Fortsetzung Kapitel 1.3 Die Geschlechtsidentität: Zirkel und Scheitern der gegenwärtigen Debatte
Christiane und ich besprechen weiter das Kapitel „Die Geschlechtsidentität: Zirkel und Scheitern der gegenwärtigen Debatte“. Heute geht es unter anderem darum, dass der hegemoniale Diskurs festlegt, was verhandelt werden darf. Wir machen einen Exkurs, dass im Gegensatz zur Gender-Debatte AfD-Thesen als legitime Diskursbeiträge vom hegemonialen Diskurs akzeptiert werden. Wir besprechen Butlers These, dass die Einschränkung, welche Geschlechter denkbar sind, in unsere Sprache eingeschrieben sind. Weiblichkeit erhält demnach immer nur in Relation zu Männlichkeit Bedeutung. Butler bringt Luce Irigaray ins Spiel. Es geht um die Möglichkeit, die Welt mit der Sprache richtig abzubilden. Daniel schweift ab in das Idealsprachen-Projekt der analytischen Philosophie, warum es aufgegeben wurde und die Versuche der Postmoderne, Sprache nicht mehr als Ganzes zu ändern sondern in einzelnen Facetten so zu verbiegen, dass sagbar wird, was zuvor nicht sagbar war.
Was hat das rechtsradikale Plakat denn nun wirklich ausgesagt?
Heute widme ich mich der Debatte um das Wahlplakat „Hängt die Grünen“ der rechtsradikalen Partei „Der 3. Weg“. Es gab wechselnde Beschlüsse, ob dieses abgehängt werden muss oder nicht, je nach der Interpretation, worauf sich dieses „die Grünen“ bezieht. Ich zeige auf, wie hier interpretiert wurde und was meines Erachtens die richtige Interpretation ist.
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Automatisiertes Transcript
Hallo, mein Name ist Daniel und ich möchte euch von Philosophie erzählen. Genauer gesagt habe ich mal seit längerer Zeit wieder so ein Thema, was mir auf dem Herzen brennt. Ich habe lange nicht mehr so eine freie Podcastfolge gemacht und deswegen dachte ich mir, das hole ich doch mal nach. Vor Jahren mittlerweile habe ich ja mal was zu Sprachanalyse gemacht und
da dachte ich mir, das könnte ich doch einfach mal wiederholen und Sprachanalyse an einem konkreten, aktuellen Beispiel betreiben. Da kommt noch hinzu, dass ich euch ja auch mal vor anderthalb Jahren jetzt
versprochen hatte, dass ich was zur neuen Rechten machen möchte und es ist auch nie wirklich geschehen, weil dann Corona kam und mein Leben auf den Kopf gestellt hat. Aber jetzt kann ich beides kombinieren, denn es gibt ein aktuelles Thema, das mich umgetrieben hat und zu dem ich ein paar Worte sagen wollte.
Ihr habt das bestimmt schon am Folgentitel gelesen, es geht um dieses unsägliche Plakat der Rechtsextremen Partei, der dritte Weg auf dem Stand, hängt die Grünen. Klein darunter noch, macht unsere Nationale Revolutionäre Bewegung durch Plakatwerbung in unseren Parteifarben in Stadt und Land bekannt. Da muss ich ja zunächst einmal dieses Prädikat national revolutionäre Bewegung. Unter die Lupen nehmen, denn hier sehen wir schon mal Exemplarisch völkisches Denken. Hier wird von einer Revolution gesprochen und was kann es nur für eine Revolution sein in diesem Land, in dem wir leben
muss sich hierbei um eine Revolution gegen die liberale Demokratie handeln
und an deren Ende soll so das Linksatribut national ein Nationalismus stehen. Die Frage, die sich daran natürlich direkt anschließt, ist, was soll denn in einer solchen Nationalrevolution mit Menschen geschehen, die nicht deutsch genug sind für diese Revolution, äh deutsch genug in Anführungszeichen, bitte.
Also hier haben wir schon fast unverholene Vernichtungsfantasien möchte ich mal vermuten. Oder zumindest, also hier geht es nicht mehr nur um strengere Einwanderungsgesetze oder Austritt aus der EU. Wie schlimm es auch wäre
sondern hier wird schon schwatroniert über wirklich einen Kampf gegen unsere Art zu leben. Jedenfalls hat dieses Plakat in den letzten Wochen für einiges an Aufruhr gesorgt. Zunächst gab es Proteste, da die Staatsanwaltschaft Zwickau nicht dagegen vorgehen wollte, dann entschloss ich die. Zwickau, die Plakate abzuhängen, woraufhin das Verwaltungsgericht entschieden hat.
Die Plakate Forst hängen bleiben dürfen. Allerdings nur in 100 Meter Entfernung zu Wahlwerbung der Grünen. Stadt Zwickau hatte dann angekündigt, gegen diese Entscheidung Beschwerde beim sächsischen Oberverwaltungsgericht einlegen zu wollen, dass das Verwaltungsgericht hier geurteilt hat, dass die Plakate hängenbleiben dürfen, passt natürlich schön in das Narrativ, dass es in Sachsen nur Nazis gibt und wurde auch entsprechend auf Twitter kommentiert. Die Begründung war dann aber ein etwas
andere. Und zwar sagte das Gericht, dass sich eben eine Doppeldeutigkeit bei diesen Plakaten ergebe, aus dem zweiten Satz, der in kleinerer Schrift unter dem Aufruf hängt die Grünen steht, nämlich macht unsere nationale revolutionäre Bewegung durch Plakatwerbung.
In unseren Parteifarben in Stadt und Land bekannt. Was das Gericht hier gemacht hat ist das sogenannte Fregeprinzip der Bedeutung anzuwenden
ich bin fast fertig mit meiner nächsten Aristoteles-Folge, die wird auch in Kürze hier auf dem Feed erscheinen. Und dann äh werde ich da nochmal ausführlicher auf das Pflegeprinzip eingehen man fasst es umgangssprachlich oder zumindest in meinem Studium habe ich da immer die Formulierung gehört das Wort bekommt erst im Satz Zusammenhang Bedeutung. Das heißt, dass äh das Gericht hier sagt, dass das Wort die Grünen im Gesamtzusammenhang des Plakates als Pas Pro Toto verwendet wird für die grünen Plakate. Das ist zunächst einmal eine.
