Judith Butler – Das Unbehagen der Geschlechter (Lesekreis mit Christiane 21)

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Daniel
ist keine Substanz
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Christiane
ist Performance

Abschluss von 1.5 – Identität, anatomisches Geschlecht und die Metaphysik der Substanz

Heute schließen wir Kapitel 1.5 aus das Unbehagen der Geschlechter ab. Wir sprechen über trans Identität und Geschlecht als Spektrum, das Aufbrechen von Geschlechter-Klischees, und die Gegenreaktion von Maskulisten wie Andrew Tate sowie dem Wunsch nach Eindeutigkeit in Fragen des Genders. Schließlich kommen wir zu Butlers Fazit, dass die Ontologie der Substanzen überflüssig ist und Gender Performance ist.

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Roland Barthes – Der Tod des Autors

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Daniel
bringt den Autor um

Ich lese Roland Barthes‘ berühmten Essay und überlege, was er bedeutet

Kann man das Werk vom Autor trennen? Wie kommt man überhaupt auf so eine Idee? Alles geht zurück auf Roland Barthes‘ Essay: Der Tod des Autors. In einer (zugegeben recht lang gewordenen) Textanalyse schaue ich, was dran ist, an der Idee.

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Roland Barthes – Der Tod des Autors

Ich habe ja auch noch einen Podcast: den Spätfilm. Wie der Name unschwer erraten lässt, sprechen wir dort über Filme. Und eine wiederkehrende Frage, der wir uns dort stellen müssen, lautet: Kann man das Werk vom Autor trennen? Konkret: Darf ich Filme von Hitchcock oder Kubrick gut finden, auch wenn ich weiß, dass diese Regisseure ihre Schauspieler*innen mitunter extrem schlecht behandelten? Darf ich Filme von und mit mutmaßlichen oder nachgewiesenen Sexualstraftätern wie Bryan Singer, Roman Polanski, Harvey Weinstein oder Kevin Spacey schauen? Und wie ist es mit Filmen, von Tom Cruise, die dazu beitragen Scientology zu finanzieren?

Es gibt gute moralische Gründe, derlei Filme nicht zu gucken. Das Argument dafür ist hingegen zumeist: Man muss Autor und Werk trennen. Wie soll das gehen? Nehme ich eine Schere und schneide einfach Woody Allen aus dem Vorspann all seiner Filme? Wie kommt man auf diese Idee?

Nun, ich kann mich irren, aber ich denke, alles geht zurück auf den berühmten Aufsatz von Roland Barthes: Der Tod des Autors. Doch was genau schrieb Barthes damals, im Jahr 1968 eigentlich? Lasst uns in den Text blicken!

Balzac und die Frauen: Wer spricht hier?

Barthes beginnt den nur acht Seiten und sieben Abschnitte langen, aber unglaublich dichten Aufsatz mit einem Zitat aus Balzacs Novelle ‚Sarrasine.‘ Honoré de Balzac war, auch wenn er aussah wie Sigmar Gabriel, ein französischer Autor der 19. Jahrhundert. In ‚Sarrasine‘ heißt es, so Barthes, von einem als Frau verkleideten Kastraten:

„Es war das Weib mit seinem plötzlichen Ängsten, seinen grundlosen Launen, seinen instinktiven Verunsicherungen, seinen unwillkürlichen Kühnheiten, seinen Prahlereien und seinem köstlichen Zartgefühl.“

Roland fragt daraufhin: Wer zum Henker spricht so? Und er gibt uns mehrere Optionen zur Auswahl, als säßen wir bei Wer wird Millionär vor der alles entscheidenden Frage:

  • Spricht hier A) Der Held der Novelle?
  • Ist es B) das Individuum Balzac mit seiner persönlichen Philosophie der Frau?
  • Oder C) der Autor Balzac, der die literarische Idee der Weiblichkeit vorträgt?
  • Ist es D) eine universale Weisheit?
  • Oder, äh, irgendwie passt das nicht mehr ins WWM-Schema, egal: E) ist es die romantische Psychologie?

Roland Bartes meint nun – und das ist der Kern des gesamten Aufsatzes, also legt das Handy mal ganz kurz weg und passt auf –, es lässt sich nicht sagen, wer spricht. Denn

„Das Schreiben ist Zerstörung jeder Stimme, jedes Ursprungs. Das Schreiben ist Neutrum, zusammengesetzt, Schrägheit, der Identität verlorengeht.“

Das ist ein medientheoretisches Argument. Und zwar ein verdammt gutes! Die Frage, wer hier spricht, kann sich überhaupt erst im Medium der Schrift stellen. Denn sie trennt die Botschaft von der Stimme des Urhebers. Die Schrift macht aus einem Vollzug, der die gesprochene Sprache ist, etwas Stillstehendes. Auch die Idee, dass Sprache etwas zusammengesetztes ist, kommt erst so richtig mit dem Schriftbild auf, das Sätze, Wörter und Buchstaben segmentiert.

Dadurch, dass die Urheberin der Worte und die Worte selbst über Raum und Zeit getrennt sind, haftet der Schrift oft etwas Neutraleres an, als es bei der gesprochenen Sprache der Fall ist, die immer auch Emotionen transportiert, als wäre sie eine andauernde Diskussion, ob es die Nutella oder das Nutella ist. Nebenbei: Es ist DIE Nutella und jeden, der was anderes sagt den blocke ich!!! Anyway … Mit dieser Trennung geht eben auch die Identität von Autor und Werk zumindest ein Stück weit verloren.

So, jetzt könnt ihr euer Handy wieder zur Hand nehmen und weiter Candy Crush spielen. Spielt das heute überhaupt noch jemand?

Woher kommt der Autor eigentlich?

Schauen wir uns mal an, wie Roland Barthes im zweiten Abschnitt fortfährt. Er widmet sich ganz im Stile Indiana Jones‘ als nächstes der Geschichte, stellt sich die Frage, wie es überhaupt zu einem solchen Konzept wie dem Autor kommen konnte.

Denn zunächst einmal ist es ja eigentümlich für eine Erzählung, dass sie gerade keine andere Absicht verfolgt, als das Erzählen. Wodurch ja gerade der Autor dieser Geschichte in den Hintergrund tritt, unwichtig wird, oder wie Barthes es ausdrückt: stirbt. Nehmen wir demgegenüber zum Beispiel ein Versprechen, dann ist es bei diesem Spechakt von wesentlicher Bedeutung, wer die Autorin, die Versprecherin ist. Wenn ich euch verspreche, morgen hier einen Text über Heidegger zu veröffentlichen, dann könnt ihr mich und nur mich daran messen, ob ich das auch wirklich mache. Gut, eher würde ich mir ohne Narkose einen Zahn ziehen lassen, als euch so ein Versprechen zu geben, aber eine solche Rückbindung an den Autor gibt es bei einer Erzählung erst einmal nicht.

Barthes fragt sich also, wieso wir dem Autor dann paradoxerweise doch so eine wichtige Rolle zuschreiben. Seine Überlegungen zu diesem Punkt beginnen nicht ganz bei Adam und Eva aber kurz danach: In oralen Gesellschaften. Wie werden hier Geschichten weitergegeben? Sie werden erzählt. Das Interessante ist, dass der Autor dabei überhaupt keine Rolle spielt. Denn die Erzählung erfolgt durch einen Mittelsmann. Du kannst bei ihm vielleicht die Performanz des Vortragens bewundern. Nicht aber sein Genie. Denn die Geschichte hat er sich selbst ja gar nicht ausgedacht, ähnlich wie Karl-Theodor zu Guttenberg seine Doktorarbeit. Und oft wissen wir gar nicht mehr, wer sie sich ausgedacht hat. Ähnlich wie Karl-Theodor zu Guttenberg bei seiner Doktorarbeit.

Der Autor ist eine moderne Erfindung, folgert Barthes daraus. Philosophisch würden wir von einer neuzeitlichen Erfindung sprechen. Denn Barthes glaubt dass er im ausklingenden Mittelalter entstanden ist,  als (Zitat)

„mit dem Englischen Empirismus und dem Französischen Rationalismus und dem persönlichen Glauben der Reformation das Individuum entdeckt wurde.“

An dieser Stelle muss ich eine kleine Warnmeldung einbauen, denn die meisten Zitate von Barthes in dieser Folge habe ich radikal vereinfacht. Ich liebe die Art zu Schreiben des ollen Franzosen, aber sie ist komplizierter als die Position der Labour-Partei zum Brexit.

Zurück zum Text: Was Barthes hier anspricht, ist das zweite Paradigma der Philosophie. Schaut dazu gerne noch einmal in meinen Text zu den drei Paradigmen. Mit Beginn der philosophischen Neuzeit wurde die erkenntnistheoretische Frage ‚Was ist Die Welt?‘ abgelöst durch die Frage ‚Was kann ich erkennen?‘. Wittgenstein sagt an einer Stelle schön: Philosophische Problem werden eigentlich nie gelöst, sondern zum Verschwinden gebracht. Mit dem zweiten Paradigma der Philosophie kam das Individuum ins Blickfeld. In der Frage „was kann ich erkennen?“ steckt ja schon das Ich. So ist es nicht verwunderlich, dass der erste neuzeitliche Philosoph Descartes auch das Ich findet, als er sich fragte, wessen er sich gewiss sein kann: Ich denke, also bin ich.

Was mir an Barthes Satz beim ersten Lesen nicht klar war:  Inwiefern ist die Reformation individualistisch? Daher machte ich, was ich immer in einer solchen Situation mache, ich fragte Twitter und die Antworten zeigen, was ich an Twitter mag:

 

Die Konsequenz daraus ist, so Barthes,

„dass der Positivismus, diese Kurzfassung und Vollendung der kapitalistischen Ideologie, im Bereich der Literatur der „Person“ des Autors die größte Bedeutung beigemessen hat.“

Was zum Millennium Falcon soll das denn schon wieder bedeuten? Damit spielt Barthes wohl auf Auguste Comte an, einen der Begründer der modernen Soziologie. Comte wollte alles metaphysische, alles geisteswissenschaftliche in der Sozialforschung loswerden und eine soziale Physik rein auf Beobachtbarem aufbauen. Wie Barthes es orakelt, als säße er in Delphi über einer Erdspalte, korrespondiert das stark mit dem Materialismus des Kapitalismus, in dem andere Werte als materielle keine Rolle mehr spielen. Okay, vielen Dank für diesen zusammenhangslosen Einwurf, alter Mann.

