Heute möchte ich zusammen mit euch den skeptischen Zweifel überwinden, dass Erkenntnis nicht möglich ist, dass wir also nicht zwischen wahr und falsch unterscheiden können und euch stattdessen Platons Ausweg zeigen: Die Anamnesislehre.
Wir hatten beim letzten Mal Sokrates und seine Freunde kurz vor Sokrates’ Tod hoffnungslos zurückgelassen. Die Analogie vom Instrument und den Tönen, die es erzeugt, zum menschlichen Körper und seiner Seele hatte ihnen so sehr eingeleuchtet, dass sie nun schon fast von der Sterblichkeit überzeugt sind. Sie waren so enttäuscht, dass sie fragten, ob man sich denn nie sicher sein kann und ob dann das Philosophieren überhaupt Sinn macht.
Platon nutzt diesen emotionalen Tiefpunkt, um das Wesen der Philosophie zu diskutieren und an dieser Stelle wollen wir mit der Untersuchung fortfahren und schauen, ob wir nicht doch Grund zur Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod haben.
Das Sprachspiel des Beweisens
Platon betont noch einmal, das sokratische Credo, dass ein Irrtum in der Philosophie nie ausgeschlossen ist. Doch daran schließt er ein glühendes Plädoyer für die Philosophie an: Denn auch wenn mit dem Philosophieren einhergeht, dass wir immer wieder lieb gewonnene Wahrheiten zu Fall bringen, sollen wir nicht daran Zweifeln, dass es DIE WAHRHEIT ™ gibt. Alle Widerlegungen liegen nur daran, dass wir kleine Menschen fehlbar sind. Das Scheitern eines Beweises bedeutet nicht, dass das „Sprachspiel des Beweisens“ wie Wittgenstein sagen würde, an sich scheitert.
Das ist wieder ein ebenso schöner wie wichtiger Gedanke. Besonders in unseren Tagen wird das wissenschaftlich-logische Denken aus esoterischen Kreisen immer wieder angegriffen mit dem Hamlet-Zitat:
„Es gibt mehr Ding‘ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt,“
Dieser Satz ist zweifelsfrei wahr, das sagt uns Platon hier im Phaidon. Aber er ist nicht deshalb wahr, weil die Logik an sich in irgend einer Form falsch wäre, sondern weil wir Menschen unwissend und fehlbar sind.
In diesem Gedanken steckt die Hoffnung, die Sokrates’ Freunden verloren ging allerdings auf ganz andere Art und Weise: Es besteht die Chance, dass wir Menschen eines fernen Tages die Welt wirklich verstehen werden.
Schon wieder Anamnesislehre
Als Platon dann mit der unsterblichen Seele fortfährt ist sein Beweis leider nicht mehr so überzeugend wie sein Plädoyer für die Logik. Als Gegenargument gegen die These, dass die Seele der Stimme der Gitarre gleicht, bringt er wieder seine Anamnesis-Lehre vor. Wenn die Seele schon vor der Geburt existiert hat, dann kann die Analogie zur Gitarre nicht stimmen, denn deren Stimme hat nicht vor dem Bau des Instruments existiert. Das ist ein sehr schwaches Argument, da es auf sehr wackeligen Beinen steht. Erinnert euch: Die Anamnesislehre sollte erklären, woher wir implizites Wissen haben. Ich habe aber beim letzten Mal bereits eine alternative Erklärung dafür gegeben, warum wir über implizites Wissen verfügen.
Allerdings bringt Platon noch ein weiteres Argument gegen die Analogie vom Instrument: Ein Instrument kann schlecht gearbeitet sein, dann wird es nicht gut klingen, eine weniger starke Stimme haben. Aber ein Mensch kann nicht weniger beseelt sein. Für die Seele gibt es nur zwei Werte: Entweder hat ein Ding eine Seele oder nicht.
