Die Umdeutungen des Herrn Matussek – Eine Analyse

Ich habe keine Lust alten Menschen, die der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts nachtrauern, die Moral des 21. Jahrhunderts zu erklären. Deswegen halte ich mich meist fern von Artikeln, die Homosexualität „kritisch“ sehen oder traditionelle Werte oder Familienbilder heraufbeschwören wollen. Doch diesmal war es anders. Diesmal ließ mich die Überschrift von Matthias Matusseks Text in der Welt aufhorchen:

„Ich bin wohl homophob. Und das ist auch gut so“

Zu Herrn Matusseks Gunsten muss man einräumen, dass die Überschriften bei Zeitungen in der Regel von Redaktionen gemacht werden. Somit ist sie mutmaßlich nicht auf seinen Mist gewachsen, sondern wurde fremdgedüngt. Allerdings ist sie ein Zitat aus Matusseks Fließtext.

Aber was ist so erstaunlich an dieser Überschrift? Zunächst einmal ist dies ein direkter Diss gegen Herrn Wowereits Outing, der, als er Bürgermeister von Berlin wurde, die Worte sprach: „Ich bin schwul. Und das ist auch gut so.“. Die Welt gibt hier zu verstehen, dass sie Wowereit verabscheut und zwar nicht wegen seiner Politik sondern wegen seiner sexuellen Orientierung.

Die Deutungshoheit

Aber auch sprachanalytisch ist diese Überschrift bemerkenswert. Da ist zunächst einmal das kleine Wörtchen „wohl“, das die Aufgabe hat, sich vom Ausdruck „homophob“ zu distanzieren. Dies ist die Wortwahl der anderen, dabei, so wird impliziert, ist es normal, gegen Schwule und Lesben was auch immer zu haben.

Dies wird gleich durch den zweiten Teil der Überschrift unterstrichen „Und das ist auch gut so“. Dies ist ein normativer Satz, der daherkommt wie ein faktischer. Man kann diesen Satz umformulieren in „Und das sollte auch so sein“. Durch das „sollte“ sieht man, dass jemand hier seine moralischen Vorstellungen zum Ausdruck bringt und Moral ist immer diskutabel. Sie steht nicht fest sondern ist das Ergebnis der konsensualen Antwort auf die Frage „wie wollen wir leben?“. Aber auf diese Frage wollen Matussek und die Welt sich gar nicht erst einlassen (genauso wenig wie Wowereit seinerzeit), daher tauscht er das normative „sollte“ gegen das faktische „ist“. Er macht aus dem Werturteil ein Konstativa, eine Aussage über die Welt. Er versucht so, die Deutungshoheit zu bekommen. Wir sollen gar nicht erst auf die Idee kommen, dass Homophobie etwas Schlechtes ist.

Schattenboxen und Nazikeule

Auch im folgenden Abstrakt des Artikels stecken zwei schöne Sophismen:

„Wer nicht begeistert über Schwule spricht, ist gleich ein Schwulenhasser. Mittlerweile hat Homophobie dem Antisemitismus als schlimmste ideologische Sünde den Rang streitig gemacht“

Der erste Satz ist eine rhetorische Figur, die ich „Schattenboxen“ nennen möchte. Matussek und die Welt versuchen hier ihren Gegnern etwas in den Mund zu legen, was diese gar nicht gesagt haben. Aus der Forderung, die Realität zu akzeptieren, dass es verschiedene sexuale Orientierungen gibt, die natürlich vorkommen und die wir deshalb gesellschaftlich als normal anerkennen sollten, macht Matussek eine Begeisterung. Er versucht hier seine Leser an der Hand zu nehmen und zu der Überzeugung zu führen, dass diese Toleranten fordern, jeder müsse gleichgeseschlechtlichen Sex anstreben, ob das nun seinen sexuellen Vorlieben entspricht oder nicht.

Gefolgt wird dieses Argument von der Nazikeule. Ethiken sind nicht letztbegründbar, weswegen wir in ethischen Diskussionen als mahnendes Beispiel oft auf den Worst Case referieren. Das war zweifellos der Holocaust. Matussek weiß, dass er sich in diese Gefahr begibt, wenn er für Diskriminierung eintritt, deswegen versucht er Gegenargumenten sofort den Wind aus den Segeln zu nehmen: Er sagt, ich weiß, dass ihr mich gleich einen Nazi nennen werdet, aber dann seit ihr nicht besser als jene Menschen, die immer gleich „Antisemitismus“ schreien, also nicht ernst zu nehmen. Das ist aus vielerei Gründen ein garstiges Argument, aber vor allem weil es implizit zum Ausdruck bringt, dass nicht nur Homophobie, sondern auch Antisemitismus voll okay seien…

Das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen: Matussek sagt, das man jetzt nicht mehr bloß Juden nicht hassen darf, sondern auch noch Homosexuelle!

Man wird doch wohl noch sagen dürfen

Nachdem Herr Matussek nun also den Rahmen abgesteckt hat, kann er uns als nächstes direkt ansprechen, indem er uns eine Anekdote erzählt. Um sich dennoch in Sicherheit zu wiegen, ist das, was er nun erzählt, vorsichtshalber „einem Freund“ passiert. Dieser erlebte nämlich unter widrigen Umständen

„weit nach Mitternacht, die Selbstkontrolle schwand zusehends“

einen Moment der Klarheit. Indem ihm entfuhr, als in Maischbergers viel erwähnter Sendung vom Ideal der Vater-Mutter-Kind-Familie die Rede war, demnächst dürfe man wohl auch nicht mehr in Gegenwart eines Rollstuhlfahrers von einem Wanderurlaub erzählen.

