Heldinnen

Julia Schramm vertwitterte heute diesen Artikel mit sage und schreibe 35 praktischen Tipps für Männer, um die Welt ein bisschen weniger sexistisch zu machen. Die Liste ist lang und es sind einige Augenöffner dabei. Also lest sie! Ich will mich hier mal ein bisschen Punkt 20 auseinandersetzen:

20. Ensure that some of your heroes and role models are women.

Denn der liegt mir nicht nur wegen meiner Tochter (7) am Herzen, der ich gerne und oft vorlese und mit der ich gerne und oft Filme schaue.

Von Disney aufs Glatteis geführt

Mit meiner Tochter (7) spreche ich auch oft über das Gesehene und erkläre ihr, dass ich es nicht gut finde, wenn immer nur der Prinz in schimmernder Rüstung die Prinzessin rettet. Entsprechend fallen mir die Ausnahmen von diesem Klischee auf, wie etwa beim grandiosen Disneyfilm Frozen, der dich sogar noch bewusst aufs Glatteis führt (im wahrsten Sinne des Wortes), da Prinzessin Anna nur durch „einen Akt wahrer Liebe“ gerettet werden kann, so die Prophezeihung… Doch Disney baut dann einen raffinierten Twist ein, der dir den sexistischen Spiegel vorhält …

Frozen ist so wertvoll, weil du die starken Mädchen zwischen den Lillyfees und  Connys mit der Scheiße, äh, Schleife im Haar wirklich angestrengt suchen musst! Nicht zu vergessen sind da natürlich auch noch Ronja Räubertochter, die Birk Borkasohn mehr als einmal das Leben rettet und Hermine Granger, die eine zehn Mal bessere Zauberin ist als der auserwählte Potter und ohne die der kleine Wannabe nicht weit gekommen wäre.

Ein ganz eigenes Kapitel sind dann noch die Kinderbücher von Kirsten Boie, über die ich[Edit: Die Dame hat’s getan] demnächst mal einen eigenen Blogpost schreiben werde, denn Frau Boie zeigt, dass Kinderbücher mit Lebensverhältnissen des 21. Jahrhunderts möglich sind!

Actionheldinnen mit dekorativen Kratzern

Für uns Erwachsene sind weibliche Vorbilder in Literatur und Film übrigens genauso schwer zu finden. Beispielsweise stört mich massiv, dass Actionheldinnen immer wie geleckt aussehen in ihren hautengen Overalls. Ihren männlichen Pendants sieht man die Strapazen meist an: Spideys Overall ist im großen Finale eigentlich immer zerrissen, Iron Mans Stahlanzug ist zerkratzt und Bruce Willis zieht in jedem Film irgendwann ein Bein hinterher, nur um dann umso mehr triumphieren zu können. Dem gegenüber haben Lara Croft oder Black Widow (wenn es hoch kommt) mal einen dekorativen Kratzer auf der Wange. Allerdings darf ich euch verkünden, dass es zwei löbliche Ausnahmen gibt: Ripley und Beatrix Kiddo. Beide sind badass und im Laufe ihrer Filme (Alien und Kill Bill) wurde mehr Wert darauf gelegt, dass sie Ihren Antagonisten gepflegt in den Hintern treten, als dass sie selbst dabei aussehen als müssten sie gerade Werbung für Körperpflegeprodukte machen…

Uma Thurman in Kill Bill 2. Copyright: Miramax Films.
Uma Thurman in Kill Bill 2. Copyright: Miramax Films.

Wer ist eure Lieblingsregisseurin?

Bleiben wir noch etwas beim Film, denn der hat ein ganz schön großes Problem. Welches? Dieses: Sagt mir mal, wer eure Lieblingsregisseurin ist… Tja, nicht so leicht, was? Dabei ist der Grund nicht, dass es nicht genug Regisseurinnen gäbe. Kostprobe gefällig?

Feo Aladag, Lexi Alexander, Asia Argento, Dorothy Arzner, Susanne Bier, Kathryn Bigelow, Lizzie Borden, Catherine Breillat, Jane Campion, Niki Caro, Isabel Coixet, Martha Coolidge, Sofia Coppola, Claire Denis, Doris Dörrie, Nora Ephron, Anne Fletcher, Jodie Foster, Marleen Gorris, Alice Guy-Blaché, Catherine Hardwicke, Mary Harron, Amy Heckerling, Nicole Holofcener, Agnès Jaoui, Christine Jeffs, Miranda July, Mimi Leder, Caroline Link, Penny Marshall, Nancy Meyers, Mira Nair, Kimberly Peirce, Natalie Portman, Sally Potter, Lone Scherfig, Susan Seidelman, Adrienne Shelly, Barbra Streisand, Julie Taymor, Margarethe von Trotta oder Lois Weber.

Um nur mal einige zu nennen. Und ja, ich musste lange für diese Liste recherchieren. Aber das liegt sicher nicht daran dass Frauen von Natur aus ™ unbequemer auf dem Regiestuhl sitzen… Meine aktuelle Lieblingsregisserin ist übrigens Sofia Coppola. Jedenfalls haben die Dame und ich beim Spätfilm uns entschieden, wenigstens einen aus zehn Filmen von einer Regisseurin zu besprechen. Das ist zwar viel zu wenig, aber zumindest ein Anfang…

Edit: Paula Hesse hat in einem Gastbeitrag für mich über Kirsten Boie geschrieben. Der Text schließt hervorragend an diesen an.

Hallo Facebook, das ist Flattr!

Hallo Facebook-Community, ich möchte euch heute mal erklären, was Flattr ist und warum ihr es benutzen solltet. Mir ist nämlich aufgefallen, dass Flattr zwar bei dieser sogenannten Netzgemeinde, die sich auf Twitter und/oder App.net rumtreibt, einigermaßen verbreitet ist. Aber ihr, liebe Facebook-Comunity, scheint Flattr überhaupt nicht zu nutzen. Und ich möchte euch mal kurz erklären, warum Flattr gut und wichtig ist und warum ihr es benutzen solltet.

Das ist Flattr:

Flattr this

Warum ist dieses Internet eigentlich so knorke?

Die erste Frage, die ihr euch stellen solltet, lautet: Warum ist dieses Internet eigentlich so knorke? Ich für meinen Teil beantworte die Frage gerne mit: Weil Jede alles zu jeder Zeit und auch noch umsonst finden kann. Und zwar wirklich alles! Willst du zum Beispiel die Information, was eigentlich die Postmoderne ist, schaust du kurz in die Wikipedia und – BAM! – schon weißt du es. Willst du wissen, warum Karla Kolumna keine gute Reporterin ist, schaust du kurz bei juna im netz vorbei und – Zack! – schon weißt du es. Willst du wissen, wie das Ohr aufgebaut ist, dann hörst du mal eben ™ den vier Stunden langen Podcast CRE206 und – BUMM! – schon weißt du es! Oder willst du einfach nur eine Katze einen Backflip machen sehen, dann schaust du dieses Video

und -SCHWUPP! – schon … äh … na, ja, hast du es halt gesehen…

Pöse, pöse Kostenloskultur!

Nun gibt es aber Menschen, die wollen das Internet, so wie es ist, kaputt machen. Sie wollen (auch hierzulande) die Netzneutralität kaputt machen,

Sie wollen Urheberrechtsverletzungen mittels Deep Packet Inspections auf die Spur kommen, sie wollen das Streamen von Serien und Spielfilmen verbieten und sie wollen Suchmaschinen mit einem Leistungsschutzrecht für Suchtreffer bezahlen lassen. All diese Maßnahmen begründen sie oft mit einem Kampfbegriff: Kostenloskultur.

Im Internet herrsche eine Kostenloskultur, jammern sie, eben weil jede alles zu jeder Zeit und auch noch umsonst finden kann. Und das müsse geändert werden. Daher soll der Zugang zu Informationen und Unterhaltung stärker reguliert werden und natürlich auch kostenpflichtig werden.

Flattr ist eine Antwort auf den Kampfbegriff der Kostenloskultur

Und jetzt komme ich endlich zu Flattr. Flattr ist eine Antwort auf den Kampfbegriff der Kostenloskultur. Denn Flattr beweist, dass wir hier im Internet keine egoistischen Arschlöcher sind, sondern dass wir es ernst meinen, wenn wir sagen, dass sie die alten Geschäftsmodelle der Musikindustrie, der Filmindustrie und der Verlage überholt haben. Denn Flattr ist eine Form von Micropayment, wie ihr es vielleicht aus euren Spiele-Apps kennt, wo ihr für 99 Cent oder so euch kleine Boni kaufen könnt. Aber Flattr ist noch besser! Denn weiterhin kann jede alles zu jeder Zeit und auch noch umsonst finden. Aber wenn euch etwas richtig gut gefällt, dann macht ihr das, was ihr schon von Facebook kennt. Ihr klickt auf einen Like-Button.

Flattr this

Nur dass dieser Button nicht blau ist, sondern grün. Und dass damit eine kleine Spende an den Verfasser des Blogposts, die YouTuberin, den Podcaster oder die Freundin auf Facebook fließt.

Dafür zahlt ihr einen kleinen Betrag auf euer Flattrkonto. Und zwar wirklich wenig! Das Mindestbudget liegt bei 2 Euro im Monat, das ist eine kleine Limo in der Kneipe. Ihr könnt also für den Preis einer kleinen Limo in der Kneipe dem ganzen Internet „Danke“ sagen!

Squirrel Lemonade ;)) 2013-04-24 13-26
Von User:Squirrelsuper (Eigenes Werk) Lizenz: CC-BY-SA-3.0, via Wikimedia Commons

Übrigens ist Flattr auch kein Abo. Ihr bestimmt jerderzeit, ob ihr euer Konto auffüllen wollt oder nicht. Die 2 Euro werden dann auf alle eure Flattr-Klicks in dem Monat verteilt. Wenn ihr also zweimal flattrt, dann bekommen die Geflattrten entsprechend jeweils 1 Euro und wenn ihr 10 Mal flattrt, bekommt halt jede 20 Cent. Und wisst ihr was? Das ist total egal. Denn es geht erst einmal nicht so sehr um den Betrag, sondern um die Geste! Ihr zeigt einem Beitrag im Internet, dass er euch etwas wert ist. Der Flattr-Button ist dann quasi der Platin-Facebook-Daumen. Und wenn 10 Millionen Menschen diesen beiden charmanten jungen „Künstlern“ 10 Cent geflattrt hätten, dann wären sie jetzt Millionäre.

Eines noch zum Abschluss: Flattr ist nicht DIE EINE Lösung für das durchaus bestehende Problem, dass Bezahlung im Internet noch nicht so richtig funktioniert, aber zusammen mit Crowdfunding, Premiumaccounts, Micropayment, etc. kann sich eines Tages ein Regenbogen an Maßnahmen ergeben, der den Feinden des Internets den Wind aus den Segeln nimmt…

TAADAA!
Quelle: http://www.reactiongifs.com/. Lizenz: fragwürdig.

 

Also: Meldet euch doch gleich mal an

Irrtümer – Teil 2

Vor einer Weile verbloggte ich hier bereits einige Irrtümer, die wir im Alltag gerne vor uns hertragen, ohne sie zu hinterfragen. Dies ließ mich nicht mehr los und ich spitzte meine Augen und hielt die Ohren offen, auf der Suche nach weiteren Irrtümern…

Einen Anruf zurückverfolgen

A prospos „offen“: Offen muss auch die Leitung sein, um einen Anruf zurückzuverfolgen, oder?
Es gehört zur traditionellen Dramaturgie eines Erpresserkrimis, dass irgendwann der Erpresser anruft und die Erpresste trotz gegenteiliger Forderung die Polizei eingeschaltet hat. Die Polizei versucht dann, den Anruf zurückzuverfolgen. Dafür muss die Angerufene den Erpresser dann möglichst lange an der Leitung halten. Ist ja auch logisch: So ein Anruf geht über verschiedene Verteilstationen und an jeder muss dann nachgeguckt werden, woher der Anruf kam. Legt der Ganxta zu früh auf, gucken die Beamten in die Röhre. Was dann der Harry des Ermittlers meist mit einem geknickten Kopfschütteln zum Ausdruck bringt.