Absurderweise gräbt sich Platon dann selbst das Wasser ab, indem er der Seele dann doch wieder ein Spektrum zuweist: Sie kann mehr oder weniger gut sein. Die Stimme könne das nicht. Ääähm …? Hat er nicht eben buchstäblich das Gegenteil behauptet? Ich frage mich, ob er nur wissen wollte, ob wir noch aufpassen. Anyway …
Platon fährt fort, dass die Stimme vom Instrument beherrscht werde, wie wir ja eben schon sahen: Ist das Instrument schlecht gearbeitet, dann ist die Stimme schlecht. Aber bei der Seele sei es umgekehrt: Sie herrscht über den Körper. Wenn wir bedenken, dass Platon natürlich noch keine Ahnung von den Prozessen im Gehirn haben konnte, dann ist diese Gegenüberstellung ziemlich einleuchtend: Ich muss die Saiten einer Gitarre anschlagen, um den Ton zu erzeugen. Aber meine Seele, (oder moderner) mein Denken veranlasst meinen Arm überhaupt erst zum Anschlagen der Saite. Mein Denken kontrolliert also meinen Körper. Das Bild vom Instrument würde aber nur passen, wenn die Töne gleichsam spontan entstünden und so die Stimme der Gitarre die Saiten zum Klingen bringt.
Die Deduktion der Unsterblichkeit
Schließlich kommt Platon aber zu seinem finalen und größten Argument für die Unsterblichkeit der Seele. Dafür führt er den nächsten Hammerbegriff ein, der in der Philosophiegeschichte bis heute immer wieder diskutiert werden wird, er baut quasi den nächsten Todesstern. Dieser Begriff ist der des Wesens. Platon sagt, dass Dinge ein Wesen haben im Gegensatz zu wechselnden und nur zufälligen Eigenschaften. Sein Beispiel ist der Schnee: Schnee kann uns in den verschiedensten wechselnden Erscheinungsformen begegnen: Er kann pappig sein oder pulverig, er kann in großen Flocken oder kleinen fallen, er kann schneeweiß sein, bläulich, sogar schwarz und manchmal leider auch gelb. Das sind alles zufällige Eigenschaften von Schnee, aber der Schnee hat im Gegensatz zu diesen zufälligen Eigenschaften auch ein Wesen: Er ist gefroren. Es kann keinen Schnee geben, der nicht gefroren ist.
Platon folgert daraus, dass das Wesen eines Dinges nicht in sein Gegenteil verwandelt werden kann. Dann fragt er weiter: Was ist denn nun das Wesen der Seele? Die Antwort lautet ganz klar: Sie lebt. Erinnert euch an die Unterscheidung von Anaxagoras, wir lernten sie bei Sokrates kennen: Beseelte Dinge sind solche, die leben. Unbeseelte Dinge hingegen leben nicht.
Nun braucht Platon nichts weiter zu tun als das, was wir bei Aristoteles als den Syllogismus kennenlernen werden. Er geht von drei Prämissen aus:
Das Wesen eines Dinges lässt sich nicht in sein Gegenteil verkehren.
Das Wesen der Seele ist das Leben.
Das Gegenteil von Leben ist der Tod.
Daraus folgt zwingend: Die Seele ist unsterblich.
Lasst die Sektkorken knallen! Wir sind unsterblich! Oder besser nicht? Vielleicht ist Alkohol eine Sünde und wir müssen im Jenseits dafür büßen …? Egal, wir sind unsterblich!
Ohne Witz: Diese Schlussfolgerung ist brillant und ein schlagender Beweis. Ist damit das Thema durch? Warum gibt es trotzdem Atheisten? Sind die nur dumm? Nun, auch wenn dieser Schluss zwingend ist, also nicht falsch sein kann, so kann trotzdem etwas anderes falsch sein: Platons Definition von Seele, Wesen, Leben und Tod. Wer partout beweisen will, dass wir alle verdammt sind, der muss beweisen, dass Platon wenigstens einen dieser vier Begriffe falsch definiert hat.
Aber das ist mir zu düster, das überlasse ich anderen, die wir in späteren Folgen dieser Serie noch zu Wort kommen lassen. Hier ende ich lieber auf dem schönen Akkord, den die Seelenstimme von Platons Gitarrenkörper angeschlagen hat.