Sprachphilosophische oder sprachanalytische Analyse, es ist doppelt gemobbelt, dieses Plakates, also aus dem Pflegeprinzip ergibt sich das eben, dass sich zum Beispiel die Bedeutung des Wortpilz erst dadurch ergibt, das aus dem Satzzusammenhang klar wird, ob ich mich in einer Kneipe oder im Wald befinde. Bei letzterem spielt wahrscheinlich auch noch die Rolle, ob Vatertag ist oder nicht. Und dieses Prinzip hat das Gericht also angewendet.
Das ist also eine gültige Analyse, die es vorgenommen hat. Es ist aber nicht die einzig mögliche Analyse. Zum einen können wir, wenn wir eine größere semantische Einheit betrachten.
Als eben diese größere Semantische Einheit nicht nur das Plakat selbst
in Augenschein nehmen, sondern eben auch den Kontext, in dem dieser komplette Satz sich befindet. Und wenn wir jetzt sehen, dass wir uns gerade in einem Bundestagswahlkampf befinden, dann liegt das wieder in Interpretation nahe, die den Begriff die Grünen unabhängig von der konkreten Satzbedeutung auf die Partei, die Grünen überträgt, die aktuellen Lieblingsgegner der extremen Rechten. Und diese Lesart bekommt jetzt auch einen zusätzlichen Nachdruck, wenn man noch eine weitere Analyseebene mit betrachtet, nämlich die pragmatische Denn das verdeutlichte uns die Philosophie im Anschluss an den Linguistik Turn, sprachliche Äußerungen sind immer auch Handlungen
nach Journal Austin haben Äußerungen immer drei Dimensionen, Lokution, Illokution und Perlokotion.
Und weil kein normaler Mensch mit diesem Zungenbrecher was anfangen kann, können wir auch sagen, eine Äußerung hat immer einen Inhalt
sie spielt eine Rolle in einem Sprachspiel und sie hat eine intendierte Wirkung
Und jetzt schauen wir uns dieses Plakat nochmal an. Auf der Inhaltsebene geht es hier tatsächlich möglicherweise um das Aufhängen von Plakaten. Aber
Jetzt fragen wir uns als nächstes, was ist denn die Rolle im Sprachspiel? Das Sprachspiel, das aktuell gespielt wird, ist der Wahlkampf. Und die Rolle von Wahlplakaten in diesem Sprachspiel Wahlkampf.
Entweder die eigenen politischen Positionen prägnant auf den Punkt zu bringen. Das findet hier nicht statt. Allenfalls ganz periphär, eben durch dieses Nationalrevolutionäre Bewegung. Aber Wahlplakate können noch eine
zweite Möglichkeit aufmachen und das ist die eigene Basis durch Unmut über den politischen Gegner zu mobilisieren und so zur Wahlurne zu bringen. Womit wir dann zu Perlokotion, also zur intendierten Wirkung von Wahlplakaten kommen denn was sie bewirken wollen ist, dass Menschen meiner Partei ihre Stimme geben was Wahlplakate in der Regel nicht oder ich würde sogar nicht sagen, in der Regel, sondern eigentlich niemals bewirken wollen, ist es, dass Menschen mehr Plakate aufhängen. Niemand, keine Partei möchte, dass die WählerInnen hingehen und Plakate aufhängen. Das machen die Anhänger der Partei.
Sollen an der Wahlurne ihr Kreuz machen bei der richtigen Partei. Und wenn wir jetzt noch einmal auf das Nationalevolutionär zurückkommen
in dem kleingedruckten Teil des Plakates, dann spricht es eine klare Sprache. Hier wird ein implizites Versprechen gegeben, dass, wenn es zur nationalistischen Revolution kommt, dann werden die Grünen gehängt und deswegen sollen die Leute dritte Weg wählen. Ganz frisch heute, als ich diese Folge aufnehme.
Hat das auch das Oberverwaltungsgericht Sachsen so gesehen und hat die Plakate jetzt endgültig verboten. Gegen dieses Urteil kann auch nicht mehr in Revision gegangen werden. Und die Begründung lautete, die Aussage hängt die Grünen, beziehe sich nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums vor dem Hintergrund des Bundestagswahlkampfes auf die Mitglieder der Partei Bündnis die Grünen. Das Oberverwaltungsgericht hat also genau, wie ich’s im ersten Teil gesagt habe, wieder das Frege-Prinzip angewendet hat, nur eben nicht mehr bloß dieses Plakat in Augenschein genommen, sondern einen noch größeren semantischen Kontext. Und mit diesen, meines Erachtens vollkommen zurecht geurteilt,
ist hier nur eine mögliche Schlussfolgerung gibt, auf was sich hängt die Grünen bezieht.
Ja. In diesem Sinne, wenn ihr das hier noch vor der Wahl hört, dann geht wählen und gebt einer demokratischen Partei eure Stimme um Hamilton zu zitieren, unsere Demokratie ist eine. Wir müssen permanent an ihr fortschreiben, um sie gegen unsere Feinde zu verteidigen. Und wenn ihr das hier erst nach der aktuellen Wahl hört, dann kommt die nächste Wahl bestimmt und es gibt andere und viele Möglichkeiten am demokratischen Prozess zu partizipieren. Außerdem hoffe ich, ich habe euch mal wieder ein bisschen was gezeigt, was man damit machen kann, mit Philosophie, wenn ihr es zum Beispiel gerade studiert oder allgemein euch fragt, was komischen Eierköppe da den ganzen Tag so treiben und was das alles für Sinn und Zweck hat. Und an dieser Stelle bleibt mir dann nicht mehr mehr zu sagen, als. Ich danke euch, dass ihr mir eure Zeit geschenkt habt.
Meine Platon-Reihe nähert sich nun wirklich ihrem Ende. Bevor ich noch einmal abschließend zurück- und dann nach vorne blicke, wenden wir uns noch Platons Ansichten zu Sprache und Schrift zu. Beginnen werde ich heute mit Platons Sprachphilosophie. Entweder im Video oder darunter in Schriftform
Mir ist klar, dass der Spruch nach nunmehr 30 Folgen einfach nur noch nervt, dennoch: Auch in der Sprachphilosophie war Platon bahnbrechend. Allerdings hat er definitiv die falschen Antworten gegeben, seine Sprachphilosophie war in etwa so sinnvoll wie die Strategie der Bundesregierung zum Breitbandausbau. Aber Platon hat doch – was nicht zu unterschätzen ist – die richtigen Fragen gestellt und so die Sprachphilosophie erfunden, aus der später dann die Sprachwissenschaft hervorging.