Als mir dieser filmische Code das letzte Mal über den Weg lief, wurde ich stutzig. War das nicht doch ein bisschen anachronistisch? Und ein Blick in die Wikipedia verrät, dass in der Tat bereits in den 70ern die Fangschaltung erfunden wurde. Die Angerufene brauchte nur eine vereinbarte Taste zu drücken und die Post blockierte die Leitung, sodass sie auch nach dem Auflegen offen blieb und die Ermittler sie in aller Ruhe zurückverfolgen konnten.
Doch damit noch nicht genug: Seit der Digitalisierung der Telefonnetze gibt es die Rufnummerübertragung. Die kann man zwar unterdrücken, diese Unterdrückung wird aber erst in der letzten Verteilstation aktiv, sodass die Ermittlerinnen dort ganz bequem die Nummer ablesen können. Und wissta was? Die Digitalisierung der Telefonnetze fand schon in den 1980er Jahren statt…

Spinnen im Schlaf essen

Seit Jahren kursiert die Horrorgeschichte durchs Netz, dass jeder Mensch im laufe seine Leben zehn Spinnen im Schlaf isst. ZEHN. SPINNEN. 10! Ich bin nun wirklich kein Arachnophobiker, aber das ist ekelig! Zum Glück ist es eben nur eine Horrogeschichte und den Spinnen fällt es nicht im Traum ein, nachts in unser Bett zu krabbeln.

Murphy’s Law

„Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen“

So lautet die populäre Varaiante von Murphy’s Law. Die Sache ist aber: Stimmt halt nicht. Murphy’s Law ist kein Gesetz im Sinne eines Naturgesetzes, sondern ein normativer Satz für Versuchsaufbaue und das Ingenieurswesen, der etwa dem Ingenieur sagen soll: „Obacht! Du kannst das Auto nicht für die Produktion zulassen, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass es explodiert, nur bei 0,001% liegt, denn was schiefgehen kann, das geht auch schief!“ Aber Murphy’s Law ist kein Gesetz wie die Schwerkraft, was sich mit zwei simplen Beweisen … nun ja … beweisen lässt.

Erstes Beweismittel, euer Ehren: Bei jedem Prozess ist die Zahl der möglichen Fehler unendlich groß, die Zeit, in der dieser Prozess durchgeführt wird, ist hingegen beschränkt. Also wird nicht alles schiefgehen, was schiefgehen kann.

Zweitens, Ein bisschen weniger abstrakt: eine beliebte Alltagsanwendung für Murphy’s Law ist die Kaufhausschlange. Denn frei nach Murphy müsste man sich ja immer an der Schlange anstellen, die am längsten braucht, weil vorne mal wieder irgendeine Oma mit ihrer Pfennigsammlung bezahlt. Doch hier kommt der Haken: Will Murphy’s Law mehr sein als eine triviale Anekdote, muss es einen allgemeinen Geltungsanspruch haben. Das Licht denkt sich ja auch nicht: „Och, heute fliege ich mal nur 200.000 km/s. Ich hab’s heute nicht so eilig.“ Aber wenn alle immer an der längsten Schlange im Supermarkt stehen. Was ist dann die kurze Schlange? Die Schlange hat nichts mit Murphy’s Law zu tun, sondern etwas mit selektiver Wahrnehmung: All die Male, als du an der kurzen Schlange standest, sind dir eben nicht in Erinnerung geblieben…

Bleibt noch die Sache mit dem Marmeladenbrot, das immer auf die Marmeladenseite im Leben fällt. Tja, das liegt einfach an der Höhe unserer Tische

Toastcat

Quelle: Uncyclopedia. Lizenz: fragwürdig.

Wir nutzen nur 10% unseres Gehirns

Glaubt man einer weitverbreiteten Sage oder eben Luc Besson, dann benutzen wir nur 10% unseres Gehirns und wären voll die Genies, wenn wir lernen würden, mehr zu benutzen.

Wäre das nicht cool? Schade nur, dass halt nichts dran ist an der Legende. Sogar wenn wir nichts tun oder gar schlafen, sind große Teile unseres Gehirns aktiv. Und wenn ein Teil des Gehirns keinen Input bekommt, wie etwa die Sehrinde bei Blinden, dann blubbert sie nicht gemütlich vor sich hin, sondern übernimmt schleunigst andere Aufgaben. Übrigens stammt der Mythos von Scientology

Die rechte und die linke Gehirnhälfte

Und wo wir gerade beim Gehirn sind: Habt ihr auch schon einmal gehört, dass die linke Hälfte für alles analytische und sprachliche zuständig ist und die rechte Hälfte sich um die Emotionen, die Empathie und das ganzheitliche Denken kümmert? Tja, ist ein Irrtum. Der hat zwar einen waren Kern, zum Beispiel, dass die meisten, wenn auch nicht alle Bereiche des Gehirns, die für Sprache zuständig sind, links sitzen. Aber in dieser drastischen Verkürzung, ist es reine Pop-Psychologie, zumal das mit den Emotionen wohl sogar komplett erfunden ist.

Überholen auf der Landstraße

Wer kennt das nicht: Du bist morgens auf dem Weg zur Arbeit und dann hat sich so ein Sonntagsfahrer im Tag geirrt und tuckert mit 70 durch die Kurven, die man locker mit 100 nehmen kann. DER IST SCHULD, WENN ICH ZU SPÄT ZUR ARBEIT KOMME! Also schnell überholen, um die verlorene Zeit wieder wett zu machen. Aber ist das wirklich so?

Gut auf der Autobahn kannst du dir das schnell herleiten: Wohnst du 100 Kilometer von deinem Arbeitsplatz entfernt, kannst du mit 200km/h Durchschnittsgeschwindigkeit(!!!) deine Fahrtzeit gegenüber derjenigen, die mit 100 dahintuckert halbieren. Aber wie ist das auf der Landstraße?

Nun, angenommen, dein Weg zur Arbeit beträgt 20 Kilometer, dann legst du die mit 100 Sachen in 12 Minuten zurück. Wenn du hingegen nur 70 fährst, dann sind es gerade einmal 17 Minuten! Dein Chef muss schon ziemlich kleinlich sein, wenn er wegen fünf Minuten Terz macht. Aber, damit nicht genug: Deutschland ist ein dichtbesiedeltes Land, daher ist es wohl keine allzu steile These, anzunehmen, dass du ca. alle 10 Kilometer eine Ortschaft kommt, in der du auf 50 runtergebremst wirst. Das versaut dir deinen 100er-Schnitt und verkürzt so deinen fünf minütigen Vorsprung schon gewaltig. Und wenn du jetzt noch Ampeln ins Spiel bringst, schmilzt er ganz dahin: Wie lange ist die durchschnittliche Wartezeit an einer Ampel? 2 Minuten? Das heißt, dass spätestens an der dritten Ampel der Überholte wieder hinter dir steht… Denkt daran, wenn ihr das nächste Mal überlegt, ob die Gerade lang genug ist, für ein entschlossenes Überholmanöver…

Der Hippokratische Eid

Den muss jeder Arzt ablegen, nicht wahr? Wie ging er noch gleich….? Ach ja:

„Ich schwöre und rufe Apollon, den Arzt, und Asklepios und Hygieia und Panakeia und alle Götter und Göttinnen zu Zeugen an, dass ich diesen Eid und diesen Vertrag nach meiner Fähigkeit und nach meiner Einsicht erfüllen werde.

Ich werde den, der mich diese Kunst gelehrt hat, gleich meinen Eltern achten, ihn an meinem Unterricht teilnehmen lassen, ihm, wenn er in Not gerät, von dem Meinigen abgeben, seine Nachkommen gleich meinen Brüdern halten und sie diese Kunst lehren, wenn sie sie zu lernen verlangen, ohne Entgelt und Vertrag. Und ich werde an Vorschriften, Vorlesungen und aller übrigen Unterweisung meine Söhne und die meines Lehrers und die vertraglich verpflichteten und nach der ärztlichen Sitte vereidigten Schüler teilnehmen lassen, sonst aber niemanden.

Ich werde ärztliche Verordnungen treffen zum Nutzen der Kranken nach meiner Fähigkeit und meinem Urteil, hüten aber werde ich mich davor, sie zum Schaden und in unrechter Weise anzuwenden.

Auch werde ich niemandem ein tödliches Gift geben, auch nicht, wenn ich darum gebeten werde, und ich werde auch niemanden dabei beraten; auch werde ich keiner Frau ein Abtreibungsmittel geben. Rein und fromm werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren.

Ich werde nicht schneiden, sogar Steinleidende nicht, sondern werde das den Männern überlassen, die dieses Handwerk ausüben.

In alle Häuser, in die ich komme, werde ich zum Nutzen der Kranken hineingehen, frei von jedem bewussten Unrecht und jeder Übeltat, besonders von jedem geschlechtlichen Missbrauch an Frauen und Männern, Freien und Sklaven.

Was ich bei der Behandlung oder auch außerhalb meiner Praxis im Umgange mit Menschen sehe und höre, das man nicht weiterreden darf, werde ich verschweigen und als Geheimnis bewahren.

Wenn ich diesen Eid erfülle und nicht breche, so sei mir beschieden, in meinem Leben und in meiner Kunst voranzukommen indem ich Ansehen bei allen Menschen für alle Zeit gewinne; wenn ich ihn aber übertrete und breche, so geschehe mir das Gegenteil.“

Quelle: Internet.

Ähhhm, so etwas müssen die Ärzte von heute schwören? Ich frage mich, wie viele ehemalige Profs heute ein Altenzimmer in den Villen der Chefärzte haben… Aber keine Sorge: Laut der Wikipedia muss kein Arzt den Hippokratischen noch irgendeinen anderen Eid ablegen…

Nilpferde sind die gefährlichsten Tiere Afrikas

Habt ihr auch schon mal was darüber gehört, dass Nilpferde die gefährlichsten Tiere Afrikas sind? Die Story packt eigentlich immer irgendjemand während eines Zoobesuchs als nette Anekdote aus: Vergiss Löwen, Krokodile oder Elfanten. Nilpferde sind die wahren Killer! Na ja, immerhin ist die Story nicht komplett aus der Luft gegrifen: Immerhin 500 Menschen gehen jedes Jahr auf das Konto der Dickhäuter, damit lassen sie Löwen und Elefanten hinter sich. Allerdings sind Krokodile und Schlangen dann doch noch etwas gefährlicher, ganz zu schweigen von der Mücke!

Die tödlichsten Tiere
Die tödlichsten Tiere

Blasensprung bei Gewitter

Die letzte Geschichte ist „a tricky one“ und ich bin noch zu keinem abschließenden Urteil gekommen. Kürzlich hörte ich von keinem geringeren als dem Chefarzt der größten Frankfurter Geburtsklinik die Worte, dass bei Gewitter vermehrt Fruchtblasen springen. Das machte mich stutzig, es klang sehr nach der Mähr, dass bei Vollmond mehr Kinder geboren würden, die sich statistisch leicht widerlegen lässt.

Jetzt ist ein Chefarzt ja nicht irgendwer, andererseits nennen böse Zungen Ärzte auch die Zierpudel der Wissenschaft, weil sie ihre Doktorarbeiten gewöhnlich schon während des Studiums in einem oder zwei Semestern schreiben. Alles für den Titel. Ich machte mich also auf Spurensuche…

Leider blieb diese erfolglos. Entweder gibt es zu dem Thema keine Studie oder sie wurde sorgfältig vor dem Internet versteckt. Was auch nicht sonderlich schwer ist, da sich in den Spitzenpositionen der Suchergebnisse SEO-triefende Müttercommunitys und Schwangerschaftsportale tummeln. Dort wird dann stets im Anekdoten-Stil betichtet: „Also bei mir…“ oder „Hebammen wissen zu berichten…“.

Aber Anekdoten sind keine Beweise, da uns bei ihnen wieder die selektive Wahrnehmung einen Strich durch die Rechnung macht: Eine Hebamme erinnert sich nicht an die 20 Blasensprünge bei Sonnenschein, aber bei dem einen, der bei einem Gewitter vorkam, springt ihr die Hypothese von dem angenommenen Zusammenhang ins Gesicht. Und ich möchte betonen, dass das nichts mit Intelligenz oder der Kompetenz einer Hebamme zu tun hat, sondern menschlich ist. Es ist sogar sinnvoll, wenn die Hebamme unter einer Geburt auf ihren Erfahrungsschatz zurückgreift, denn sie muss schnelle Entscheidungen fällen und hat keine Zeit, Statistiken zu wälzen.