Heute möchte ich mal ein ganz lockeres, unstrittiges Thema betrachten: Es geht nur um die Kleinigkeit des Lebens nach dem Tod.
Der Kerker der Seele
Im Zuge der Anamnesislehre hatten wir Platons These von der Unsterblichkeit der Seele bereits kennengelernt. Dort hatte Platon die Existenz von implizitem Wissen damit erklärt, dass die Seele vor der Geburt die Ideen geschaut hat.
Nach Platon ist der Mensch ein zweigeteiltes Wesen, das aus einem Körper und einer Seele besteht. Im Augenblick des Todes, so Platon, trennt sich die Seele vom Körper. Während der Körper sterbe, lebe die Seele ewig. Platon bezeichnet den Körper sogar als den Kerker der Seele.
Diese Vorstellung ist der sogenannte Leib-Seele-Dualismus. Ich weiß, langsam beginnt es zu nerven, aber der Leib-Seele-Dualismus ist das nächste philosophische Konzept Platons, das die Jahrtausende überdauert hat und bis heute diskutiert wird. Sicher hat Platon ihn nicht erfunden, sondern Ansätze ausgearbeitet, die sich schon in der griechischen Tradition fanden. Besonders die Orphiker und die Pythagoreer dürften hier große Einflüsse auf Platon ausgeübt haben.
Aber zum Beispiel findet sich der Leib-Seele-Dualismus nicht in der jüdisch-christilichen Tradition. Dort glaubte man ursprünglich tatsächlich an die Wiederauferstehung des Fleisches. Und erst durch Platons Einfluss auf die Philosophie des Mittelalters ist die Vorstellung von der Seele auch ins Christentum eingesickert.
So glaubt heutzutage bestimmt kaum jemand daran, dass irgendwann die Toten sich aus den Gräbern erheben – außer vielleicht bei einer Zombieapokalypse. Aber die Vorstellung, dass unsere Seele nach dem Tod weiterlebt, ist weit verbreitet. Der Platon-Experte Walter Bröcker vertritt sogar die These, dass erst die Verbindung von Platonismus und Christentum dem Christentum zu seinem Erfolg verholfen hat, sodass es zu einer Weltreligion werden konnte. Ins gleiche Horn stößt auch Nietzsche, der das Christentum einen Platonismus fürs Volk nannte.
Gibt es ein Leben nach dem Tod?
Soviel zur philosophiehistorischen Dimension des Ganzen. Aber wie können wir da auch philosophisch etwas herausholen. Der wichtige Punkt dafür – ich wiederhole es erneut – ist, dass uns Philosophen im Gegensatz zur Religion reiner Glaube nicht reicht. Wir stellen stattdessen Hypothesen auf und beweisen oder widerlegen sie. Was also sind Platons Beweise für die unsterbliche Seele?
Die Unsterblichkeitsbeweise des altgriechischen Hipsterbartträgers befinden sich im Dialog Phaidon. Im Phaidon wird die Geschichte von Sokrates’ Hinrichtung erzählt und dies zum Anlass genommen, darüber zu philosophieren, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Springen wir mal in den Text.
Das erste, was mir hier auffällt, ist, dass Platon in diesem Dialog unmittelbar vor dem Beginn der Beweisführung für eine unsterbliche Seele noch einmal die Sokratische Lehre von der Ungewissheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit wiederholt: Sokrates kommt auf sein Daimon zu sprechen, seine innere Stimme, die ihm ins Gewissen redet, und gibt zu, dass er sich nicht sicher ist, ob er sie richtig verstanden habe. Den Daimon hatte Platon in der Apologie des Sokrates erklärt. Sokrates sagt dort, dass sein Gewissen ihn in Form einer inneren Stimme immer wieder antreibe, das Richtige zu tun. Der Daimon leitet Sokrates.
Dass der Daimon diesmal unsicher ist, steht nicht aus Zufall an dieser Stelle, sondern weil Platon uns daran erinnern will, dass bei allen Beweisen stets die Möglichkeit besteht, dass wir uns irren.