Der entscheidende Dialog für Platons Sprachphilosophie ist der ‚Kratylos‘ und er beschäftigt sich dort mit der Ur-Frage, die diese Disziplin umtreiben sollte, bis Ferdinand de Saussure sie wohl abschließend beantwortete: Ist die Bedeutung von Wörtern rein konventionell, also von Menschen gemacht, oder gibt es natürliche Bedeutungen?
Da die Theorien, die Platon uns unterbreitet, in etwa so unzutreffend sind, wie die These, dass das Dschungelcamp eine gute Fernsehshow ist, werde ich nicht darauf eingehen. Aber ich werde euch erzählen, welche Themen allesamt angerissen werden. Blicken wir in den Text!
Arbiträre Bedeutung und Wahrheit von Sätzen
Die erste, wichtige Erkenntnis im Kratylos ist, dass die Bedeutung von Wörtern nicht in gleicher weise konventionell sein kann wie andere Konventionen, zum Beispiel die von Markennamen. Ich kann meine Marke nennen, wie es mir passt und ich kann den Namen sogar ändern, wenn ich Spaß daran habe und aus Raider Twix machen. Aber gleiches kann ich, wenn ich verstanden werden will, nicht mit einem Wort wie „Haus“ machen. Wir können heute mit Sicherheit sagen, dass die Bedeutung von Wörtern konventionell oder besser arbiträr ist, wie die Sprachwissenschaft sagt. Aber sie ist nicht willkürlich.
Der nächste Punkt führt uns zurück zum Verhältnis vom Ganzen zu seinen Teilen. Eine Frage, die Platon wiederholt beschäftigte: Wir rissen sie schon einmal in der Folge zum Sinn des Lebens an und im Zusammenhang mit der Frage, was Wissen ist, hatten wir gesagt, dass das Ganze nur wahr sein kann, wenn auch seine Teile wahr sind.
Platon will diese These von der Wahrheit vom Ganzen und seinen Teilen hier auch für Sätze und Wörter geltend machen. Das ist allerdings kompletter Bullshit. Ungefähr so hanebüchen wie zu behaupten, dass der Klimawandel nicht menschengemachten ist, obwohl all unsere Messdaten das Gegenteil sagen. Der Satz „Der aktuelle Klimawandel ist nicht von Menschen gemacht“ ist falsch. Aber die darin vorkommenden Wörter wie zum Beispiel „Klimawandel“ oder „Menschen“ sind deshalb nicht falsch. Die Rede von falschen Wörtern ist komplett unangebracht. Aber auch diese falsche These hatte etwas Gutes an sich: Sie war der Ausgangspunkt für Aristoteles, Platons Schüler, ein für alle Mal zu klären, was denn überhaupt die kleinste Einheit ist, die wahr oder falsch sein kann. Und die Antwort lautet: Der Satz.
Verschiedene Sprachen und treffende Wörter
Weiter stellt sich Platon die Frage, wie es denn sein kann, dass es verschiedene Sprachen gibt. Wörter dienen doch dazu „das Wesen von Dingen zu bezeichnen“, wie er es nennt. Wie können denn zwei verschiedene Wörter das gleiche Ding bezeichnen? Platon gibt auf diese Frage eine schön links-grün-versiffte Multi-Kulti-Antwort. Um die Existenz verschiedener Sprachen zu erklären, benutzt er die Werkzeug-Metapher für die Sprache, die zum Beispiel auch Ludwig Wittgenstein später oft verwenden sollte: Demnach sind Wörter wie Werkzeuge. Und dass es verschiedene Sprachen gibt, braucht uns nicht zu wundern, man kann ja auch Werkzeuge aus verschiedenen Materialien und auf verschiedene Art und Weise herstellen. Dennoch erfüllen sie den gleichen Zweck.
Der nächste Punkt, der angerissen wird, ist die Frage, ob es treffendere Wörter gibt und solche, die weniger geeignet sind, um die Dinge zu bezeichnen. Auch hier stecken zwei Aspekte drin, die so wegweisend sind wie Google bei der Suche im Internet. Zum einen wird hier die Fixierung auf die Benennungsfunktion der Sprache sichtbar, die sich auch bis ins 20. Jahrhundert fortsetzen sollte. Die Sprachphilosophie kümmerte sich lange nur darum, wie genau das Verhältnis von Sprache und den Dingen ist, die sie benennt. Erst so Philosophen wie Wittgenstein, Austin und Searle setzten dieser verengte Perspektiveiv ein Ende und fingen an, sich mit anderen Funktionen von Sprache auseinanderzusetzen. Aber der zweite spannende Aspekt ist, ob die Wörter im Besonderen und die Sprache im Allgemeinen sich verbessern lässt, um die Welt besser darzustellen.
Taxonomie und Idealsprache
Dies ist ein Gedanke, der sich auf die Taxonomien der Wissenschaften ausgewirkt hat. Zum Beispiel lauten die Fachbezeichnungen für Tiger und Löwen: Panthera tigris und Panthera leo. Das sind fraglos geeignetere Namen als unsere umganssprachlichen, da durch sie schon die Verwandtschaft der Großkatzen klar wird.
Neben den Taxonomien war das Projekt der Idealsprache in der analytischen Philosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts und des frühen 20. Jahrhunderts ein Versuch, eine geeignetere Sprache zu erzeugen und so die Welt besser abzubilden. Und aus diesem Projekt ging die Formale Logik hervor, die wiederum zur Grundlage aller Programmiersprachen und somit des Computerzeitalters wurde. Ohne Platon gäbe es also kein iPhone!