Eingebettet in die Anekdote fährt hier Mattusek mit seiner Strategie aus der Überschrift fort, indem er versucht normative Sätze in faktische umzudeuten. Denn bei Maischberger geht es ja um ein Ideal, also die Frage, wie etwas sein sollte. Hingegen handelt die Urlaubs-Anekdote von Fakten, dort wird kein Werturteil gefällt, nicht vorgeschrieben, dass alle Menschen nur noch wandern dürfen (eine Horrorvorstellung für mich!), sondern lediglich dargestellt, wie etwas war: der Urlaub eines einzigen Menschen. Der Grund, warum Matussek diesen Haken schlägt, ist, dass er auf die beliebte „Man wird doch wohl noch sagen dürfen“-Argumentation hinaus will. Die er dann in den folgenden Absätzen rund um Spanien, die Kirche und die Bibel weiter ausführt. Der Abschnitt ist ansonsten wenig spannend, er argumentiert ein bisschen biologistisch von der natürlichen Ordnung der Dinge (Ob er sich der Ironie bewusst ist, dass das Ding, auf dem er diese Sätze schreibt, so ziemlich das Unnatürlichste ist, was man sich denken kann: der Computer?) – alles ziemlich egal und rhetorisch schwach.

Ein Unrecht mit einem anderen rechtfertigen

Rhetorisch spannend wird es erst wieder hier:

„Von allen autokratischen Fehlleistungen Putins gilt seine Kampagne gegen Homosexuelle als die allerniederträchtigste, egal, wen er sonst so ins Gefängnis steckt.“

Hier versucht er zunächst einmal wieder das Schattenboxen: Niemand hat jemals behauptet, dass Homosexuellendiskriminierung schlimm, alles andere aber egal ist. Aber was Matussek hier darüber hinaus tut, ist spannend: Er versucht ein Unrecht mit einem anderen Unrecht zu rechtfertigen. Aber das ist nicht zulässig. Du kannst in einer Ethik nicht so argumentieren, dass es okay ist, zu rauben, weil andere morden. Das eine legitimiert das  andere schlichtweg nicht, so sehr ich mich auch winde. Genauso wenig legitimieren Putins sonstige „autokratische Fehlleistungen“ die Diskriminierung von Homosexuellen.

Um uns dennoch mit diesem falschen Argument einzulullen, bettet Matussek es gleich wieder in eine Anekdote ein von seinen Nachbarn, die jetzt wegen der Homosexuellen kein Olympia gucken. Diese Deppen! Schließlich gucken wir alle doch die Spiele, also müssen seine Nachbarn ja irren! Und wir können beruhigt die Fernbedienung in der Hand behalten, weil der liebe Herr M. gesagt hat, dass das okay ist.

Umdeutung der Rollen

Der folgende Absatz glänzt vor allem durch Hohn und Spott:

„Homosexualität, Bisexualität, Transsexualität, alles völlig normaaaal. Alles wurscht.“

Das ist eine Strategie, die auch im Kindergarten meiner Tochter sehr beliebt ist. Wenn jemand etwas sagt, auf das ich nichts erwidern kann, dann mache ich mich eben mit Nonsense über das gesagte lustig-schmustig! Der Grund für diese Strategie, liegt darin, dass Matussek versucht sich und seinesgleichen in die Opferrolle zu schmuggeln, wie Stefan Niggemeier unlängst vorzüglich darlegte. Was fällt denn diesen unverschämten Toleranten ein, dass sie meine Intoleranz nicht tolerieren? Und dass wir die Intoleranten gefälligst tolerieren müssen, wird auch dem letzten klar, wenn wir ein bisschen Stalinismus-Rhetorik verwenden:

„Sie zielte ab auf eine innere Bejahung, auf den umerzogenen NEUEN MENSCHEN.“

Namedropping

Als nächstes führt Matussek das Namedropping ein: Max Weber mochte S&M ohne das an die große Glocke zu hängen, also haben Schwule und Lesben auch zu schweigen. Und die großen Philosophen Robert Spaemann und Aristoteles haben auch schon aus einem Sein ein Sollen gemacht, indem sie homosexuelle Liebe als defizitär ansahen, weil sie keine Kinder zeugen könne. Dann muss es ja stimmen, oder?

Nachdem sich Matussek noch einmal mit ironischer Selbstbezichtigung versucht, gegen Kritik abzusichern, endet er damit, ein letztes Mal sich auf die natürlich Ordnung zu berufen und damit von einem Sein auf ein Sollen zu schließen. Der Sein-Sollen-Fehlschluss aber ist ein logischer Fehler, das sollte jemand der Aristoteles zitiert schon wissen. Wenn ihr wissen wollt, warum, könnt ihr es hier nachlesen.

Ich bin raus.

Die Geschichte der Philosophie auf den Punkt gebracht

Neulich stieß ich dank @fxneumann auf diese wunderbare Übersicht über die Geschichte der Philosophie, komprimiert aufs Wesentliche. So toll das ist, so muss ich doch sagen, dass ich für mich einige andere Erkenntnisse aus meinem Philosophiestudium gezogen habe. Daher meine Zusammenfassung der Philosophiegeschichte:

Thales von Milet (624-546 v.Chr.): Die ganze Welt besteht nur aus Wasser!
Anaximenes (585-524 v. Chr.): Luft!
Pythagoras (570-510 v. Chr.): Zahlen!
Heraklit (520-460 v. Chr.): Stimmt nicht: Feuer!
Parmenides (520-455 v. Chr.): Überhaupt habt ihr euch alle nur einen Trip gefahren, denn es gibt keine Veränderung.
Protagoras (490-411 v. Chr.): Nur ich habe recht.
Gorgias: (480–380 v. Chr.): Nichts existiert!
Sokrates (469-399 v. Chr.): Ich weiß von nichts.
Platon (427-347 v. Chr.): Das ist doch logisch. Und im Übrigen suckt die Demokratie gewaltig!
Aristoteles (384-322 v. Chr.): Egal was, nimm immer die Mitte. Und wie hieß noch gleich das Buch im Regal hinter der Physik?
Epikur (341-270 v. Chr.): Ficken! Aber in Maßen…
Augustinus (354-430): Aristoteles hat Recht, also reden wir über Gott. Ach ja, übrigens kann ich mich daran erinnern, wie ich das Sprechen gelernt habe.
Thomas von Aquin (1225-1274): Reden wir noch immer über Gott?
William of Ockham (1288-1347): Wo ist mein Rasiermesser?
Niccolo Macchiavelli (1469-1527): Herr Fürst, Moral ist scheiße!
René Descartes (1596-1650): Der Dämon, von dem ich besessen bin, hat mir gesagt, dass ich existiere.
Thomas Hobbes (1588-1679): Eigentlich sind wir alle Wölfe.
John Locke (1632-1704): Menschen sind von Natur aus brutale Arschlöcher, daher müssen wir ihre Gewalt teilen.
Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716): Unsere Welt ist viel cooler als all die anderen.
George Berkeley (1685-1753): Ich habe hier einen Topf mit heißem Wasser und einen mit kaltem und da stecken wir jetzt unsere Hände rein!
David Hume (1711-1776): Woher soll ich denn wissen, ob morgen die Sonne aufgeht?
Jean-Jacques Rousseau (1712-1778): Lasst uns die Gewalt weiter teilen!
Adam Smith (1723-1790): Die unsichtbare Hand kümmert sich schon darum…
Immanuel Kant (1724-1804): An sich gibt es Dinge, aber ich kann euch nichts darüber sagen. Außerdem darfst du jeden Blödsinn machen, solange du es gut gemeint hast.
Johann Gottfried Herder (1744-1803): Wie sind alle solche Loser. Aber immerhin können wir sprechen.
Jeremy Bentham (1748-1832): Wenn ihr zu dritt in einem Boot sitzt, ist es total okay, wenn zwei den dritten aufessen…
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831): Ich habe den Weltgeist jetzt wirklich lange genug herumgeschleppt, nimm du ihn mal.
Arthur Schopenhauer (1788-1860): Ey Hegel, dein Geist ist eigentlich ein Wille!
Charles Sanders Peirce (1839-1914): Wenn wir nur lange genug laufen, kommen wir zur letzten Meinung.
Friedrich Nietzsche (1844-1900): Der Stärkste hat Recht!
Gottlob Frege (1848-1925): Der Morgenstern und der Abendstern haben die gleiche Bedeutung aber nicht den gleichen Sinn.
Max Weber (1864-1920): Politik ist vom Teufel besessen.
Bertrand Russell (1872-1970): Es ist mit Sicherheit kein Elefant im Zimmer!
George Edward Moore (1873-1958): Hier ist eine Hand und hier ist eine andere.
Ludwig Wittgenstein (1889-1951): Vom Philosophieren ist mein Käfer schon ganz verbeult.
Martin Heidegger (1889-1976): Das Nichts nichtet!
Erich Fromm (1900-1980): Früher war alles besser.
Hans-Georg Gadamer (1900-2002): Lasst uns im Kreis drehen, bis wir schlauer sind.
Karl Popper (1902-1994): Solange mir keiner das Gegenteil beweist, kann ich aus der Geschichte nichts lernen.
Theodor W. Adorno (1903-1969): Die Aufklärung ist schuld!
Jean-Paul Sartre (1905-1980): Es gibt weder Gott noch Außerirdische.
Hannah Arendt (1906-1975): Die amerikanische Revolution war viel cooler als die französische.
Nelson Goodman (1906-1998): Bilder sind zwar manchmal traurig aber nie ähnlich.
Willard Van Orman Quine (1908-2000): Man kann sich nie sicher sein, was diese Ureinwohner jetzt schon wieder meinen…
John Langshaw Austin (1911-1960): Ich rede am Grab schlecht über den Verstorbenen und ich taufe Pinguine.
John Rawls (1921-2002): Mit kollektiver Amnesie wären wir alle viel nettere Menschen.
Paul Watzlawick (1921-2007): Ich wünschte, ihr würdet wenigstens einmal die Fresse halten!
Karl Otto Apel (1922): Und wenn wir dann alles wissen, werden wir wie Engel.
Michel Foucault (1926-1984): Ficken ist Macht.
Noam Chomsky (1928): Wir haben alle ein Wörterbuch und eine Grammatik im Kopf. Außerdem weigere ich mich Steuern zu zahlen.
Jürgen Habermas (1929): Herrschaften, wir können doch über alles reden!
Jacques Derrida (1930-2004): Versucht bloß nicht, mich zu verstehen…
Richard Rorty (1931-2007): Die Philosophie ist tot.

Das ist die ultimative Erkenntnis, die man aus einem Philosophiestudium ziehen kann. Natürlich könnt ihr zu anderer Erkenntnis gelangt sein, aber dann irrt ihr euch eben…

Welterklären

Bei meiner Tochter (6) ist der Wissensdurst ausgebrochen. Sie möchte sich nicht mehr bloß an den kleinen und großen Wundern dieser Welt unkritisch erfreuen, sie möchte jetzt Antworten auf die großen Fragen. Sie möchte wissen, warum alles so ist, wie es ist. Zu dumm nur, dass sich diese Fragen auch stellen, wenn mal kein Erwachsener in der Nähe ist. Oder noch schlimmer: Die Erwachsenen  sind oft ignorant und haben keine sinnige Antwort parat sondern mal wieder keine Zeit… Aber alles kein Problem, denn sie hat sich einfach selbst ein Erklärungsmuster zurechtgelegt.