Die Analogie von den Gegensätzen
Platon beginnt seine Beweisführung dann damit, dass alles in der Welt aus Gegensätzen besteht und dass diese Gegensätze immer ineinander übergehen. Tag und Nacht, Sommer und Winter, Schlafen und Wachsein. So gehen auch Leben und Tod ineinander über. Das ist übrigens eine Analogie, also die Schlussfolgerung aufgrund einer Ähnlichkeit. Und genau darin besteht auch das Problem: Diese Form der Schlussfolgerung lässt sich nicht vorbehaltlos auf alles anwenden. Das wird in dem Moment einleuchtend, wenn ihr an den Wal denkt aus dem aufgrund seiner äußerlichen Ähnlichkeit ein Walfisch wurde, obwohl er doch zu den Säugetieren gehört!
Auch auf Platons konkreten Fall bezogen, dass sich alles ineinander verwandelt, ist die Analogie problematisch, denn es finden sich ganz leicht Beispiele, bei denen es nicht so ist: Eine Raupe wird zum Schmetterling, nicht umgekehrt. Okay, dem Schmetterling könnten wir noch eine Reinkarnation unterstellen. Aber besonders, wenn wir den Tod als Analogie zum Kaputtgehen sehen, geht das ganze nicht mehr auf: Mir zerbrechen ständig Gläser, ohne wieder ganz zu werden. Meine Fahrradpedale ist nach einem Sturz verbogen. Ich warte also einfach mal darauf, dass sie sich wieder in ihr Gegenteil entbiegt, oder wie? Hier passt ja schon der Begriff des Gegenteils gar nicht mehr. Was ist denn das Gegenteil einer verbogenen Pedale?
Die Anamnesis-Lehre
Anyway: Aus diesem Argument der ineinander übergehenden Gegensätze leitet Platon sein nächstes ab: Wenn es nur Sterben und keine Wiedergeburt gäbe, dann wären bald alle Menschen tot. Das ist sogar auf einem sehr komplexen Level richtig: Lebewesen zerfallen nach ihrem Tod in ihre Bestandteile. Aus diesen Bestandteilen ziehen Bakterien, Pflanzen und Pilze ihre Nährstoffe und erzeugen so neues Leben. Aber uns geht es ja um das Fortbestehen unseres Ichs, unseres Bewusstseins oder unserer Seele und nicht darum, Kompost zu werden. Und auf diesem Level erschließt sich mir nicht, was Platon hier sagt.
Als nächstes Argument im Phaidon folgt Platons Lehre, dass Lernen Wiedererinnerung. Und da fällt mir ein: Wir haben noch immer nicht geklärt, woher wir denn implizites Wissen bekommen, wenn wir Platons Vorstellung ablehnen, dass unsere Seele vor der Geburt die Ideen geschaut hat. Nun, die Antwort darauf lautet ganz einfach: Auch implizites Wissen lernen wir, es ist nur eine andere Art von Lernen. Nehmen wir eine Fahrradfahrerin: Sie kann auf dem Fahrrad das Gleichgewicht halten, weil sie über implizites Wissen verfügt, wie das geht. Das hat sie mühsam und wahrscheinlich auch schmerzhaft lernen müssen. Aber sie kann nicht unbedingt sagen, welche physikalischen Kräfte an welcher Stelle wie wirken, denn das müsste sie ganz unabhängig vom Radfahren ganz anders lernen.
Die zusammengesetzte Seele
Platon trägt persönlich den Einwand vor, dass selbst wenn wir an seine Anamnesis-Lehre glauben, daraus noch lange nicht folgt, dass die Seele auch nach dem Tod fortlebt. Sie könnte auch im Moment des Todes wie von einem Windstoß davongeweht werden. Platon fragt daraufhin, welche Dinge denn zerstieben, also von Wind auseinandergerissen werden können. Seine Antwort: Nur was zusammengesetzt ist, kann auch zerteilt werden. Eine echte Einheit hingegen ist unteilbar und die Seele ist eine solche Einheit.
