner, die Ärzte, Depeche Mode, den zweiten Afghanistankrieg, den ersten Golfkrieg oder den Mauerfall anlesen, -hören und -gucken. Ich kann auch meine Eltern fragen, was sie heute darüber denken. Vielleicht wissen sie sogar noch, was sie damals gedacht haben. Aber es wird immer erinnern sein, während ich jetzt erlebe. Und dieses Erleben möchte ich mit meinen Töchtern teilen.

Und im hier und jetzt ist das Schreib- und/oder Leseerlebnis spannend, da ich aktuelle Ereignisse ganz anders erklären muss, als wenn ich es für Zeitgenossen tun müsste.

Genug der Vorrede, hinein ins Vergnügen

Liebe M., liebe K.,

ich schreibe euch diesen Brief, um euch zu erklären, wie ich die Welt gesehen habe, als ihr noch klein wart. Ich kürze eure Namen übrigens ab, da ich euch selbst überlassen möchte, das Internet zu erobern. Vor kurzem hatte zwischen vielen Bloggerinnen und Bloggern ein Diskurs stattgefunden, ob und wie viel man seine Kinder ins Netz stellen darf. Ich persönlich finde es überhaupt nicht schlimm, (unverfängliche) Informationen und Bilder von Kindern zu veröffentlichen. Denn wir hier in den 10er-Jahren handeln gerade aus, wie wir leben wollen mit einem Bein in der digitalen Welt. Und da Kinder ein Teil der Welt sind, sollten sie auch im Digitalen vorkommen. Hier könnt ihr diese Debatte gut zusammengefasst nachlesen (ich bin gespannt, wie viele Links in 20 Jahren noch funktionieren). Doch ihr fragt euch bestimmt, warum ich dann trotzdem nicht eure Namen hier schreibe, oder? Nun, ich habe mir da viele Gedanken gemacht und mein Standpunkt ist folgender: Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, dieses Internet zu entdecken und langsam und unsicher, mit vielen Fehlern und Problemen aber auch irrwitziger Freude herauszufinden, was ich von mir ins Netz stelle und was nicht. Das möchte ich euch nicht wegnehmen. Ich möchte, dass ihr das selbst erleben dürft und ich wünsche euch viel Spaß dabei.

So, nun aber zum eigentlichen Thema: Was ist los in der Welt. Doch bevor ich gleich mit den deprimierenden Nachrichten einsteige, hier erst einmal ein GIF von einem Affen, der sich kämmen lässt:

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Griechenland

Puh, gleich das erste Thema ist ein ganz schöner Brocken. Ich frage mich, wie die Wirtschaft bei euch in der Zukunft aussieht. Bei uns war sie jedenfalls ganz schön auf Kante genäht. Und 2007 brach das System in sich zusammen. In den USA hatten Banken zu viele Kredite an Menschen vergeben, die diese Kredite nicht zurückzahlen konnten. Die Banken hatten das getan, um kurzfristig ganz viel Geld zu verdienen, ohne daran zu denken, was in 5 oder 10 Jahren sein wird. Irgendwann war dann die Zahl der Menschen, die nicht mehr zahlen konnten, so groß, dass eine ganz große Bank (Lehman Brothers) pleite ging. Und weil sich auf dem Finanzmarkt jeder von jedem Geld leiht, standen plötzlich weltweit hunderte andere Banken vor der Pleite. Um das abzuwehren, pumpten die Staaten ganz viel Geld in diese Banken. Das führte dann aber dazu, dass andere Probleme zutage traten. Nämlich, dass unsere Staaten seit Jahrzehnten auf Pump leben und jährlich mehr Geld ausgeben, als sie einnehmen. Deutschland zum Beispiel hat seit den Sechzigern jedes Jahr Schulden gemacht. Und Deutschland ist kein Einzelfall sondern liegt voll im Trend.

Das führte ab 2009 dann zur sogenannten Eurokrise. Denn einige Staaten waren besonders verschuldet, allen voran Griechenland. Die Euro-Gruppe, also die europäischen Staaten, die den Euro als gemeinsame Währung haben, hatten Angst, dass eine Kettenreaktion von Pleiten einsetzt, wenn Griechenland erst einmal vor die Hunde gegangen ist. Daher lieh sie Griechenland Geld. Aber im Gegenzug legte sie Griechenland ein enormes Sparpaket auf. Griechenland muss seine Renten und andere Sozialausgaben massiv kürzen, es musste jede Menge Beamte entlassen und und und.

Das ganze Sparpaket folgte der Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus‚. Und viele – vor allem – Linke glauben, dass das ein Problem ist. Sie glauben, dass Griechenland sich zu Tode spart und lieber weiterhin etwas mehr Schulden machen sollte, damit es das Geld in die eigene Wirtschaft investieren kann und so langfristig reicher wird, um dann die Schulden bezahlen zu können.