Etymologie und Onomatopoetika
Im Kratylos beginnt Platon weiterhin mit der Etymologie, also der Untersuchung der ursprünglichen Bedeutung von Wörtern, dies wurde in Form der Philologien zur nerdigsten aller Teildisziplinen der Sprachwissenschaft. Genauso streift Platon das Phänomen der Onomatopoetika – einem spannenden Grenzfall sprachlicher Laute. Wie gesagt, gehen wir heute davon aus, dass Sprache arbiträr ist, es also keine natürliche Bedeutung gibt, sondern diese menschengemacht ist. Aber Onomatopoetika scheinen ihre Bedeutung aufgrund von Ähnlichkeiten zu bekommen: Der Schrei des Hahns wird mir „Kikeriki“ bezeichnet, „weil es sich eben so anhört“. Zugleich hört er sich in verschiedenen Sprachen anscheinend unterschiedlich an. Englische Hähne schreien demnach „cock-a-doodle-doo“ und portugiesische „cocorocó“!
Linguistic Turn
Und zu guter letzt stellt Platon die Frage, die später, im 20. Jahrhundert zum sogenannten Linguistic Turn der Philosophie führen sollte: Stellt die Sprache die Welt richtig dar? Der Linguistic Turn, der oft falsch mit „Linguistische Wende der Philosophie“ übersetzt wird und der eigentlich die Sprachkritische Wende der Philosophie ist, ist eine große Strömung in der Philosophie, die besagt: Dass unsere Sprache die Welt nicht nur abbildet sondern unsere Wahrnehmung von der Welt entscheidend prägt. Es ist die heute größte und wichtigste Strömung der Philosophie und auch sie findet letztlich ihren Ausgangspunkt bei Platon. Wir sind eben alles nur Fußnoten.
Heute möchte ich mich der Frage widmen, was eigentlich ein Irrtum ist. Und ich warne euch vor, das hier ist ein harter Brocken, eine Dehnübung für eure Seele. Aber bleibt dran, am Ende werdet ihr mit zwei schönen Erklärungen belohnt. Wie immer gibt es das hier als Video oder darunter als Transkript:
In meinen Wahrnehmungen kann ich mich irren
Beim letzten Mal hatten wir zusammen mit Platon die These geprüft, ob Wissen Wahrnehmung ist. Platon hatte viele Argumente dagegen präsentiert, das für mich stärkste Argument ist aber: Wissen ist das Gegenteil von Irrtum. In meinen Wahrnehmungen kann ich mich aber irren, daher kann Wissen nicht gleich Wahrnehmung sein. Dieses Argument ist besonders stark, weil der Schluss rein semantisch ist. Die Wahrheit ergibt sich aus der Wortbedeutung. Das nennt man einen analytischen Schluss oder ein analytisches Urteil. Während ich mich bei einem empirischen Schluss irren kann, weil meine Daten über die Welt falsch sein können, ist dies bei einem analytischen Urteil nicht möglich.
Da also Wahrnehmung ausscheidet, machen sich in Platons Dialog Sokrates und Theaitetos sowie dessen dumm daneben stehender Lehrer daran, eine zweite These aufzustellen, was Wissen sein könnte. Beim letzten Mal habe ich erläutert, dass die Definition „Wissen ist Wahrnehmung“ die Geburtsstunde der philosophischen Strömung des Empirismus war. Nun dürfen wir zusehen, wie Platon eine zweite große philosophische Strömung aus der Taufe hebt: Den Rationalismus. Denn wenn Wahrnehmung – also das, was von der Welt auf uns Menschen einströmt – als Kandidat für Wissen gescheitert ist, dann erscheint es doch lohnend, das zu prüfen, was wir Menschen der Welt entgegenbringen: Das Denken.
Die reine Lehre des Rationalismus sollte später werden, dass echte Erkenntnis nur mit voraussetzungsfreiem Denken möglich ist. Bitte bedenkt, dass ich das wieder einmal bewusst extrem verkürzt ausgedrückt habe, bevor ihr mir diese Definition um die Ohren haut. Große Rationalisten sollten später so Philosophen wie Descartes und Leibniz werden. Der reine Rationalismus musste allerdings erst durch Kant und dann durch die moderne Psychologie schwere Schläge einstecken, sodass er in dieser naiven Form nicht mehr vertreten wird. Aber dennoch sind noch heute viele Philosophen von ihm geprägt, insbesondere in meiner Lieblingsströmung, der analytischen Philosophie.
Indirekter Beweis von Wissen ist wahre Meinung
Zurück zu Platon: Der stellt nämlich fest, dass nicht jede Form von Denken als Kandidat für Wissen in Frage kommt. Ich sitze hier gerade und frage mich: „Was mache ich hier eigentlich?“ Diesen Satz kann ich wohl kaum Wissen nennen. Nein, Wissen kann nur die Art von Denken sein, die auch wahr oder falsch sein kann, wie zum Beispiel: „Das Studioset zu ‚Das Fenster zum Hof‘ war das damals größte Set aller Zeiten.“ Entsprechend lautet Platons zweite, zu prüfende Definition: „Wissen ist wahre Meinung“.
Platon lässt Sokrates die Untersuchung dieser These mit einem indirekten Beweis beginnen, indem er fragt, was denn eigentlich falsche Meinung ist. Sokrates macht dies, weil er zeigen will, dass falsche Meinungen existieren, um sie dann im nächsten Schritt den wahren Meinungen gegenüber zu stellen. Das ist eine beliebte Strategie in der Philosophie, wenn man seine These besonders stark machen will: Erst einmal ausschließen, was etwas nicht ist.
Was ist also diese falsche Meinung? Platon schlägt vier Kandidaten vor und ich warne euch schon einmal – die vier machen Knoten ins Gehirn. Da wären:
Wenn ich eine falsche Meinung habe, halte ich dann etwas, das ich kenne, für etwas anderes, das ich kenne?
Vielleicht ist falsche Meinung auch, etwas, das ich nicht kenne, für etwas zu halten, das ich ebenfalls nicht kenne?
Natürlich könnte ich auch etwas, das ich kenne, für etwas halten, das ich nicht kenne.
Oder (zu guter Letzt) kann ich etwas, das ich nicht kenne, für etwas halten, das ich kenne.
Platon hält alle vier Möglichkeit für unmöglich. Etwas, dass ich kenne, kann ich nicht verwechseln, da ich es ja kenne. Aber etwas, das ich nicht kenne, kann ich nicht verwechseln, weil ich es eben nicht kenne. Es gibt also keine falsche Meinung.