Wichtiger ist da schon: Dieser positivistische Ansatz wirkte sich Anfang des 20. Jahrhunderts auch auf die zeitgenössische Literaturwissenschaft aus. Hier versuchte der Positivismus ebenfalls kausale Gesetzmäßigkeiten auszumachen und konzentrierte sich daher auf die Beziehung zwischen Autoren und Publikum, um so aus der Entstehung von literarischen Werken ihre Wirkung zu folgern. Ob dies wirklich erst zur Erfindung des Autors führte oder zumindest zu seiner Erhöhung als entscheidend für die Interpretation, kann ich nicht beurteilen. Denn ich bin kein Literaturwissenschaftler. Ich habe von Literaturwissenschaft in etwa so viel Ahnung wie Trump von Staatsführung. Barthes aber glaubt, dass seine zeitgenössische Literatur, Kultur und Gesellschaft der 60er Jahre als Ergebnis der geschilderten Entwicklung auf den Autor fixiert ist.Er sagt:

„Die Kritik besteht meistens noch darin, zu sagen, das Werk Baudelaires sei das Scheitern des Menschen Baudelaire, das Van Goghs sein Wahnsinn, Tschaikowskys sein Laster: Die Erklärung des Werks wird immer auf Seiten desjenigen gesucht, der es hervorgebracht hat.“

Der Niedergang des Autors

Nachdem Roland Barthes uns nun gezeigt hat, was zum Aufbau des Autors geführt hat, beginnt er im dritten Abschnitt mit seinem Niedergang, als wäre der Autor ein Elb, der Mittelerde verlassen muss. In Frankreich habe Stéphane Mallarmé als erster versucht, weg vom Autor zu gehen und den Text selbst ins Zentrum zu stellen. Dieser Mallarmé war Symbolist, so verrät mir die Wikipedia. Ja, höher als die Wikipedia ist mein Niveau nicht. Schließlich bin ich ein Typ, der „die Nutella“ sagt.  Der Symbolismus war wiederum eine literarische Strömung, die sich gegen Realismus, Naturalismus und den schon erwähnten Positivismus stellte. In dieser steht wenig überraschend das Symbol im Zentrum. Statt – wie zum Beispiel der Realismus – sich mit gesellschaftlichen Problemen rumzuschlagen oder sich mit dem Innenleben zu beschäftigen, wie es Romantik und Impressionismus taten, war der Symbolismus … äh … Ja was? Irgendwie anders halt. Fragt da besser mal eine Literaturwissenschaftlerin als einen Philosophie-Dilletanten.

Kehren wir zu Roland Barthes zurück: Der sagt, die Sprache spreche, nicht der Autor. Schreiben ist unpersönlich, nicht ich sondern die Sprache allein agiert, performiert. Das ist wieder ein medientheoretisches Argument, da fühle ich mich wieder zuhause. Erst dadurch, dass die Schrift und die Schreiberin im Gegensatz zur oralen Sprache getrennt voneinander auftreten können, kann die Schrift alleine, aus sich heraus etwas bedeuten. Und, so Barthes, Wenn man den Autor ausblendet, erhält der Leser seinen Platz. Die Lesende muss anfangen, sich selbst Gedanken über die Bedeutung zu machen.

Der nächste Schritt zum Tod des Autors war dann Paul Valéry. Valéry verspottete den Autor und zweifelte ihn an, schreibt Barthes. Valéry trat für die verbale Voraussetzung der Literatur ein, ein Rückgriff auf die Innerlichkeit des Schriftstellers erschien ihm als reiner Aberglaube. Ich habe natürlich auch recherchiert, wer Paul Valéry war. Google und ich sind nach acht Seiten Roland Barthes so unzertrennlich, dass wir bald zusammen bei Ikea einkaufen gehen. Valéry war ebenfalls ein Französisch Schriftsteller, was euch wahrscheinlich wenig überrascht. Er stand wohl anfangs den Symbolisten nahe. Doch seine späteren Werke werden als „reine Poesie“ bezeichnet, sie verzichten auf die Darstellung von Gefühlen und äußerer Realität. Stattdessen streben sie formale Vollendung an. Es ist leicht zu sehen, dass hier nicht viel Raum für die Frage „Was will uns der Autor damit sagen?“ bleibt.

Als französischer Philosoph und Literaturwissenschaftler kommt Roland Barthes natürlich nicht an Marcel Proust vorbei. Und das stellt ihn vor ein argumentatives Problem, denn „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ gilt wohl als Paradebeispiel für einen autobiografisch geprägten Roman. Plötzlich steht also der Autor wieder im Fokus. Doch Barthes leugnet das mit einem Twist, der unerwarteter kommt als der in Parasite: In Prousts Epos verwische die Beziehung zwischen dem Schriftsteller und seinen Figuren. Der Erzähler sei nicht der, der empfunden hat, nicht einmal der der schreibt, sondern der, der schreiben wird. Joa, ich lass das einfach mal so stehen, da ich die Bücher nicht gelesen habe und mir diesmal sogar der Wikipedia-Artikel zu lang ist. Doch dann wird es wieder spannend, denn Barthes schreibt:

Nicht Charlus imitiert Montesquiou sondern Montesquiou ist in seiner anekdotischen, historischen Wirklichkeit ein sekundäres, aus Charlus abgeleitetes Fragment.

Wissta bscheid! Robert de Montesquiou war ein Schriftsteller, der nicht zuletzt dadurch bekannt wurde, dass er als Vorbild für die Figur des Charlus aus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ fungierte. Was Barthes hier wohl sagen will, ist, dass wir uns die historische Person des Montesquiou nur über die Romanfigur erschließen können. Dass, was wir glauben, über Montesquiou zu wissen, wir letztlich nur aus Charlus ableiten können. Die literarische Figur hat das Primat.

In seinem historischen Abriss wendet sich Barthes als nächstes dem Surrealismus zu und urteilt: In diesem habe die Sprache keinen souveränen Stellenwert. Okay, das kam jetzt unerwartet wie der Tod von Snoke in Episode 8. WER WAR DENN NUN DIESER SNOKE?!?! Tschuldigung. Barthes sagt, die Sprache ist ein System und die romantische Bewegung des Surrealismus versuchte, dieses zu untergraben. Doch Barthes meint, dass das illusorisch sei, denn Code kann nicht zerstört, nur „gespielt“ werden. Ah, hier scheint die strukturalistische Schule des Franzosen durch. Der Strukturalismus ist eine ursprünglich sprachwissenschaftliche Strömung, die sich auf viele weitere Kulturwissenschaften ausdehnte. Ihr Begründer war Ferdinand de Saussure und die Grundidee ist, dass sich Bedeutung erst in einem System aus der Differenz zu anderen Bedeutungseinheiten auftut. Beispielsweise können wir nur sagen, was Rot ist, wenn wir wissen, was die Alternativen sind. Sind sie Grün und Blau, wird unsere Antwort anders ausfallen, als wenn wir ein System haben, in dem wir uns zwischen Rot, Weinrot, Zinnober, Purpur und Orange entscheiden müssen. Worauf Barthes hier abzielt, ist, dass du dem System nicht entkommen kannst. Selbst wenn du versuchst ganz neue, revolutionäre Verwendungsweisen von Sprache zu etablieren,  werden diese zwangsläufig nur in Differenz zu dem, was sie nicht sind, Bedeutung erhalten und so letztlich wieder Teil des Systems. Doch auch, wenn dieser Versuch des Surrealismus  gescheitert ist, so trug aber dazu bei, das Bild eines Autors zu profanisieren, diagnostiziert Barthes. Der Surrealismus empfahl, erwartete Bedeutung zu unterlaufen. Mit der Technik des automatischen Schreibens ignorierte die Hand den Kopf. Und das Schreiben zu zweit oder zu dritt trug dazu bei. So, so, interessant …

Da er schon beim Strukturalismus ist, kann Barthes gleich mit der Linguistik fortfahren: Diese trug ebenfalls dazu bei, den Autor zu zerstören, indem sie klarmachte, dass das Ich keine Person, sondern ein grammatisches Subjekt ist. Frei nach Wittgenstein könnte man hier ergänzen, dass Descartes Satz „Ich denke, also bin ich“ Nicht die Existenz des Ichs beweist, sondern dass die Notwendigkeit eines grammatischen Subjekts für das Prädikat „denken“ bewiesen wird. Ich habe in meinem philosophischen Adventskalender darüber geredet. Ihr findet das in der Folge zu „Cogito ergo sum“.

Schreiben ist eine flüchtige Performanz

Im 4. Abschnitt stellt Barthes die These auf, dass die Entfernung des Autors gleichbedeutend ist mit Verfremdung im Sinne Brechts. Bertold Brecht war nicht nur ein lustiger kleiner Mann mit Mütze. Er machte strange Theaterstücke. Brecht verfremdete dabei das Schauspiel absichtlich, um es als Schauspiel für das Publikum erkennbar zu machen. Er richtete also die Aufmerksamkeit auf die Bedingungen des Mediums, um so sein Publikum in die Lage zu versetzen, über das Medium zu reflektieren. Man kann leicht sehen, dass Ähnliches mit dem Text passiert, sobald ich aufhöre, ihn einfach als die Stimme des Autors zu verstehen. Denn dann muss ich anfangen, mir Gedanken zu machen, wie anders der Text denn Bedeutung erlangt.

Während klassisch der Autor als zeitlich vor dem Text betrachtet wurde, wie ein Vater zu seinem Kind. Entsteht der moderne Schreiber zeitgleich mit seinem Text, fährt Barthes fort.

 Er besitzt kein Sein, das vor oder über seinem Buch wäre. Er ist nicht das Subjekt, dessen Prädikat das Buch ist. Es gibt keine andere Zeit als die der Äußerung, und jeder Text ist ewig hier und jetzt geschrieben.