Ich weiß übrigens nicht, was ich darüber denken soll. Der Investitionsansatz (auch Keynesianismus genannt) klingt logisch, allerdings macht Deutschland das – wie ich bereits schrieb – seit nunmehr mehr als 50 Jahren und mittlerweile muss der Bund satte 12% des Bundeshaushalts zur Schuldentilgung aufwenden. Das ist der zweitgrößte Posten im Etat. Zwar scheint derzeit alles darauf hinauszulaufen, dass Deutschland beginnen kann, die Schulden zurückzuzahlen, aber der deutschen Wirtschaft geht es auch gerade verdammt gut. Da Krisen im Kapitalismus zyklisch auftreten, wird die nächste bestimmt bald kommen und dann werden wieder neue Schulden dazu kommen. Wenn ich das zu Ende denke, ist die Strategie vielleicht nicht sehr viel vorausschauender als diejenige der Banken vor 2007.

Puh, das ist wirklich kompliziert, da die Weltwirtschaft ein sehr komplexes System ist, das niemand voll durchschaut. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass es im Augenblick den Menschen in Griechenland echt schlecht geht. Daher wählten sie auch im Januar dieses Jahres (2015) eine neue, linke Regierung. Und jetzt komme ich endlich zu dem Grund, warum ich das alles schreibe: In der vergangenen Woche musste sich Griechenland wieder Geld von der Euro-Gruppe leihen. Daraufhin verlangten die europäischen Staaten noch mehr Sparmaßnahmen.

Und die griechische Regierung meinte dann so: „Nope, jetzt reicht’s endgültig! Wir lassen in einem Referendum alle Griechen entscheiden, ob wir diese neuen Konditionen annehmen.“
Darauhin die Euro-Gruppe so: „Waaaas?! Alter, ihr wollt doch nur Zeit schinden, jetzt reicht’s uns, ihr bekommt kein Geld mehr.“

Und im Augenblick weiß keiner wie es weitergeht. Entweder gibt eine Seite nach, oder Griechenland erklärt den Staatsbankrott. Als weitere Option steht der sogenannte Grexit im Raum, dass Griechenland also aus dem Euro aussteigt und wieder eine eigene Währung bastelt. Das könnte dazu führen, dass Griechenland sich bei Banken zu günstigeren Konditionen Geld leihen kann als jetzt. Glaube ich zumindest, denn auch das durchsteige ich alles nicht komplett. Jedenfalls sind die Griechen voll in Panik und heben gerade all ihr Geld von der Bank ab. Damit die griechischen Banken nicht pleite gehen, werden sie jetzt zwangsgeschlossen. Und nebenbei gibt es noch so kuriosen Quatsch wie den Generalsekretär der NATO (also unseres Militärbündnisses, falls es das bei euch nicht mehr gibt), der meint, dass Griechenland zwar sparen soll, aber doch bitte nicht bei den Militärausgaben. Pfff …

Puh, ich merke, dass dieser Artikel durch die ganzen Erläuterungen schon jetzt länger ist, als geplant. Dabei wollte ich eigentlich auch über Islamismus, die Homo-Ehe, Ausländerfeindlichkeit in Deutschland, die Panorama-Freiheit, den Film „Mad Max Fury Road“ und Frankfurt schreiben. Das mache ich dann in den nächsten Tagen Wochen. Nur noch zwei Dinge: Wir leben derzeit in Frankfurt. Keine Ahnung, ob das in 20 Jahren noch der Fall sein wird. Und ich wollte euch Einblick in unser Frankfurt geben. Heute vom „Wikingerspielplatz“, auf dem wir am Sonntag waren:

Sonntag.

Ein von @privatsprache gepostetes Foto am

Bis bald

Euer Papa/Daniel

Blockupy Frankfurt 2015

Als ich heute morgen erwachte, hatte ich das Glück, noch etwas im Bett liegen zu können, da meine Tochter (7) heute schulfrei hatte. Ich nutzte die Gelegenheit, ein bisschen meine Timeline zu lesen. Dies war das erste, was ich sah:

Diese Bilder begleiteten uns den ganzen Tag über. Ich möchte besonders @hanvoi von der Frankfurter Rundschau loben, der einen sehr guten Job in der Liveberichterstattung machte. Aber auch andere brachten exzellente Infos. Irgendwann im Laufe des Tages schrieb jemand auf Twitter, man solle weniger über die Krawalle und mehr über die Ziele von Blockupy sprechen. Das will ich hier gerne machen:

„Am 18. März 2015 will die Europäische Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main ihr neues Hauptquartier eröffnen. Für den 185 Meter hohen Zwillingsturm, der mit seinem Sicherheitszaun und Burggraben einer Festung gleicht, wurde die schwindelerregende Summe von 1,3 Milliarden Euro ausgegeben. Diese einschüchternde Architektur der Macht zeigt deutlich die Distanz zwischen den politischen und ökonomischen Eliten und den Menschen.“

… heißt es auf der Seite von Blockupy.