Alter! Das ist ein typischer Platon-Mindfuck, bei dem dir fast der Schädel platzt, wenn du versuchst, nachzuvollziehen, was um Himmels Willen er überhaupt meint. Bei aller Kritik, muss ich aber auch sagen, dass die Systematik, mit der Platon hier vorgeht, sehr elegant ist. In der Aussagenlogik könnte man die vier Sätze durch Variablen ersetzen und würde sehen, dass Platon tatsächlich alle Möglichkeiten abdeckt.
p = q
-p = -q
p = -q
-p = q
Nur die Schlussfolgerung, dass keine der vier Möglichkeiten in Betracht kommt, ist absurd. Walter Bröcker meint, dass diese Untersuchung überhaupt nur entstehen konnte, weil es im Altgriechischen keine Unterscheidung zwischen „Kennen“ und „Wissen“ gab. Da ich Altgriechisch nicht beherrsche, kann ich das nicht beurteilen. Ich sehe hier aber mal wieder das gleiche Problem, das wir auch schon im Zusammenhang mit dem Prädikat „groß“ hatten: Platon berücksichtigt nicht, dass es mehr als Entweder-Oder-Entscheidungen gibt, dass die Welt voller Kontinuen ist.
Beispielsweise ist es nicht so, dass ich Justin Bieber entweder kenne oder nicht. Ich kann Justin Bieber auch ein bisschen kennen, wenn ich weiß, dass er Popmusiker ist, dass er ein weißes, blondes Bübchen ist, also eben dieser Typ:
Oh, jetzt habe ich ihn wohl mit irgendjemandem verwechselt. einen anderen Justin, den ich eben auch nur ein bisschen kenne …
Anyway, Platons nächste Definition von falscher Meinung lautet: Falsche Meinung ist, zu meinen, was nicht ist. Doch auch diese Definition scheint zu scheitern, denn nach Platon ist Meinen immer „etwas meinen“. Das ist soweit korrekt. Ich meine, dass Berliner fritierte Teigbällchen mit Marmeladenfüllung sind, die in Puderzucker gewälzt wurden. Also wenn das mal nicht etwas ist! Aber dieses „Etwas“ kann immer nur etwas sein, das existiert, so Platon.
Pfff … Das sind so ontologische Problemchen, von denen ich mit 2000 Jahren Abstand meine, dass du sie einfach nicht mehr ernst nehmen kannst. Natürlich kann ich von Nichtseiendem meinen, dass es ist. Beispiel gefällig? Einhörner existieren. Basta. Außerdem unterscheidet Platon nicht zwischen logischem Subjekt und logischem Prädikat. Ich kann zum Beispiel sagen: Pferde haben die Farbe MÖÖÖÖÖÖÖP. Dann habe ich einem Subjekt, das existiert, nämlich dem Pferd, etwas zugeschrieben, das nicht existiert, nämlich die Farbe MÖÖÖÖÖÖÖP. Ihr seht, Platons Definition ist gleich in mehrere Hinsicht falsch.
Nun gut, Platon sieht das anders und prüft eine dritte Definition: Falsche Meinung ist Verwechslung. Das ist genau unser Fall mit den zwei Justins. Aber Platon lehnt diesen Fall auch wieder ab, da ich bei der Verwechslung etwas, das ich kenne für etwas anderes halte, das ich kenne. Wie schon gesagt, kennt Platon aber kein graduelles Kennen, daher zieht er den absurden Schluss, dass es keine Verwechslung gibt.
Nun ist Platon zwar ein weltfremder Philosoph, aber auch nicht ganz doof, weswegen er Theaitetos und Sokrates die Erkenntnis beschert, dass ihr Ergebnis nicht stimmen kann, denn wir alle kennen ja Verwechslungen. Und ich kann euch beruhigen, jetzt wird das alles wieder verständlicher.
Wachstafel und Taubenschlag
Um zu erklären, wie Verwechslungen zustande kommen, entwirft Platon zwei weitere berühmte Gleichnisse: Das Bild von der Wachstafel und das Bild vom Taubenschlag. Um Verwechslungen in der Wahrnehmung – wie bei unseren beiden Justins – zu erklären, dient die Tafel.
Demnach ist unsere Seele (wir können auch Geist oder Gehirn sagen) wie eine Wachstafel und jedes Mal, wenn wir einen Sinneseindruck haben, dann wird dieser in die Tafel im wahrsten Sinne des Wortes eingedrückt (ob daher wohl die Metapher kommt?). Diese Eindrücke sind nun unterschiedlich tief und tragen sich zudem mit der Zeit ab. Wir vergessen, wenn wir einer Erinnerung nicht Nachdruck verleihen.Eine Verwechslung ist nun, wenn wir beispielsweise Timberlake begegnen, ihm aber in unserem Kopf den Eindruck von Bieber zuordnen. Na das ist doch mal eine schöne und verständliche Erklärung gewesen!
Allerdings gibt es auch noch andere Arten von Irrtümern, bei denen uns das Bild von der Wachstafel nicht mehr weiterhilft. Es sind Fälle von falschen Schlussfolgerungen: Etwa bei Fällen, in denen ich mich verrechne. Oder wenn ich zum Beispiel aus der Tatsache, dass eine Gruppe von Muslimen in Köln Frauen massiv belästigt hat, schließe, dass alle Muslime Sexisten sind.
Hierfür entwirft Platon das Bild vom Taubenschlag: Meine Seele, mein Geist oder mein Gehirn ist wie ein Taubenschlag und mein Wissen ist wie die Tauben. Platon unterscheidet nun zwischen dem Besitz von Wissen und dem Haben von Wissen. Beispielsweise besitze ich das Wissen, dass ich von einem Einzelfall nicht auf eine Regel schließen kann. Wenn mir einmal von Schokolade schlecht geworden ist, werde ich doch trotzdem nicht sofort aufhören Schokolade zu essen. Diese Regel fliegt als eine Taube durch meinen Taubenschlag, ich besitze sie. Und im Fall der Schokolade habe ich sie auch erfolgreich gefangen, halte sie in der Hand und habedieses Wissen entsprechend auch.
Wenn nun aber wie im Fall nach der Silvesternacht 2016 in Köln die Situation aufgeheizt ist, alle Medien dauernd berichten und auf Facebook und Twitter rumgeschrien wird, wie schlimm diese Muslime sind, die Tauben quasi wie blöd durch meinen Taubenschlag flattern, dann kann es vorkommen, dass ich die Taube nicht fange, sondern womöglich eine andere greife. Auch dann besitze ich noch das Wissen, also die richtige Meinung, aber ich habe sie nicht mehr. Ich habe dann eine falsche Meinung.