Das klingt ein bisschen, wie ein Song aus Frozen 2. Es ist aber ein Gedanke, den ich gut nachvollziehen kann. Ich habe ihnim Zusammenhang mit Platon schon geäußert: Ich kann Platon philosophiegeschichtlich betrachten als ein Produkt seiner Zeit. Dann kann ich mir Gedanken machen, wie er auf die Ideen kommen konnte, die er hatte. Aber das ist keine philosophische Betrachtung im eigentlichen Sinne. Wenn ich mich für Platons Philosophie interessiere, dann frage ich mich, was seine Texte zu den philosophischen Problemen unserer Zeit beitragen können. Wie ich sie verstehe und nicht wie Platon sie gemeint hat.

Als Nächstes nimmt Barthes Bezug auf die Sprechakttheorie insbesondere auf die von John L. Austin.

Schreiben ist ein Performativ. Eine seltene, verbale Form der Äußerung, die keinen anderen Inhalt besitzt als den Sprechakt selbst,

sagt Barthes. Austin unterscheidet in seiner Theorie der Sprechakte zunächst zwischen Konstativa und Performativa. Die Philosophie hat sich traditionell nur für erstere interessiert, die klassischen Aussagen über die Welt. Austin hingegen kümmert sich um die Performativa: Sprechakte, die eine Handlung darstellen. Etwa ein Versprechen geben, oder das Urteil eines Richters. Ws ist spannend, dass Barthes den Akt des Schreibens dazuzählt. Denn das Ergebnis, der Text ist im Normalfall wahrscheinlich das Paradebeispiel für ein Konstativum. Doch durch die Hervorhebung, dass das Schreiben eine Performanz ist, macht Barthes klar, dass der Akt etwas flüchtiges ist, das nur im Moment des Schreibens existiert. So wie ein Tanz nur in dem Moment existiert, in dem er ausgeführt wird. Folglich fährt Barthes fort:

Der moderne Schreiber kann nicht glauben, dass seine Hand zu langsam für sein Denken oder Fühlen sei. Sodass er nachträglich sein Werk kommentieren müsse.

Man merkt, dass der Text aus einer Zeit stammt, in der es Social Media noch nicht gab. Ich schaue dich an, J. K. Rowling. Und dich George R. R. Martin! Allerdings ist das Argument gut: Das Schreiben ist eine Handlung. Das Ergebnis dieser Handlung ist der Text. Die Idee, dass der Text selbst nicht ausreiche, sondern zu interpretieren sei, indem man sich um die Gedanken des Autors kümmert, ist unter diesem Aspekt fragwürdig. Man stelle sich vor, jedesmal wenn ein Richter jemanden zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, müssten wir uns zunächst überlegen: Wie hat er das gemeint? Oder stellt euch vor, ich verspreche euch, nie wieder über Heidegger zu lästern – was ich nicht tue – und wenn ich dieses Versprechen breche, sage ich dann: Aber meine Intention war eine ganz andere! Austin selbst bringt das Beispiel, am Grab sein Beileid auszudrücken. Bei dieser Handlung ist es vollkommen egal, ob ich mich wirklich schlecht fühle oder dies nur sage, um den Hinterbliebenen irgendwas zu sagen. Die Handlung selbst bringt zum Ausdruck, was sie bedeutet.

Auch das Nächste, was Barthes schreibt, ist wieder spannend, denn er lenkt unsere Aufmerksamkeit wieder auf die medialen Bedingungen, die sich bei Rede und Text unterscheiden:

Die Hand zieht mit der Geste der Einschreibung ein Feld, das von der Stimme gelöst ist, das keinem Ursprung hat, zumindest keinen anderen als die Sprache selbst.

Während ich einem Sprecher Fragen stellen kann, muss der Text für sich alleine stehen. Dass ich überhaupt die Möglichkeit habe, den Autor zu fragen, wie er etwas gemeint hat, stellt beim Lesen die absolute Ausnahme dar und nicht die Regel. Der Autor kann im Normalfall nicht erläutern, was seine Intention war. Ich als Leser muss mir die Bedeutung selbst erschließen.

Everything is a Remix

Den 5. Absatz beginn Barthes mit:

Der Text ist nicht bloß eine Wortzeile, die nur dem Zweck dient, die Botschaft des Autors freizusetzen. Der Text ist stattdessen ein mehrdimensionaler Raum, in dem vielfältige Schreibweisen miteinander harmonieren und ringen. Keine davon ist vorrangig. Der Text ist ein Geflecht von Zitaten, die aus den Tausend Brennpunkten der Kultur stammen.

Im Studium habe ich die schöne Formulierung gelernt, dass der Autor nur ein Interpret seines Werkes ist, aber nicht der vorrangige. Wenn Beispielsweise Shakespeare über Liebe schreibt, dann basiert das auf einem Konzept der Liebe aus dem 16. Jh. Wenn ich das im 21. Jh. lese, bringe ich zwangsläufig ein ganz anderes Konzept der Liebe in den Text ein. Warum sollte die Idee, die Shakespeare von Liebe hatte vorrangig sein? Und wenn sie es ist, warum sollte ich den Text dann heute überhaupt noch lesen? Sind es nicht gerade die Texte, die zeitlos sind, welche wir als besonders wertvoll betrachten? Also gerade nicht diejenigen, die auf die konkreten Gedanken und Gefühle nur eines einzigen Menschen, der Autorin Bezug nehmen?

Barthes sagt, der Autor gleiche Bouvard und Pécuchet. Das sind die zwei Protagonisten des gleichnamigen unvollendeten Schelmenroman von Gustave Flaubert. Worauf Barthes anspielt, ist, dass die beiden Kopisten sind. Bevor es Kopierer gab, mussten Texte von Hand kopiert werden, das war der Job von Kopisten. Und der Autor, so Barthes, ist letztlich auch nur ein Kopist.

Der Schriftsteller kann nur eine frühere, aber niemals eine ursprüngliche Geste nachahmen. Seine einzige Macht besteht darin, frühere Schreibweisen zu mischen.

Das ist die „Everything is a Remix“-These, demnach gibt es keine genuine Originalität. Sondern alles, was wir kulturell erschaffen, ist letztlich durch Vorhergehendes beeinflusst. Als wären wir alle mitteltalentierte Rapper, können wir zwar kreativ neu zusammensetzen, aber nicht neu aus dem Nichts erschaffen. Wenn ihr wüsstet, bei wem ich überall für dieses Video geklaut habe, ihr wärt sehr enttäuscht von mir. Barthes fährt fort:

Sein Inneres kann der Autor nur insofern ausdrücken, wenn er sich bewusst ist, dass sein Inneres selbst ein zusammengesetztes Wörterbuch ist, dessen Wörter sich nur durch andere Wörter erklären lassen, und dies ad infinitum.

Das ist wieder Wittgenstein in Reinform. In seinem berühmten Privatsprachenargument legt er unter anderem dar, dass innere Zustände immer erst in sozialem Kontext gelernt werden müssen. Meinen inneren Schmerz kann ich erst benennen, wenn ich gelernt habe, was äußerer Schmerz ist. Das habe ich als Kleinkind gelernt, indem meine Eltern auf meine Verhaltensweisen mit dem Wort „Schmerz“ reagiert haben. Erst Jahre später kann ich ein deprimierter Teenager werden. Der Autor steht selbstverständlich ebenso in einem solchen sozialen Kontext.

Dann kommen zwei Verweise auf Baudelaires „die künstlichen Paradiese“ und auf Thomas De Quincey, die sich mir nicht erschließen. Wenn ihr die erklären könnt, macht das gerne in den Kommentaren. Ich kann an dieser Stelle nur lächeln und winken. Barthes schließt den Abschnitt mit:

Der Schreiber, der Nachfolger des Autors hat keine Leidenschaften, Stimmungen, Gefühle oder Eindrücke mehr in sich, sondern jenes gewaltige Wörterbuch, aus dem er ein Schreiben schöpft, das keinen Stillstand kennen kann.

Das fasst noch einmal die vorhergehenden Thesen zusammen. Nicht die inneren Zustände der Schreibenden sind entscheidend. Sondern die Worte. Denn wie sollten wir auf diese inneren Zustände zugreifen? Letztlich geht das nur sprachlich. Aber die Sprache liegt uns in Form des Textes ja bereits vor. Und weiter noch: Sowohl die Interpretationsmöglichkeiten des Textes als auch die Autorin haben sich seit dem Schreiben weiterentwickelt, sie kennen keinen Stillstand.

Das Leben imitiert immer nur das Buch,

so Barthes.

Das Buch ist selbst nur ein Geflecht aus Zeichen, verlorene, endlos aufgeschobene Imitationen.

Er beschwört also noch einmal, dass es dem Medium immanent ist, dass der Text für sich selbst stehen muss und dass jedes neue Werk immer schon Inspirationsquellen hatte. Mal größere Inspirationsquellen und mal kleinere, möchte ich süffisant zur Spiegelbestsellerliste rüberschielend hinzufügen.

Was bleibt, wenn der Autor tot ist?

In Abschnitt 6 ist der Autor nun bereits zu Grabe getragen und Barthes stellt sich der Frage, was danach kommt:

Ist der Autor entfernt, wird der Anspruch, einen Text zu entziffern, völlig überflüssig.

Echt jetzt? Das schreibst ausgerechnet du? Hast du mal deine eigenen Texte gelesen? Ich meine, ich liebe sie, aber wenn man etwas entziffern muss, dann diesen Text! Anyway … Barthes fährt fort: Wenn man sagt, ein Text habe einen Autor, dann riegelt man ihn ab, versieht ihn mit einem letzten Signifikat. Damit verweist er wieder auf seine strukturalistische Tradition, insbesondere auf Saussure, den Gründer des Strukturalismus. Signifikat ist die Inhaltsseite, die Bedeutung eines Zeichens. Signifikant hingegen ist die Ausdrucksseite, die Zeichengestalt. Die Frage, was die Bedeutung ist, ist natürlich immer die entscheidende, bei einer Analyse. Und sie zu beantworten ist schwerer als einen Film von David Lynch zu verstehen. Wenn man jetzt sagt, die Bedeutung eines Textes ist die Intention des Autors, dann macht man es sich bei dieser schwierigen Frage sehr einfach.Das diagnostiziert auch Barthes, wenn er schreibt:

Der Buchkritik passt das sehr gut, die es sich zur Aufgabe macht, hinter dem Werk den Autor zu entdecken oder seine Hypostasen: die Gesellschaft, die Geschichte, die Psyche, die Freiheit.