Winterabend

Clever, wie sie ist, überträgt sie die teleologische Erklärung aus ihrer Alltagswelt einfach auf die Natur. Die Frage, warum etwas ist, wie es ist, beantwortet sie also mit dem Zweck oder Ziel der beziehungsweise das dahinter steht. Das ist clever, weil sie damit ein Muster, das sie kennengelernt hat, auf eine neue Sphäre anwendet.

„Warum muss ich Die Zähne putzen?“
„Damit du kein Karies bekommst.“

„Warum muss ich mein Zimmer aufräumen?“
„Damit du nicht über dein Spielzeug stolperst und dir dann wehtust.“

„Warum gibt es Spinnen?“
„Damit die Vögel etwas zu fressen haben.“

Damit ist sie in guter Gesellschaft, denn die Teleologie war in der griechisch-antiken Philosophie eine knorke und weit akzeptierte Erklärungsart. Sogar der große Aristoteles (unbestätigten Gerüchten zufolge nannten ihn seine Freunde „Ari“) hat sich ihrer bedient. Dann kann sie doch nicht falsch sein! Mit den vier Elementen hat er doch auch Recht gehabt, oder? Ähh… Aber auch wir bedienen uns der Teleologie, wenn wir nicht aufpassen. Wir tun dies immer dann, wenn wir Fragen stellen wie: „Was hat sich die Natur dabei nur gedacht?“.

Vor allem ist so eine teleologische Erklärung aber auch viel einleuchtender als die fantastischen (kausal begründeten) Geschichten, die der Papa meiner Tochter (6) immer von sich gibt:

„Warum gibt es den Winter?“

Damit zu beantworten:

„Damit danach der Frühling kommen kann und mit dem Frühling die Tiere genug zu Essen finden, damit sie ihre Kinder großziehen können.“

Ist doch viel einleuchtender als den Blödsinn, den ihr Papa immer so verzapft:

„Die Erde fliegt auf eine Bahn um die Sonne. Aber die Achse zwischen Nord- und Südpol der Erde ist im Verhältnis zu dieser Bahn geneigt. Daher sind wir, im Norden der Erde, mal näher an der Sonne und mal weiter weg. Und wenn wir näher an der Sonne sind, dann ist Sommer. Wenn wir aber weiter weg sind, dann ist Winter.“

Sorry, aber wer glaubt denn mit 6 Jahren noch an solche Märchen?

Metaphysische Spuren an performanten Medien

Oder kurz: Medientheorie

Wenn du ins Internet über Sprache schreibst, kommt früher oder später immer jemand, der oder die behauptet, dass es doch total egal ist, ob wir etwa „Zigeunersauce“ oder „Negerkuss“ sagen. Wichtig wäre doch allein, was wir meinen oder denken und es sei doch ganz klar, dass sie keine Rassisten seien, bloß weil sie Worte verwenden, die so klingen. Eine beliebte Variante dieses Arguments ist auch gerne die Marxsche Wende, dass es doch egal ist, was wir sagen. Statt dessen zählten allein unsere Handlungen.

Ein Fernseher ist ein Medium. Zeigt er Loriot, ist er sogar ein gutes Medium.
Ein Fernseher ist ein Medium. Zeigt er Loriot, ist er sogar ein gutes Medium.

Einmal ganz davon abgesehen, dass diese Einstellung übersieht, dass eine sprachliche Äußerung immer auch eine Handlung ist (womit ich mich zu anderer Zeit noch einmal auseinandersetzen werde), ist sie auch deswegen falsch, weil die Sprache das Medium meiner Gedanken ist. Somit ist wesentlich für meine Weltsicht, meine Lebensform, meine Wünsche, Träume und Überzeugungen, welche Worte ich verwende.

Ich möchte und werde diesen Gedanken in Zukunft weiter ausführen, doch um ihn zu verstehen, muss ich zunächst einmal erklären, was ein Medium ist. Denn der Begriff des Mediums ist selbst so kompliziert weil so unscharf in unserer alltäglichen Verwendung, dass ich für seine Bestimmung einen ganzen Blogpost brauchen werde.

Wie immer gilt: was ich hier schreibe ist nicht auf meinen Mist gewachsen. Es geht auf viele schlaue Köpfe zurück, die ich im Laufe des Textes und als Literaturtips am Ende auch nennen werde. Allerdings werde ich nicht Zitate im einzelnen belegen, dies ist ein Blogpost, den ich an einem grauen Novembernachmittag runterschreibe und keine wissenschaftliche Arbeit.

Von der Metaphysik zurück zum Alltag

Wie fange ich an? Gemäß Wittgenstein am besten damit, dass ich den Begriff von seiner metaphysischen wieder in seine alltägliche Sphäre zurückführe und mal schaue, wie wir ihn verwenden. Wir alle benutzen das Wort „Medium“ ständig. Es ist von alten und neuen Medien die Rede, von Massenmedien, vom Medium Zeitung, Internet, Fernsehen oder Radio. Wir alle haben extensional eine ziemlich exakte Vorstellung davon, was der Begriff umfasst, ohne dass wir ihn im einzelnen intensional definieren können. Versuchen wir es, kommen wir schnell auf Begriffe wie Sender und Empfänger, Symbole, Botschaften, Bilder oder Sprache.

Diese stümperhafte, stichprobenartige Analyse unseres alltäglichen Medienbegriffs stößt uns gleich auf eine erste Unterscheidung. Es gibt einen weiten und einen engen Medienbegriff. In der weiten Verwendung meint der Begriff des Mediums immer etwas das als Träger oder Mittel für etwas anderes dient. Wir sprechen dann vom Licht als Medium des Sehens, vom Wasser als Medium des Schwimmens, vom Auto als Medium der Fortbewegung und vielleicht sogar vom Kran als Medium des Hochhausbaus.
Demgegenüber steht die enge Verwendung des Medienbegriffs. In dieser hat ein Medium immer etwas mit einer Botschaft (im Sinne von Message nicht im Sinne von Spionage), mit einem Symbolsystem zu tun. Die Zeitung bringt uns die Nachrichten, das Internet bringt uns Meme, im Fernsehen läuft die Daily Soap und im Radio laufen die aktuellen Charts.