Wie schön, am Ende hat Platon doch noch ein Kontinuum entdeckt! Aber natürlich lässt Platon Sokrates dieses Ergebnis der Untersuchung umgehend problematisieren, wie es üblich ist in seinem dialektischem Spiel. Sokrates kommt zu dem Ergebnis, dass es ein Fehler war, die Untersuchung mit dem Irrtum zu beginnen, und man sich stattdessen der eigentlichen These zuwenden sollte, dass Wissen wahre Meinung ist.
Natürlich war es aber nicht wirklich ein Fehler. Platon hat eine gescheiterte Argumentation nicht „aus versehen“ in seinem Dialog stehenlassen. Es war stattdessen eine logische Dehnübung, die uns vor Augen führen sollte, wie kompliziert und mitunter verfahren die Lage ist, wenn wir beginnen, zu untersuchen, was unseren alltagssprachlichen Begriffen zugrunde liegt.
Nach dieser Dehnübung ist unsere Seele nun bereit, die These zu prüfen, dass Wissen wahre begründete Meinung ist. Aber weil es schon wieder so spät ist, machen wir das beim nächsten Mal.
Nach der ungeplant langen Pause geht es hier weiter mit Platons Gleichnissen. Nach dem Sonnengleichnis kommt nun das Liniengleichnis. Wir finden viel Metaphysik aber noch immer nicht das Gute. Wie gehabt könnt ihr euch das ganze als Video ansehen oder darunter das Transkript lesen. Am Ende des Artikels gibt es dann noch Quellenangaben.
Die Vorgeschichte in etwa fünf Sätzen
Beim letzten Mal erzählte ich, dass Platon im Dialog „Der Staat“ Sokrates mit ein paar Typen die Frage diskutieren lässt, was Gerechtigkeit ist. Über diese Frage kommen sie zur nächsten Frage, was einen gerechten Staat ausmacht. Platon hatte Sokrates darlegen lassen, dass in einem gerechten Staat die Philosophen herrschen sollen, obwohl sie auf den ersten Blick total plemplem wirken. Denn Philosophen streben nicht nach Macht sondern suchen nach dem Guten. Was das Gute schließlich ist, versuchte Platon mit dem Sonnengleichnis zu umschreiben. Im Sonnengleichnis stellt er das Gute als die Ursache für Erkenntnis dar. Mich hatte das beim letzten Mal nicht sonderlich überzeugt, denn Platon begründet das weder, noch beantwortet es die Frage, was es bedeutet, gut zu sein.
Das Lininegleichnis
Aber natürlich ist Platon nicht der Trottel, als den ich ihn dargestellt habe. Daher lautet sein Motto: Nach dem Gleichnis ist vor dem Gleichnis. Er fährt mit dem Liniengleichnis fort. Allerdings hatte Platon vielleicht schon das eine oder andere Glas Rotwein zuviel intus, als er das Liniengleichnis niederschrieb, denn mittlerweile hat er anscheinend komplett vergessen, dass es ihm eigentlich um das Gute ging.
Lehnt euch mal entspannt zurück und stellt euch eine Linie vor. Links von dieser Linie liegt die Welt, rechts von der Linie liegt unsere Erkenntnis. Diese Linie unterteilen wir jetzt in vier Abschnitte. Im untersten Abschnitt der Linie liegen in der Welt die Bilder, Spiegelungen und Schatten und auf der Seite der Erkenntnis das Vermuten. Etwas darüber liegen auf der Seite der Welt die wahrnehmbaren Gegenstände, auf der Seite der Erkenntnis hingegen das Glauben. Im nächsten Abschnitt liegen jetzt auf Seiten der Welt die mathematischen Gegenstände und auf Seiten der Erkenntnis das voraussetzungsvolle Denken. Im obersten Abschnitt schließlich finden wir bei der Welt die Ideen und bei der Erkenntnis das voraussetzungsfreie Denken.
Die beiden spannendsten Aspekte des Liniengleichnis’ sind für mich das voraussetzungsreiche- und das voraussetzungsfreie Denken. Voraussetzungsreiches Denken oder Verstand, wie oft gesagt wird, ist zum Beispiel das Betreiben von Mathematik, die auf Axiomen aufbaut und in der Geometrie als Hilfsmittel auf sinnlich erfahrbare Figuren zurückgreift.
Was ist ein Axiom?
An dieser Stelle sollte ich mal wieder einen philosophischen Grundbegriff erklären, nämlich den des Axioms. Axiome sind – so behauptet es zumindest mein kleinen philosophischen Wörterbuch – „grundlegende Sätze, die selbst nicht beweisbar sind, sondern die unhintergehbare Basis für andere Sätze oder Folgerungen bilden“. Zum Beispiel gibt es in der Mathematik das berühmt gewordene Parallelaxiom, das da lautet:
„Ist a eine Gerade und P ein nicht auf a liegender Punkt, so gibt es in der Ebene, in der a und P liegen, genau eine Gerade durch P, die a nicht schneidet, nämlich die Parallele.“
Dieses Axiom ist berühmt, weil Mathematiker und Philosophen sich nicht damit abfinden wollten, dass dieser Satz sich nicht beweisen lässt und es immer wieder versuchten. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts gelang es sowohl Nikolai Lobatschewski als auch János Bolyai zu beweisen, dass sich das Parallelaxiom nicht beweisen lässt, weil man es nicht aus anderen Axiomen herleiten kann. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden.
Kehren wir zurück zu Platon: Das voraussetzungslose Denken ist, im Gegensatz zum voraussetzungsvollen, jenes Denken, das nach den letzten Gründen, nach den Ideen fragt. Und das ist natürlich – da ist Platon unbescheiden – die Dialektik, also die dialogisch betriebene Philosophie.