Da frage ich mal ganz eloquent: Hä? Hypo-was? Hypostasen sind verschiedene Gesichtspunkte der gleichen Sache. Danke Wikipedia, was würde ich nur ohne dich machen! Unter diesem Gesichtspunkt ist der Satz ein ziemlich hemdsärmeliges draufschlagen von Barthes auf alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Ich kann verstehen, wenn er den Autor zu Grabe tragen möchte, seine Argumente bis hierhin erschlossen sich mir, die Psyche schenke ich ihm auch noch. Aber Gesellschaft und Geschichte? Das ist doch ein Widerspruch zu seiner „Everything is a Remix“-These weiter oben im Text. Denn wovon sollen denn Texte Remix sein, wenn nicht von anderen Texten, die wiederum Teil von Gesellschaft und Geschichte sind. Was es wiederum heißen soll, dass die Buchkritik hinter dem Werk die Freiheit entdecken will, erschließt sich mir überhaupt nicht. Ein weiteres Mal stehe ich hier, ich armer Tor und bin so schlau als wie zuvor.

Schauen wir mal weiter. Barthes greift nun die Autorität der Literaturkritik an:

Ist der Autor gefunden, dann ist der Text erklärt und der Kritiker hat gesiegt. Daher ist historisch mit der Herrschaft des Autors auch die  des Kritikers verbunden. Und mit  dem Autor gerät auch der Kritiker ins Wanken.

Wenn es keine letztendlich gültige Interpretation mehr gibt, weil die Autorität des Autors sie nicht mehr abnicken kann, dann gerät damit auch die Stellung des Kritikers ins Wanken. Was mir zunächst kontraintuitiv erscheint, macht aber vielleicht doch Sinn, wenn ich mir die Entwicklung der Filmkritik ansehe, denn sie geht immer weiter weg von einem kleinen Kreis von Kritikern, die in Feuilletons über einen Film urteilen, hin zu einem vielstimmigen Chor aus Bloggern, Podcasterinnen, Youtuberinnen und Fans, die Filme kritisieren und interpretieren und dabei ganz eigene Beurteilungsschemata anlegen. Die Frage ist, für was davon ist der tote Autor verantwortlich und wie viel geht auf das Konto des Internets? Barthes sah die Entwicklung aber voraus, als er schrieb:

Indem die Literatur oder das Schreiben sich weigert dem Text (und der Welt als Text) ein Geheimnis, einen letzten Sinn, zuzuweisen, setzt sie eine Tätigkeit frei, die man als kontratheologisch oder revolutionär bezeichnen kann.

Und:

Die Weigerung den Sinn festzulegen, ist gleichbedeutend mit der Ablehnung Gottes und seiner Hypostasen Vernunft, Wissenschaft, Gesetz.

Ah, da sind sie wieder, die Hypostasen. Das sind große Worte und der Strukturalist wirkt hier schon sehr poststrukturalistisch. Aber inhaltlich hat er einen Punkt: In unserer atheistischen, Post-vernünftigen und mit Verschwörungstheorien und Esoterik flirtenden Zeit sind uns so manche ehemals gewisse Autoritäten abhanden gekommen. Man möchte fast den Autor wieder exhumieren.

Die Geburt des Lesers

Kommen wir zum letzten Absatz und kehren in ihm mit Barthes zu Balsacs Satz am Anfang zurück. Wer sagte ihn denn jetzt? Barthes schließt:

Niemand, keine Person sagt ihn. Sein Ursprung liegt im Lesen nicht im Schreiben.

Die lesende Person selbst muss sich also erschließen, was dieser Satz zu bedeuten hat. Barthes schreibt, dass der Altphilologe Jean-Pierre Vernant gesagt habe:

Die griechische Tragödie ist konstitutiv doppelsinnig. Ihr Text ist aus doppeldeutigen Worten gesponnen, die jede Figur einseitig versteht. Dieses ständige Missverstehen ist das Tragische. Es gibt aber jemanden, der die Doppeldeutigkeit versteht und das Missverstehen der Figuren: der Leser.

Mit anderen Worten, schon in der Antike lag die Autorität gar nicht beim Autor sondern bei der Leserin eines Textes. Barthes fast zusammen:

 Der Text besteht aus vielfachen, mehreren Kulturen entstammenden Schreibweisen, die untereinander in einen Dialog, eine Parodie, ein Gefecht eintreten. Der Ort, der diese Vielfalt sammelt, ist nicht der Autor sondern der Leser. Die Einheitlichkeit des Textes liegt nicht an seinem Ursprung sondern an seinem Bestimmungsort. Aber dieser Bestimmungsort kann nicht mehr personal sein.

Okay Boomer, aber warum jetzt noch gleich?

Der Leser ist ein Mensch ohne Geschichte, Biographie, Psychologie. Ein jemand, der alle Spuren zusammenhält, aus denen das Geschriebene besteht.

Ähm, erschließt sich mir jetzt nicht 100%-ig ich bin Leser und habe all das. Ich vermute eher, dass Barthes darauf hinaus will, dass es viele verschiedene Leserinnen gibt, die alle verschiedene Geschichten, Biographien, Psychologien haben. Somit gibt es am Ende auch viele verschiedene Signifikate des Textes und nicht mehr die eine kanonische Interpretation, die auf den Autor zurückzuführen ist. Auch bin ich notwendig beim Lesen immer an einem ganz bestimmten Zeitpunkt in meiner Geschichte, Biografie und Psychologie. Wenn ich heute noch einmal die weirde Kindersex-Stelle in Steven Kings ‚Es‘ lesen würde, würde sie für mich mit Sicherheit eine ganz andere Bedeutung haben als für mein 12-Jähriges Ich. So kann ich mir da zumindest einen Reim draus machen und dann auch mit Barthes zusammen schließen:

Die Geburt des Lesers muss mit dem Tod des Autors bezahlt werden.

Das war er! Der berühmte Essay über den Tod des Autors, vielleicht seid ihr jetzt in eurer Urteilsfindung ein Stück weiter, ob sich das Werk vom Autor trennen lässt. Ich möchte euch abschließend noch mit auf den Weg geben, dass ich hier gerade über weite Strecken versucht habe, die Frage zu beantworten, was uns der Autor Roland Barthes mit seinem Text eigentlich sagen will. Vielleicht habe ich aber auch beim Schreiben die Bedeutung des Textes überhaupt erst erzeugt. Und ihr erzeugt gerade beim Lesen eine ganz andere. Denkt mal darüber nach …

Platons Sonnengleichnis

Platon – Der Philosophenkönig – Teil 4

Nach den vielen Hintergründen zu Platon steigen wir endlich in seine Philosophie ein. Ich beginne mit den Gleichnissen aus „Der Staat“. Der Höhepunkt dieser Gleichnisse ist das berühmte Höhlengleichnis. Aber heute geht es erst einmal um das Sonnengleichnis und die Frage: „Was ist das Gute?“

Wie das hier abläuft, kennt ihr sicher mittlerweile: Ihr könnt das Video ansehen oder darunter das Transkript lesen. Ganz unten findet ihr Literaturtipps und die Bilderquellen. Viel Spaß!

Platons Vorgeplänkel

Lasst uns zunächst über den Elefanten im Raum sprechen, wie man im Englischen so schön sagt, damit wir ihn aus der Welt geschafft haben und uns anschließend den wirklich spannenden Aspekten der platonischen Philosophie zuwenden können: Ihr alle kennt sicher das platonische Höhlengleichnis. Also lasst uns in die Philosophie von Platon eintauchen, indem wir seine Höhle betreten beziehungsweise wieder verlassen, dann wieder zurückkommen aber dann glaubt uns niemand, was wir gesehen haben und … Stopp! Der Reihe nach …

Die groben Eckdaten des Höhlengleichnisses kennen zwar die meisten, auch dass es irgendetwas damit zu tun hat, wie die Welt wirklich ist, aber da endet es dann oft auch schon. Wusstet ihr etwa, dass Platon das Höhlengleichnis in seinem Dialog „Der Staat“ vorträgt? Also im Rahmen seiner politischen Philosophie? Oder wusstet ihr, dass das Höhlengleichnis nur eines von insgesamt drei Gleichnissen ist, die er dort wiedergibt? Schon einmal was vom Sonnengleichnis oder vom Liniengleichnis gehört? Nein? Sag ich ja: Lasst uns der Reihe nach gehen.

Die ganze Nummer mit den Gleichnissen beginnt im sogenannten „sechsten Buch“ von Platons „Der Staat“ und als Höhepunkt dieser Gleichnisorgie beginnt mit dem Höhlengleichnis dann das siebte Buch. Platon hatte zuvor den Dialog „Der Staat“ mit der Diskussion begonnen, was Gerechtigkeit ist, und kam darüber auf die Frage, was der gerechte Staat ist. Mit Abschluss des fünften Buches wurde von unserem Philosophen gerade wenig originell dargelegt, dass in einem gerechten Staat niemand anderes als die Philosophen herrschen sollen. Nun versucht Platon dies zu begründen.

Die Ideenlehre

Platon definiert einen Philosophen als jemanden, der Kenntnis von „den Ideen“ hat. Damit kratzen wir jetzt schon hart an der berühmten Platonischen Ideenlehre, denn Platon versteht etwas ganz anderes unter „Idee“ als ihr und ich. Das sieht man schon an dem Satz „Ein Philosoph hat Kenntnis von den Ideen.“ Würde Platon das gleiche unter Ideen verstehen, wäre der Satz in etwa so sinnvoll, wie zu sagen: „Ein Philosoph hat Kenntnis von Brokkoli“. Oder habt ihr etwa keine Ahnung von euren Ideen?