Dass Zusammengesetztes auch zerteilt werden kann, folgt in der Tat logisch aus der Wortbedeutung. Aber gilt auch der Umkehrschluss? Und folgt aus der Unteilbarkeit auch die Unsterblichkeit? Kant hat dagegen eingewendet, dass zum Beispiel Helligkeit unteilbar ist. Dass sie aber – wie in der Abenddämmerung – verblassen kann, ohne dass sie dabei in Teile zerfällt. Analoges könnte auch mit der Seele geschehen.
Platon fährt aber fort: Unteilbar sind, wie wir schon sahen, die Ideen. Entsprechend schließt Platon, sind die Erscheinungen teilbar. Ferner sind sie veränderlich während die Ideen unveränderlich sind. Schließlich sind Erscheinungen wahrnehmbar, Ideen müssen gedacht werden. Die Frage die sich direkt daran anschließt, ist: Was ist die Seele? Eher Idee oder eher Erscheinung?
Wir können die Seele nicht sinnlich wahrnehmen. Platon kann aber auch nicht sagen, dass die Seele zu den Ideen gehört, denn dann währe sie unveränderlich. In diesem Fall kann er sich aber seine Ethik in die Haare schmieren. Denn Menschen zu sagen, wie sie sich verhalten haben, macht ja nur Sinn, wenn sie ihr Verhalten auch ändern können. Deshalb cheatet Platon genauso als würde er mit Eigenblut gedopt die Tour de France gewinnen und sagt, dass die Seele mit den Ideen verwandt ist. Okayyyy, klingt überhaupt nicht zurechtgebogen … Nun gut, jedenfalls folgert er aus dieser Verwandtschaft wieder die Unsterblichkeit der Seele.
Der Gitarrenkörper und die Seelenstimme
Aber auch hier bringt Platon selbst ein sehr gutes Gegenbeispiel: Das Verhältnis von Körper und Seele könnte das Gleiche sein, wie dasjenige von einer Gitarre und ihrer Stimme. Die Gitarre und ihre Saiten sind etwas körperliches, die Stimme, also die Töne, die sie von sich gibt, hingegen ist körperlos. Aber dennoch ist die Stimme an den Gitarrenkörper gebunden und wenn dieser kaputtgeht, dann existiert die Stimme auch nicht länger. Ich finde das ein wunderschönes Bild für die Seele, obwohl es uns die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod nimmt.
Und genau das geschieht an dieser Stelle auch im Phaidon: Den am Gespräch Beteiligten wird die Hoffnung genommen, dass Sokrates, der nur noch Augenblicke zu leben hat, sich auf das Jenseits freuen kann. Nachdem sie zuvor noch so guter Dinge waren, hat auch ihnen das Bild vom Instrument so sehr eingeleuchtet, dass sie enttäuscht anmerken, ob man sich denn nie sicher sein kann. Ob es Weisheit nicht geben kann.
Und mit diesem existentiellen Zweifel lasse ich sowohl Sokrates und sein Freunde als auch euch heute zurück. Nächstes Mal werden wir nach all diesen gescheiterten Versuchen uns fragen, was Philosophie überhaupt kann und soll. Verzagt nicht, denn daraus werden wir neuen Mut schöpfen, um am Ende vielleicht doch noch zu beweisen, dass die Seele unsterblich ist.
Heute möchte ich zusammen mit euch den skeptischen Zweifel überwinden, dass Erkenntnis nicht möglich ist, dass wir also nicht zwischen wahr und falsch unterscheiden können und euch stattdessen Platons Ausweg zeigen: Die Anamnesislehre. Hier als Video oder darunter als Text.
Erinnert ihr euch noch an die Mäeutik von Sokrates? Also die Theorie, dass wir Wissen schon in uns tragen und man es nur – zum Beispiel durch geschicktes Fragen – zur Welt bringen muss? Ich hatte damals im dritten Sokrates-Teil die Frage gestellt, wo das Wissen denn herkommt, aber ich hatte euch keine Antwort darauf geliefert nur eine Analogie zu unseren heutigen Auffassungen von impliziten und expliziten Wissen.