Aber wenn es uns um Erkenntnis geht, also um die Frage, wie die Welt wirklich ist, dann helfen uns in diesem Fall nur Zahlen. Die Frage, ob bei Gewitter mehr Fruchtblasen springen, bleibt also vorerst ungeklärt. Allerdings spricht gegen die Theorie, dass die Geschichte genau wie alle anderen Irrtümer, die ich hier versammelt habe, im Stil der Anekdote daherkommt…

Der Selfie ist der Untergang des Abendlandes

Der Selfie ist der Untergang des Abendlandes. Zumindest wird er unter Kulturpessimisten derzeit als einer der heißesten Kandidaten gehandelt. Und die gerne alles zur eigenen Generation hochstilisierenden Jugendforscher handeln ihn als Symptom der „Generation NOW“. Er ist Zeugnis unserer stetig größer werdenden Selbstveliebtheit, bis uns eines Tages alle das Schicksal von Narziss ereilt. Es ist höchste Zeit diesem Phämomen auf die Spur zu kommen.

RobertCornelius

Robert Cornelius machte den ersten bekannten Selfie mit einer Kamera, via Wikimedia Commons. Lizenz: gemeinfrei.

Die Definition des Selfies

Der (oder auch das) Selfie [ˈsɛlfi] ist ein Selbstporträt, dass typischerweise mit einem Smartphone aufgenommen und ins Internet gestellt wurde. Ein häufiges Detail im Bild ist der Arm, der die Kamera hält. Eine Variante des Selfies ist der Spiegelselfie, auch “MySpace pic” genannt.
Es gibt Selfiesammlungen, mehr oder weniger ernstgemeinte Anleitungen für Selfies, Gadgets zum besseren Vollzug*, Regeln, was die schlimmsten Selfies sind und sogar der Urknall machte seinen eigenen Selfie.

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Michelangelo Caravaggio 065“ von Michelangelo Merisi da Caravaggio – The Yorck Project: 10.000 Meisterwerke der Malerei. DVD-ROM, 2002. ISBN 3936122202. Distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons.

Der Dimunitiv als Erfolgsrezept

Der Selfie kam nicht zuletzt deshalb zur unverhofften Popularität, weil das Oxford Dictionary ihn zum Wort des Jahres 2013 wählte. Die Verwendung von „Selfie“ im Englischen hatte binnen Jahresfrist um 17.000% zugenommen.

Die erste Verwendung von „Selfie“ ist bereits 2002 in einem australischen Forum belegt. Das Oxford Dictionary hält es für evident, dass das Wort in Australien geboren wurde, da das australische Englisch eine Vorliebe für die Bildung von Dimunitiven mit -ie hat. Der Dimunitiv hat dem Selfie auch bei seiner Verbreitung geholfen, so fährt das Oxford Dictionary fort, denn er verwandelte das in seiner Tendenz ja narzisstische Selbstporträt in etwas süßes, liebenswertes. Zur Popularität des Wortes trug ferner bei, dass es ab 2004 vermehrt als Hashtag auf Seiten wie Flickr verwendet wurde.

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Leonardo da Vinci – presumed self-portrait – WGA12798“ von Leonardo da VinciWeb Gallery of Art:   Image  Info about artwork. Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons.

Die eigentümliche Verschmelzung verschiedener Kulturtechniken

Doch der Erfolg des Selfies ist vor allem auf eine eigentümliche Verschmelzung von verschiedenen Techniken und Kulturtechniken zurückzuführen. Denn das Selbstporträt ist ja beileibe nichts neues. Schon seit der Antike war es unter Künstlern beliebt, sich selbst abzubilden. Berühmte historische „Selfies“ stammen von Leonardo da Vinci, Rembrandt oder van Gogh. Und die Analyse von Velázquez Las Meninas hat Generationen von Kunsthistorikern, -theoretikern und Philosophen beschäftigt. Doch der Prozess des gemalten Selbstporträts war langwierig.

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Rembrandt Harmensz. van Rijn 132“ von Rembrandt – 1. The Yorck Project: 10.000 Meisterwerke der Malerei. DVD-ROM, 2002. ISBN 3936122202. Distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. 2. gallerix.ru. Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons.

Drastisch verkürzt wurde er durch die Erfindung der Fotografie, die ihm aber zugleich das „Selbst-“ raubte. Es war nicht länger möglich sich selbst zu portraitieren, da es jemanden geben musste, der oder die durch den Sucher blickend das Ergebnis kontrollieren konnte. Die Erfindung von von Fernauslösern und Selbstauslösern brachte den Fotografen schließlich dem Selfie einen Schritt näher. Obwohl nun zwar das „Selbst-“ zurückgekehrt war, fehlte ihm aber zugleich noch die Beiläufigkeit. Ein Selbstportrait musste vor dem Schießen sorgfältig komponiert werden, damit die Fotografin noch schnell vor die Linse an eine markierte Stelle treten konnte, um später auf dem Bild zu erscheinen.

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VanGogh 1887 Selbstbildnis“ von Vincent van Gogh[1]. Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons.

Erst die Erfindung der Digitalkamera vollendete den Selfie (fast) schon. Denn nun konnten die Fotografierenden ihn mal eben mit ausgestreckten Arm vornehmen, und bekamen „Rapid Feedback“ mit einem Blick auf das Display. Doch damit ging freilich die Komposition flöten, die für den Selfie wichtiger ist, als so mancher Angry-Old-Feuilleton-Man glaubt. Daher ging der Selfie noch einmal einen Umweg, auf dem er sich eine weitere Komponente seines Wesens abholte: Über die Kombination aus Kamera und Badezimmerspiegel als “MySpace pic” gelangte er zur Webcam. Und die Webcam wurde zum Komplizen des Selfies, denn sie ermöglichte nicht bloß das Rapid Feedback, sondern löste auch ein Problem: den Avatar. Der Avatar ist die Repräsentation einer Person im Netz. Und mit dem Erfolg der sozialen Medien war er plötzlich allgegenwärtig. Ein entscheidender Schritt beim Anlegen eines Facebook-Profils ist, den Standard-Darth-Vader durch ein Bild auszutauschen, das mich selbst im digitalen Raum darstellt. Was liegt da näher als den Avatar an Ort und Stelle unter kontrollierten Bedingungen zu erstellen, zumal die Webcam am klassischen Desktop-PC in der Regel auf dem Bildschirm saß und somit eine leicht erhobene Position hatte, die die Schokoladenseite hervorkitzelte und zum Beispiel das ungeliebte Doppelkinn durch die leichte Hebung des Kopfes zum Verschwinden brachte: Der Selfie war geboren.
Velazquez-Meninas

Diego Rodríguez de Silva y Velázquez [Public domain], via Wikimedia Commons

Doch er war, wie jede Kulturtechnik in den Kinderschuhen noch sehr limitiert. Die Auflösung war oft eher määh und das immer gleiche Motiv langweilig. Gut, nun hat man beim Selfie natürlich nicht die allergrößte Variationsmöglichkeit, was das Motiv anbelangt. Neben Kleidung, Schminke und Frisur lässt sich vor allem eines verändern: der Hintergrund. So wurde der Selfie schließlich perfektioniert, als Smartphones mit Frontalkameras ausgestattet wurden. Nun war alles zusammengekommen, was zum Erfolg nötig war: Der Selfie ließ sich nebenbei machen und zugleich kontrollieren, durch die Mobilität des Handys ließ sich der Hintergrund variieren und die Internetanbindung ermöglichte den sofortigen Upload in das soziale Netz der Wahl. Schließlich kamen noch Instagram und seine zahlreichen Nachahmer, die in wenigen, einfachen Schritten der Fotografin ermöglichten, was zuvor einigen Expertinnen mit Lightroom und Photoshop vorbehalten war: die Bildnachbearbeitung.

Die Grenze des guten Geschmacks

Doch wie bei jeder neuen Kulturtechnik, so muss nun beim Selfie erst noch gesellschaftlich ausgehandelt werden, wann sein Einsatz okay ist und wann nicht. In den 90ern war es etwa noch nicht allen klar, dass Telefonieren im Kino ein no-go ist und der Anruf beendete auch allzu oft die Face-to-Face-Kommunikation abrupt. Genauso gehört es zu meiner eigenen Charakterschwäche (und der vieler anderer), dass ich allzuoft in der Gegenwart von Offlinern „mal eben“ ™ die Statusmeldungen auf meinem Telefon checke. Und eben so sind beim Selfie noch nicht Ort, Zeit und Gelegenheit für diesen geklärt.

Es wundert kaum, dass gerade Teenager oft die Grenze des guten Geschmacks übertreten, wenn es um den angemessenen Ort für einen Selfie geht. Sie haben gerade erst entdeckt, dass der eigene Körper spannend ist, zugleich verunsichert sie die Veränderung desselben, sodass sie nach Bestätigung unter anderem in Form von Likes und Shares suchen und sie haben eben noch wenig Lebenserfahrung, weshalb sie auf dumme Ideen kommen. So werden schon einmal AfterSexSelfies oder Selfies auf Beerdigungen gemacht. Gut, gegen letzteres scheint nicht einmal der amerikanische Präsident etwas zu haben, im Gegensatz zu seiner Frau.

Ralfies Selfie in Aachen
Ralfies Selfie in Aachen. Foto von mir. Lizenz: CC0.

In den USA wird gerade debattiert, wo der Selfie endet und wo die Kinderpornographie beginnt. Und natürlich interessieren sich auch die nach Terroristen suchenden Geheimdienste für den Selfie ohne Kleidung. Doch mehr als fragwürdig werden schließlich Spielarten des Selfies wie der Auschwitz-Selfie, der gerade erst wieder zu einem Aufschrei führte oder gar der Yolocaust (Ein Kompositum aus YOLO – You only live once – und Holocaust). Genauso wenig klar ist bislang, was der Selfie kann und will. Kann er beispielsweise auf die Gefahren von Brustkrebs aufmerksam machen? Klingt komisch, wurde aber so geäußert. Andererseits bereichert der Selfie die zumeist rein textbasierte Kommunikation durch das Bild mit seiner großen Informationsfülle und vermag so sogar den Schritt aus der Internetkommunikation hinaus ins Leben „away from keyboard“ (afk) zu gehen. Schließlich entdeckt manch einer auch ungeahnte Ähnlichkeiten.

Ralfies Selfie in Frankfurt
Ralfies Selfie in Frankfurt. Foto von mir. Lizenz: CC0.

Dadurch, dass der Selfie in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, hat sich natürlich auch schon ein Gegentrend gebildet, so werden Shelfies, Bilder von Bücherregalen zur Protestbewegung gegen den Selfie hochgejazzt, die dann wiederum als elitäres Bildungsbürgerabfeiern veruteilt werden.

Sozialpsychologische Funktion, Subgenre und die Dokumentation

Doch alles, was ich bislang hier getan habe, war reine Phänomenologie. Ich bin der Antwort auf die Frage noch nicht näher gekommen, ob der Selfie denn jetzt der narzisstische Untergang des Abendlandes ist. Interessant ist dabei, dass der Selfie zwar Ausdruck unserer Selbstrepräsentation ist und den Wunsch nach Bestätigung ausdrückt, aber deswegen noch nicht gleich narzisstisch sein muss. Es ist für die Ausbildung unseres „Ichs“ wichtig, uns durch die Augen anderer zu sehen. Der Selfie übernimmt dabei eine sozialpsychologische Funktion. Da sich unser Leben zu einem nicht unwesentlichen Teil in die digitale Sphäre verschoben hat, unterscheidet sich der Selfie gar nicht so sehr von unseren Bemühungen, uns für eine Party oder auch nur den Gang zur Arbeit herauszuputzen. Der Selfie ist gewissermaßen der Smoking oder das kleine Schwarze von Twitter und Facebook.

Mein Shelfie.
Mein Shelfie. Bild von mir. Lizenz: CC0.