Ich werde Platons Ideenlehre noch ausführlich bei den nächsten Malen aufarbeiten, denn sie ist ohne Zweifel der wichtigste Teil seiner Philosophie. Aber jetzt sei schon einmal Folgendes gesagt: Platon sagt, dass es eigentlich zwei Welten gibt. Zum einen die Welt der Erscheinungen. Das ist alles, was wir wahrnehmen können. Dahinter gibt es aber noch eine zweite Welt, nämlich jene der Ideen. Die Ideen sind grob gesprochen unveränderliche Urbilder aller Erscheinungen. Und der Satz „Ein Philosoph hat Kenntnis von den Ideen.“ bdeutet, dass wir Philosophie betreiben müssen, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie diese Urbilder von allem in der Welt, also der Kern oder das Wesen unserer Welt wirklich sind. Alter, das klingt ganz schön esoterisch, was? Eine Welt hinter der Welt?! Nun, die Ideenlehre ist abgefahrener Scheiß und wir werden noch einige Texte brauchen, um uns zu erarbeiten, wie Platon überhaupt auf so eine durchgeknallte Idee *haha* kommen konnte. Aber die Ideenlehre ist eben – soviel teaser ich schon einmal – auch nicht komplett unplausibel, da sie viele philosophische Probleme löst …

Philosophen sind knorke Typen

Doch kehren wir zum Text zurück: Nachdem Platon seinen Sokrates hat darlegen lassen, dass Philosophen knorke Typen sind, hält Sokrates’ Gesprächspartner Adeimantos dagegen: Philosophen sind zur Staatsführung total ungeeignet! Alle, die sich nach der Schule noch weiter mit Philosophie beschäftigen, sind echte Freaks und voll komisch drauf. Sokrates sagt, dass das zwar stimmt, aber dennoch sollen die Philosophen herrschen. Denn das Problem seien nicht die Philosophen selbst, sondern der jetzige Staat. In ihrem aktuellen Zustand wird Politik angesehen als die Kunst, an die Macht zu kommen und sich an der Macht zu halten. Das klingt auch heute noch nicht komplett unplausibel, oder? Aber Philosophen interessiert das nicht, sie interessiert nur, wie man einen Staat richtig leiten muss, damit es ein guter Staat ist. Philosophen streben nicht nach Macht, daher wirken sie zwar komisch, sind aber am besten für Staatsämter geeignet. Es folgt dann wieder eine Auslassung, wie cool Philosophen sind, die wir hier vernachlässigen können.

Denn worauf es ankommt, ist das: Im nächsten Teil legt Platon dar, worin Philosophen ausgebildet werden müssen, um echte Philosophen zu werden. Über diese Darlegung kommt er zu der These, dass die höchste Erkenntnis, die Idee des Guten ist. Und jetzt kommen wir zu des Pudels Kern, der großen Frage, die Platon umtreibt: Was ist denn eigentlich dieses Gute?

Doch die Antwort auf diese Frage führt Platon in eine Sackgasse, denn es gelingt ihm nicht recht, das Gute anders zu definieren, als dass es das ist, was all unser Handeln leitet. Ihm beziehungsweise seinem Sokrates gelingt es einfach nicht, zu sagen, worin das Gute denn nun eigentlich besteht. Was ist die Definition von „gut“? Da Sokrates’ Gesprächspartner im Buch nicht locker lassen, sagt die alte Socke dann irgendwann: Also gut, ich erzähle euch ein Gleichnis darüber, was das Gute ist.

Das Sonnengleichnis

Aber bei einem Gleichnis bleibt es nicht. Es folgen stattdessen insgesamt drei Gleichnisse – das Sonnengleichnis, das Liniengleichnis und das Höhlengleichnis. Platon beginnt das Sonnengleichnis damit, dass er uns zunächst einmal die Ideenlehre ins Gedächtnis ruft, die er in früheren Dialogen schon eingeführt hatte. Er lässt Sokrates sagen: In der Sinnenwelt gibt es viele Dinge, die wir ‚gut‘ nennen. Diesen guten Erscheinungen entspricht aber nur eine einzige Idee des Guten. Merkt euch das! Das ist ein wichtiges Prinzip der Ideenlehre, dass vielen verschiedenen Erscheinungen immer eine Idee gegenübersteht.

Platon fährt fort: Während wir die Idee des Guten nur denken können, können wir die Erscheinungen des Guten nur wahrnehmen. Auch das ist ein Grundprinzip der Ideenlehre. Aber auch das erste Mal, dass sich mir latent die Nackenhaare aufstellen. Denn die Frage ist: Stimmt das, was Platon hier sagt? Dass wir die Idee des Guten nur denken können, scheint mir klar. Aber wie sieht es mit den Erscheinungen des Guten aus, können wir die nur wahrnehmen? Der Begriff des Guten ist facettenreich: Wenn ich eine Oma über die Straße führe, ist das gut und wahrnehmbar. Aber wir bezeichnen als „gut“ auch Personen, wie zum Beispiel Gandhi. Gandhi selbst kann ich sehen, aber dann sehe ich nicht das Gute an ihm. Klar, ich kann auch Filmaufnahmen oder Berichte von guten Taten von ihm wahrnehmen. Aber das ist doch noch nicht der Kern dessen, warum wir Gandhi gut nennen. Ich verübe auch manchmal gute Taten, aber niemand würde sagen: Daniel ist so gut wie Gandhi. Dass Gandhi so ein schillerndes Beispiel des Guten ist, liegt eher in der Summe aller seiner guten Taten begründet. Hinzu kommen außerdem seine Motivationen. Merkt ihr jetzt, wie kritisch es ist, wenn wir naiv abnicken, dass wir Erscheinungen des Guten wahrnehmen? Und ich habe noch nicht einmal davon angefangen, wass es heißt, dass Demokratie gut ist oder dass die Todesstrafe abgeschafft ist.

Doch kehren wir zu Platon zurück: Im Text folgt eine Darlegung, dass von allen unseren Sinnen das Sehen der hochwertigste Sinn ist. Denn fürs Sehen brauchen wir ein Medium. Während wir beim Hören etwa nur die Geräuschquelle und das Gehör brauchen, brauchen wir beim Sehen den Gegenstand, das Auge und als Medium das Licht. Das ist natürlich vollkommener Humbug, denn Platon wusste schlichtweg noch nicht, dass der Schall auch ein Trägermedium wie z. B. die Luft braucht und dass im luftleeren Raum kein Schall transportiert wird. Auch wenn wir noch so oft dröhnende Sternenzerstörer auf der Leinwand sehen.

Anyway: Platon vergleicht das Licht daraufhin mit einem Joch – also dem Ding, das beispielsweise zwei Pferde vor einer Kutsche zusammenhält, damit sie im Gleichschritt laufen und so die Kutsche ziehen können. Unsere zwei Pferde sind im diesem Gleichnis das Auge und der Gegenstand, den wir sehen wollen. Platon ergänzt, dass die Ursache für das Licht wiederum die Sonne ist. Hmm … so richtig passt die nicht ins Gleichnis, oder? Egal …

Platon fragt, wie sich das Sehen und das Organ des Sehens, also das Auge, zur Sonne verhalten. Seine Antwort: Das Auge sei zwar nicht die Sonne, aber das sonnenartigste unter den Sinnesorganen. Aha … Aber, mal eine andere Frage: Wollte uns Platon nicht eigentlich erzählen, was das Gute ist? Was hat das alles mit der Idee des Guten zu tun? Platon: So, wie sich die Sonne zum Sehen, zum Auge und zur Sichtbarkeit verhält, so verhält sich das Gute zur Vernunft, zur Seele und zur Denkbarkeit. Das Gute ist also die Ursache dafür, dass wir überhaupt denkend erkennen können. Die Helligkeit, die im Gleichnis das verbindende Joch war, setzt er nun mit der Wahrheit gleich und das Ding, das wir sehen können, steht für die Idee. Verstanden? Nein? Kein Wunder, denn das ist meines Erachtens ziemliches Geschwurbel. Was Platon mit vielen Worten sagen will, ist Folgendes:

Das Gute ist die Ursache dafür, dass es die Wahrheit gibt, die wiederum das verbindende Element zwischen unserer Seele und den Ideen darstellt und so Vernunfterkenntnis ermöglicht. Überzeugt euch das? Mich jedenfalls nicht! Zunächst einmal ist dieses Konstrukt eine metaphysiche Unterstellung. Platon gibt überhaupt keinen Grund an, warum das Gute die Ursache für Erkenntnis sein soll, er behauptet das einfach. Genauso könnte ich behaupten: Brokkoli ist die Ursache für Erkenntnis. Was aber noch wichtiger ist: Platon hat uns überhaupt keine Antwort gegeben, was das Gute denn nun ist. Das Gleichnis ist dafür vollkommen ungeeignet.

Natürlich hatte Platon selbst schon angekündigt, dass er die Antwort nicht geben kann, daher hatte er ja mit einer Metapher geantwortet. Und eine Metapher so zu verwenden ist auch vollkommen legitim. denn wir benutzen immer dann Metaphern, wenn wir uns neue Bedeutungsfelder erschließen wollen, die wir noch nicht ganz greifen können. Das sieht man im Jahr 2016 an der Flüchtlingskrise ganz gut. Wir erleben eine neue Konsequenz der Globalisierung und versuchen uns dem Phänomen mit Metaphern zu nähern wie „Flüchtlingswelle“, „Flüchtlingsschwemme“, „syrische Wurzeln“, „verschärftes Asylrecht“, „Flüchtlingsschlepper“ oder „ein Zaun namens Türkei“.

Aber – das sieht man auch an den genannten Beispielen – es gute und schlechte Metaphern. Eine gute Metapher macht einen komplizierten Sachverhalt greifbar (das war zum Beispiel eine gute, eine greifbare Metapher). Eine schlechte Metapher hingegen ist einfach nur hohl, ersetzt eine Worthülse durch eine andere (und auch das war eine gute, greifbare Metapher). Letzteres hat Platon hier gemacht. Zu sagen, dass das Gute wie die Sonne ist, bringt uns schlichtweg nicht voran.

Platon muss selbst auch gemerkt haben, dass er noch nicht so richtig den Nagel auf den Kopf getroffen hat (Wieder eine gute Metapher, ich bin on Fire – die nächste!). Jedenfalls fährt Platon mit dem Liniengleichnis fort. Aber das schauen wir uns beim nächsten Mal an, denn zumindest mir raucht schon der Kopf.