Nun, Platon gibt eine Antwort: Dieses Wissen kommt daher, dass unsere Seele vor unserer Geburt die Ideen an einem überhimmlischen Ort, einem topos hyperuranios geschaut hat. Das ist die sogenannte Anamnesis-Lehre. Also die Lehre von der Wiedererinnerung. Implizites Wissen beweist nach Platon sowohl dass die Seele unsterblich ist, als auch, dass Ideen existieren. Hier benutzt er das Bild von der Tafel wieder: Unser Erkenntnisvermögen kommt nicht als leere Tafel (als Tabula Rasa) auf die Welt, auf die dann die Sinneseindrücke eingeprägt werden, stattdessen ist die Tafel bereits vorgeprägt. Sie strukturiert von Anfang an die Sinneseindrücke gemäß ihrer Vorprägung.
Jetzt mal ganz abgesehen von dem ganzen metaphysischen Unterbau. Die Erkenntnis, dass unsere Seele, unser Geist oder unser Gehirn keine Tabula Rasa ist, sondern selbst etwas mitbringt, um die Sinneseindrücke zu strukturieren, ist eine verdammt gute Theorie. Eine Theorie, die noch heute über 2300 Jahre später Bestand hat. Kant macht zum Beispiel klar, dass wir das Kausalitätsprinzip nicht empirisch beweisen können. Denn alle unsere Beweismethoden setzen die Existenz der Kausalität immer schon voraus. Mit anderen Worten: Unser Geist bringt das Konzept der Kausalität hervor. Oder in Platons Worten: Wir haben die Idee der Kausalität geschaut und daher war sie in unsere Seele vorgeprägt.
Ein anderes Beispiel: Der Linguist und Philosoph Noam Chomsky vertritt die Theorie, dass uns die Sprache angeboren ist. Und zwar glaubt er nicht nur, dass dem Menschen ein abstraktes Sprachvermögen angeboren ist, sondern meint, dass wir schon die Grammatik mit auf die Welt bringen und als Kleinkind nur lernen, zu differenzieren, welche der möglichen Grammatiken wir in unserer Sprachgemeinschaft verwenden. Sein Argument dafür ist, dass die Zeit, in der das Kleinkind Sprache lernt, zu kurz ist für die Leistung, die es schon mit 1,5 bis 2 Jahren hervorbringt. Obendrein ist nach Chomsky die Datenmenge, die das Kind als Input bekommt, viel zu gering, um so ein komplexes System wie die Grammatik zu erlernen. Er vergleicht die Komplexität der Grammatik einer Sprache mit der Quantenphysik. Und kein Kleinkind ist in der Lage, Quantenphysik zu lernen, aber alle lernen, zu sprechen.
Schließlich geht auch die Psychologie heute davon aus, dass unsere Gehirne einiges mit auf die Welt bringen, etwa die Fähigkeit, Muster zu erkennen. Ich hoffe, ihr versteht jetzt, dass Platon ein verdammtes Genie war und warum ich meine Platon-Staffel mit dem Zitat Alfred North Whiteheads begonnen habe:
„Die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas lautet, daß sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht.“
Zurück zur Anamnesis-Lehre: In Platons Dialog ‚Menon‘ lässt Sokrates einen Sklaven ohne schulische Ausbildung geometrische Aufgaben lösen. Durch geschicktes Fragen führt Sokrates ihn zur Lösung. Da der Sklave diese Aufgaben nicht in dieser Welt gelernt hat, schließt Platon, dass seine Seele die Lösungen schon vor der Geburt gekannt haben muss und nun bloß dazu gebracht werden muss, sich wieder zu erinnern.
Platons Antwort auf die große Frage: Was ist Wissen? Lautet also: Die Wiedererinnerung an die Ideen, die unsere Seele vor ihrer Geburt geschaut hat. Das ist ein eleganter Ausweg aus dem Münchhausen-Trilemma, wenn man zweierlei akzeptiert:
Dass die Seele unsterblich ist – womit wir vielleicht in der Zukunft ein Problem bekommen werden.
Doch bevor wir uns Platons Unsterblichkeitsbeweisen und anschließend seinem Gottesbeweis zuwenden, werden wir beim nächsten Mal erst noch den Themenblock Erkenntnistheorie abschließen, indem wir uns fragen, was der alte Grieche zum Teilbereich der Wissenschaftstheorie zu sagen hat.