Auch sollte nicht aus dem Blick verloren werden, dass der Selfie nur ein Subgenre von vielen verschiedenen Fotografiemotiven ist, die aufgrund der generellen Vervielfachung von Fotos durch den technischen Fortschritt ins Netz gespült werden. Früher machten wir eben nur 36 oder 72 Bilder im Urlaub und klebten anschließend die besten 20-30 ins Fotoalbum, das wir dann unseren Freunden zeigten. Ein Blick in die Dropbox verrät mir, dass ich im vergangenen Monat 194 Fotos gemacht habe, von denen gerade einmal 16(!) auf Instagram gelandet sind. Das mag vielleicht nicht repräsentativ sein, lässt mich aber überlegen, wie viele Selfies auf Festplatten verstauben ohne die Chance bekommen zu haben, vermeintlich narzisstischer Ausdruck zu werden.

Obendrein ist der Selfie nicht bloß Ausdruck unserer Selbstverliebtheit, er ist zudem auch der Wunsch, Momente des eigenen Lebens zu dokumentieren. „Pic or it didn’t happen“ ist der Ruf in den sozialen Netzen dafür. Amüsanterweise erscheint der Selfie bei anderen immer narzisstisch bei dir selbst aber dokumentarisch.

Und dennoch wäre es blauäugig zu glauben, dass uns die Allgegenwartheit der Selfies nicht auch verändert. An der Botschaft haftet eben immer auch die Spur des Mediums. Und der Like, das Herz und der Fav für ein Bild meiner selbst fühlt sich halt leider geil an. Wenn wir uns immer wieder kleine Belohnungsschübe holen können einfach nur dafür, wie wir sind, beziehungsweise wie wir uns inszeniert haben, dann wird dass natürlich auch Einfluss darauf haben, wie wir uns in Zukunft präsentieren.

Buzz Aldrin EVA Selfie.jpg

Buzz Aldrin EVA Selfie“ by Buzz Aldrin – Huffington Post article. Licensed under Public domain via Wikimedia Commons.

Und als letzten Punkt sollten wir auch nicht die Sensationsgier der Betrachter außer Acht lassen. Denn ein Selfie ist immer nur so spektakulär, wie ihn die anderen zu machen bereit sind. Findet er keine Beachtung, dann erhält der Selfer keine Belohnung und ganz behavioristisch sinkt dadurch für ihn der Anreiz weitere Selfies zu machen…

Was folgt nun aus all dem?

Ich denke, wir müssen den Untergang des Abendlandes leider ein weiteres Mal verschieben. Der Selfie an sich bietet eigentlich ziemlich wenig Grund, sich über ihn aufzuregen. Statt dessen sind es die noch nicht zu Ende ausgehandelten Werte und Verhaltensweisen rund um den Selfie, die der Kern des vermeintlichen Übels sind. Diese werden sich einschleifen. Natürlich wird es immer Grenzüberschreitungen und Geschmacklosigkeiten geben, so wie es bei jedem internationalen Fußballtunier Anflüge von Nationalismus gibt. Aber so lange das öffentliche Korrektiv bei Entgleisungen wie Yolocaust funktioniert, hat das Abendland noch eine Hand breit Wasser unterm Kiel.

Lesenswert

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Ein Loblied auf meine Nachbarn

Ich möchte mal eine Menschengattung loben, die sonst meist Schimpf und Tadel erntet: Die Nachbarn. Denn die Nachbarn in unserer neuen Wohnung sind einfach super. Da ich, werte Leser, in Bezug auf Nachbarn ein gebranntes Kind bin, freue ich mich umso mehr über die hiesige Hausgemeinschaft.

Das Leiden der anderen

Mein Leid mit den Nachbarn vergangener Tage und Wohnungen fing 2005 an, als ich mit zwei Kommilitoninnen eine WG geründete. Fairerweise muss ich zugestehen, dass die Nachbarn auch unter uns litten, denn wir hatten nicht bloß einen Kicker-Tisch und eine Freude an Partys bis in die frühen Morgenstunden; nein, wir hatten vor allem eine große Wohnung in unmittelbarer Nähe der Pontstraße, Aachens Partymeile Nummer 1. Sodass mehrmals wöchentlich bei uns vorgeglüht wurde.

Dennoch war es eher Saruman-Style, dass zwei unserer damaligen Nachbarn gleich eine Abmahnung durch unseren Vermieter bewirkten, bevor sie uns auf ihre Bedürfnisse ansprachen und dass in der Abmahnung Dinge wie „permanentes Hämmern und Sägen“ oder „Zu lautes Türenschließen“ beklagt wurden. Die Krönung war, dass ich eines Tages, einen Eimer Wasser über den Kopf bekam, weil sich ein Nachbar daran störte, dass ich im Garten grillte. Welcher Nachbar das war, konnte ich leider nicht feststellen, weil der heldenhafte Kämpfer für saubere Luft das Fenster geschlossen hatte, bevor die Schwerkraft sich daran erinnert hatte, was sie mit Wasser macht und auch auf meine – sagen wir mal – nicht ganz so freundlichen Aufforderungen, sich erkennen zu geben, nicht reagierte.

High Noon an der Mülltonne

Die nächste Wohnung war meine erste gemeinsame mit der Dame und auch dort standen wir mit den Nachbarn auf größerem Kriegsfuß als Bushido mit Toleranz. So hatte ich eine unschöne Begegnung der dritten Art mit dem Hausdrachen, einer Rentnerin, deren Lebensinhalt im Verbotsschilderaufhängen im Treppenhaus und in der ordentlichen Mülltrennung bestand. Wir trafen uns an einem stickigen Sonntag zu High Noon an den Mülltonnen und sie forderte mich auf, meinen Papiermüll gleichmäßig auf alle vier Papiermülltonnen zu verteilen.

Ich so: „Warum?“
Sie so: „Warum was?“
Ich so: „Warum soll ich meinen Müll auf alle Mülltonnen verteilen? Ist es nicht sinnvoller, erst eine Mülltonne voll zu machen und sich dann liebevoll der nächsten Tonne zuzuwenden?“
Sie so: „Nein, der Papiermüll muss gleichmäßig verteilt werden.“
Ich so: „Aber warum?“
Sie so: „Darum!“
Ich so (lachend): „Sorry, aber ‚darum‘ verliert mit dem Abschluss der vierten Klasse seinen Status als Argument.“

Leider war der Hausdrache nicht das einzige Ärgernis in diesem Haus. Als instantane Abstrafung für meine eigenen Lärmbelästigungen nur kurz zuvor setzte der Allmächtige den „Lutscher“ in die Wohnung über uns. Lutscher, den wir aufgrund einer vagen phonetischen Ähnlichkeit zu seinem Vornamen so nannten, war ein alleinstehender Herr in den Vierzigern. Lutscher konnte nicht viel für die Leiden, die er uns bereitete, denn zu seinem eher dickhäutigen Auftreten kam hinzu, dass dies nun wirklich das hellhörigste Haus war, in dem ich je gelebt habe. So wachten wir morgens auf, wenn Lutscher den Radiowecker singend begleitete und „Like a Virgin“ oder „blinded by the light“ intonierte.

Leider hatte Lutscher eine Vorliebe für Kriegsfilme, die im Surroundsound dann durch unser Schlafzimmer dröhnten und mindestens einmal ist er vor dem Fernseher eingeschlafen, sodass ich während der ganzen Nacht immer wieder hochschreckte, sobald der Pro7-Jingle ertönte, der die nächste Werbepause ankündigte. Doch Lutscher war auch kein Unschuldslamm, so ließ er mehrmals täglich Dinge zu Boden fallen, bei denen es sich akustisch nur um Hanteln handeln konnte. Außerdem hat er einmal unser Bad unter Wasser gesetzt, weil er glaubte, eine verstopfte Badewanne am besten dadurch zu befreien, dass er hunderte Liter Wasser laufen lässt. Wasser, das sich dann eben andere Wege suchte…

Doch damit noch nicht genug: Außerdem gab es in dem Haus noch ein junges Pärchen, das wir politisch höchst unkorrekt „die Inder“ nannten. Die Inder stritten sich nicht nur immer sehr lautstark, sie hatten auch oft Besuch, mit dem sie bis in die frühen Morgenstunden feierten, um dann anschließend die Luftmatratze mit einem alten Blasebalg aufzupumpen der klang wie ein asthmakranker Brontosaurus. Einmal, als sie nachts begannen Staub zu saugen, ging ich dann doch mal hoch und klingelte. Durch die Milchglastür ihrer Wohnung konnte ich Frau Inder im Flur erstarren sehen, als die Klingel ertönte. Doch anstatt die Tür zu öffnen, löschte sie nur das Licht. Woraufhin ich lachend umkehrte und ihr noch durch das dünne Glas mitteilte, dass das Licht mich jetzt nicht gerade gestört habe.

Aber in dem Haus gab es auch tolle Nachbarn. Da war der verpeilte Frederick, der sich ständig irgendetwas von uns ausleihen musste, weil er es nicht hatte: Mehl, Butter, Möbel … Der unser Tochter zum ersten Geburtstag einen Bademantel schenkte, der ihr jetzt mit sechs Jahren dann doch mal passte … Und der schon mal vergaß, dass seine Scheidungstochter an diesem Wochenende bei ihm sein sollte, sodass die Teenagerin eben zwei Stunden bei uns rumhing, bevo Frederick nach hause kam. Da war Bastian, der hartnäckig freundlich sich immer wieder zu ihm oder sich zu uns einlud, und der mir das Ziegenproblem erklärte. Da war der LotRi-Nachbar, der an unserer DVD-Sammlung erkannte, dass wir „auch LotRi-Fans“ (Lord of the Rings) waren und uns daraufhin ein ziemlich cooles Die-Zwei-Türme-Poster schenkte. Und es gab den „Immer Grillen“-Nachbarn, der halt einfach immer grillte und uns auch immer gerne dazu einlud. Aber unter Lutscher zu wohnen, verdarb uns letzten Endes doch den Spaß.

Kloschüsseln und Rasenmäher

Als unsere Nerven nicht bloß wegen Lutscher, sondern auch wegen unserer kleinen Tochter schließlich zu dünn wurden, zogen wir um. Leider kamen wir nicht vom Regen in die Traufe sondern direkt in die Jauche-Grube. Die Miete in unserer letzten Aachener Wohnung war so verdächtig niedrig, dass sie uns Warnung genug hätte sein sollen.
In dem Haus wohnten vier Parteien und eine war schlimmer als die andere. Ganz unten wohnte eine Familie von Snobs, die jedes Mal ins Treppenhaus stürmte, wenn man die Haustür nicht vorsichtig genug schloss. Gut, dafür hatte ich noch Verständnis nach unseren jüngsten Erlebnissen. Aber eines Tages, als meine Tochter mitten in der Trotzphase einen Wutanfall hatte, weil ich neben dem Wocheneinkauf und dem Laufrad nicht auch noch sie die Treppe hochtragen wollte, stürmte Frau Snob aus ihrer Wohnungstür und geiferte, dass sie ja Verständnis für Kindererziehung habe, aber bitte nicht im Treppenhaus!
Im zweiten Stock wohnte der Messi. Nicht der Lionel, sondern der Sammler. Und ich sage das nicht, wie man das mal scherzhaft zu jemanden sagt, der oder die etwas unordentlich ist. Ich nenne Messi jemanden, mit dem ich ein halbes Jahr diskutieren musste, bis er unseren Kellerraum von seinem Kram befreite. Seine Sachen standen bei uns im Kellerraum, weil sein Keller bis unters Dach vollgepackt war. Nachdem er seinen Krempel aus unseren Raum geräumt hatte, legten die Dame und ich dort die dickste Plastikfolie aus, die wir für Geld kaufen konnten, weil die untersten Schichten des Krempels schon so sehr verwest waren, dass wie sie nicht vollständig vom Boden loslösen konnten – Sie bildeten eine untrennbare Einheit. Der Messi hatte zum Beispiel drei Kloschüsseln im Keller stehen und vier Rasenmäher – in einem Haus ohne Garten. Man kann ja nie wissen, wofür man die noch gebrauchen kann …
Doch am schlimmsten war die Familie über uns. Eine Familie mit einen schizophrenen erwachsenen Sohn, der leider keinen Bock hatte, seine Medikamente zu nehmen oder gar zur Therapie zu gehen sondern der ein ernstes Drogenproblem hatte. Ich will da nicht in die Details gehen aber es gab unschöne Szenen und phasenweise hatte ich richtig Angst. Besonders als ich ein halbes Jahr vor der Dame und meiner Tochter nach Frankfurt zog, um dort einen Job anzutreten.