Ich bevorzuge diesen engen Medienbegriff aus zweierlei Gründen. Zum einen kommt er meines Erachtens dem alltäglichen Gebrauch des Wortes „Medium“ näher und das sollte immer unsere Basis sein. Die weite Verwendung erscheint mir eher wie eine Metapher. Erst wenn ich anhand von Büchern, Filmen, Comics, CDs etc. verstanden habe, was ein Medium ist, kommt es mir überhaupt in den Sinn soetwas wie Licht oder ein Auto Medium zu nennen.

Zum anderen ist ein Begriff ein Terminus und in diesem steckt der lateinische Ausdruck für Grenze oder Grenzpunkt. Ein Begriff begrenzt immer eine Bedeutung, indem er sie von anderen Begriffen mit anderen Bedeutungen unterscheidet. Daher sind Begriffe, die letztlich alles bedeuten können, sinnlos. Ich habe so den Eindruck, als würde genau das auf unseren weiten Medienbegriff zutreffen.

The medium is the message

Einer der berühmtesten Medientheoretiker war Marshall McLuhan, der für genau zwei Sachen berühmt ist: 1. Den Satz „The medium is the message“ und 2. seinen Gastauftritt in Woody Allens Annie Hall:

Ich habe McLuhan zwar in meinem Studium gelesen, aber das ist so lange her, dass ich mich kaum daran erinnern kann. Daher kann ich nicht genau sagen, was er mit seinem Zitat meinte, aber ich kann zumindest sagen, was in der Rezeption, besonders in der popkulturellen allzu oft daraus gemacht wurde: Nämlich die Behauptung, dass die Botschaft gar keine (gesonderte) Rolle mehr spiele, dass sie im Medium aufgehe und nicht von dem Medium losgelöst werden könne. Das ist in etwa das diametrale Gegenteil der Position der oben erwähnten Anhänger einer strikten Unterscheidung von Sagen, Denken und Handeln. Und ich denke, es ist zumindest in diesem Extremismus genauso falsch.

Spielen wir dafür mal folgendes Sprachspiel durch:

Ein Land, nennen wir es „Gondor“ wird von einem verfeindeten Land, nennen wir es „Mordor“ angegriffen. Gondor möchte nun seinen Verbündeten mit dem hypothetischen Namen „Rohan“ zu Hilfe rufen. Gondor möchte also die Botschaft „Hilfe“ mit einem Medium nach Rohan transportieren. Wären Medium und Botschaft eine nicht zu trennende Einheit, könnte Gondor das nur mit dem hypothetischen Medium „Zettel in der Hand eines Boten machen“. Es ist nun leicht einzusehen, dass Gondor statt dessen noch ganz andere Möglichkeiten hat: Raben mit Zettel versehen, Telefon, Whatsapp oder so etwas weit hergeholtes wie Leuchtfeuer.

Worauf ich hinaus will ist also, dass ein Medium weder unlösbar mit einer Botschaft verbunden ist, noch sich komplett neutral gegenüber der Botschaft verhält.

Die symbolisierende Performanz

Mein ehemaliger Prof. Christian Stetter vertritt die Auffassung vom Medium als symbolisierender Performanz. Dieser Medienbegriff hat eine ganze Reihe Vorteile, aber auch ein paar Nachteile. Was meint „symbolisierende Performanz“?

Zum einen steckt da wieder der Enge Medienbegriff drin: Medien haben immer etwas mit Symbolen zu tun. Sie erzeugen oder transportieren Symbole. Zum anderen steckt die Performanz drin, die uns vor allem aus der Kunst oder dem Tanz in irgendwelchen Castingshows bekannt ist. Eine Performanz ist ein Vollzug, eine Handlung, etwas, das zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfindet und dann wieder vorbei ist. Wie hängt das nun mit unserem Medium zusammen? Ganz einfach: Ein Medium transportiert Symbole, aber es ist kein Ding, sondern ein Vollzug.

Das erscheint zunächst einmal kontraintuitiv, besonders wenn wir uns wieder an der alltäglichen Verwendung abarbeiten. Aber es ist gar nicht so kontraintuitiv, wenn man darüber nachdenkt: Eine Zeitung ist nur dann ein Medium für Nachrichten, wenn ich sie lese. Wenn ich hingegen mein Geschirr bei einem Umzug damit polstere, ist es bloß noch ein Ding, das ich als austauschbares Mittel zu irgendeinem Zweck einsetze. Mit Büchern kann ich hervorragend Blumen oder Herbstlaub pressen, aber das macht sie nicht zum Medium für einen Roman. Erst das Lesen macht sie dazu. Das iPad könnte ich als Brettchen zum Hacken von Kräutern benutzen, aber erst wenn ich etwa damit im Internet surfe, wird es zu einem Medium fürs Internet. Und ich hatte mal ein Handy, mit dem ich hervorragend Bierflaschen öffnen konnte. Aber erst wenn ich damit telefonierte, wurde es zum Medium für meine Gespräche.

Christian Stetter verdeutlicht diesen Punkt, indem er den Begriff des Mediums von dem des Mittels abgrenzt. Ein Mittel ist eine Handlung zu einem bestimmten Zweck, die diesem Zweck vorausgeht und die austauschbar ist. Mein Zweck ist es, unversehrtes Geschirr in meiner neuen Wohnung zu haben, das Mittel ist die Polsterung dieses Geschirrs. Aber ich kann außer mit Zeitungen auch mit Luftpolsterfolie polstern. Will ich hingegen einen Roman lesen, so muss ich zum Buch greifen und das Lesen der Geschichte funktioniert auch nur solange ich das Buch zur Hand habe. Lege ich das Medium weg, so steht mir meine Botschaft nicht mehr zur Verfügung. Ein Mittel ist hinreichende Bedingung zur Erreichung eines Zwecks. Das Medium hingegen ist notwendige Bedingung.