Versteht mich nicht falsch, wenn ich sage, Platon hat hierbei zu tief ins Glas geschaut! Das soll den Gehalt dieser Sätze nicht leugnen, denn die haben es in sich. Das, was Platon hier darlegt, ist nicht weniger als die Eckdaten der schon erwähnte Ideenlehre. Und es steckt noch viel mehr im Liniengleichnis, etwa die Abbildtheorie, die noch tausende Jahre diskutiert werden wird und über die so manche unbedeutende Privatsprache ihre Magisterarbeit geschrieben hat. Die Unterscheidung von voraussetzungsfreiem und voraussetzungsreichem Denken war nicht weniger wirkungsvoll. So wurde zum Beispiel die analytische Philosophie im 19. Jahrhundert nicht zuletzt gegründet, um die Mathematik auf eine sichere Grundlage zu stellen – mit anderen Worten: vom voraussetzungsvollen zum voraussetzungsfeien Denken zu führen. Was Platon hier entlang dieser Linie in wenigen Sätzen entwirft, ist ein komplettes metaphysisches System. Kant braucht dafür mehr als 850 Seiten in der Kritik der reinen Vernunft.
Was ist Metaphysik?
Hier ist die nächste Erklärung für einen Grundbegriff der Philosophie fällig! Ich hatte ihn schon ein paar Mal erwähnt aber noch nicht erklärt: Metaphysik. Der Begriff geht auf Aristoteles zurück und der Legende nach ist er zufällig entstanden, da so einfach das Buch genannt wurde, das im Regal hinter Aristoteles‘ Buch über Physik stand. Wenn die Geschichte wahr ist, dann ist das ein wirklich ungewöhnlich großer Zufall. Denn der Begriff ist zugleich sehr passend für diese philosophische Disziplin. Aristoteles nannte die Metaphysik „die Lehre von den ersten Prinzipien oder Ursachen“. Die Metaphysik ist die Lehre von allem, was sich nicht in der physischen Welt beweisen lässt. So Fragen wie: „Warum gibt es die Welt?“, „Was war vor dem Urknall?“, „Was ist das Sein und was das Nichts?“ oder „Gibt es einen Gott?“ sind typische metaphysische Fragen. Wenn Platon also lehrt, dass es in der Welt quasi eine Hierarchie davon gibt, wie cool die verschiedenen Existenzmodi sind und die bei äußerst uncoolen Bildern, Spiegelungen und Schatten anfängt über semi-coole wahrnehmbare Gegenstände und schon ganz coole mathematische Gegenstände bis zu den extrem coolen Ideen reicht, dann ist das eine metaphysische Lehre. Und es erklärt nebenbei auch, warum man die platonische Akademie erst betreten durfte, wenn man Geometrie beherrschte. Denn in der Akademie ging es nur um die Ideen, um das voraussetzungsfeie Denken. Um dafür bereit zu sein, sollten die angehenden Philosophen schon die Linie entlanggeschritten sein.
Das fehlende Gute
Insgesamt ist das Liniengleichnis also enorm beeindruckend. Warum habe ich also behauptet, dass Platon besoffen war, als er es niederschrieb? Na, weil er uns eigentlich erzählen wollte, was das Gute ist! Aber alles, was ich euch erzählt habe, hat überhaupt nichts mit dem Guten zu tun!
Bei Platoninterpreten gibt es die weit verbreitete Theorie, dass Platon das Gute zum voraussetzungsfreien Denken zählt. Das ist schön und gut, aber das schreibt er hier erstens nicht, sondern deutet es allenfalls über den Kontext an und zweitens ersetzt er damit schon wieder nur eine begriffliche Seifenblase durch eine andere. Also lasst uns dieses Gleichnis einfach hinter uns lassen und an der Linie weiter entlanggehen. Dies allerdings erst in der nächsten Folge, wenn wir dann endlich zum berühmten Höhlengleichnis kommen und dort vielleicht erfahren, wie wir die drei Gleichnisse doch noch unter einen guten Hut bekommen.
Wenn euch das hier gefallen hat, dann drückt doch mal unten auf den „Teilen“ Link und erzählt auf Facebook von diesem Text. Ich danke euch, dass ihr mir eure Zeit geschenkt habt.
Gleich zwei Podcasts, die ich höre, haben sich in letzter Zeit mit philosophischen Grundproblemen herumgeschlagen, zu denen ich ein Wörtchen zu sagen habe. Zum einen hat der Soziopod sich mit der Existenzphilosophie auseinandergesetzt. Die Zettelwirtschaft quatschte hingegen den Welt-Nichts-Tag durch. Beide Podcasts wurden dadurch auf Grundfragen der Erkenntnistheorie zurückgeworfen und bemühten sich um Antworten auf: „Was ist das Sein?“ und „Was ist das Nichts?“.
Nichts und Sein, was seid ihr? Bild von mir.
Seiendes abseits vom konkret Seienden und die Existenz des Nichts
Das führte sie ins Herz der ungeheuren Schlacht, die die Philosophen nun seit 2500 Jahren schlagen. So fragte Dr. Köbel an einer Stelle des Soziopods, was denn das „Seiende“ abseits eines „konkret Seienden“ sei. Wie man sich das „Sein“ vorstellen kann, ohne sich die Existenz eines bestimmten Dinges vorzustellen, sondern eben das „Sein“ an sich! Demgegenüber fragten sich Jens Fischer und Wastl von der Zettelwirtschaft solche Fragen, wie: Was kann ich mir unter dem „Nichts“ vorstellen? Gibt es das „Nichts“ an sich? Und: Wenn es „Nichts“ nicht gibt, wie kann dann nach dem Tod nichts (oder Nichts?) kommen?
Die Ergebnisse, die die vier Herren hinter ihren Mikrofonen erlangen, sind sehr hörenswert. Allerdings habe ich auch noch meinen Senf dazuzugeben. Denn ich hänge einer philosophischen Strömung an, die sich analytische Philosophie nennt. Die analytische Philosophie ist in akademischen Diskursen mittlerweile absoluter Mainstream, wird im Bild, das die Öffentlichkeit hierzulande von Philosophie hat, aber zumeist ignoriert. Das liegt vor allem daran, dass die analytische Philosophie eine angelsächsisch zentrierte Angelegenheit ist und die populärsten kontinentaleuropäischen Philosophen eben keine Analytiker waren.