The Return of the Hausdrachen

In Frankfurt wohnte ich höchst illegal zur Untermiete in einer Genossenschaftswohnung für einen Appel und ein Ei. Mein illegitimer Status machte es äußerst unangenehm, dass ich bald schon dem dortigen Hausdrachen, beziehungsweise dem Hausdrachen-Rentner-Paar bekannt war und anscheinend als Quelle allen Übels identifiziert wurde. Dabei befolgte ich brav alle Ge- und Verbote, damit ich nicht aufflog. Dennoch waren die Drachen ganz offensichtlich der Meinung, ich würde meine Tetrapacks nicht sorgfältig genug falten, da die gelben Tonnen immer überquollen. Jedenfalls teilten sie mir das eines Abends mit, als sie vor meiner Wohnungstür standen.
Es müssen dann wohl doch andere Nachbarn an der schändlich unsachgemäßen Müllbeseitigung beteilligt gewesen sein, jedenfalls versiegelten die Hausdrachen eines Tages kurzer Hand die gelben Tonnen mit Panzerklebeband und hingen im Treppenhaus Warnschilder auf, dass die Müllentsorgung nur noch Samstags zu bestimmten Uhrzeiten und unter ihren qualifizierten Blicken möglich sein werde. Dieser Mülldiktatur bereitete dann allerdings der Genossenschaftsvorstand schnell ein Ende. Woraufhin die Hausdrachen sich neuen Aufgabenfeldern zuwenden mussten…
Eines Abends saß ich auf dem Balkon und telefonierte mit der Dame im fernen Aachen. Als plötzlich eine nicht ganz so liebliche Stimme vom Nachbarbalkon herüberklang: „RAUCHEN SIE DA?!“

Ich so: „Guten Abend.“
Hausdrache so: „RAUCHEN SIE?“
Ich so: „Ja, in der Tat. Warum?“
Hausdrache so: „SCHMEISSEN SIE IMMER DIE KIPPEN IN DEN HOF?“
Ich so: „Gewiss nicht, werte Dame, ich bin im Besitz eines Aschenbechers.“
Hausdrache so: „WEIL DA LIEGEN IMMER KIPPEN IM HOF, DIE MUSS MEIN MANN DANN WEGFEGEN!“
Ich so: „Das bedauere ich, aber ich benutze – wie gesagt – einen Aschenbecher…“
Hausdrache so (die Balkontür schließend): „ABER NET IN DEN HOF WERFE!“

Schon ein wenig hämisch freute ich mich auf den Tag, an dem ich die Zwischenmiete beenden würde und die Hausdrachen feststellen mussten, dass wohl doch jemand anders der Quell des Übels sein musste…

Hampelmann im Hof

Meine Probezeit ging und mit ihr auch meine Zwischenmiete. Und nur 15 Wohnungsbesichtigungen später hatten wir eine habwegs bezahlbare Bleibe in Frankfurt gefunden. Zunächst schien alles ganz okay: Die Wohnung hatte eine hervorragende Lage mitten in Sachsenhausen, dafür war der Altbau in keinem sonderlich guten Zustand. Aber das hatte zum einen gewissen Charme und zum anderen den schönen Nebeneffekt, dass das von viel höheren Gebäuden umgebene kleine Haus perfekt vom Flug- und Straßenlärm abgeschirmt war, sodass es eine kleine Ruhepause mitten in der großen Stadt war.

Auch die Nachbarn waren allesamt sehr nett: Außer uns wohnten nur Polen in dem Haus, die auf tagsüber auf dem Bau arbeiteten und abends im Hof saßen uns davon träumten genug Geld verdient zu haben, um wieder in ihre alte Heimat zurückzukehren. Sie waren eine sehr nette Runde, aber natürlich gab es auch einen Haken: Der Vermieter wohnte im Nebenhaus.

Wenn ich euch einen Rat geben darf: Zieht nie in eine Wohnung, in der euer Vermieter euer Nachbar ist. Zumal in unserem Fall der Vermieter noch nicht einmal einen Job hatte, sondern von der Miete seiner drei Häuser leben konnte. Doch anstatt seine freie Zeit in die Pflege seiner Immobilien zu stecken, kam er lieber auf dumme Ideen: Eines Tages hingen mal wieder die allseits beliebten Verbotsschilder im Hof: Sämtliche Fahrräder sollten binnen 24 Stunden aus selbigen verschwinden, oder sie würden vom Schrotthändler abgeholt. Wir versuchten noch zwei Mal mit dem Vermieter zu reden, da wir unsererseits so manchen Mangel am Haus bisher ignoriert oder nur zaghaft angesprochen hatten: Man will ja nicht die gute Nachbarschaft verderben. Doch der Mann war es nicht gewohnt, dass man ihm widersprach und sah erst recht nicht ein, dass auf seinem Grundstück Recht und Gesetz gelten sollten. Also fingen wir an Briefe zu schreiben, Reparaturen einzufordern, Fristen zu setzen, die Miete zu kürzen. Vor einem Jahr zogen wir aus und vor wenigen Wochen, zwei Gerichtsprozesse später, haben wir erst den Rest unserer Kaution bekommen…

Die gute Seite der Nachbarschaft

Ihr fragt euch bestimmt schon, ob die Überschrift dieses Blogposts Satire war, aber jetzt kommt das Happy End. Versprochen!
Nun leben wir also seit knapp einem Jahr in diesem neuen Haus im (übrigens vollkommen zu Unrecht) verrufenen Frankfurter Gallus. Und alles ist anders. Seit ich hier wohne, musste ich noch nicht ein Paket von der Post holen, weil sich immer irgendein Nachbar fand, der es für uns annahm. Schon als wir einzogen, parkte ich mein Auto mal im Hof, um Kisten auszuladen, obwohl andere Nachbarn Miete für das Parken im Hof bezahlen müssen. Als dann ein solcher Nachbar mit seinem Auto kam, versicherte ich, dass ich gleich wieder weg bin, ich müsse nur noch schnell die eine Kiste hochtragen. Seine Antwort: „Machen Sie ruhig! Wenn man Kisten tragen muss, dann muss man Kisten tragen…“

Doch jetzt hatte meine Tochter (jetzt 7) Kindergeburtstag und ich war skeptisch, als die Dame Deko im Treppenhaus und an der Haustür anbrachte. Als gebranntes Kind rechnete ich wieder mit Verbotsschildern und Briefen vom Vermieter. Umso gerührter war ich, als wir dann am nächsten Morgen dies vor unserer Tür fanden:

geburtstagsgruesse
Geburtstagsgrüße

Intention und Intension – Der Gang der Gauchos

Deutschland diskutiert die sogenannte Gaucho-Affäre. Stein des Anstoßes war dieses Auftreten von Teilen der deutschen Nationalmannschaft.

Nun gibt es eine Fraktion, die sich gewaltig aufregt, wie rassistisch dieser Tanz war.

Quelle: Reactiongifs. Lizenz: fragwürdig.

Während die andere Fraktion sich gewaltig aufregt, dass die erste Fraktion keine Ahnung hat, weil der Tanz doch gar nicht rassistisch gemeint war.

Quelle: Reactiongifs. Lizenz: fragwürdig.

Ich finde hieran kann man sehr schon den Unterschied zwischen zwei Begriffen der Semantik erkennen: Intention und Intension. Der erste Begriff „Intention“ ist landläufig bekannt und meint in etwa:

  • Was ist mit einem Symbol gemeint
  • Was ist die Absicht eines Symbols

Und vielleicht auch noch:

  • Was denkt man sich bei einem Symbol

Wobei das schon in Richtung der Intension geht. Oder gar:

  • Was bezweckt man mit einem Symbol

Das wiederum spielt in Illokution und Perlokution hinein, aber das ist Sache der Pragmatik und wurde bereits ein andermal besprochen

Die Fraktion, die also meint, man soll sich mal locker machen, wäre doch alles halb so schlimm. Die begründet das mit der Intention. Das Symbol ist in diesem Fall der Gaucho-Tanz: Die DFB-11 hat diesen nicht rassistisch gemeint, es war nicht die Absicht der DFB-11, rassistisch zu wirken, sie hatten keine rassistischen Gedanken und der Tanz hatte auch nicht bezweckt, einen neuen Nationalismus zu promoten. Das alles gestehe ich den weltmeisterlichen Tänzern auch zu. Das von Einwanderern und Einwanderernachkommen geprägte Team hatte bestimmt nicht die Absicht Rassismus zu propagieren, dafür werden sie von den Fußballerverbänden zu oft und zu intensiv auf Toleranz eingeschworen.

Was ist gutes Bier?

Also ist alles super, oder? Na ja, ich hatte da ja noch diesen zweiten Begriff: die Intension. Der stammt aus der Semantik und ist weitaus weniger bekannt als die Intention. Was hat es mit ihm auf sich? Die Intension ist der Sinn eines Symbols, seine Bedeutung (aber nicht im Fregeschen Sinn (haha…)). Sie stammt aus dem Begriffspaar Extension und Intension. Jeder Begriff hat eine Extension, einen Begriffsumfang. Wenn ich von „Bier“ spreche, bezieht sich dieser Begriff auf alle Dinge in der Welt, die Bier sind. Diese Dinge sind die Extension des Begriffs. Wenn ich hingegen von „Pils“ spreche, wird die Erfüllungsklasse des Begriffs kleiner und es fallen nur noch Biersorten darunter, die auf eine bestimmte Art und Weise gebraut wurden – die Extension ist also kleiner. Und richtig kompliziert wird es, wenn ich den Begriff „gutes Bier“ verwende. Die Extension dieses Ausdrucks ist äußerst verworren und führt etwa zwischen Köln und Düsseldorf immer wieder zu heftigen Diskussionen. Woran liegt das? Meine steile These: An der weiten Hälfte des Begrifffspaars Extension und Intension: der Intension. Die Intension, also der Sinn von „gut“ ist äußerst verworren und vor allem im höchsten Maße subjektiv.

Das Standardbeispiel mit dem Philosophie- und Linguistikstudierende Intension und Extension erlernen müssen ist Freges berühmtes Beispiel von „Abendstern“ und „Morgenstern“. Beide Begriffe haben die gleiche Extension: den Planeten Venus. Aber höchst unterschiedliche Intensionen: Ich kann zwar vom Morgenstern sagen, dass er der letzte Stern ist, den ich morgens am Himmel sehe. Aber das kann ich nicht vom Abendstern sagen…

Kehren wir jetzt zum Gaucho-Tanz zurück. War der jetzt rassistisch? Wie, zur Hölle, soll ich das entscheiden?! Ihr habt gesehen, wie kompliziert die Intension von so simplen Symbolen wie „Morgenstern“, „Abendstern“ oder gar „gutes Bier“ ist, aber das ist nichts gegen die Bedeutung eines so komplexen Symbols wie eines Tanzes. Schon alleine weil ich dafür erst einmal ganz tief in die Metapherntheorie einsteigen müsste und so Sachen wie „Ausdruck“ erläutern müsste!

Aber eines ist wichtig: Nach Wittgenstein ist die Bedeutung (im Sinne von Intension) eines Begriffs, sein Gebrauch in der Sprache. Und wir können hier ohne Probleme „Begriff“ durch „Symbol“ und „Sprache“ durch „Symbolsystem“ ersetzen. Was Wittgenstein mit diesem lyrischen Satz meint, ist, dass die Regeln der Verwendung eines Symbols bestimmen, was das Symbol aussagt. Der Gaucho-Tanz nun hat auf jeden Fall rassistische Bedeutungskomponenten, denn es wird einer Bevölkerungsgruppe (Argentiniern) eine Eigenschaft zugesprochen (geknickt zu gehen). Die Frage ist jetzt, ob „Gaucho“ metaphorisch nur für die argentinische Nationalmannschaft verwendet wurde und ob die Gangart dieser Mannschaft oder gar der Bevölkerungsgruppe wirklich als Wesenszug oder nur als ephemeres Attribut in der Niederlage zugeschrieben wurde. Die Verwendungsweise des Symbols ist eben unklar. Dabei ich habe noch nicht einmal mit Konnotationen angefangen…

Und wissta was? Genau das handeln wir gerade in der laufenden Debatte aus. Denn die Bedeutung von Symbolen steht nicht fest, sondern wandelt sich ständig. Rosa symbolisierte noch im 19. Jahrhundert Männlichkeit, doch der Gebrauch des Symbols hat sich massiv gewandelt!