Heute möchte ich mich der Definition von Wissen widmen, die ihr alle kennt, wenn ihr mal ein Semester Philosophie studiert habt: Wissen ist wahre begründete Meinung. Das ganze wie immer hier als Video oder darunter als Transkript.
Geltung und Genese
Beim letzten Mal hatten wir Platon darüber grübeln sehen, wie er den Irrtum richtig definieren kann. Zwar führten sämtliche Versuche Platon immer wieder in Sackgassen, aber trotz aller Probleme haben wir den Begriff zumindest strategisch eingekreist und das ist ja auch schon mal was wert. Somit sind unsere logischen Armeen nun in Position und wir widmen uns endlich der eigentlichen These, dass Wissen wahre Meinung ist.
Platons Sokrates eröffnet das Feuer mit dem, was Leibniz später das „Geltung und Genese“-Argument nennen wird: Die Frage, ob wir wahre Meinung auch Wissen nennen können, wenn sie falsch zustande gekommen ist. Sokrates’ Argument ist das griechische Gerichtswesen: Wie wir in den Sokrates-Texten schon sahen, waren rhetorische Fähigkeiten dort das A und O, da sich jeder selbst verteidigen musste. Das, was Ankläger und Verteidiger vor griechischen Gerichten machen, ist Überreden, denn die Richter werden nicht unbedingt mit den besten Argumenten zu ihrem Urteil geführt (also überzeugt), sondern mit den trickreichsten. So kann es kommen, dass die Richter ein gerechtes Urteil sprechen, aber dies geschieht nicht aus Wissen heraus sondern eher zufällig. Es scheint also nicht ganz unwichtig zu sein, wie eine wahre Meinung zustande gekommen ist.
Zur wahren Meinung muss also noch etwas hinzukommen, damit sie Wissen werden kann. Theaitetos fällt auch ein, was das sein könnte und so findet Platon die Definition für Wissen, die noch heute jede Studentin im ersten Semester Philosophie lernt: Wissen ist wahre, begründete Meinung.
Lasst diesen Gedanken mal eine Minute sacken, denn er ist sehr wichtig. Im Internet ist jeder Mensch zu einem potentiellen Massenmedium geworden. Es wimmelt von Meinungen. Aber oft wird zumindest eines der beiden Prädikate vergessen, die aus Meinungen auch Wissen machen. So wimmelt es von Verschwörungstheorien im Internet, die sich schon nach einem ganz schnellen Realitätsabgleich als unwahr erweisen. Beispielsweise wenn pietätlose Menschen behaupten, dass die Jugendlichen Amoklaufüberlebenden aus Florida, die sich jetzt für strengere Waffengesetze stark machen, Schauspieler wären.
Auf der anderen Seite finden sich auf Facebook und Twitter Meinungen, die manchmal sogar wahr sind, denen es aber aufgrund der Kürze und Hastigkeit der Medien an Begründung fehlt. Ein Grund, warum man insbesondere auf Twitter nicht in Diskussionen einsteigen sollte.
Der infinite Regress
War es das jetzt? Ist unsere Untersuchung, was Wissen ist, am Ende? Haben wir eine Definition für Wissen gefunden? Natürlich nicht! Dafür blicken wir mit Platon noch einmal auf die Meinung und fragen, aus was denn Meinungen eigentlich bestehen? Meinungen sind erst einmal Sätze. Die nächste wichtige Frage ist dann: Womit begründe ich einen wahren Satz? Letztlich bleibt mir nie etwas anderes übrig, als einen Satz wieder mit einem anderen Satz zu begründen. Doch dieser andere, zweite Satz, woher weiß ich denn, ob es sich bei dem um Wissen handelt? Denn nur dann kann er ja als Begründung herhalten? Ganz klar: Auch er muss wahr sein und begründet werden. Aber womit begründe ich ihn? Na, mit einem Satz. Und dieser Satz?