Diese pragmatische Wendung des Medienbegriffs weg vom Ding hin zur Handlung ist meines Erachtens eine clevere Näherung an den Begriff, allerdings hat sie auch ein Problem: Denn sie kann nicht den Unterschied zwischen ephemer und persistent erklären, den Stetter in der Sprachwissenschaft selbst aus Tapet brachte: Ein wesentlicher medialer Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Sprache ist, dass gesprochene Sprache ephemer ist, vergänglich, ja flüchtig. Ausgesprochen ist das Wort auch schon wieder verschwunden. Die geschriebene Sprache ist hingegen persistent. Das geschriebene Wort steht wie eine Skulptur auf dem Papier, dem Stein oder dem Bildschirm und kann jederzeit wieder betrachtet werden. Diesen Unterschied kann ich aber nicht erklären, wenn ich das Medium selbst als Performanz verstehe. Denn Performanzen sind Handlungen, Ereignisse, also per se immer ephemer. Es muss zur Performanz also noch etwas anderes hinzukommen: ein physisches Substrat. Aber das nur am Rande, denn mein Studium liegt jetzt auch schon ein paar Jährchen zurück und ich kenne die neuesten Entwicklungen in der Medientheorie nicht.

Die Spur des Mediums

Kommen wir lieber zurück zur These, dass das Medium die Botschaft ist. Sybille Krämer hat eine sehr elegante Lösung gefunden zwischen dem Widerstreit in der Position, dass das Medium und die Botschaft unlösbar voneinander sind und jener, dass das Medium gar keinen Einfluss auf die Botschaft hat. Sie löst dieses Problem aristotelisch, indem sie feststellt, dass Medium und Botschaft zwar durchaus zwei getrennte Phänomene sind (ob Dinge oder Handlungen, lass ich jetzt mal dahingestellt), dass aber der Botschaft „die Spur des Mediums“ anhaftet.

Eine wunderbar Metapher, wie ich finde. Sie wird auch jedem sogleich verständlich, der schon einmal die Verfilmung eines Buches gesehen hat, das er zuvor gelesen hat. Im Grunde erzählen beide die gleiche Geschichte: Etwa dass Frodo einen Ring in einen Vulkan schmeißen soll. Aber dem Buch steht dabei alle Zeit der Welt zur Verfügung. Romane, für die ich hunderte Stunden Lesezeit brauche, sind kein Problem im Medium des Buches. Hingegen ist das Medium Spielfilm diesbezüglich beschränkt. Es kann nicht jeden bekloppt vor sich hin singenden und tanzenden Nebencharakter eine Stunde Screentime gewähren. Auch funktionieren manche Dinge im Film überhaupt nicht, die im Buch hervorragend klappen. Lady in the Lake hat uns gezeigt, dass ein Film mit Ich-Erzähler nicht funktioniert. Hintergrundgeschichten und innere Monologe sind andere Probleme des Films. Aber der Film kann anderes schaffen: Bilder. Er zeigt uns, wie ein Balrog aussieht, nimmt uns mit zum Mond oder lässt in der Matrix die Schwerkraft nur als eine Option erscheinen.

Ich schaue gerade die Serie Six Feed Under und an dieser sieht man hervorragend, wie das Medium Internet das Medium Serie verändert hat. Die Serie ist von 2001, also aus einer Zeit, in der Streaming noch keinerlei Rolle spielte und auch die DVD gerade erst dabei war, das Video abzulösen. Damals wurden Serien noch fast ausschließlich im Fernsehen gesehen. Pro Woche eine Episode. Das zeigt sich in Six Feed Under am Intro, das geschlagene 1:39 Minuten dauert.

Das ist kein Problem, wenn ich es bloß einmal in der Woche sehe, denn es ist ein sehr gut gemachtes Intro. Aber wenn ich Serien streame und mir eine Folge nach der anderen angucke, nervt das ungemein. Dem gegenüber stammt die Serie Breaking Bad von 2008. DVDs waren da schon ein alter Hut. Streaming allgegenwärtig und den Machern war vollkommen bewusst, dass die Zuschauer eine Folge nach der anderen hintereinander weggucken werden. Was dazu führt, dass das Intro sechs Akkorde und ein Grillenzirpen lang ist, 17 Sekunden.

An dem Medium Serie haftet die Spur des Internets… Nebenbei zeigt es auch, dass Medien in Medien in Medien verschachtelt sind…

Soweit soll das genügen. Jetzt habe ich meinen Medienbegrif vorgestellt und kann nun demnächst mal abbiegen in Richtung „Die Sprache ist das Medium meiner Gedanken“. Aber ich kann auch genauso betrachten, inwiefern das Medium Internet Botschaften verändert, die ehedem uns anders übermittelt wurden.

Ich bin raus. vorerst…

 

Literatur:

 

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Sophistik für den Hausgebrauch

Wir schreiben das Jahr 432 vor Christus. Wir befinden uns auf dem Marktplatz von Athen. Ein kleiner, unglaublich hässlicher Mann diskutiert dort mit dem berühmten Philosophen und Rhetoriker Protagoras. Dabei steht ein breitschultriger, junger Mann und hängt gebannt an den Lippen des kleinen Hässlichen. Der kleine Mann ist Sokrates und der Breitschultrige Platon.