Imperial Art Appreciation: Pink

Imperial Art Appreciation: Pink von JD Hancock Lizenz: CC BY 2.0.

Daher ist die aktuelle Diskussion nicht nervig sondern wichtig und richtig, damit wir die Bedeutung solcher Symbole in unserer Gesellschaft aushandeln können.

P.S.: Für mich ist übrigens ganz unstrittig, dass der Tanz zumindest hämisch war und das macht ihn und die Tänzer mir unsympathisch. Nicht so unsympathisch, dass ich nie wieder Fußball ansehen werde, aber er trübt mein Bild von der Mannschaft ein bisschen. Und da hilft der Hinweis darauf, dass es sich um einen etablierten Fangesang handelt nur wenig, denn nicht alles was in Fußballstadien passiert gefällt mir. So war ich zum Beispiel ungläubig verwundert als beim letzten Derby zwischen meiner Eintracht und Mainz, eine Mutter zwei Reihen vor mir „Alle Mainzer sind Hurensöhne“ skandierte, obwohl ihre vielleicht 10-Jährige Tochter daneben stand. Vielleicht sollte für Fußballstadien gelten, was für Vegas gilt:

panorama (Bearbeitung von mir) von  Martin Abegglen . Lizenz: CC BY-SA 2.0
panorama (Bearbeitung von mir) von Martin Abegglen. Lizenz: CC BY-SA 2.0

 

Literatur

Austin, John L. 1966. “Three Ways of Spilling Ink.” The Philosophical Review 75, 427-440. Printed in 1961, James O. Urmson and Geoffrey J. Warnock (eds.), Philosophical Papers (pp. 272-287). Oxford: Clarendon Press.

– Habe ich leider nirgends im Netz gefunden, über Hinweise freue ich mich…

Gottlob Frege: Sinn und Bedeutung. Hier legal und umsonst.

Nelson Goodman: Sprachen der Kunst*

Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen*

 

*hinterhältiger Affili-Link: Kauft ihr das Buch, bekomme ich eine winzige Provision und freue mich

 

Frankfurt in Bildern #1 – Viele Dörfer

Ich mache sehr viele Fotos von Frankfurt und es ist eigentlich schade, dass die nur auf meiner Festplatte vergilben. Daher möchte ich eine kleine Fotoserie starten und euch meinen Blick auf Frankfurt zeigen. Die Bilder sind keine große Kunst, sondern nur meine Sichtweise. Ich stelle sie unter die Lizenz: CC BY 3.0 DE. Könnta mit machen, was ihr wollt, solange ihr meinen Namen nennt.

Babylon am Horizont
Babylon am Horizont

 

Das ist das Bild von Frankfurt, das der Rest der Republik hat. Die Türme der Banken, hier von Westen aus gesehen, stehen stellvertretend für die komplette Stadt. Aber die Frankfurter Rundschau schrieb mal: Frankfurt ist ein Dorf, oder besser, viele Dörfer.

Einfach nur Seckbach
Einfach nur Seckbach

Eine dieser Dörfer finden wir im Nordosten der Stadt: Seckbach. Ein verschlafenes Nest vor dessen Toren sogar die U-Bahn endet.

Schweizer Skylineblick
Schweizer Skylineblick

Und zu solchen idyllischen Flecken wie Seckbach bildet dann das großstädtische Zentrum den harten Kontrast. Wie hier von der Schweizer Straße in Sachsenhausen aus gesehen.

Von der Moderne vergessen
Von der Moderne vergessen

Aber gerade in Sachsenhausen finden sich dann zwischen den Bausünden des 20. Jahrhunderts und den Bürgerlichen Statussymbolen des 19. Jahrhunderts ein paar von der Moderne vergessene Schätze.

Downtown Mainhätten
Downtown Mainhätten

Auf der anderen Seite versucht auch das Bankenviertel rund um die Alte Oper sich einen neoklassizistischen Anstrich zu geben.

Versteckt
Versteckt

In Rödelheim, das uns ja bereits gut bekannt ist, hingegen wird klassische Architektur fast schon versteckt.

Die zwei Türme
Die zwei Türme

Der Main prägt Frankfurt sehr. Nördlich seiner Wasser liegt „Hibbedebach“ hier mit der neuen Europäischen Zentralbank im Bau, südlich des „Bachs“ liegt dann entsprechend „Dribbedebach“.

Hessischer Sandstein
Hessischer Sandstein

Der größte Stadtteil in Dribbedebach ist Sachsenhausen. Und in Sachsenhausen finden sich noch viele dieser typisch hessischen Sandsteinbauten. Für mich, als gebürtigen Hessen, bedeuten diese Häuser mit ihrem beigen Putz, der von rotem Sandstein eingefasst ist, dass ich zuhause bin.

Die neue EZB halbfertig
Die neue EZB halbfertig

Kontrastiert wird der Sandstein dann aber von den Stahl und Glas Exessen der Banken. Ständig wird ein neuer Turm gebaut, wie hier die Europäische Zentralbank im Ostend.

Neues wird hochgezogen
Neues wird hochgezogen

Seit ich 2010 nach Frankfurt gezogen bin, wurde die Skyline um drei Türme ergänzt, ein vierter wird gerade hochgezogen und unzählige weitere sind geplant.

Dornröschenschloss in Höchst
Dornröschenschloss in Höchst

Dass Frankfurt schon immer die Tendenz hatte, hoch hinaus zu bauen, sieht man allerdings in Höchst, ganz im Westen der Stadt, wo sich am Mainufer ein kleines Märchenschloss findet.

Die Skyline eingerahmt
Die Skyline eingerahmt

Die Türme sind aber nie allzuweit weg, man sieht sie immer irgendwo hervorblitzen wie hier am Uni Campus Westend.

Hinterhofsandstein
Hinterhofsandstein

Während man die alten Häuser oft in Hinterhöfen suchen muss, wie dieses hier mitten im Zentrum.

Making up the Prachtallee as we go along
Making up the Prachtallee as we go along

Im Westen zieht Frankfurt gerade das neue Europaviertel hoch und mit ihm eine standesgemäße Prachtallee, man will sich ja schließlich nicht hinter Paris verstecken müssen.

Belegte Brote
Belegte Brote

Während im äußersten Osten, in Fechenheim die Uhren etwas langsamer ticken, aber dafür auch alles ein wenig herzlicher zu sein scheint.

Der Bach im Abendsonnenschein
Der Bach im Abendsonnenschein

Die Frankfurter geben nicht nur ihren Stadtteilen sonderbare Namen, sondern auch vielen Hochhäusern. So ist der Runde Turm dort…

Westhafen
Westhafen

Das „Gerippte“. Ein Geripptes ist eigentlich ein Apfelweinglas mit traditionellem Muster und der grünlich schimmernde Turm hat eben ein solches, wenn man ihn aus der Nähe sieht.

Soll und Haben
Soll und Haben

Natürlich haben die Türme auch immer irgendwelche hochtrabenden Namen, aber der Frankfurter an sich nennt sie eben nicht bei diesen. So sagt er zum Beispiel zu den beiden Türmen der Deutschen Bank „Soll und Haben„.

We die it our way in Höchst
We did it our way in Höchst

Und dennoch findet man immer wieder dörfliche Ecken, wie hier in Höchst.

 

Das war der erste Streich meiner kleinen Frankfurter Bilderreihe und der zweite folgt… äh … irgendwann demnächst halt.

Die 8 – ich sag mal: „am wenigsten plausiblen“ – Irrglauben

Wir alle sind nicht durch und durch rational. Und das ist auch gut so. Es macht uns zu Menschen, dass wir mal Blödsinn machen, mal über die Stränge schlagen. Ich persönlich habe mich gestern beim „auf Holz klopfen“ erwischt, obwohl ich bei Leibe nicht verstehe, wie ein dumpfes Geräusch Pech abwenden soll. Genauso wünsche ich mir bei jeder Sternschnuppe und jeder ausgefallenen Wimper etwas. ABER ICH HAB DIESES SCHEISSPONY NOCH NIE BEKOMMEN!!!!!! Das Leben wäre ziemlich trist, wenn wir immer rational handeln würden, wenn wir nie zu viel trinken, zu fettig oder zu süß essen, zu lange wach bleiben oder vier Staffeln Louie am Stück gucken würden.

Hufeisen bringen Glück, oder?
Hufeisen bringen Glück, oder?

Aber dann gibt es neben unserem alltäglichen Aberglauben auch noch Irrglauben, die mir so absurd erscheinen, dass mir einfach nicht in den Kopf will, wie Menschen daran wirklich glauben können. Daher habe ich mal wieder eine kleine Liste mit den acht absurdesten Irrglauben erstellt.

Auf Platz 8: Astrologie und Horoskope

Ich meine: WTF? Sterne, die unzählige Lichtjahre weit entfernt sind, sollen Einfluss darauf haben, ob ich heute im Lotto gewinne? Warum? Das geht mir nicht in den Kopf. Gasbälle, die so gigantisch sind, dass ihnen einzelne Menschen auf einem unscheinbaren Planeten in einem „aus der Mode gekommenen“ Spiralarm der Galaxie eigentlich vollkommen sternschnuppe sein müssten, sollen sich darum kümmern ob „Stiere“ besser mit „Waagen“ auskommen oder „Wassermänner“ lieber „Fische“ heiraten sollten? Am beklopptesten finde ich noch, dass ich manchmal angeguckt werde, als wäre ich ein schlechter Vater, wenn ich auf die Frage nach dem Sternzeichen meiner Tochter (6) mit „Keine Ahnung“ antworte…

Platz 7: Scientology

Laut Scientology haben wir unsterbliche Wesen in uns, die sich „Thetane“ nennen. Diese Thetane wurden von einem intergalaktischen Herrscher

„von weit entfernten Planeten auf die Erde verschleppt […] und dort durch gewaltsame Verfahren so schwer traumatisiert[], dass sie nun als körperlose Cluster (Körper-Thetanen genannt) anderen Menschen anhängen und sie in ihren Möglichkeiten beeinträchtigen.“

Quelle: Wikipedia.

Ob du und dein Thetan Buddies sind, kannst du mit einem Gerät, namens E-Meter messen, das im Wesentlichen elektrische Widerstände misst. Und um mit deinem Thetan dufte auszukommen, musst du schweineteure Kurse belegen.

Scientology e meter blue.jpg
Scientology e meter blue“. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons.

Das ganze geht auf L. Ron Hubbard zurück, von dem böse Zungen sagen, er hätte bloß festgestellt, dass er seine Science-Fiction-Bücher besser verkaufen kann, wenn die Leute glauben, es wäre Religion. Ich für meinen Teil finde das alles so krude zusammengekleistert, dass ich es schlichtweg nicht ernst nehmen kann. Daher landet Scientology auf einem ehrenvollen siebten Platz und wer es freiwillig macht und Spaß daran hat, soll diesen meinetwegen weiterhin haben…

Platz 6: Die wörtliche Bibelauslegung

Ich habe nichts gegen Religiosität, denn man kann sowieso nie abschließend entscheiden, ob Gott existiert oder nicht. Aber was ich absurd finde? Wenn Menschen die Bibel beim Wort nehmen.

Fassen wir doch mal zusammen: Gott hat die Erde vor ca. 6.000 Jahren in sieben Tagen geschaffen. Also nur kurz vor den Pyramiden. Dann hat er den Mann aus Lehm zusammengematscht und die Frau aus der Rippe des Mannes. Warum? War der Lehm alle?