Wenn ihr mir erklären wollt, was ich am Sonnengleichnis nicht verstanden habe, dann schreibt das in die Kommentare. Ich danke euch, dass ihr mir eure Zeit geschenkt habt.

Literatur

Bilderquellen

 

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Das verschwundene Medium

„Was aber wäre, wenn die digitale Kopie die Idee des Datenträgers obsolet gemacht hätte?“

Dirk von Gehlen: Das Ende des Datenträgers.

DvG setzt sich in einem sehr kurzen, knackigen Blogpost mit einem Zitat von Gabor Steingart auseinander. Steingart sagt unter anderem, dass das Medium für den Journalisten und die Journalistin egal sei, einzig der Inhalt zähle. Dirk von Gehlen führt aus, dass diese Idee zu kurz greift, weil, wie ich es hier schon mal im Anschluss an Sybille Krämer schrieb, am Inhalt, „die Spur des Mediums“ haftet.

Dabei geht von Gehlen meines Erachtens aber einen Schritt zu weit, wenn er sagt, dass die Idee des Datenträgers obsolet geworden ist. Denn wir sollten den Datenträger nicht aus dem Blick verlieren, da wir schon das Glück haben, dass er uns einmal in diesen hineingeraten ist. Ich verstehe, was DvG sagen will, aber wir sollten nicht vergessen, dass hinter den „fließenden Inhalten“ noch immer ein Datenträger wie ein Flussbett steht.

Denn, wenn wir das vergessen, wachen wir vielleicht eines Tages auf, und merken, dass wir nicht über die Welt sprechen, oder über unsere Gedanken, sondern über unsere Sprache. Oder wir merken, dass wir eigentlich gar keine Sprachwissenschaft betreiben, sondern in Wirklichkeit Schriftwissenschaft*.

 

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Der Selfie ist der Untergang des Abendlandes

Der Selfie ist der Untergang des Abendlandes. Zumindest wird er unter Kulturpessimisten derzeit als einer der heißesten Kandidaten gehandelt. Und die gerne alles zur eigenen Generation hochstilisierenden Jugendforscher handeln ihn als Symptom der „Generation NOW“. Er ist Zeugnis unserer stetig größer werdenden Selbstveliebtheit, bis uns eines Tages alle das Schicksal von Narziss ereilt. Es ist höchste Zeit diesem Phämomen auf die Spur zu kommen.

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Robert Cornelius machte den ersten bekannten Selfie mit einer Kamera, via Wikimedia Commons. Lizenz: gemeinfrei.

Die Definition des Selfies

Der (oder auch das) Selfie [ˈsɛlfi] ist ein Selbstporträt, dass typischerweise mit einem Smartphone aufgenommen und ins Internet gestellt wurde. Ein häufiges Detail im Bild ist der Arm, der die Kamera hält. Eine Variante des Selfies ist der Spiegelselfie, auch “MySpace pic” genannt.
Es gibt Selfiesammlungen, mehr oder weniger ernstgemeinte Anleitungen für Selfies, Gadgets zum besseren Vollzug*, Regeln, was die schlimmsten Selfies sind und sogar der Urknall machte seinen eigenen Selfie.

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Michelangelo Caravaggio 065“ von Michelangelo Merisi da Caravaggio – The Yorck Project: 10.000 Meisterwerke der Malerei. DVD-ROM, 2002. ISBN 3936122202. Distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons.

Der Dimunitiv als Erfolgsrezept

Der Selfie kam nicht zuletzt deshalb zur unverhofften Popularität, weil das Oxford Dictionary ihn zum Wort des Jahres 2013 wählte. Die Verwendung von „Selfie“ im Englischen hatte binnen Jahresfrist um 17.000% zugenommen.

Die erste Verwendung von „Selfie“ ist bereits 2002 in einem australischen Forum belegt. Das Oxford Dictionary hält es für evident, dass das Wort in Australien geboren wurde, da das australische Englisch eine Vorliebe für die Bildung von Dimunitiven mit -ie hat. Der Dimunitiv hat dem Selfie auch bei seiner Verbreitung geholfen, so fährt das Oxford Dictionary fort, denn er verwandelte das in seiner Tendenz ja narzisstische Selbstporträt in etwas süßes, liebenswertes. Zur Popularität des Wortes trug ferner bei, dass es ab 2004 vermehrt als Hashtag auf Seiten wie Flickr verwendet wurde.

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Leonardo da Vinci – presumed self-portrait – WGA12798“ von Leonardo da VinciWeb Gallery of Art:   Image  Info about artwork. Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons.

Die eigentümliche Verschmelzung verschiedener Kulturtechniken

Doch der Erfolg des Selfies ist vor allem auf eine eigentümliche Verschmelzung von verschiedenen Techniken und Kulturtechniken zurückzuführen. Denn das Selbstporträt ist ja beileibe nichts neues. Schon seit der Antike war es unter Künstlern beliebt, sich selbst abzubilden. Berühmte historische „Selfies“ stammen von Leonardo da Vinci, Rembrandt oder van Gogh. Und die Analyse von Velázquez Las Meninas hat Generationen von Kunsthistorikern, -theoretikern und Philosophen beschäftigt. Doch der Prozess des gemalten Selbstporträts war langwierig.

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Rembrandt Harmensz. van Rijn 132“ von Rembrandt – 1. The Yorck Project: 10.000 Meisterwerke der Malerei. DVD-ROM, 2002. ISBN 3936122202. Distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. 2. gallerix.ru. Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons.

Drastisch verkürzt wurde er durch die Erfindung der Fotografie, die ihm aber zugleich das „Selbst-“ raubte. Es war nicht länger möglich sich selbst zu portraitieren, da es jemanden geben musste, der oder die durch den Sucher blickend das Ergebnis kontrollieren konnte. Die Erfindung von von Fernauslösern und Selbstauslösern brachte den Fotografen schließlich dem Selfie einen Schritt näher. Obwohl nun zwar das „Selbst-“ zurückgekehrt war, fehlte ihm aber zugleich noch die Beiläufigkeit. Ein Selbstportrait musste vor dem Schießen sorgfältig komponiert werden, damit die Fotografin noch schnell vor die Linse an eine markierte Stelle treten konnte, um später auf dem Bild zu erscheinen.

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VanGogh 1887 Selbstbildnis“ von Vincent van Gogh[1]. Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons.

Erst die Erfindung der Digitalkamera vollendete den Selfie (fast) schon. Denn nun konnten die Fotografierenden ihn mal eben mit ausgestreckten Arm vornehmen, und bekamen „Rapid Feedback“ mit einem Blick auf das Display. Doch damit ging freilich die Komposition flöten, die für den Selfie wichtiger ist, als so mancher Angry-Old-Feuilleton-Man glaubt. Daher ging der Selfie noch einmal einen Umweg, auf dem er sich eine weitere Komponente seines Wesens abholte: Über die Kombination aus Kamera und Badezimmerspiegel als “MySpace pic” gelangte er zur Webcam. Und die Webcam wurde zum Komplizen des Selfies, denn sie ermöglichte nicht bloß das Rapid Feedback, sondern löste auch ein Problem: den Avatar. Der Avatar ist die Repräsentation einer Person im Netz. Und mit dem Erfolg der sozialen Medien war er plötzlich allgegenwärtig. Ein entscheidender Schritt beim Anlegen eines Facebook-Profils ist, den Standard-Darth-Vader durch ein Bild auszutauschen, das mich selbst im digitalen Raum darstellt. Was liegt da näher als den Avatar an Ort und Stelle unter kontrollierten Bedingungen zu erstellen, zumal die Webcam am klassischen Desktop-PC in der Regel auf dem Bildschirm saß und somit eine leicht erhobene Position hatte, die die Schokoladenseite hervorkitzelte und zum Beispiel das ungeliebte Doppelkinn durch die leichte Hebung des Kopfes zum Verschwinden brachte: Der Selfie war geboren.
Velazquez-Meninas

Diego Rodríguez de Silva y Velázquez [Public domain], via Wikimedia Commons

Doch er war, wie jede Kulturtechnik in den Kinderschuhen noch sehr limitiert. Die Auflösung war oft eher määh und das immer gleiche Motiv langweilig. Gut, nun hat man beim Selfie natürlich nicht die allergrößte Variationsmöglichkeit, was das Motiv anbelangt. Neben Kleidung, Schminke und Frisur lässt sich vor allem eines verändern: der Hintergrund. So wurde der Selfie schließlich perfektioniert, als Smartphones mit Frontalkameras ausgestattet wurden. Nun war alles zusammengekommen, was zum Erfolg nötig war: Der Selfie ließ sich nebenbei machen und zugleich kontrollieren, durch die Mobilität des Handys ließ sich der Hintergrund variieren und die Internetanbindung ermöglichte den sofortigen Upload in das soziale Netz der Wahl. Schließlich kamen noch Instagram und seine zahlreichen Nachahmer, die in wenigen, einfachen Schritten der Fotografin ermöglichten, was zuvor einigen Expertinnen mit Lightroom und Photoshop vorbehalten war: die Bildnachbearbeitung.

Die Grenze des guten Geschmacks

Doch wie bei jeder neuen Kulturtechnik, so muss nun beim Selfie erst noch gesellschaftlich ausgehandelt werden, wann sein Einsatz okay ist und wann nicht. In den 90ern war es etwa noch nicht allen klar, dass Telefonieren im Kino ein no-go ist und der Anruf beendete auch allzu oft die Face-to-Face-Kommunikation abrupt. Genauso gehört es zu meiner eigenen Charakterschwäche (und der vieler anderer), dass ich allzuoft in der Gegenwart von Offlinern „mal eben“ ™ die Statusmeldungen auf meinem Telefon checke. Und eben so sind beim Selfie noch nicht Ort, Zeit und Gelegenheit für diesen geklärt.

Es wundert kaum, dass gerade Teenager oft die Grenze des guten Geschmacks übertreten, wenn es um den angemessenen Ort für einen Selfie geht. Sie haben gerade erst entdeckt, dass der eigene Körper spannend ist, zugleich verunsichert sie die Veränderung desselben, sodass sie nach Bestätigung unter anderem in Form von Likes und Shares suchen und sie haben eben noch wenig Lebenserfahrung, weshalb sie auf dumme Ideen kommen. So werden schon einmal AfterSexSelfies oder Selfies auf Beerdigungen gemacht. Gut, gegen letzteres scheint nicht einmal der amerikanische Präsident etwas zu haben, im Gegensatz zu seiner Frau.