Interessanterweise hatte ich immer einer andere Assoziation. Natürlich sind die Frankfurter Hochhäuser Ausdruck der Macht des Geldes. Aber während die Hochhäuser der Privatbanken alle im Bahnhofsviertel und im Westend, also westlich der Stadmitte von Frankfurt stehen, wurde die neue EZB im Osten der Stadt errichtet. Besonders wenn man von Sachsenhausen aus oder von Norden, etwa von Riedberg auf das neue Stadtbild von Frankfurt blickt, fällt die bewusste Distanz zwischen den Privatbanken und dem Doppelturm der Zentralbank auf. Ganz so, als solle der Turm im Osten die Gang des Kapitals im Westen überwachen und in Schach halten.

Und das zeigt auch mein größtes Problem mit den diesjährigen Blockupy-Protesten: Warum richten sie sich gegen die Kontrollinstitution? Sicher, aufgrund der Griechenlandkrise und den damit verbundenen Sparauflagen, ist sie ein schönes Symbol.

„Es gibt nichts zu feiern an Sparpolitik und Verarmung! Tausende von wütenden Menschen und entschlossenen Aktivist_innen aus ganz Europa werden daher die Straßen rund um den Eurotower blockieren und dieses Event der Macht und des Kapitals unterbrechen – passenderweise am 144. Jahrestag der Commune von Paris. Wir werden ihre Party übernehmen und sie verwandeln in einen Ausdruck des transnationalen Widerstands gegen die europäische Krisenpolitik und gegen deren katastrophale Konsequenzen besonders für die Menschen im europäischen Süden.“

Blockupy

Aber die EZB ist eben auch nicht mehr als ein bloßes Symbol. Man kann zwar streiten, was der richtige Weg aus der Krise ist, aber man kann nicht streiten, wer uns in die Krise reingebracht hat. Das waren die Zocker im Westen der Stadt.

„Die EZB spielt eine wichtige Rolle in der berüchtigten Troika. Sie ist verantwortlich für brutale Kürzungen, für wachsende Erwerbslosigkeit und sogar für den Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung in Griechenland und anderen EU-Staaten. Zusammen mit der EU-Kommission und dem EU-Rat hat die EZB Sparpolitik, Privatisierung und Prekarisierung gefördert. Sie hat nicht einmal davor zurück geschreckt, gewählte Regierungen zu erpressen, um ihre Angriffe auf die sozialen Rechte der Menschen durchzusetzen.“

Blockupy

Und während (einige wenige) radikale Demonstranten Polizeiautos und Mülltonnen anstecken, Polizeireviere und Bushaltestellen entglasen und sogar Feuerwehrautos angreifen, also vom Volk durch Steuern finanzierte öffentliche Güter kaputtmachten, blieben die Türme der Deutschen Bank, der Commerzbank und ihrer Komplizen gänzlich unbehelligt.

„Im Verlauf der Krise wurde aus der EU mehr und mehr ein autoritäres Regime mit einem offensichtlichen Mangel an demokratischer Partizipation. Das mörderische europäische Grenzregime und die fortschreitende Militarisierung sind ebenfalls Teil dieses Prozesses.

Sie repräsentieren uns nicht, ja sie wollen uns gar nicht mehr repräsentieren! Die herrschenden Eliten haben uns nichts mehr anzubieten. Aber aus vielen Quellen entstehen dagegen neue Kräfte und es ist unsere gemeinsame Aufgabe, Solidarität und Demokratie von unten aufzubauen. Sie wollen Kapitalismus ohne Demokratie, wir wollen Demokratie ohne Kapitalismus!“

Blockupy

Ich verstehe eben nicht, wie es zusammenpasst, mehr Demokratie zu fordern und gleichzeitig Gewalt auszuüben, besonders weil die Gewalt von wenigen hundert Demonstranten nun die Berichterstattung erfüllt und überdeckt, dass um die 20.000 Menschen ganz friedlich für diese Ziele demonstriert haben.

Besonders absurd wird es dann für mich, wenn ich das hier lese:

„Gleichzeitig müssen wir besonders wachsam sein für die Gefahren des wachsenden Rassismus und dem Aufstieg der extremen Rechten, diesen hässlichen Nebenprodukten der kapitalistischen Krise. Während es die Absicht der Rechten ist, sowohl die Außengrenzen zu verstärken als auch neue Grenzen innerhalb Europas zu errichten, wollen wir im Gegenteil die Mauern der Festung Europas einreißen.“

Blockupy

Denn effektiver Schutz vor der extremen Rechten bietet nur eine starke demokratische Opposition gegen Rassismus. Und Bilder von randalierenden Linken treiben die weniger gebildeten und differenzierenden Wähler bei der nächsten Wahl doch nur denen in die Arme, die fordern, dass noch mehr Überwachung und noch strengere Gesetze hermüssen, um diese linken Chaoten zu kontrollieren. Und das sind zumeist die gleichen Parteien, die sich nicht gerade für Toleranz oder offene Außengrenzen einsetzen.

Ach Blockupy, ich verstehe „euch“ einfach nicht …