Oder nehmen wir mal die Nummer mit der Vertreibung aus dem Paradies: Ja klar, da wurde irgendwie das Vertrauen verletzt und deswegen wurde Adam und Eva Hausverbot erteilt. Aber warum wurde die Schlange bestraft? Die hat doch eigentlich Eva nur die Wahrheit über den Baum der Erkenntnis erzählt. Die Schlange war quasi der Snowden des Paradies‘!

Auch komisch ist, dass Gott in den ersten 4.000 Jahren ziemlich viel mit den Menschen interagiert hat aber seit 2.000 Jahren ist plötzlich Funkstille. Ist Gott noch immer eingeschnappt wegen dieser Kreuzigungsnummer? Und was war das eigentlich für eine arschige Aktion mit der vorgetäuschten Opferung von Abrahams Sohn? Was hat sich der „liebe“ Gott dabei gedacht?

Aber am absurdesten ist, dass Gott von Sex besessen ist! Kein Sex vor der Ehe, keine Homosexualität, keine Masturbation? Hat der keine anderen Sorgen? Wie wäre es mal mit Weltfrieden oder Hunger der Welt stillen? Klingt alles ziemlich absurd, wenn ihr mich fragt…

Platz 5: Die animistische Evolution

Was hat sich die Natur nur dabei gedacht? Nix! Die Natur denkt nichts, genauso wenig wie die Evolution. Dennoch sprechen wir von ihr im Alltag oft wie von einem lebendigen Wesen mit einem eigenen Willen. Eine Hebamme sagte kürzlich im Gespräch zu mir, dass die Evolution die menschliche Geburt schon gut eingerichtet habe. Und in einem linguistischen Fachbuch zum Spracherwerb las ich einst sogar über das Absenken des Kehlkopfs (das den Spracherwerb ermöglicht, aber zugleich die Erstickungsgefahr für den Säugling erhöht), dass man daran sehe, welch hohen Stellenwert die Evolution der Sprache eingeräumt habe. Die Sache ist aber: Stimmt halt nicht. Die Natur oder die Evolution denkt sich nichts, sie richtet nichts ein und hat erst recht keinen Sinn für irgendeinen Stellenwert.

Evolution ist auf zwei minimalistische und komplett unintelligente Prinzipien zurückzuführen: 1. Mutation – Bei der Vererbung entstehen Fehler. 2. Survival of the fittest – Von zwei Varianten eines Lebewesens überlebt diejenige am wahrscheinlichsten, die besser an seine Umwelt angepasst ist. Das Ding ist aber, dass nicht jede Mutation immer zum Vorteil oder zielgerichtet ist. Mein Lieblingsbeispiel für sinnlose Natürlichkeit ist, dass die Speiseröhre direkt neben der Luftröhre liegt. Nur deshalb können wir uns verschlucken. Aber das hat überhaupt keinen Nutzen. Das ist vollkommen sinnlos, die Natur hat sich eben nichts dabei gedacht.

Ein anderes Beispiel: Als vor Milliarden von Jahren kleine Zellklumpen durch den Ozean paddelten, hatten die einen Überlebensvorteil, die zufällig lichtempfindliche Zellen ausbildeten. Dass es aber auch unzählige sinnlose Mutationen gab und etwa diejenigen Zellklumpen starben, die einen Sinn für Karomuster ausbildeten, das wird immer vergessen, wenn wir sagen, da hat sich die Natur schon was bei gedacht. Das ganze geht übrigens auf unseren Wunsch zurück, uns die Welt teleologisch zu erklären

Platz 4: Homöopathie

Die Homöopathie ist quasi für Deutschland das, was Scientology für Amerika: die nicht wirklich zu Ende gedachte Küchenreligion des kleinen Unlogikers. Ich fasse das Konzept der Homöopathie mal mit eigenen Worten zusammen. Gleiches soll mit gleichem geheilt werden. Die Ärztin soll der Patientin Mittel geben, die bei einer gesunden Person eigentlich genau die Symptome erzeugen, die sie jetzt heilen sollen. Mit anderen Worten: Patienten wird Gift verabreicht. Als sich Samuel Hahnemann diesen Mumpitz ausgedacht hat, gab es nur ein Problem: Seine Patienten starben wie die Fliegen. Daher fing er an, die Gifte immer weiter zu verdünnen. Die besten Ergebnisse erzielte er dann logischerweise, wenn er ein Gift so weit verdünnt hatte, dass es im Wasser oder im Zucker, in dem es gelöst war, nicht mehr nachzuweisen war. Das war jetzt aber auch irgendwie suboptimal… Patienten Wasser oder Zucker zu geben und zu behaupten, das sei Medizin, war unglaubwürdig. Denn beides nimmt schließlich jeder Mensch täglich in rauen Mengen auf. Daher kam Hahnemann auf die grandiose Idee, zu behaupten, das Wasser erinnere sich an die Substanz. Und wer hier jetzt nicht die Frage stellt, mit welchem Gehirn sich das Wasser erinnern soll und warum es sich zwar an Homöopathie aber nicht an den letzten Toilettengang erinnert, dem verordne ich eine Überdosis Globoli…

Platz 3: Lichtnahrung

Aufs Treppchen schafft es letztendlich die Lichtnahrung. Denn wo die Homöopathie nur mehr oder weniger harmloses Placebospinnerei ist, da ist Lichtnahrung Darwin-Award-verdächtige Idiotie. Ich gebe das Wort ab an die Wikipedia:

„Lichtnahrung oder auch Breatharianismus bezeichnet eine esoterische Methode, bei der nach Vorstellung ihrer Anhänger die für das Leben notwendige Energie aus feinstofflicher Energie („Licht“; siehe „Prana“ als universelle Lebensenergie) gewonnen werden soll. Dadurch soll man imstande sein, ohne feste und flüssige Nahrung auszukommen, die sonst zum Überleben notwendig ist.“

Ja, nee, is klar.

Platz 2: Impfskepsis

Silber geht an die Impfskepsis. Denn wo sich ein Lichtfresser nur selbst schädigt, schädigt eine Impfgegnerin ihre Kinder! Mal vom ethischen Aspekt abgesehen (Impfgegner sind Schmarotzer, die nur überleben, weil sie sich auf den Herdenschutz der anderen verlassen können), haben Impfskeptiker sogar einen Funken Wahrheit gefunden: Impfungen haben Nebenwirkungen. Meine Tochter (6) musste eine solche Nebenwirkung kürzlich ertragen. Nach der Impfung gegen Diphtherie, Tetanus und Keuchhusten war ihr Arm fast eine Woche lang geschwollen und tat weh. Das ist Kacke, man will ja nicht, dass das eigene Kind leidet. Allerdings sind Impfungen eben Risikoabschätzungen. Denn dem schmerzenden Arm steht beispielsweise das gegenüber:

„Tetanus, auch Wundstarrkrampf genannt, ist eine häufig tödlich verlaufende Infektionskrankheit, welche die muskelsteuernden Nervenzellen befällt und durch das Bakterium Clostridium tetani ausgelöst wird. Die resistenten Sporen des Bakteriums kommen nahezu überall vor, auch im Straßenstaub oder in der Gartenerde. Die Infektion erfolgt durch das Eindringen der Sporen in Wunden.“

Wikipedia: Tetanus.

Klingt scheiße, ist es auch! Ich will auch nicht verschweigen, dass es manchmal schlimmere Impfnebenwirkungen geben kann. Allerdings sind die seeehr unwahrscheinlich und fast ausschließlich nicht so schlimm wie die Krankheiten, gegen die geimpft wird. Aber Silber gibt es vor allem für die Behauptung, dass Impfen Autismus auslösen kann. Denn das ist schlichtweg gelogen. Genauso kann ich mich jetzt hier hinstellen und behaupten, dass Schokoeis Krebs erregt. Oder dass Sex vor der Ehe ins Fegefeuer führt. Oh…

Platz 1: „Miracle Mineral Supplement“

Gewinner der Goldmedaille, auf Platz 1 und damit auf dem Gipfel der Idiotie ist MMS – „Miracle Mineral Supplement“. Wenn dein Kind dann nämlich durch die Impfung zum Autisten wurde, dann kannst du es wieder „gesund“ machen, indem du ihm Natriumchlorit in den Arsch bläst. Oh, das klingt aber schmerzhaft! Und wissta was? Das ist es auch!

„Bei dieser umstrittenen Therapiemethode wird Natriumchloritlösung verabreicht, in welcher durch Zumischen von Citronensäure das hochreaktive giftige Chlordioxid freigesetzt wird, das normalerweise zu Desinfektionszwecken oder zum Bleichen verwendet wird.“

Wikipedia: MMS.

Das Gift wird auch gerne gegen Krebs, AIDS, ADHS und Demenz verabreicht. Eben wenn Patienten oder Eltern verzweifelt genug sind, um ihnen noch etwas Geld aus der Tasche zu leiern. Ähnlich wie bei Hahnemanns Quacksalberei tritt hier natürlich das Problem auf, dass die Patienten merken, dass die vermeintliche Medizin ihren Gesundheitszustand verschlechtert. Daher interpretieren die Anhänger dieser Körperverletzung einfach die Ergebnisse um. Aus Tag wird Nacht, aus Nord wird Süd und ein Patient, der sich kranker fühlt, ist eigentlich auf dem Weg der Besserung, da sein Körper jetzt gegen die Krankheit ankämpfe, gegen die MMS gegeben wurde. O.o

So das war sie, meine Liste der „am wenigsten plausiblen“ Irrglauben. Ich wette, ihr habt auch noch den einen oder anderen Kandidaten in der Hinterhand. Ich würde mich über Anregungen in den Kommentaren freuen!

Ich will auch mal ein paar Lieblingstweets posten

Damit ihr seht, wie toll Twitter ist. Ach ja, ich bin betrunken…

Das ist voll lustig, oder? Weil es ja so selbstverständlich ist und wir uns alle den Verpeiler vorstellen können…

Auch mörderlustig, weil Schokoladen“schale“ ja gar nicht essbar ist und alle immer so meinen, dass ekelige Schale wegen irgendwelcher Vitaminen wertvoll wäre.

Wirklich irritierend…

Sie wissen schon, der Suarez hat einen anderen Spieler gebissen…

Empfängnisverhütung, hihi, verstehta?

Das ist doch gar keine Skulptur, das ist Überwachung!

Erwähnte ich, dass ich betrunken bin? Morgen ist mir dieser Post bestimmt voll peinlich. Oder er wird total oft gelesen, dann muss ich immer betrunken bloggen. EIN TEUFELSKREIS! Äh Dilemma?

Es gibt die selbstlose gute Tat!

Es gibt einen Mythos in unserer Gesellschaft, den uns, soweit ich das sehe, Immanuel Kant eingebrockt hat.

Ein Mythos sickert ins abschließende Vokabular

Vor 229 Jahren, im Jahr 1785 erschien Immanuel Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Und mit dem Einsickern der Grundlegung ins abschließende Vokabular kam ein Irrtum in die Welt, der seit dem Millionenfach wiederholt wurde und dadurch doch nicht richtiger wird: Die Vorstellung, dass es keine selbstlose gute Tat gäbe.

Die Argumentation geht folgendermaßen: Du tust etwas gutes, das zwar vordergründig selbstlos ist, aus dem du also keinen Nutzen ziehst. Du wirfst etwa einem Obdachlosen etwas Geld in den Hut. Doch durch eben diese Handlung fühlst du dich gut, weshalb du letztlich doch davon profitierst – die Tat ist also nicht selbstlos. Auf die Spitze wird die Argumentation dann oft noch dadurch getrieben, dass hinzugefügt wird, dass du die gute Tat nur deshalb getan hast, weil du dich gut fühlen wolltest. Das bedeutet, dass wir alle letztendlich immer egoistisch handeln. Denn selbst, wenn wir dies anscheinend nicht tun, machen wir es immer in Wahrheit nur, weil wir uns gut fühlen wollen. Es gibt also keinen Altruismus.

Der von Gram umwölkte Menschenfreund

Bevor ich dieses Argument widerlege, möchte ich mal wieder ein bisschen philosophische Grundlagenarbeit leisten und zeigen, in welchem Kontext Kant – dem ich ja alles in die Schuhe geschoben habe – die selbstlose gute Tat ins Spiel bringt.