Ralfies Selfie in Aachen
Ralfies Selfie in Aachen. Foto von mir. Lizenz: CC0.

In den USA wird gerade debattiert, wo der Selfie endet und wo die Kinderpornographie beginnt. Und natürlich interessieren sich auch die nach Terroristen suchenden Geheimdienste für den Selfie ohne Kleidung. Doch mehr als fragwürdig werden schließlich Spielarten des Selfies wie der Auschwitz-Selfie, der gerade erst wieder zu einem Aufschrei führte oder gar der Yolocaust (Ein Kompositum aus YOLO – You only live once – und Holocaust). Genauso wenig klar ist bislang, was der Selfie kann und will. Kann er beispielsweise auf die Gefahren von Brustkrebs aufmerksam machen? Klingt komisch, wurde aber so geäußert. Andererseits bereichert der Selfie die zumeist rein textbasierte Kommunikation durch das Bild mit seiner großen Informationsfülle und vermag so sogar den Schritt aus der Internetkommunikation hinaus ins Leben „away from keyboard“ (afk) zu gehen. Schließlich entdeckt manch einer auch ungeahnte Ähnlichkeiten.

Ralfies Selfie in Frankfurt
Ralfies Selfie in Frankfurt. Foto von mir. Lizenz: CC0.

Dadurch, dass der Selfie in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, hat sich natürlich auch schon ein Gegentrend gebildet, so werden Shelfies, Bilder von Bücherregalen zur Protestbewegung gegen den Selfie hochgejazzt, die dann wiederum als elitäres Bildungsbürgerabfeiern veruteilt werden.

Sozialpsychologische Funktion, Subgenre und die Dokumentation

Doch alles, was ich bislang hier getan habe, war reine Phänomenologie. Ich bin der Antwort auf die Frage noch nicht näher gekommen, ob der Selfie denn jetzt der narzisstische Untergang des Abendlandes ist. Interessant ist dabei, dass der Selfie zwar Ausdruck unserer Selbstrepräsentation ist und den Wunsch nach Bestätigung ausdrückt, aber deswegen noch nicht gleich narzisstisch sein muss. Es ist für die Ausbildung unseres „Ichs“ wichtig, uns durch die Augen anderer zu sehen. Der Selfie übernimmt dabei eine sozialpsychologische Funktion. Da sich unser Leben zu einem nicht unwesentlichen Teil in die digitale Sphäre verschoben hat, unterscheidet sich der Selfie gar nicht so sehr von unseren Bemühungen, uns für eine Party oder auch nur den Gang zur Arbeit herauszuputzen. Der Selfie ist gewissermaßen der Smoking oder das kleine Schwarze von Twitter und Facebook.

Mein Shelfie.
Mein Shelfie. Bild von mir. Lizenz: CC0.

Auch sollte nicht aus dem Blick verloren werden, dass der Selfie nur ein Subgenre von vielen verschiedenen Fotografiemotiven ist, die aufgrund der generellen Vervielfachung von Fotos durch den technischen Fortschritt ins Netz gespült werden. Früher machten wir eben nur 36 oder 72 Bilder im Urlaub und klebten anschließend die besten 20-30 ins Fotoalbum, das wir dann unseren Freunden zeigten. Ein Blick in die Dropbox verrät mir, dass ich im vergangenen Monat 194 Fotos gemacht habe, von denen gerade einmal 16(!) auf Instagram gelandet sind. Das mag vielleicht nicht repräsentativ sein, lässt mich aber überlegen, wie viele Selfies auf Festplatten verstauben ohne die Chance bekommen zu haben, vermeintlich narzisstischer Ausdruck zu werden.

Obendrein ist der Selfie nicht bloß Ausdruck unserer Selbstverliebtheit, er ist zudem auch der Wunsch, Momente des eigenen Lebens zu dokumentieren. „Pic or it didn’t happen“ ist der Ruf in den sozialen Netzen dafür. Amüsanterweise erscheint der Selfie bei anderen immer narzisstisch bei dir selbst aber dokumentarisch.

Und dennoch wäre es blauäugig zu glauben, dass uns die Allgegenwartheit der Selfies nicht auch verändert. An der Botschaft haftet eben immer auch die Spur des Mediums. Und der Like, das Herz und der Fav für ein Bild meiner selbst fühlt sich halt leider geil an. Wenn wir uns immer wieder kleine Belohnungsschübe holen können einfach nur dafür, wie wir sind, beziehungsweise wie wir uns inszeniert haben, dann wird dass natürlich auch Einfluss darauf haben, wie wir uns in Zukunft präsentieren.

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Buzz Aldrin EVA Selfie“ by Buzz Aldrin – Huffington Post article. Licensed under Public domain via Wikimedia Commons.

Und als letzten Punkt sollten wir auch nicht die Sensationsgier der Betrachter außer Acht lassen. Denn ein Selfie ist immer nur so spektakulär, wie ihn die anderen zu machen bereit sind. Findet er keine Beachtung, dann erhält der Selfer keine Belohnung und ganz behavioristisch sinkt dadurch für ihn der Anreiz weitere Selfies zu machen…

Was folgt nun aus all dem?

Ich denke, wir müssen den Untergang des Abendlandes leider ein weiteres Mal verschieben. Der Selfie an sich bietet eigentlich ziemlich wenig Grund, sich über ihn aufzuregen. Statt dessen sind es die noch nicht zu Ende ausgehandelten Werte und Verhaltensweisen rund um den Selfie, die der Kern des vermeintlichen Übels sind. Diese werden sich einschleifen. Natürlich wird es immer Grenzüberschreitungen und Geschmacklosigkeiten geben, so wie es bei jedem internationalen Fußballtunier Anflüge von Nationalismus gibt. Aber so lange das öffentliche Korrektiv bei Entgleisungen wie Yolocaust funktioniert, hat das Abendland noch eine Hand breit Wasser unterm Kiel.

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Metaphysische Spuren an performanten Medien

Oder kurz: Medientheorie

Wenn du ins Internet über Sprache schreibst, kommt früher oder später immer jemand, der oder die behauptet, dass es doch total egal ist, ob wir etwa „Zigeunersauce“ oder „Negerkuss“ sagen. Wichtig wäre doch allein, was wir meinen oder denken und es sei doch ganz klar, dass sie keine Rassisten seien, bloß weil sie Worte verwenden, die so klingen. Eine beliebte Variante dieses Arguments ist auch gerne die Marxsche Wende, dass es doch egal ist, was wir sagen. Statt dessen zählten allein unsere Handlungen.

Ein Fernseher ist ein Medium. Zeigt er Loriot, ist er sogar ein gutes Medium.
Ein Fernseher ist ein Medium. Zeigt er Loriot, ist er sogar ein gutes Medium.

Einmal ganz davon abgesehen, dass diese Einstellung übersieht, dass eine sprachliche Äußerung immer auch eine Handlung ist (womit ich mich zu anderer Zeit noch einmal auseinandersetzen werde), ist sie auch deswegen falsch, weil die Sprache das Medium meiner Gedanken ist. Somit ist wesentlich für meine Weltsicht, meine Lebensform, meine Wünsche, Träume und Überzeugungen, welche Worte ich verwende.

Ich möchte und werde diesen Gedanken in Zukunft weiter ausführen, doch um ihn zu verstehen, muss ich zunächst einmal erklären, was ein Medium ist. Denn der Begriff des Mediums ist selbst so kompliziert weil so unscharf in unserer alltäglichen Verwendung, dass ich für seine Bestimmung einen ganzen Blogpost brauchen werde.

Wie immer gilt: was ich hier schreibe ist nicht auf meinen Mist gewachsen. Es geht auf viele schlaue Köpfe zurück, die ich im Laufe des Textes und als Literaturtips am Ende auch nennen werde. Allerdings werde ich nicht Zitate im einzelnen belegen, dies ist ein Blogpost, den ich an einem grauen Novembernachmittag runterschreibe und keine wissenschaftliche Arbeit.

Von der Metaphysik zurück zum Alltag

Wie fange ich an? Gemäß Wittgenstein am besten damit, dass ich den Begriff von seiner metaphysischen wieder in seine alltägliche Sphäre zurückführe und mal schaue, wie wir ihn verwenden. Wir alle benutzen das Wort „Medium“ ständig. Es ist von alten und neuen Medien die Rede, von Massenmedien, vom Medium Zeitung, Internet, Fernsehen oder Radio. Wir alle haben extensional eine ziemlich exakte Vorstellung davon, was der Begriff umfasst, ohne dass wir ihn im einzelnen intensional definieren können. Versuchen wir es, kommen wir schnell auf Begriffe wie Sender und Empfänger, Symbole, Botschaften, Bilder oder Sprache.

Diese stümperhafte, stichprobenartige Analyse unseres alltäglichen Medienbegriffs stößt uns gleich auf eine erste Unterscheidung. Es gibt einen weiten und einen engen Medienbegriff. In der weiten Verwendung meint der Begriff des Mediums immer etwas das als Träger oder Mittel für etwas anderes dient. Wir sprechen dann vom Licht als Medium des Sehens, vom Wasser als Medium des Schwimmens, vom Auto als Medium der Fortbewegung und vielleicht sogar vom Kran als Medium des Hochhausbaus.
Demgegenüber steht die enge Verwendung des Medienbegriffs. In dieser hat ein Medium immer etwas mit einer Botschaft (im Sinne von Message nicht im Sinne von Spionage), mit einem Symbolsystem zu tun. Die Zeitung bringt uns die Nachrichten, das Internet bringt uns Meme, im Fernsehen läuft die Daily Soap und im Radio laufen die aktuellen Charts.

Ich bevorzuge diesen engen Medienbegriff aus zweierlei Gründen. Zum einen kommt er meines Erachtens dem alltäglichen Gebrauch des Wortes „Medium“ näher und das sollte immer unsere Basis sein. Die weite Verwendung erscheint mir eher wie eine Metapher. Erst wenn ich anhand von Büchern, Filmen, Comics, CDs etc. verstanden habe, was ein Medium ist, kommt es mir überhaupt in den Sinn soetwas wie Licht oder ein Auto Medium zu nennen.