Ihr seht, wir haben ein Problem. Und dieses Problem nennt sich der „Infinite Regress“, es ist nicht irgendein, sondern ein riesiges, ein gewaltiges Problem, das uns in der Erkenntnistheorie immer wieder über den Weg läuft. Es verwandelt das Fundament unseres Wissens in Sand.
Dogma
Platons Sokrates versucht einen Ausweg zu finden, indem er von einem Traum erzählt, in dem es ihm erschien, dass es Urelemente gäbe, aus denen unser Wissen abgeleitet werden kann, die aber selbst kein Wissen sind, da sie nur benannt aber nicht bewiesen werden können.
Was zum Henker soll dieser metaphysische Quatsch denn jetzt schon wieder sein? Nun, in der Mathematik kennen wir genau solche Urelemente. Erste Sätze, die uns einleuchten, die wir aber nicht beweisen können und von denen wir dann all unsere mathematischen Erkenntnisse ableiten. Mathematikerinnen nennen sie Axiome.
Beispielsweise lautet die Liniendefinition von Euklid: „Eine Linie ist eine breitenlose Länge“. Dieser Satz ist (in der Euklidschen Geometrie) selbst nicht beweisbar, da er als Grundlage für alle anderen Beweise gilt. In der Philosophie nennen wir so etwas ein Dogma: Um dem Infiniten Regresse zu entgehen, breche ich meine Begründung einfach irgendwann ab und erkläre einen meiner Sätze zum Axiom, von dem ich ausgehen will.
Aber Sokrates weißt uns natürlich auf das Problem eines solchen Dogmas hin: Wenn wir unser vermeintliches Wissen aus unerklärbaren Axiomen zusammensetzen, dann ist es letztlich selbst auch unerklärbar. Aber eine unerklärbare Begründung ist letztlich gar keine Begründung.
Zirkelschluss
Daher nimmt Sokrates einen dritten Anlauf: Man kann etwas nicht nur dadurch erklären, dass man sagt, woraus es zusammengesetzt ist, sondern auch dadurch, dass man sagt, was es nicht ist und es so von anderem unterscheidet. Wer ist Rey in Star Wars? Sie ist nicht Kylo Ren oder Finn oder Hans Solo … und so weiter. Aber wenn ich etwas dadurch definiere, was es nicht ist, dann muss ich auch wissen, worin der Unterschied besteht. Rey ist nicht Finn, da sie Macht-sensitiv ist. Aber sie ist auch nicht Kylo Ren, da sie zur guten Seite der Macht gehört und so weiter.
Blöderweise führt uns das ins nächste Problem, denn wir haben gerade Wissen definiert als wahre Meinung und das Wissen darum, worin sich diese wahre Meinung von etwas anderem unterscheidet. Oder kurz: Wissen ist wahre Meinung und Wissen. Das wiederum ist nach dem Infiniten Regress und dem Dogma die dritte Sackgasse in der Definition von Wissen: Der Zirkelschluss.
Der Ausweg
Zirkelschluss, Dogma und Infiniter Regress nennt der Philosoph Hans Albert übrigens das Münchhausen-Trilemma. Nach Hans Albert wird jeder Versuch einer Letztbegründung scheitern, weil er immer ins Münchhausen-Trilemma führt.
Heiliges Spaghettimonster! Ist euch klar, was das bedeutet? Nichts anderes als: Es gibt kein Wissen – zumindest streng genommen. Was machen wir jetzt? Bleibt uns noch etwas anderes übrig, als uns besinnungslos zu besaufen? Können wir wirklich Trumps alternative Facts nicht widerlegen, weil wir am Grunde unserer Argumentation immer auf das Münchhausen-Trilemma stoßen? Gibt es wirklich gar keinen Ausweg?
Nun, Platon bietet uns einen solchen Ausweg in seinen mittleren Dialogen. Wir haben ihn auch schon hier und da mal gestreift. Allerdings wirft uns dieser Ausweg wieder ganz tief in seine Metaphysik und da stellt sich die Frage, ob wir nicht den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Dennoch werden wir uns beim nächsten Mal diesen Ausweg angucken: Die Anamnesislehre.