Jener Platon hat später viele Bücher geschrieben, in Dialogform und seinen Gesprächsführer in diesen Dialogen nannte er stets Sokrates. So baute Platon Sokrates ein Denkmal, verbreitete seine eigene Philosophie in der Welt und mit ihr, geschickt in jenen fiktiven Dialogen transportiert, seine Ansichten, was gute, und was schlechte Philosophie ist.

Athens from the Foot of Mount Anchesmus. Von Edward Dodwell: Views in Greece, London 1821, p. 63. Lizenz: PD-US.
Athens from the Foot of Mount Anchesmus. Von Edward Dodwell: Views in Greece, London 1821, p. 63. Lizenz: PD-US.

Skeptische Bewegung

Die Sophistik war eine heterogene skeptische Bewegung, die in der Ethik überwiegend relativistische Positionen und in der Epistemologie wiederum überwiegend einen Erkenntnisskeptizismus vertrat. Sophist war ursprünglich nicht negativ konnotiert sondern entsprach etwa dem Ausdruck „Gelehrter“ oder „Professor“. Der Ausdruck wurde allerdings noch von den Zeitgenossen negativ umgedeutet. Philosophie war als Antwort auf die Religion entstanden und wurde mit ähnlichem Pathos betrieben. Philosophen lebten oft in ordensähnlichen Akademien zusammen. Auf eine solch dogmatische Institution wirkte eine philosophische Bewegung, die behauptete, dass es keine Wahrheit gebe und dass der Mensch das Maß aller Dinge sei – „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden, dass sie sind und der Nichtseienden, dass sie nicht sind.“ ist das berühmteste Zitat von Protagoras und nebenbei ein performativer Widerspruch -, geradezu obszön. Die Sophisten verdienten ihren Lebensunterhalt, indem sie gegen Geld Rhetorik und Logik lehrten. Insbesondere vor Gericht waren rhetorische Fähigkeiten unerlässlich, um vor den Laiengerichten des alten Athens den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Es ist ein Hohn wie viele C4-Professoren in die Kritik des reichen Aristokratensohnes Platon einstimmten, dass sich Sophisten für ihre Dienste bezahlen ließen.

Fußnoten zu Platon

Gute Philosophie ist logische Philosophie. Philosophie, die der Wahrheit hinterher jagt und „Was ist…?“-Fragen stellt. Zwar hat wiederum Aristoteles der berühmteste Schüler Platons später den Ruhm geerntet, dass er die Logik gewissermaßen erfunden hat, aber eigentlich hat er sie nur freigelegt. Sie steckt nämlich einerseits und implizit in uns allen, und andererseits auch schon explizit, in ausgearbeiteten Regeln in den platonischen Dialogen. Aristoteles‘ Leistung besteht zum größten Teil daraus, dass er die Kernaussagen seines Lehrers genommen und in Traktatform gepackt hat, wodurch er die Form der philosophischen Abhandlung bis heute maßgeblich bestimmte. Doch die Art und Weise, wie wir heute Philosophie und mit ihr Logik betreiben, wurde durch Platon geprägt. Passender wie kein anderer hat das Alfred N. Whitehead auf den Punkt gebracht: „Die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas lautet, daß sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht.“

Platon prägte unsere Sicht auf gute Argumentation und auf schlechte Argumentation. Und die schlechte versah er in seinen Dialogen immer wieder mit dem Namen seiner Widersacher: sophistisch. Der Sophist ist doof, weil er kein Interesse hat an der Wahrheitsfindung, stattdessen wird der Sophist rhetorisch, er spielt mit Worten, versucht so ständig dir das Wort im Munde umzudrehen. Er will nicht überzeugen, er will überreden. Ihm geht es nicht um den zwanglosen Zwang des besseren Arguments sondern ums Gewinnen.

Das sehen wir sehr gut am folgenden platonischen Dialog (zitiert nach Bertrand Russell):

– Sage mir nämlich, hast du einen Hund?

– Ja, und einen gar bösen, antwortete Ktesippos.

– Hat dieser Hund auch Junge?

– Jawohl, und zwar solche, die auch nicht gutartig sind.

– Es ist also dieser Hund ihr Vater?

– Ich sah ihn selbst, antwortete Ktesippos,die Hündin bespringen.

– Wie nun, ist der Hund nicht dein?

– Ja freilich.

– Ist er folglich nicht als Vater dein, und wird nicht mithin der Hund dein Vater und du der jungen Hunde Bruder?

Russell: Philosophie des Abendlandes, S. 98.

Protagoras soll sogar einem seiner Schüler gesagt haben, dieser müsse erst bezahlen, wenn er seinen ersten Prozess gewonnen hat. Anschließend hat Protagoras den Schüler auf Auszahlung des Honorars verklagt.

Kleine Zutatensammlung des Sophisten

Und damit sind wir wieder bei dir, liebes Internet. Denn in all deinen Debatten neigst du allzu oft dazu sophistisch zu werden. Damit bist du gewiss nicht allein, sondern im Gegenteil in bester Gesellschaft. Politiker etwa lieben Sophismen. Aber wenn du schon etwas machst, dann mach es wenigstens richtig und benutze alle Haken und Ösen.

Wir alle benutzen Sophismen und argumentieren nie ganz objektiv und vernunftgeleitet. Wir wollen Recht behalten. Widerlegt zu werden ist nie schön und kratzt an unserem Narzissmus. Viele dieser Sophismen sind dabei so banal, dass es unter meiner Würde ist, sie in dieser kleinen Anleitung zum Sophismus extra zu erwähnen. Ich meine so Sachen wie Übertreiben, Untertreiben, Lügen oder Erpressen. Den hier aufgeführten Sophismen ist eigen, dass sie allesamt wesentlich subtiler funktionieren.