Zum anderen ist ein Begriff ein Terminus und in diesem steckt der lateinische Ausdruck für Grenze oder Grenzpunkt. Ein Begriff begrenzt immer eine Bedeutung, indem er sie von anderen Begriffen mit anderen Bedeutungen unterscheidet. Daher sind Begriffe, die letztlich alles bedeuten können, sinnlos. Ich habe so den Eindruck, als würde genau das auf unseren weiten Medienbegriff zutreffen.

The medium is the message

Einer der berühmtesten Medientheoretiker war Marshall McLuhan, der für genau zwei Sachen berühmt ist: 1. Den Satz „The medium is the message“ und 2. seinen Gastauftritt in Woody Allens Annie Hall:

Ich habe McLuhan zwar in meinem Studium gelesen, aber das ist so lange her, dass ich mich kaum daran erinnern kann. Daher kann ich nicht genau sagen, was er mit seinem Zitat meinte, aber ich kann zumindest sagen, was in der Rezeption, besonders in der popkulturellen allzu oft daraus gemacht wurde: Nämlich die Behauptung, dass die Botschaft gar keine (gesonderte) Rolle mehr spiele, dass sie im Medium aufgehe und nicht von dem Medium losgelöst werden könne. Das ist in etwa das diametrale Gegenteil der Position der oben erwähnten Anhänger einer strikten Unterscheidung von Sagen, Denken und Handeln. Und ich denke, es ist zumindest in diesem Extremismus genauso falsch.

Spielen wir dafür mal folgendes Sprachspiel durch:

Ein Land, nennen wir es „Gondor“ wird von einem verfeindeten Land, nennen wir es „Mordor“ angegriffen. Gondor möchte nun seinen Verbündeten mit dem hypothetischen Namen „Rohan“ zu Hilfe rufen. Gondor möchte also die Botschaft „Hilfe“ mit einem Medium nach Rohan transportieren. Wären Medium und Botschaft eine nicht zu trennende Einheit, könnte Gondor das nur mit dem hypothetischen Medium „Zettel in der Hand eines Boten machen“. Es ist nun leicht einzusehen, dass Gondor statt dessen noch ganz andere Möglichkeiten hat: Raben mit Zettel versehen, Telefon, Whatsapp oder so etwas weit hergeholtes wie Leuchtfeuer.

Worauf ich hinaus will ist also, dass ein Medium weder unlösbar mit einer Botschaft verbunden ist, noch sich komplett neutral gegenüber der Botschaft verhält.

Die symbolisierende Performanz

Mein ehemaliger Prof. Christian Stetter vertritt die Auffassung vom Medium als symbolisierender Performanz. Dieser Medienbegriff hat eine ganze Reihe Vorteile, aber auch ein paar Nachteile. Was meint „symbolisierende Performanz“?

Zum einen steckt da wieder der Enge Medienbegriff drin: Medien haben immer etwas mit Symbolen zu tun. Sie erzeugen oder transportieren Symbole. Zum anderen steckt die Performanz drin, die uns vor allem aus der Kunst oder dem Tanz in irgendwelchen Castingshows bekannt ist. Eine Performanz ist ein Vollzug, eine Handlung, etwas, das zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfindet und dann wieder vorbei ist. Wie hängt das nun mit unserem Medium zusammen? Ganz einfach: Ein Medium transportiert Symbole, aber es ist kein Ding, sondern ein Vollzug.

Das erscheint zunächst einmal kontraintuitiv, besonders wenn wir uns wieder an der alltäglichen Verwendung abarbeiten. Aber es ist gar nicht so kontraintuitiv, wenn man darüber nachdenkt: Eine Zeitung ist nur dann ein Medium für Nachrichten, wenn ich sie lese. Wenn ich hingegen mein Geschirr bei einem Umzug damit polstere, ist es bloß noch ein Ding, das ich als austauschbares Mittel zu irgendeinem Zweck einsetze. Mit Büchern kann ich hervorragend Blumen oder Herbstlaub pressen, aber das macht sie nicht zum Medium für einen Roman. Erst das Lesen macht sie dazu. Das iPad könnte ich als Brettchen zum Hacken von Kräutern benutzen, aber erst wenn ich etwa damit im Internet surfe, wird es zu einem Medium fürs Internet. Und ich hatte mal ein Handy, mit dem ich hervorragend Bierflaschen öffnen konnte. Aber erst wenn ich damit telefonierte, wurde es zum Medium für meine Gespräche.

Christian Stetter verdeutlicht diesen Punkt, indem er den Begriff des Mediums von dem des Mittels abgrenzt. Ein Mittel ist eine Handlung zu einem bestimmten Zweck, die diesem Zweck vorausgeht und die austauschbar ist. Mein Zweck ist es, unversehrtes Geschirr in meiner neuen Wohnung zu haben, das Mittel ist die Polsterung dieses Geschirrs. Aber ich kann außer mit Zeitungen auch mit Luftpolsterfolie polstern. Will ich hingegen einen Roman lesen, so muss ich zum Buch greifen und das Lesen der Geschichte funktioniert auch nur solange ich das Buch zur Hand habe. Lege ich das Medium weg, so steht mir meine Botschaft nicht mehr zur Verfügung. Ein Mittel ist hinreichende Bedingung zur Erreichung eines Zwecks. Das Medium hingegen ist notwendige Bedingung.

Diese pragmatische Wendung des Medienbegriffs weg vom Ding hin zur Handlung ist meines Erachtens eine clevere Näherung an den Begriff, allerdings hat sie auch ein Problem: Denn sie kann nicht den Unterschied zwischen ephemer und persistent erklären, den Stetter in der Sprachwissenschaft selbst aus Tapet brachte: Ein wesentlicher medialer Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Sprache ist, dass gesprochene Sprache ephemer ist, vergänglich, ja flüchtig. Ausgesprochen ist das Wort auch schon wieder verschwunden. Die geschriebene Sprache ist hingegen persistent. Das geschriebene Wort steht wie eine Skulptur auf dem Papier, dem Stein oder dem Bildschirm und kann jederzeit wieder betrachtet werden. Diesen Unterschied kann ich aber nicht erklären, wenn ich das Medium selbst als Performanz verstehe. Denn Performanzen sind Handlungen, Ereignisse, also per se immer ephemer. Es muss zur Performanz also noch etwas anderes hinzukommen: ein physisches Substrat. Aber das nur am Rande, denn mein Studium liegt jetzt auch schon ein paar Jährchen zurück und ich kenne die neuesten Entwicklungen in der Medientheorie nicht.

Die Spur des Mediums

Kommen wir lieber zurück zur These, dass das Medium die Botschaft ist. Sybille Krämer hat eine sehr elegante Lösung gefunden zwischen dem Widerstreit in der Position, dass das Medium und die Botschaft unlösbar voneinander sind und jener, dass das Medium gar keinen Einfluss auf die Botschaft hat. Sie löst dieses Problem aristotelisch, indem sie feststellt, dass Medium und Botschaft zwar durchaus zwei getrennte Phänomene sind (ob Dinge oder Handlungen, lass ich jetzt mal dahingestellt), dass aber der Botschaft „die Spur des Mediums“ anhaftet.

Eine wunderbar Metapher, wie ich finde. Sie wird auch jedem sogleich verständlich, der schon einmal die Verfilmung eines Buches gesehen hat, das er zuvor gelesen hat. Im Grunde erzählen beide die gleiche Geschichte: Etwa dass Frodo einen Ring in einen Vulkan schmeißen soll. Aber dem Buch steht dabei alle Zeit der Welt zur Verfügung. Romane, für die ich hunderte Stunden Lesezeit brauche, sind kein Problem im Medium des Buches. Hingegen ist das Medium Spielfilm diesbezüglich beschränkt. Es kann nicht jeden bekloppt vor sich hin singenden und tanzenden Nebencharakter eine Stunde Screentime gewähren. Auch funktionieren manche Dinge im Film überhaupt nicht, die im Buch hervorragend klappen. Lady in the Lake hat uns gezeigt, dass ein Film mit Ich-Erzähler nicht funktioniert. Hintergrundgeschichten und innere Monologe sind andere Probleme des Films. Aber der Film kann anderes schaffen: Bilder. Er zeigt uns, wie ein Balrog aussieht, nimmt uns mit zum Mond oder lässt in der Matrix die Schwerkraft nur als eine Option erscheinen.

Ich schaue gerade die Serie Six Feed Under und an dieser sieht man hervorragend, wie das Medium Internet das Medium Serie verändert hat. Die Serie ist von 2001, also aus einer Zeit, in der Streaming noch keinerlei Rolle spielte und auch die DVD gerade erst dabei war, das Video abzulösen. Damals wurden Serien noch fast ausschließlich im Fernsehen gesehen. Pro Woche eine Episode. Das zeigt sich in Six Feed Under am Intro, das geschlagene 1:39 Minuten dauert.

Das ist kein Problem, wenn ich es bloß einmal in der Woche sehe, denn es ist ein sehr gut gemachtes Intro. Aber wenn ich Serien streame und mir eine Folge nach der anderen angucke, nervt das ungemein. Dem gegenüber stammt die Serie Breaking Bad von 2008. DVDs waren da schon ein alter Hut. Streaming allgegenwärtig und den Machern war vollkommen bewusst, dass die Zuschauer eine Folge nach der anderen hintereinander weggucken werden. Was dazu führt, dass das Intro sechs Akkorde und ein Grillenzirpen lang ist, 17 Sekunden.

An dem Medium Serie haftet die Spur des Internets… Nebenbei zeigt es auch, dass Medien in Medien in Medien verschachtelt sind…

Soweit soll das genügen. Jetzt habe ich meinen Medienbegrif vorgestellt und kann nun demnächst mal abbiegen in Richtung „Die Sprache ist das Medium meiner Gedanken“. Aber ich kann auch genauso betrachten, inwiefern das Medium Internet Botschaften verändert, die ehedem uns anders übermittelt wurden.

Ich bin raus. vorerst…

 

Literatur:

 

*hinterhältiger Affili-Link, danke fürs Klicken!