Zu Beginn der Grundlegung legt Kant dar, dass „der gute Wille“ der höchste Wert der Ethik ist. Ob dies so ist, ist eine andere Geschichte, der ich mich ein anderes Mal widmen werde. Es geht mir heute um einen anderen Punkt, nämlich den nämlichen: Nach dem Abschnitt mit dem guten Willen führt Kant den Begriff der Pflicht ein, denn Kant will auf eine „Pflichtenethik“ hinaus (GMS 397). Der Begriff der Pflicht enthalte den Begriff des guten Willens, so Kant. Fortan interessiert sich Kant besonders für Handlungen, die aus Pflicht vollzogen werden, zu denen aber zugleich die Handelnde eine unmittelbare Neigung habe.

Kants erstes Beispiel ist ein Händler, der faire Preise hat. Kant diagnostiziert, dass dieser Händler weder aus Pflichtbewusstsein, noch aus unmittelbarer Neigung faire Preise hat, sondern aus schnödem Eigeninteresse, um auf dem Markt zu bestehen. Na? Merkta was?

Kants nächstes Beispiel ist der Erhalt des eigenen Lebens. Dem Christentum folgend behauptet Kant ohne weitere Begründung, dass dies eine Pflicht sei und zugleich hat jeder eine Neigung dazu. In diesem Fall verhält man sich zwar „pflichtmäßig“, also der Pflicht entsprechend, aber nicht aus Pflicht.

„Dagegen, wenn Widerwärtigkeiten und hoffnungsloser Gram den Geschmack am Leben gänzlich weggenommen haben, wenn der Unglückliche, stark an Seele, über sein Schicksal mehr entrüstet als kleinmütig oder niedergeschlagen, den Tod wünscht und sein Leben doch erhält, ohne es zu lieben, nicht aus Neigung oder Furcht, sondern aus Pflicht: alsdann hat seine Maxime einen moralischen Gehalt.“

Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 398.

Der Suizid ist auch ein spannendes Thema und einem eigenen Blogpost würdig, aber auch auf diesen, und ob er moralisch verwerflich ist, will ich nicht hinaus. Sondern klarmachen, wie Kant den Begriff „aus Pflicht“ verwendet. Moralisch ist eine Handlung nach Kant nämlich nur, wenn man sie aus Pflicht vollzieht und das bedeutet für ihn immer, dass man sie gegen seine eigenen Neigungen vollführt. Kant fährt entsprechend auch fort, indem er nun endgültig die weitverbreitete Argumentation aufgreift: Es gibt viele Menschen, denen es Freude bereitet, Gutes zu tun. Aber wenngleich deren Handlungen dann pflichtgemäß sind, so geschehen sie dennoch nicht aus Pflicht und haben somit „keinen wahren sittlichen Wert“ (398).

„Gesetzt also, das Gemüt jenes Menschenfreundes wäre von eigenem Gram umwölkt, der alle Teilnehmungen an anderer Schicksal auslöscht, er hätte immer noch Vermögen, den Notleidenden wohlzutun, aber fremde Not rührte ihn nicht, weil er mit seiner eigenen genug beschäftigt ist, und dann, da keine Neigung ihn mehr dazu anreizt, risse er sich doch aus dieser tödlichen Unempfindlichkeit heraus und täte die Handlung ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht, alsdenn hat sie allererst ihren echten moralischen Wert.“

Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 398.

Wie wir sehen, vertritt Kant die These „Es gibt keine selbstlose gute Tat“ – in Kants Terminologie: Tat aus Pflicht – nur in abgeschwächter Form und räumt ein, dass man im Falle einer ernsten Depression doch mal gut, da aus Pflicht, handeln kann. Da dieser Fall so konstruiert ist, hat der Volksmund wohl ganz zu Recht daraus gemacht, dass es keine selbstlose gute Tat gibt.

Gesinnungsethik und Handlungsethik

Nein! Stopp! Es ist eben nicht zu Recht, sondern vollkommen falsch! Kant hat viele kluge Dinge geschrieben, aber dies hier gehört nicht dazu. Und das Schlimme ist, dass dieses Argument Kants so wirkungsmächtig war, weil sich damit ganz hervorragend der eigene Egoismus rechtfertigen lässt: „Warum soll ich dem Penner einen Euro geben? Wenn ich es tue, dann doch nur, weil ich mich gut fühlen will, dann kann ich es doch gleich lassen und mich um meinen eigenen Scheiß kümmern.“

Das Problem ist, dass Kant eine „Gesinnungsethik“ etabliert. Das wird schon an Kants höchstem Wert, dem guten Willen deutlich. Nicht eine moralisch gute Handlung kommt für Kant als höchster Wert in Frage sondern eine innere Einstellung. Und ich möchte hier behaupten, dass das falsch ist. Auch wenn es streng genommen kein Falsch (zumindest in diesem Sinn) in der Ethik gibt. Ich bin der Überzeugung, dass allein Handlungen einen moralischen Wert haben, will also im Gegensatz zur Gesinnungsethik eine Handlungsethik verteidigen. Und ich gehe noch weiter, indem ich sage, dass wir gewöhnlich alle nur Handlungen und nicht Gesinnungen moralischen Urteilen unterwerfen. Und diese Argumentation, wonach es keine selsbtlose gute Tat gibt, somit vom normalen Sprachgebrauch von „selbstlos“ abweicht. Das werde ich im Folgenden doppelt beweisen.

Gott als Game-Changer

Mein erster Beweis werde ich anhand eines unserer ältesten ethischen Dokumente vollziehen: den zehn Geboten. Das ist tricky, denn die zehn Gebote sind genau wie Kants Ethik eigentlich eine Gesinnungsethik, das wird gleich am ersten Gebot klar:

1. Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.

Die Zehn Gebote nach Martin Luthers Kleinem Katechismus

Genauso verhält es sich mit den Geboten 9 und 10:

9. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.

10. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat.

Die Zehn Gebote nach Martin Luthers Kleinem Katechismus

BTW: Auch interessant, dass das Haus ein eigenes Gebot hat, aber das Weib mit dem restlichen Kladderadatsch zusammengeschmissen wird. Ferner wird die männliche Zielgruppe der 10 Gebote klar…

Ich kann ja ausschließlich in Gedanken einen anderen Gott haben und ich kann nur in Gedanken begehren. Das würde Gott nicht gefallen. Also haben Kant und die Bibel doch Recht mit ihrer Gesinnungsethik? Ich glaube nicht und der entscheidende Punkt hier ist, dass Gott als Game-Changer ins Spiel gebracht wird. Denn der Allmächtige kann unsere Gedanken lesen und somit werden aus diesen inneren Zuständen Handlungen. Im Katholizismus wird das zum Beispiel im Akt der Beichte symbolisiert. Erst durch das Geständnis dem Pfarrer gegenüber wird aus dem Gedanken eine Handlung, die moralisch verwerflich wird.

Dass Ethik immer Handlungsethik ist, wird dann aber bei den anderen sieben Geboten klar:

2. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mißbrauchen.
3. Du sollst den Feiertag heiligen.
4. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.
5. Du sollst nicht töten.
6. Du sollst nicht ehebrechen.
7. Du sollst nicht stehlen.
8. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.

Die Zehn Gebote nach Martin Luthers Kleinem Katechismus

Das sind alles Handlungsanweisungen. Selbst wenn „heiligen“ oder „ehren“ sicher interpretationsbedürftige Begriffe sind, so zeigt sich ein ehren oder heiligen meines Erachtens erst in einer Handlung. Glaubt ihr nicht? Dann machen wir doch einmal die Gegenprobe: Kannst du deine Mutter in Gedanken ehren, wenn du sie wie Scheiße behandelst? Kannst du geistig den Feiertag heiligen, wenn du zugleich deine Angestellten zur Sonntagsarbeit verpflichtest? Ich denke nicht…

Hordenmoral

Aber lassen wir diese tausende Jahre alte Beispiel hinter uns und widmen wir uns meinem zweiten Beweis. Dafür möchte ich einen Blick in den heutigen Panoramateil von Spiegel Online werfen, denn Boulevardmedien haben immer die Aufgabe (in ihrem Selbstverständnis), den Lesern zu sagen, wie sie sich fühlen sollen. Sie schreiben nieder, was sittlich ist. „Hordenmoral“ in Hayeks Worten. Ich lasse mal die ganzen Promi-News außer acht und beschränke mich auf einige Artikel mit moralischem Gehalt:

„Nach Schüssen vor einem Luxushotel in Caracas ist ein Deutscher gestorben.“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Bedeutet: Mord ist doof.

„In Kürze soll die Rettung des verletzten Forschers aus der Riesending-Schachthöhle abgeschlossen sein.“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Bedeutet: Retter sind Helden.

„Weil ein dreister Nager ihrem Beet zusetzte, griff Schriftstellerin Jeanette Winterson zu einem drastischen Mittel. Sie zog dem Karnickel das Fell über die Ohren – zum Zorn ihrer Internetfans.“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Das ist spannend, denn hier wird ein Wert ausgehandelt: Darfst du ein Kaninchen töten, das dir Schaden zugefügt hat?

„Nach dem qualvollen Sterben eines Todeskandidaten hatten manche US-Staaten Hinrichtungen gestoppt. Nun sind binnen 24 Stunden gleich drei Menschen exekutiert worden.“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Bedeutet: Die Todesstrafe gehört abgeschafft.

„Johann Breyer lebt in Philadelphia, der 89-Jährige soll im KZ Auschwitz Beihilfe zum hunderttausendfachen Mord geleistet haben. Jetzt ist er verhaftet worden, die USA müssen über eine Auslieferung entscheiden.“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Bedeutet: Fuck you Nazi!

„Ein Rentner erschießt einen jungen Räuber auf der Flucht – Totschlag oder Notwehr?“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Auch hier wird wieder ein Wert ausgehandelt, eben: Totschlag oder Notwehr?

„Freida Pinto hat in einem Interview sexuelle Gewalt gegen Frauen in ihrem Heimatland Indien beklagt. Belästigungen seien dort Alltag, sagte die Schauspielerin.“

Spiegel Online: Panorama Teil.

Bedeutet: Sexuelle Gewalt ist verwerflich.

Ich bin mir bewusst, dass neben meinen Allzu-Kurzanalysen noch mehr in diesen Artikeln steckt. Zum Beispiel: Warum wird das Alter des mutmaßlichen Naziverbrechers genannt? Soll hier eine Verjährung des Holocausts angedacht werden? Und warum wird sexuelle Gewalt mal wieder am Beispiel Indien durchdekliniert? Weil es so schön weit weg ist?

Es gibt die selbstlose gute Tat

Aber der entscheidende Punkt ist: Hier werden ausschließlich Handlungen gemeldet. Da steht nirgends: Weil die Höhlenretter sich gut fühlten, handelten sie nicht selbstlos. Genausowenig wird gefragt, wie sich die Todesschützen in Caracas fühlten oder was sie dachten. Oder ob die Ermordung des Kaninchens nun pflichtgemäß oder aus Pflicht geschah.

Und das ist der springende Punkt: Es ist scheißegal, wie du dich nach einer guten Handlung fühlst. Ob du Spaß beim Helfen hast oder es widerwillig machst, ist schnurzpiepsegal. Wir sollten Handlungen immer auf ihre weltlichen Konsequenzen hin beurteilen nicht auf ihre Auswirkung auf eigene innere Zustände. Daher gibt es selbstverständlich auch die selbstlose gute Tat.

Eine selbstlose gute Tat ist eine Tat, die für mich persönlich in der Welt keine Vorteile einbringt. Wenn ich ein fremdes weinendes Kind tröste, dann mag das aus einem Vaterinstinkt heraus geschehen, aber im Endeffekt habe ich keinen Nutzen davon, daher ist es eine selbstlose gute Tat. Wenn ich einer alten Frau ihre Einkäufe die Treppen rauftrage, dann mag das vielleicht nur pflichtgemäß im Sinne Kants sein, es ist dennoch eine verfickte gute Tat und da ich keinen Vorteil dadurch habe, ist sie selbstlos. Und jeder, der etwas anderes erzählt, will nur seinen eigenen Egoismus rechtfertigen.

Literatur

Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Umsonst im Volltext bei Zeno oder auf Papier bei Amazon*).

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