Wenn wir die antike Sophistik, wie Wilhelm Capelle, als eine Art Aufklärung ansehen. So stelle ich mich mit dieser – im übrigen unvollständigen und diskussionswürdigen – Liste in diese Tradition. Sie dient nur dem Zwecke, euch besser zu machen, wenn ihr die sachliche Auseinandersetzung verlasst und euch auf den Pfad des Sophisten begebt. Um Ergänzungen bitte ich im Übrigen ausdrücklich. Also, los geht’s: alle Mann und Frau gut aufgepasst!

TV Shows We Used To Watch - 1955 Television advertising. Urheber: Paul Townsend. Lizenz: CC BY-SA 2.0.
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Das Namedropping

Wenn man inhaltlich nicht mehr weiterkommt, ist Namedropping ein gutes Mittel um argumentative Überlegenheit herzustellen. Du lässt dann einfach die Namen bekannter Autoritäten fallen, die argumentativ auf deiner Seite stehen. Wenn Sokrates, Platon und Aristoteles erst einmal die Reihen hinter dir geschlossen haben, kann dein Gegner nur noch verlieren.

Das Fachjargonstakkato

Alternativ zum Namedropping bietet es sich dir auch immer an, einen Fachausdruck an den anderen zu reihen um so dein Gegenüber möglichst gründlich mit deiner Wortgewalt zu überfahren. Immer wieder vor und zurück, bloß keine Lücke entstehen lassen, nur wenn er dich nicht versteht, kann er ganz sicher nichts Vernünftiges antworten.

Das Definitionsspiel

„Wie meinst du das?“, „Was verstehst du da drunter?“. Klar ist es wichtig, sich über die Bedeutung von Grundbegriffen klar zu werden, aber da man Definitionen nur mit Hilfe von Worten geben kann, die ihrerseits ja auch wieder definitionswürdig sind, kann man das Definitionsspiel ad infinitum spielen. In dem Fall ist man natürlich nicht mehr an einer argumentativen Lösung interessiert, sondern hat den Weg des Sophisten eingeschlagen. Nur zu!

Das Überlegenheitsargument

Keine Lust, alles, was du sagst auch zu erklären? Dagegen hilft hervorragend das Überlegenheitsargument: „Das kannst du nicht verstehen, denn du hast Kant nicht gelesen.“, „Dafür muss man Philosophie studiert haben, daher kannst du leider nicht mitreden.“

Die Ehrverletzung

Argumentativ in eine Sackgasse geraten? Kein Problem: Nimm das letzte Argument deines Opponenten einfach persönlich: „Das tut mir jetzt echt weh, dass du das sagst.“ Und schon musst du dich nicht mehr inhaltlich damit auseinandersetzen.

Der Psychologismus

Das Gegenstück zur Ehrverletzung ist der Psychologismus. Du kannst deinem Opponenten bei argumentativer Schwäche immer noch klarmachen: „Das sagst du nur, weil dein Unterbewusstsein es dir einflüstert.“

Die Interessenvertretung

Eine Spielart des Psychologismus‘ ist Interessenvertretung. Ist dein Gegenspieler nicht durch seine inneren Dämonen gesteuert, so muss er zwangsläufig fremdgesteuert sein. Sehr beliebt ist dieser Sophismus bei Verschwörungstheoretikern: „Das sagst du nur, weil die Mafia hinter dir steckt.“

Die Umdeutung

Dein Diskutant sagt etwas, das dir nicht passt? Dann hat er sicher das Gegenteil gemeint. Die Umdeutung ist sehr beliebt bei Chauvinisten: „Wenn du ’nein‘ sagst, meinst du eigentlich ‚ja‘.“

Die falsche Voraussetzung

Wenn du es geschafft hast, die falsche Voraussetzung zu etablieren, kannst du auf ihr wunderbar Luftschlösser aufbauen: „Da wir alle wissen, dass die Erde eine Scheibe ist, können wir auch über ihren Rand fallen.“

Das Faktenschaffen

Ich habe vor einer Weile den Sein-Sollen-Fehlschluss hier behandelt. Den kann man natürlich wunderbar einsetzen, um Fakten zu schaffen, die eigentlich Normen sind. Aber das Faktenschaffen beschränkt sich nicht auf ein Umwandlung von Wertvorstellungen in Tatsachenbehauptungen. Er lässt sich ganz allgemein wunderbar einsetzen, um aus einer Meinung eine Tatsache zu machen: „Das ist bekannt!“

Wie gesagt: haut Ergänzungen in die Kommentare, damit wir alle ein bisschen manipulativer werden!

Literatur:

Alfred North Whitehead: Prozeß und Realität.

Gebe ich hier brav an, weil ich oben daraus zitiere (Ja, so macht man das, Herr Guttenberg), habe ich aber nicht gelesen, daher kann ich auch nichts weiter dazu sagen.

Bertrand Russell: Philosophie des Abendlandes.

Eine wundervolle Reise des Literaturnobelpreisträgers durch die Geschichte der Philosophie immer verortet im geschichtlichen und sozialen Kontext. Allerdings nicht neutral oder objektiv geschrieben, sondern aus seiner analytisch-liberalen Position heraus.

Wilhelm Capelle: Die Vorsokratiker.

Objektiver als Russell aber auch wesentlich trockener legt Capelle die Fragmente der Vorsokratiker dar und mit ihnen auch die Sophisten. Immer schön in erklärende Kontexte gerückt. Wobei es manchmal erstaunlich ist, wie viel man aus einem noch so kleinen Textschnipsel herauslesen kann.

Platon: Sophistes. (Auf Englisch gemeinfrei) Oder auf Deutsch bei Amazon.

Einer der großen, der Meisterdialoge aus dem Spätwerk Platons. Platon lässt Protagoras höchstpersönlich als Gegenspieler Sokrates auftreten und schlecht wegkommen. Der performative Widerspruch ist nur eines der Probleme die er uns hier hinterlassen hat.

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Ich bin raus.