Die Sprache ist kein Spiegel der Natur
Was macht diese analytische Philosophie nun aus? Die große Gemeinsamkeit ist, dass sie den Linguistic Turn vollzogen hat. Demnach sind alle unsere philosophischen Probleme zunächst einmal sprachliche Probleme, denn nur mit Sprache kann ich die Welt erfassen. Die Sprache ist aber kein Spiegel der Natur, sondern hat eine eigene interne Struktur, die sie der Welt überstülpt. Daher sind die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt.
Glaubt ihr nicht? Denkt ihr, ich verwechsle Linguistik mit Philosophie? Es geht doch eigentlich um existenzielle Fragen und nicht darum, wer was wie sagt?
Nun, viele unsere philosophischen Probleme sind darauf zurückzuführen, dass die Sprache feiert. Wir verwenden Wörter falsch und heraus kommen irgendein Unsinn und Beulen, die sich unser Verstand beim Anrennen gegen die Grenzen unserer Sprache geholt hat. Und „das Sein“ und „das Nichts“ sind zwei hervorragende Beispiele dafür…
Substantivierung, Existenzquantor und Negation
Betrachten wir das „Sein“ und das „Nichts“ auf einer sprachlichen Ebene, so fällt zunächst einmal auf, dass beides Substantivierungen sind. Das Substantiv „Sein“ ist verwandt mit dem Verb „sein“ und und das Substantiv „Nichts“ ist verwandt mit dem Adverb oder Partikel (je nach Kontext) „nicht“. Es ist nämlich eine Grundregel unserer Sprache, dass ich aus jedem Wort ein Substantiv machen kann: „Das Sein, das Nichts und ihre Kumpel das Und und die Ihre trafen sich auf einen Äppler im Gemalten Haus.“.
Seht ihr? Und niemand kommt auf die Idee das „Und“ oder die „Ihre“ semantisch derart aufzuladen, wie es dem „Sein“ und dem „Nichts“ widerfährt. Wenn wir also zu wirklicher Erkenntnis kommen wollen, dann dürfen wir uns nicht um das „Sein“ und das „Nichts“ scheren, denn die sind nur gordische Knoten in der Sprache. Philosophisch fruchtbar wird es erst, wenn wir uns um „sein“ und „nicht“ kümmern.
Machen wir das zunächst mit „sein“. Logisch betrachtet, scheint „sein“ ein Prädikat zu sein: „Daniel ist“. Wir haben ein Objekt „Daniel“ dem schreiben wir eine Eigenschaft zu, nämlich „zu sein“. Genauso, wie wir Daniel auch die Eigenschaft zuschreiben können, ein großer Philosoph zu sein. Aber, hoppelalala, da fällt uns auf, dass sich das „Sein“ schon wieder in diesen Satz hineingeschlichen hat. Das ist aber eine dieser sprachlichen Verwirrungen, denn unsere Sprache braucht ein Bindeglied zwischen „Daniel“ und „ein großer Philosoph“.
Idealsprachlich könnten wir das ganze auch auflösen in:
x = Daniel
x = großer Philosoph
Wir haben also ein x, dem wir die Eigenschaften zuschreiben, Daniel zu sein und ein großer Philosoph zu sein. Die philosophisch wirklich spannende Frage ist, können wir unserem X auch die Eigenschaft zuschreiben zu sein:
x = sein
Das wirkt nicht nur komisch, sondern ist es auch. Und das liegt daran, dass das „Sein“ kein Prädikat ist, keine Eigenschaft. Das Sein ist stattdessen die Voraussetzung dafür, das wir überhaupt Eigenschaften zuschreiben können, ein sogenannter Existenzquantor:
E x
Bevor wir von Daniel sagen können, dass er ein großer Philosoph ist, müssen wir erst einmal sagen, dass er existiert. Idealsprachlich muss es also heißen:
E x
x = Daniel
x = großer Philosoph
Es existiert ein X. Dieses X ist Daniel und dieses x ist ein großer Philosoph. Und deshalb können wir nicht über das „Sein“ an sich sprechen, ohne die Sprache zu verbiegen. Denn das Sein ist keine Eigenschaft, die wir einem Objekt zuschreiben können. Sondern nichts weiter als die Feststellung, dass ein ganz konkretes Objekt, dem wir Eigenschaften zuschreiben wollen, auch wirklich existiert.
Können wir hieraus jetzt auch Erkenntnisse für das „Nichts“ gewinnen? Klar!Ihr ahnt es sicher schon:
x = nicht
… ist genauso unsinnig, eine Verwirrung unserer Sprache, denn „nicht“ ist genauso wenig ein Prädikat wie „sein“. Es ist logisch betrachtet einfach eine Negation:
-
Und unsere idealsprachliche Formel ist jetzt endlich komplett:
E x
x = Daniel
x = - (großer Philosoph)
Unser x existiert zwar und es ist ein Daniel, aber Daniel ist kein großer Philosoph.
Zwei Schlussbemerkungen:
1. Das, was dem „Nichts“ noch am nähesten kommt, ist dies:
- E x
Wenn ich also die Existenz von etwas verneine. Das machen wir etwa, wenn wir sagen, dass es kein Leben nach dem Tod gibt:
- E x
x = Leben nach dem Tod
Deshalb: kann es „Nichts“ als Ding nicht geben, aber nach dem Tod trotzdem nichts kommen. Ob das der Fall ist, ist allerdings eine ganz andere Frage. Fest steht jedenfalls: Das Nichts ist kein Ding, sondern die Verneinung eines Dings.
2. Es gibt ein berühmtes philosophisches Problem von Bertrand Russell, auf das wir gerade die Antwort kennengelernt haben: Es gibt in der Logik nur zwei Wahrheitswerte: Entweder etwas ist wahr oder es ist falsch.
Dennoch scheint uns der Satz „Der gegenwärtige König von Frankreich ist kahlköpfig“ gewissermaßen falscher zu sein, als „Der gegenwärtige Präsident von Frankreich ist kahlköpfig“ und zwar ganz unabhängig vom aktuellen Beziehungsstatus zwischen Herrn Hollande und seinem Haupthaar.
Der Unterschied ist ganz einfach jener zwischen
- E x
und
x = - kahlköpfig
Ich bin … äh doch noch nicht … raus.
Denn im ersten Drittel des Textes habe ich vier Wittgenstein-Zitate versteckt. Findet ihr Sie?
Literatur:
Bertrand Russell: On denoting. (Hier im Volltext frei zugänglich. Sehr geil!)